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Da auf einmal tiefe, atemlose Stille! Der Lärm brach so jäh ab, als habe ein Machtwort von oben ihm Schweigen geboten; die wildbewegten Gruppen hielten inne; die Menge wogte zurück, als habe sie plötzlich einen Widerstand gefunden, und alle Augen, alle Gesichter wandten sich jetzt nach einer Richtung – die Eingangsthür war geöffnet worden und der junge Chef auf die Terrasse getreten.
Die Stille dauerte nur wenige Sekunden; dann wich die augenblickliche Ueberraschung einem erneuten Wutausbruch, furchtbarer als der erste, und jetzt hatte er ein besseres Ziel vor Augen. All dieses tobende Geschrei, all diese wutverzerrten Gesichter und drohend erhobenen Arme, die vorhin das Haus und dessen Insassen bedrohten, wendeten sich jetzt gegen einen einzigen; aber dieser eine war der Chef, der Herr der Werke, und was der Vater mit seinem industriellen Genie, mit seiner zähen Ausdauer und tyrannischen Willkür in Jahrzehnten nicht erringen konnte, das hatte der Sohn in wenigen Wochen erzwungen: die unbedingte Macht seiner Persönlichkeit; sie wirkte selbst hier noch, wo alle Bande der Ordnung gelöst waren. Er ließ den Sturm ruhig austoben; die schlanke Gestalt hoch aufgerichtet, das große Auge fest und klar auf die Menge gewendet, aus der jeder einzelne ihm an Kraft überlegen war, und vor der ihn nichts schützte, als nur diese Macht, stand er ihr allein und waffenlos gegenüber; aber er stand da, als müsse sich die brandende Woge der Empörung an ihm brechen.
Und sie brach sich wirklich. Das Toben verstummte allmählich; es ward zum Rufen, dann zum Murren; endlich legte sich auch dieses, und nun erhob sich Berkows Stimme, anfangs noch unverständlich in der ihn umflutenden Bewegung, noch öfter unterbrochen durch den Lärm, der stoßweise immer wieder von neuem anschwoll; aber ebenso oft sank er auch machtlos wieder zusammen, und endlich schwieg er ganz und man hörte nur die Stimme des jungen Chefs noch, die klar, laut und deutlich herübertönte und auch den am fernsten Stehenden vernehmbar blieb.
»Gott sei Dank!« murmelte Schäffer, indem er sich die Stirn mit dem Taschentuche trocknete, »jetzt hat er sie im Zügel. Das knirscht noch und bäumt sich, aber es gehorcht! Sehen Sie nur, gnädige Frau, wie die Bewegung sich legt, wie alles zurückweicht. Sie geben wahrhaftig die Terrasse frei – und da fallen auch die Steine zu Boden. Wenn der Himmel uns jetzt nur den Hartmann fernhält, so ist die Gefahr beseitigt.«
Er wußte nicht, mit welcher Todesangst Eugenie den Wunsch im Innern wiederholte. Bisher hatte sie immer noch in der Menge vergebens die eine gefürchtete Gestalt gesucht, und solange die nicht sichtbar war, hielt sich ihr Mut noch aufrecht; so lange glaubte sie Arthur noch sicher; aber jetzt war es vorbei mit der Sicherheit und mit der Hoffnung. Ob das plötzliche Aufhören des Tobens, das er selbst mit vollster Absicht entfesselt, den Vermißten hergerufen, ob eine Ahnung dessen, was geschah, ihn im entscheidenden Augenblick herbeizog – wie aus der Erde emporgestiegen, stand Ulrich Hartmann plötzlich, hinten am Parkgitter, und ein einziger Blick zeigte ihm, wie die Sache stand.
»Feiglinge, die ihr seid!« donnerte er seinen Kameraden zu, während er sich, von Lorenz und dem Steiger Wilms gefolgt, einen Weg durch die dicht geschlossenen Massen bahnte. »Ahnte ich's doch beinahe, daß ihr euch hier wieder in seinen Netzen fangen laßt, während wir erkunden, wohin sie die Gefangenen gebracht haben. Wir haben es jetzt heraus! Dort im rechten Erker sind sie im Erdgeschoß, dicht hinter dem großen Saale; dorthin muß sich der Angriff richten. Schlagt die Spiegelfenster ein! so brauchen wir nicht erst die Thür zu stürmen.«
Noch gehorchte niemand der Aufforderung, aber wirkungslos blieb sie nicht. Es gibt nichts Wankelmütigeres, Willenloseres als eine aufgeregte Menge, die gewohnt ist, sich von der Entschlossenheit eines Mannes leiten zu lassen. In all dem Toben und Lärmen vorhin war doch eine gewisse Planlosigkeit und Unentschiedenheit gewesen, die es nicht zum offenen Angriffe kommen ließ. Das Auge, der Arm des Führers hatte gefehlt; jetzt war er da, und in dem Augenblicke, wo seine Hand die Zügel wieder ergriff, gab er ihnen auch eine bestimmte Richtung. Man wußte jetzt, wo die Gefangenen sich befanden; man kannte den Weg zu ihnen – das weckte die kaum überwundene Gefahr aufs neue.
Ulrich kümmerte sich zwar im Augenblick nicht viel darum, ob seinem Befehle Folge geleistet wurde. Er hatte sich Bahn gebrochen bis zur Terrasse und stand jetzt dicht vor dem jungen Chef, mit dem ganzen Trotz und Stolz seiner unbändigen Natur, mit seiner riesenhaften Gestalt fast um Kopfeslänge hinausragend über alle die andern. Er war der geborene Führer der Massen, dessen wilde Energie, dessen eiserner Wille in blindem Gehorsam alles mit sich fortriß und der trotz allem, was geschehen war und vielleicht noch geschah, doch für den Augenblick unumschränkt über sie gebot. Der ganze Sieg, den Arthur errungen hatte, war in Frage gestellt, wenn nicht vernichtet, durch das bloße Erscheinen dieses Mannes, dessen Persönlichkeit mindestens ebenso mächtig wirkte, wie die seinige.
»Wo sind unsre Kameraden?« fragte Hartmann drohend, indem er noch dichter herantrat. »Wir wollen sie heraus haben, auf der Stelle! Wir leiden keine Gewaltthat gegen die Unsrigen!« »Und ich leide keine Zerstörung meiner Maschinen!« unterbrach ihn Arthur mit kalter Ruhe. »Ich habe die Leute festnehmen lassen, obgleich sie nur das Werkzeug in fremder Hand waren. Wer befahl den Angriff auf die Maschinen?«
In Ulrichs Augen blitzte es auf, furchtbar aber triumphierend; er hatte diese Festigkeit vorhergesehen und seinen Plan darauf gebaut. Er freilich brauchte keinen Vorwand mehr zum Angriffe, wo er seinen Haß um jeden Preis kühlen wollte, aber sein Anhang, der bereits wankte und fahnenflüchtig zu werden drohte, brauchte einen solchen; da galt es, die Schwankenden von neuem aufzustacheln, und der Gegner war kühn und stolz genug, ihm den Anlaß dazu zu liefern.
»Ich brauche Ihnen nicht Rede zu stehen!« rief er höhnisch, »und ich lasse mich überhaupt nicht mit dieser Gebietermiene verhören. Noch einmal: geben Sie die Gefangenen heraus! Die Knappschaft verlangt es, oder –« Sein Blick vollendete die Drohung.
»Die Gefangenen bleiben in Haft!« erklärte Arthur unerschütterlich, »und Sie, Hartmann, haben überhaupt nicht mehr das Recht, im Namen der gesamten Knappschaft zu sprechen; mehr als die Hälfte hat sich bereits von Ihnen gewandt. Ich habe mit Ihnen nichts mehr zu reden!«
»Aber ich mit Ihnen!« schrie Ulrich außer sich. »Zu unsern Kameraden!« wandte er sich an die empörte Menge, »schlagt nieder, was sich euch in den Weg stellt! Vorwärts!«
Er wollte sich als der erste auf Berkow stürzen und damit das Zeichen zum Angriffe geben, aber noch ehe er das vermochte, noch ehe es entschieden war, ob die Menge ihm Gehorsam leisten oder ihm denselben versagen würde, ertönte ein fremdartiger Laut, der den ganzen Umkreis erzittern machte und den wilden Führer entsetzt innehalten ließ, während er die übrigen in atemlosem Lauschen bannte. Es war wie ein ferner, dumpfer Schlag, der aus den Tiefen der Erde zu kommen schien, und dem ein sekundenlanges unterirdisches Rollen folgte; dann wurde es totenstill, und Hunderte von schreckensbleichen Gesichtern wandten sich zu den Werken hinüber.
»Gott im Himmel! Das kam von den Schachten her; da ist etwas geschehen!« rief Lorenz auffahrend.
»Das war eine Explosion!« tönte die Stimme des Oberingenieurs, der sich während der letzten Minuten bereits an die Spitze der jüngeren Beamten und der ganzen verfügbaren Dienerschaft gestellt hatte, um dem Chef zu Hilfe zu eilen. »In den Schachten ist ein Unglück geschehen, Herr Berkow! Wir müssen hinüber!«
Einen Augenblick lang schien der Schrecken noch alles ringsum zu lähmen. Niemand rührte sich; die Mahnung war auch zu furchtbar. Gerade in dem Momente, wo die eine Partei sich verderbenbringend auf die andre werfen wollte, erreichte ein andres Verderben ihre Brüder in der Tiefe da unten und rief sie gebieterisch vom Angriffe fort zur Rettung. Arthur war der erste, der sich emporraffte.
»Nach den Schachten!« rief er den Beamten zu, die jetzt aus dem Hause hervorstürzend ihn umringten, und gab selbst das Beispiel, indem er allen voran nach den Werken hinübereilte.
»Nach den Schachten!« donnerte jetzt auch Ulrich den Bergleuten zu, aber der Befehl war nicht mehr notwendig; schon stürzte die ganze Masse in wilder Hast nach der gleichen Richtung hin, an ihrer Spitze der Führer; er und Berkow waren die ersten, die fast gleichzeitig die Werke erreichten.
Dort gab sich äußerlich noch nichts kund von der Wirkung des zerstörenden Elements, nur die dichte Rauchsäule, die aus den Schachten emporquoll, verkündete, was geschehen war, aber sie sagte genug. In weniger als zehn Minuten war der Umkreis gefüllt mit Menschen, deren anfänglich stummes Entsetzen jetzt den lauten Ausbrüchen der Angst, des Schreckens, der Verzweiflung wich. Es ist etwas Erschütterndes und doch zugleich etwas Erhebendes um solch ein großes Unglück, das nicht von Menschenhand kommt, denn es rettet fast immer die Ehre der Menschennatur und reinigt sie von all den schlimmen Leidenschaften, welche sie sonst entstellen und verdunkeln. Der Umschlag in der allgemeinen Stimmung vollzog sich hier so plötzlich, so blitzähnlich, daß es nicht mehr dieselbe Menge zu sein schien, die noch vor wenigen Minuten das Haus umtobt und mit Wut und Zerstörung, vielleicht mit Mord gedroht hatte, weil ihrem wilden Verlangen nicht nachgegeben wurde. Streit, Feindschaft, mondenlang genährter Haß, das alles ging jetzt unter in dem einen Gedanken der Rettung; zu dieser Rettung drängten sich Bergleute und Beamte, Freund und Feind heran, und gerade die wildesten der Empörer waren die ersten voran. Vor einer Stunde noch hatten sie ihre Kameraden bedroht, angegriffen, und hätten sie niedergeschlagen, wäre es nicht gerade der Vater ihres Führers gewesen, der die Schicht leitete, und jetzt, wo eben diese Kameraden in Todesgefahr schwebten, jetzt hätte ein jeder sein Leben eingesetzt, um ihnen Hilfe zu bringen – die furchtbare Mahnung hatte gefruchtet.
»Zurück!« trat Arthur gebietend den wild und planlos Anstürmenden entgegen. »Ihr könnt jetzt noch nicht helfen. Ihr hindert nur die Anfahrt der Beamten. Es muß erst festgestellt werden, wo und wie wir eindringen können. Laßt die Ingenieure vor!«
»Laßt die Ingenieure vor!« wiederholten die Vordersten; der Ruf pflanzte sich fort durch die Reihen und in der dichtgekeilten Menge öffnete sich sofort eine Gasse für den Oberingenieur, der mit seinen Untergebenen bereits zur Stelle war; sie kamen von der entgegengesetzten Richtung her.
»Da drüben ist das Eindringen eine Unmöglichkeit,« sagte der Beamte zu Arthur, indem er nach dem unteren Schachte hinüber zeigte, der mit dem oberen in Verbindung stand und aus dessen Oeffnung Rauch und Qualm in mächtigen Säulen emporstiegen. »Wir haben nicht einmal den Versuch wagen können, denn in dem Höllenbrodem da drinnen vermag nichts Menschliches zu atmen. Hartmann wagte es, aber nach sechs Schritten schon mußte er halb erstickt wieder zurück und konnte gerade den Lorenz noch mit herausreißen, der ihm gefolgt, aber schon am Eingang niedergestürzt war. Unsre einzige Hoffnung bleibt der obere Förderschacht, vielleicht haben sie sich dorthin gerettet. Setzt die Maschine in Gang! Wir müssen dort hinunter.«
Der Maschinenmeister, an den die letzten Worte gerichtet waren, und der bleich und verstört daneben stand, machte keine Anstalt, zu gehorchen.
»Die Maschine versagt den Dienst!« berichtete er angstvoll, »schon seit einer Stunde. Ich habe es hinüber melden wollen; denn die Herren waren ja alle drüben im Hause – aber mein Bote konnte durch den Tumult nicht hindurch, und ich dachte, im schlimmsten Falle bliebe den Schichtleuten ja noch der Ausgang durch den unteren Schacht. Wir mühen uns schon lange vergebens ab mit der Maschine; sie ist nicht vom Flecke zu bringen.«
»Himmel und Erde! das fehlt uns nur noch,« rief der Oberingenieur, in das Schachtgebäude stürzend. »Aber der Fahrschacht!« wandte sich Arthur hastig an den Direktor, »können wir nicht dort hinunter?«
Der Gefragte schüttelte den Kopf. »Der Fahrschacht ist unzugänglich seit heute morgen. Sie wissen es ja, Herr Berkow, Hartmann hat all die oberen Leitern zertrümmern lassen, weil er um jeden Preis die Anfahrt hindern wollte. Es gelang ihm nicht; die Leute gingen im Förderschacht hinunter, und das ist augenblicklich unser einziger Zugang zu der Tiefe.« Jetzt erschien auch Ulrich mit Wilms und mehreren seiner gewöhnlichen Begleiter. »Dort unten geht's nicht!« rief er seinen Kameraden zu, während er sich Bahn durch die Reihen machte. »Wir opfern nutzlos das Leben, und wir brauchen es notwendiger zur Hilfe. Vielleicht ist's hier oben möglich. Warum arbeitet die Maschine nicht? Wir müssen mit der Förderschale hinunter.«
Er wollte stürmisch zum Schachtgebäude vordringen und stand plötzlich vor dem jungen Chef, der ihm finster entgegentrat.
»Die Maschine versagt den Dienst,« sagte er laut und scharf, »schon seit einer Stunde, und vor zehn Minuten erst ist das Unglück geschehen. Das steht in keiner Beziehung miteinander, aber gerade vor einer Stunde war es, wo wir Ihre drei Abgeschickten ergriffen. Was ist da vorgegangen, Hartmann?«
Ulrich taumelte zurück, als habe er einen Schlag empfangen. »Ich hab' es widerrufen,« stieß er hervor, »im Augenblick, als mein Vater drunten war und die übrigen folgten. Ich kam selbst es zu hindern – da hatten sie es schon gethan. Das habe ich nicht gewollt; bei Gott, das nicht!«
Arthur wandte sich von ihm und zu einem der eben heraustretenden Ingenieure. »Nun, wie steht es?« fragte er hastig.
Der Beamte zuckte die Achseln. »Die Maschine weigert sich zu gehorchen. Noch haben wir nicht herausfinden können, woran es liegt, an der Explosion sicher nicht; sie kam fast eine Stunde später und die Schichtgebäude sind ganz unberührt davon. Die Beschädigung kam von Menschenhand; wir müssen heute morgen trotz der sofortigen Untersuchung irgend etwas übersehen haben. Glückt es nicht, das Werk wieder in Gang zu bringen, so ist der sofortige Zugang in die Tiefe uns verschlossen, und die da unten sind rettungslos verloren, der Schichtmeister Hartmann mit!«
Er hatte bei den letzten Worten die Stimme erhoben und das Auge auf Ulrich gerichtet, der, Leichenblässe im Gesicht, stumm und regungslos dastand; jetzt aber zuckte er zusammen und machte eine heftige Bewegung vorwärts, Arthur vertrat ihm den Weg.
»Wohin?«
»Ich muß hinein,« keuchte der junge Steiger, »ich muß helfen. Lassen Sie mich los, Herr Berkow! Ich muß, sage ich Ihnen.« »Sie können nicht helfen,« unterbrach ihn Arthur bitter. »Mit den bloßen Armen ist hier nichts gethan. Zerstören konntet ihr, und uns die Gefahr verzehnfachen. Das Wiederherstellen überlaßt den Beamten! Sie allein können uns die Rettung ermöglichen und sie dürfen in ihrer Arbeit weder gestört noch gehindert werden. Lassen Sie den Raum absperren, Herr Direktor, und Sie, Herr Wilberg, schaffen Sie sofort die drei Gefangenen zur Stelle! Die Leute müssen doch wissen, wo sie Hand angelegt haben. Vielleicht können sie den Ingenieuren einen Fingerzeig geben. Eilen Sie!«
Wilberg gehorchte, und auch der Direktor machte Anstalt, die befohlene Maßregel auszuführen. Er fand keinen Widerstand dabei. Die Menge wußte, was jetzt von der Thätigkeit der Beamten abhing; sie gehorchte willig. Sie fühlten alle etwas von der Wahrheit jener Worte, die Arthur einst der trotzigen Herausforderung ihres Führers entgegengeschleudert: »Versucht's, wenn euch das so sehr gehaßte Element fehlt, das euren Armen die Richtung, euren Maschinen die Triebkraft, eurer Arbeit den Geist gibt!« Hier waren Hunderte von Armen, Hunderte von Kräften zum Helfen bereit, und keiner konnte den Arm heben, keiner die Kraft einsetzen; die ganze Macht, die ganze Möglichkeit der Rettung lag in den Händen der Wenigen, die auch hier wieder den Geist herleihen mußten, um vielleicht noch Hilfe zu bringen, wo die Menge mitsamt ihrem Anführer nichts konnte als sich höchstens blind in einen gewissen Tod stürzen. Diese so gehaßten, so oft geschmähten Beamten! An ihnen hingen jetzt alle Blicke, um sie drängte sich alles, wenn einer von ihnen sichtbar wurde; man hätte sie und ihre Arbeit jetzt geschützt um jeden Preis, wenn sie des Schutzes bedurft hatten.
Minute auf Minute verrann in ängstlichem, qualvollem Harren. Wilberg war längst mit den drei Gefangenen zurück, die man drüben im Hause in einem der Räume des Erdgeschosses eingeschlossen hatte. Die Leute wußten, was geschehen war; sie kamen in atemloser Hast, wie all die übrigen, um, wie diese, ratlos und verzweifelt dazustehen. Man bedurfte ihrer nicht mehr; denn der Grund der Stockung in der Maschine war bereits gefunden. Die Beschädigung erwies sich als unbedeutend und die sofortige Herstellung als möglich. Die Ingenieure unter Leitung ihres Vorgesetzten boten alle Kräfte dazu auf, während man draußen den Rettungsplan entwarf und Vorkehrungen zur Ausführung traf, während man immer wieder von neuem und immer wieder vergebens versuchte, sich von der andern Seite her einen Zugang in die Schachte zu schaffen. Die Gefahr hatte wie mit einem Schlage die gelösten Bande der Disziplin wieder festgeknüpft. Alles gehorchte und gehorchte besser und schneller, als je vor dem Ausbruche des Streites.
Aber mehr als alle übrigen leistete der Chef selbst. Ueberall war sein Auge, seine Stimme; überall wußte er einzugreifen, anzufeuern. Arthur besaß wenig oder nichts von den Kenntnissen und Erfahrungen, die gerade hier am Platze gewesen wären; man hatte den jungen Erben der Werke in der vollsten Unwissenheit dessen erzogen, was ihm am meisten zu wissen nötig war; aber eins besaß er, was sich nun freilich nicht erziehen und nicht erlernen läßt, das Genie des Befehlens und das that hier gerade not, wo der einzige Energische der Beamten, der Oberingenieur, drinnen bei den Maschinen festgehalten wurde und der Direktor und die übrigen, halb betäubt von dem schnellen Wechsel der Verhältnisse und von der Katastrophe selber, ungeachtet ihrer Kenntnisse, Erfahrungen und Fähigkeiten, doch alle Geistesgegenwart verloren hatten. Arthur war es, der sie ihnen zurückgab, der mit schnellem Ueberblick jeden auf den richtigen Platz stellte und ihn dort anspornte, das Aeußerste zu leisten, dessen er überhaupt fähig war, der mit seiner Energie alles fortriß und entflammte. Der so lange von seiner Umgebung und von ihm selbst am meisten verkannte Charakter des jungen Mannes hatte sich nie so glänzend bewährt wie in diesen Stunden der Gefahr.
Da endlich ertönte das schwer ächzende Geräusch, mit dem die Maschine zur Arbeit einsetzte; dann folgte ihr Schnauben und Stöhnen, anfangs noch stoßweise und unterbrochen, dann in regelmäßigen Zwischenräumen; das Werk hob und senkte sich mit dem alten Gehorsam. Der Oberingenieur trat zu Berkow; aber sein Gesicht war nicht heller geworden.
»Die Maschine gehorcht wieder,« sagte er ernst; »aber ich fürchte, es ist zu spät oder zu früh zur Anfahrt. Der Dampf quillt jetzt auch hier empor; die Wetter müssen weiter vorgedrungen sein. Wir werden warten müssen.«
Arthur machte eine heftige Bewegung. »Warten? Wir haben schon eine volle Stunde gewartet, und an jeder Minute kann das Leben der Verunglückten hängen. Halten Sie es für möglich, den Förderschacht überhaupt zu passieren?«
»Möglich ist's vielleicht; es scheint nur Dampf zu sein, der da aussteigt; aber es wagt jeder sein Leben, der jetzt schon hinunter will. Ich würde es nicht wagen.«
»Aber ich!« tönte Ulrichs Stimme mit finsterer Entschossenheit. Er war in dem Moment, wo die Maschine zu arbeiten begann, gewaltsam vorwärts gedrungen und stand jetzt bereits an der Förderschale.
»Ich fahre an!« wiederholte er, »aber einer nutzt nichts da unten. Ich muß Hilfe haben. Wer geht mit?«
Niemand antwortete; jeder schien zurückzubeben vor der Fahrt in den dampfenden Schlund hinab. Sie hatten es alle gesehen, wie die Mutigen, die auf den andern Zugängen einzudringen versuchten, zurücktaumelten oder niederstürzten. Lorenz lag noch besinnungslos da von einem Wagnis, das sein stärkerer Gefährte ohne Schaden überstanden hatte; aber diesen Gefährten jetzt auf einem Wege zu folgen, wo Umkehr und Rückzug fast unmöglich waren, die Kühnheit besaß keiner.
»Niemand?« fragte Ulrich nach einer Pause. »Gut denn, so gehe ich allein! Gebt das Zeichen!«
Er sprang in das Gefäß; aber plötzlich legte sich eine schmale weiße Hand auf den geschwärzten Rand desselben, und eine klare Stimme sagte fest: »Warten Sie, Hartmann! Ich begleite Sie.«
Ein Schrei des Entsetzens von den Lippen der sämtlichen anwesenden Beamten beantwortete den Entschluß; von allen Seiten gab sich ein stürmischer Widerspruch kund.
»Um Gottes willen, Herr Berkow! Sie opfern nutzlos Ihr Leben. Sie können nichts helfen.« So tönte es durcheinander in allen Tonarten des Schreckens und der Angst.
Arthur richtete sich empor; das volle mächtige Selbstbewußtsein des Herrn und Gebieters leuchtete aus seinen Zügen.
»Es geschieht nicht der Hilfe, es geschieht des Beispiels wegen. Wenn ich anfahre, folgt alles. Sichern Sie uns hier oben nach Kräften die Rettung, Herr Oberingenieur; der Direktor mag draußen für die Ordnung sorgen. Ich kann für den Augenblick nichts weiter als den Leuten Mut geben, und das denke ich zu thun.«
»Aber nicht allein und nicht mit Hartmann,« rief der Oberingenieur, ihn fast zurückreißend. »Wahren Sie sich, Herr Berkow! Es ist dasselbe Werk und dieselbe Begleitung, die Ihrem Vater tödlich wurde – auch Ihnen könnte da unten mehr drohen, als nur die empörten Wetter.«
Es war das erste Mal, daß die Beschuldigung offen und laut vor all den Zeugen hingeschleudert wurde, und wenn sich auch keiner von diesen ihr anzuschließen wagte, ihre Gesichter verrieten, daß sie dieselbe im vollsten Maße teilten. Ulrich stand noch an seinem Platze, ohne Laut, ohne Bewegung; er widersprach nicht und verteidigte sich nicht; nur das Auge hatte er starr und unverwandt auf den jungen Chef gerichtet, als erwarte er aus dessen Munde allein Lossprechung oder Verdammung.
Arthurs Blick begegnete dem seinigen – nur eine Sekunde lang, dann wand er sich los von den kräftigen Armen, die ihn zurückhalten wollten.
»Da unten in der Tiefe sind mehr als hundert verloren, wenn wir nicht Hilfe bringen, und da, denke ich, wird sich wohl keine Hand anders heben, als zur Rettung. Geben Sie das Zeichen! Ihren Arm, Hartmann! Sie müssen mir helfen!«
Mit einer zuckenden Bewegung streckte Ulrich den Arm aus, um die gebotene Hilfe zu leisten. In der nächsten Minute stand Arthur bereits an seiner Seite.
»Sobald wir glücklich unten sind, senden Sie uns nach, was folgen will und kann. Glück auf!«
»Glück auf!« wiederholte Ulrich dumpf, aber mit der gleichen Festigkeit. Er klang schaurig, fast geisterhaft, dieser Gruß, den die beiden Männer der Tiefe entgegenriefen, welche sie jetzt aufnahm. Die Maschine setzte ein und die Förderschale sank langsam. Die Obenstehenden sahen nur noch, wie der junge Chef, schwindelnd von der ungewohnten Fahrt, betäubt von dem zum Glück nur schwach aufsteigenden Dampfe, seitwärts schwankte und wie Hartmann mit einer raschen Bewegung den Arm um ihn legte und ihn kraftvoll aufrecht hielt – dann verschwanden beide in dem dampfenden Schlunde.
Arthur hatte recht; sein Vorgehen entschied alles, wo das Ulrichs wirkungslos blieb. Man war es gewohnt, daß der Steiger Hartmann um viel geringerer Veranlassung willen sein Leben tollkühn in die Schanze schlug und es stets unverletzt davontrug, so daß sich bei seinen Kameraden bereits eine Art von Aberglauben gebildet hatte, es könne ihm keine Gefahr etwas anhaben. Er war es, der den Fahrschacht unzugänglich gemacht, der durch sein Attentat auf die Maschinen die Hilfe um mehr als eine Stunde verzögert hatte, und sein Vater war drunten mit den übrigen, vielleicht durch ihn verloren – da war es selbstverständlich, daß er sich ohne Zögern in ein Wagnis stürzte, das wohl keiner teilen wollte. Aber als der Chef das Beispiel dazu gab, der verwöhnte, vornehme Mann, der seine Schachte nie betreten hatte, als sie verhältnismäßig sicher waren, und der jetzt eindrang, wo sie jedem Verderben drohten, als der voranging, da folgte alles. Die Nächsten waren die drei Bergleute, die heut morgen Hand an die Maschinen gelegt hatten und die jetzt unter Leitung eines der Ingenieure anfuhren. Dann kamen neue und immer neue Helfer; es bedurfte keines Aufrufs, keiner Aufforderung. Der Oberingenieur mußte bald genug die Andrängenden abwehren, weil nur ein Teil der Leute zu den Rettungsarbeiten zugelassen werden konnte.
Stunde auf Stunde verging; die Sonne hatte längst die Mittagshöhe erreicht, längst sie wieder verlassen – und noch immer rang da unten im Schoße der Erde Menschengeist und Menschenwille mit den empörten Elementen, um ihnen ihre Opfer zu entreißen. Es war ein Kampf, furchtbarer als je einer im Lichte des Tages ausgefochten wurde: jeder Fuß breit mußte erst erobert, jeder Schritt erst der Todesgefahr abgerungen werden, um das Vordringen zu ermöglichen, aber man drang dennoch vor, und es schien, als sollten die unerhörten Anstrengungen auch unerhört belohnt werden. Man hatte bereits Fühlung mit den Verunglückten; man hoffte sie zu retten; denn noch lebten sie, oder doch wenigstens ein Teil von ihnen. Ein glücklicher Zufall, das Auffinden zweier in der Hast des Forteilens verlorener oder weggeworfener Blenden, hatte auf die richtige Spur geleitet. Die Explosion schien den oberen Schacht nur teilweise berührt und die Bergleute schienen sich noch zeitig genug in einen der sicheren Seitenstollen geflüchtet zu haben, wo die Wetter sie nicht erreichten, wo aber ein teilweiser Einsturz der vorderen Strecke sie verschüttet und von den Ausgängen abgeschnitten hatte. Es galt jetzt, sich bis zu ihnen hindurchzuarbeiten, auf einem Wege, der den Rettern wenigstens die Möglichkeit des Atmens ließ, und zur Ausführung des schnell und umsichtig entworfenen Rettungsplanes wurden jetzt alle Kräfte aufgeboten.
»Und wenn die ganze Erde drauf läge, wir müssen zu ihnen!« hatte Ulrich ausgerufen, als man die erste Spur fand, und das war das Losungswort geworden, das sich jeder wiederholte. Da war auch nicht einer, der zurückwich, nicht einer, der sich der gefährlichen Pflicht entzog, wohin man ihn auch stellte, und doch hielt bei vielen die Kraft nicht gleichen Schritt mit dem Eifer, doch mußte mancher, erschöpft und halbbetäubt, zurückgesandt und durch neue Helfer ersetzt werden, wollte man die Zahl der Opfer nicht noch vermehren. Nur zwei waren es, die nichts rührte und nichts ermüdete, Ulrich Hartmann mit seinem eisernen Körper und Arthur Berkow mit seinem eisernen, Willen, der dem verwöhnten zartgebauten Manne heute Nerven wie von Stahl lieh, und ihn ausdauern ließ in Umgebungen und Gefahren, denen sich so viele Stärkere nicht gewachsen zeigten. Die beiden hielten aus; Seite an Seite drangen sie vor, immer voran, immer die ersten. Wo Ulrichs Riesenkraft das fast Unglaubliche leistete und Hindernisse bewältigte, die für Menschenhände unüberwindlich schienen, da genügte es bei dem »Herrn« schon, daß er an der Spitze stand, daß er überhaupt da war. Er konnte in der That nicht viel mehr thun, als den Arbeitern Mut geben zu ihrem Werke, aber er gab genug damit, mehr als seine Arme hätten leisten können. Schon dreimal hatte die Hand seines kundigeren Gefährten ihn zurückgerissen, wenn er, unbekannt mit den Gefahren der Schachte, sich zu unvorsichtig aussetzte; schon oft hatten ihn die Ingenieure gebeten, umzukehren, jetzt, wo Leute genug zur Hilfe und Beamte genug zur Leitung da waren; Arthur verweigerte es jedesmal mit vollster Entschiedenheit. Er fühlte, was von seinem Bleiben unter diesen Menschen abhing, die von Aufruhr und Empörung zur Rettung fortgeeilt waren. Sie sahen alle auf ihren Chef, der, seit er überhaupt zur Selbständigkeit erwacht war, nur immer gegen sie gestanden hatte, und der heute zum erstenmal mit ihnen stand in Not und Tod, der gleich dem Geringsten von ihnen sein Leben aussetzte, gleich ihnen ein junges Weib da oben in Todesangst zurückließ. In diesen Stunden gemeinsamer Arbeit und Gefahr, da wurde es endlich erzwungen, was man dem Sohne und Erben eines Berkow so lange und so hartnäckig verweigert, das Vertrauen. Da unten in der Tiefe der Felsenschachte wurde der alte Haß und die alte Zwietracht begraben, da endigte der Streit. Arthur wußte, daß es sich hier für ihn um mehr handelte, als nur um ein Wagnis, das jeder andre an seiner Stelle leisten konnte, wußte, daß er sich mit diesem Ausharren die Zukunft seiner Werke und seine eigene Zukunft erkämpfte, und um diesen Preis ließ er Eugenien in ihrer Angst allein und blieb.
So ging es fort mit unermüdeter Thatkraft und unermüdeter Ausdauer; man drang vor, langsam, Schritt für Schritt, aber man drang vor, und endlich beugten sich die tückischen Gewalten der Tiefe dem Menschenwillen, der sich Bahn gebrochen zu seinen Brüdern dort unten. Als die Sonne sich droben zum Untergange neigte, da war der Weg gefunden, da wurden die Geretteten emporgehoben zum Lichte des Tages, zwar verletzt, halb erstickt, betäubt von Schrecken und Todesangst, aber doch lebend, und ihnen folgten, gleichfalls zum Tode erschöpft, die Retter. Die beiden ersten bei dem kühnen Unternehmen, der Chef und Hartmann, sie waren die letzten beim Rückzuge, sie wollten nicht eher weichen, bis sich alles in Sicherheit befand.
»Ich weiß nicht, was das bedeuten soll, daß der Herr und Hartmann noch immer da unten zögern,« sagte der Oberingenieur unruhig zu den ihn umgebenden Beamten. »Sie waren doch bereits am Ausgange, als die letzten zu Tage fuhren, und Hartmann kennt doch wahrlich die Gefahren der Schachte hinreichend, um auch nur einen Augenblick länger zu verweilen, als die Notwendigkeit gebietet. Noch immer wartet die Förderschale dort unten; sie geben kein Zeichen, beantworten keins unsrer Signale – was soll das heißen?«
»Wenn nur nicht im letzten Moment noch irgend ein Unglück geschehen ist!« meinte Wilberg ängstlich. »Es klang mir vorhin so seltsam im Schachte, gerade als die letzten hier oben ankamen. Die Entfernung war zu groß und das Geräusch der Maschine zu laut, um es mich deutlich unterscheiden zu lassen, aber das ganze Erdreich ist erschüttert – wenn da nur nicht irgend ein Nachsturz erfolgt ist!«
»Um Gottes willen, da könnten Sie recht haben!« rief der Oberingenieur. »Gebt noch einmal mit vollster Macht die Signale! Bleiben die unbeantwortet, so müssen wir wieder hinunter und nachsehen, was da passiert ist.«
Aber noch ehe er oder die andern diesen Entschluß ausführen konnten, wurde drunten rasch und heftig das Zeichen zum Heraufziehen gegeben. Die Obenstehenden atmeten auf und traten näher an die Öffnung heran, in der auch nach kurzem Harren die Förderschale erschien. Ulrich stand in derselben, das Antlitz entstellt und geschwärzt vom Schweiß und Staub der furchtbaren Arbeit in den Schachten, die Kleidung zerfetzt, zerrissen, bedeckt mit Erde und Steintrümmern, während ihm von Stirn und Schläfen das Blut niederrieselte. Wie bei der Einfahrt hielt er den jungen Chef umfaßt, aber diesmal stützte er nicht bloß einen Wankenden; Arthurs Haupt lag totenbleich mit geschlossenen Augen auf seiner Schulter, und seine Gestalt hing unbeweglich und leblos in den Armen, welche sie mit Anstrengung aller Kräfte aufrecht erhielten.
Ein Ruf des Schreckens tönte von allen Seiten. Man wartete kaum, bis die Maschine still stand. Mehr als zwanzig Arme streckten sich aus, den Besinnungslosen in Empfang zu nehmen und ihn zu seiner Gattin zu tragen, die, gleich all den übrigen, während der ganzen Zeit nicht von der Stätte des Unglücks gewichen war. Alles umdrängte die beiden. Man rief nach Hilfe, nach dem Arzte, und niemand achtete in der allgemeinen Verwirrung auf Ulrich, der es seltsam still und willenlos hatte geschehen lassen, daß man die Last aus seinen Armen nahm. Er sprang nicht mit seinen gewohnten raschen und energischen Bewegungen aus der Förderschale; langsam, mühsam stieg er aus und mußte sich zweimal an den Ketten festhalten, um nicht umzusinken. Er gab auch jetzt noch keinen Laut von sich, aber die Zähne des jungen Bergmannes waren wie in wütendem Schmerze aufeinander gebissen, und das Blut strömte stärker, wenn man auch unter der dicken Staubschicht nicht sehen konnte, daß sein Gesicht an Leichenblässe dem des jungen Chefs nichts nachgab. Er ging schwankend noch einige Schritt vorwärts, bis in die Nähe der Gruppe, die sich um Arthur drängte, dann hielt er plötzlich inne und umfaßte krampfhaft mit beiden Armen einen der Pfeiler des Gebäudes, um sich daran aufrecht zu erhalten.
»Beruhigen Sie sich, gnädige Frau! Es ist ja nur eine Ohnmacht,« tröstete der Arzt, der, bei den Verunglückten beschäftigt, sofort hergeeilt war. »Ich finde nicht die geringste Verletzung an dem Herrn; er wird sich erholen.«
Eugenie hörte nicht auf den Trost; sie sah nur das bleiche Antlitz mit den geschlossenen Augen, nur die hingestreckte Gestalt, die kein Lebenszeichen von sich gab. Es hatte eine Zeit gegeben, wo die junge Frau als Neuvermählte, wenige Stunden nach ihrer Trauung, als eine fremde Hand sie der Gefahr entriß und sie noch in Ungewißheit über das Schicksal ihres Gatten schwebte, mit kühler Besonnenheit und Ruhe zu ihrem Retter gesagt hatte: »Sehen Sie nach Herrn Berkow!« Was Kälte und Verachtung damals gesündigt, das freilich war mehr als gesühnt durch die Qual dieser letzten Stunden, in denen sie erfahren hatte, was es heißt, für das Geliebte zu zittern, ohne ihm helfen zu können, ohne ihm auch nur nahe zu sein. Jetzt sandte und ließ sie keinen andern an seine Seite; jetzt lag sie auf den Knieen neben ihm und rief wie jede andre Frau in Todesangst den Namen ihres Mannes:
»Arthur!«
Es war ein Schrei der leidenschaftlichsten Liebe, der vollsten Verzweiflung, und bei diesem Aufschrei ging ein leises, schmerzliches Zucken durch die Gestalt des jungen Bergmannes, der noch immer am Pfeiler lehnte, und der sich aufrichtete bei diesem Ton. Noch einmal wandten sich die finstern, blauen Augen hinüber zu den beiden, aber es lag nichts mehr von dem alten Trotz und Haß darin, nur ein stummes, tiefes Weh; dann umschlierte sich der Blick; die Hand hob sich, nicht nach der blutenden Stirn, sondern nach der Brust, wo doch keine Verletzung war, aber sie preßte sich so fest darauf, als wühle dort der schlimmere Schmerz, und in demselben Augenblicke, wo Arthur in den Armen seines Weibes das Auge aufschlug, stürzte Ulrich hinter ihnen zusammen. – – –
Obgleich jetzt auch die letzten dem Schachte entstiegen waren, blieb es doch seltsam still und bang in der versammelten Menge. Kein Jubel, keine Freudenbezeigungen gaben sich kund; der Anblick der Geretteten verbot sie. Man wußte ja noch nicht, wer von ihnen wirklich dem Leben erhalten blieb, und ob der Tod nicht noch die ihm mühsam entrissenen Opfer zurückverlangte. Der junge Chef hatte sich schneller von seiner Ohnmacht erholt, als man geglaubt. Es war in der That ein Nachsturz des schwer erschütterten Erdreichs gewesen, der ihn und seinen Gefährten im letzten Augenblick getroffen, aber wunderbarerweise hatte Arthur nicht die geringste Verletzung davongetragen; er stand bereits wieder aufrecht, wenn auch noch matt und bleich, auf den Arm seiner Gattin gestützt, und bemühte sich, seine Erinnerungen zu sammeln, um Eugeniens angstvolle Fragen zu beantworten.
»Wir befanden uns bereits am Ausgange des Schachtes. Hartmann war einige Schritt voraus und somit schon in Sicherheit; da muß er irgend ein Anzeichen der Gefahr bemerkt haben. Ich sah ihn plötzlich zu mir zurückstürzen und meinen Arm ergreifen, aber es war zu spät; schon wankte alles um und über uns. Ich fühlte nur noch, wie er mich zu Boden riß und sich über mich warf, fühlte, wie er mich mit seinem eigenen Körper gegen die herabstürzenden Trümmer deckte – dann vergingen mir die Sinne.« Eugenie gab keine Antwort; sie hatte die Nähe dieses Mannes so unendlich gefürchtet, hatte so namenlos gezittert, als sie hörte, daß Arthur in seiner Begleitung das Wagnis unternommen, und jetzt dankte sie es dieser Nähe allein, daß sie den Gatten lebend und gerettet in ihren Armen hielt.
Der Oberingenieur näherte sich den beiden. Sein Gesicht war sehr ernst, und auch seine Stimme hatte einen tiefernsten Klang, als er sagte: »Der Arzt meint, sie würden alle gerettet werden, nur der eine, der Hartmann nicht – bei dem ist jede Hilfe umsonst! Was er heute da unten in den Schachten geleistet, das war zu viel, selbst für seine Riesennatur, und die Wunde hat dann noch das übrige gethan. Wie er es möglich gemacht hat, trotz dieser schweren Verwundung sich und Sie, Herr Berkow, aus den Trümmern emporzuarbeiten, Sie in die Förderschale zu heben und festzuhalten, bis Sie in Sicherheit waren, das ist fast nicht zu begreifen, und war eben auch nur ihm möglich. Er hat es gethan, aber er wird es auch mit dem Leben bezahlen!«
Arthur sah seine Gattin an; ihre Blicke begegneten und verstanden sich. Er raffte sich trotz seiner Erschöpfung empor und die Hand Eugeniens ergreifend, zog er sie fort nach dem Platze, wo den Verunglückten die erste, reichlich gebotene Hilfe zu teil ward. Nur einen, den letzten, hatte man abseits getragen. Ulrich lag auf dem Boden ausgestreckt; sein Vater war noch nicht wieder zur Besinnung zurückgekehrt und wußte nichts von dem Schicksal des Sohnes, aber dieser war deshalb nicht allein oder nur von fremder Hilfe umgeben; an seiner Seite kniete ein junges Mädchen, das den Kopf des Sterbenden in ihren Armen hielt und mit dem Ausdruck herzzerreißender Angst in seine Züge blickte, ohne auf ihren Bräutigam zu achten, der auf der andern Seite stand und die erkaltende Hand des Freundes gefaßt hatte. Ulrich sah beide nicht, wußte vielleicht gar nicht mehr, daß sie bei ihm waren; sein Auge war groß und starr auf den flammenden Abendhimmel, auf die sinkende Sonne gerichtet, als wolle es noch einen Strahl des ewigen Lichtes einsaugen und mit hinübernehmen in die lange, düstere Nacht.
Arthur hatte eine halblaute Frage an den gleichfalls anwesenden Arzt gerichtet; dieser antwortete mit einem stummen Achselzucken – der junge Chef wußte genug. Die Hand seiner Gattin loslassend, flüsterte er ihr einige Worte ins Ohr und trat dann zurück, während Eugenie sich zu Ulrich niederbeugte und seinen Namen nannte.
Da flammte es noch einmal mitten durch den Nebel des Todes mächtig auf; die ganze Glut und Leidenschaft des Lebens drängte sich für einen Moment nochmals zusammen in diesem Blick, den er mit dem Ausdruck des vollsten Bewußtseins auf die junge Frau richtete, deren Lippen jetzt eine bange, leise Frage aussprachen:
»Hartmann! Sind Sie schwer verwundet?«
Das Weh von vorhin zuckte wieder über sein Antlitz; die Stimme klang dumpf, gebrochen, aber ruhig. »Was fragen Sie nach mir? Sie haben ihn ja wieder. Was brauche ich da noch zu leben! – Ich hab's Ihnen ja vorher gesagt: er oder ich! Ich meinte es freilich anders, aber das war's doch, was mir durch den Kopf fuhr, als die Wand stürzte. Da dachte ich an Sie und Ihren Jammer, und dachte daran, daß er mir da oben die Hand gereicht hatte, als sonst niemand sie wollte, und da – da warf ich mich über ihn!«
Er sank zurück; der aufflammende Funke erlosch schnell in der Aufregung des Sprechens, aber dieses wilde, glühende Leben verblutete sich im Tode ruhig, ohne Kampf und Qual. Der Mann, dessen ganzes Dasein nur Haß und Kampf war gegen die, die das Schicksal über ihn gestellt, er hatte in der Rettung des Gehaßten sein Ende gefunden. Die Ahnung war zur Wahrheit geworden, die das Wasser ihm gestern zurauschte; es hatte aus der Tiefe der Schachte hervor dem Opfer den Todesgruß gebracht. Er brauchte nicht mehr über dieses »morgen« hinauszublicken, das sich so dicht vor ihm verschleierte; es war alles zu Ende für ihn mit diesem »morgen« – alles!
Drüben von der Landstraße her tönte der taktmäßige Schritt einer vorrückenden Menge, tönten Kommandoworte und Waffenklirren; die aus der Stadt erbetene und erwartete Hilfe gegen den Aufruhr war eingetroffen. Schon beim Betreten der Kolonie hatte der befehlshabende Offizier erfahren, was hier geschehen war; er ließ seine Leute drüben auf der Straße Halt machen und kam, nur von einigen begleitet, hinüber auf den Schauplatz des Unglücks, wo er den Chef zu sprechen verlangte. Arthur trat ihm entgegen.
»Ich danke Ihnen, mein Herr,« sagte er mit ruhigem Ernste. »Aber Sie kommen zu spät; ich bedarf Ihrer Hilfe nicht gegen meine Leute. In einem gemeinsamen zehnstündigen Kampfe um das Leben der Unsrigen haben wir Frieden miteinander gemacht – hoffentlich für immer!«