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Fünf Schiffssirenen heulen auf. In verschiedenen Tonlagen durcheinander, kurz, drohend, hohl. Gabriel Bagradian öffnet ruhig die Augen. Sein Blick sucht das schwankende Bild, das er soeben verlassen zu haben glaubt. Die belebtere Brandung umhüpft die menschenleeren Klippen. Das Floß schwimmt auseinander. Der »Guichen« hat schon beigedreht. Sein Bug, nach Südwest gerichtet, schneidet tief ins Meer. Die andern Schiffe des Geschwaders ziehen ihm voraus. Wie schwerfällige und doch anmutig zielbewußte Tänzer suchen sie eine formvollendete Figur zu bilden. Die »Jeanne d'Arc« manövriert sich langsam in den Kern dieser Figur. Gabriel beobachtet dies mit aufmerksamen Augen. Dann erst denkt er: Und Ter Haigasun? Hat er nichts bemerkt? Nein! Er glaubt mich ja auf der »Jeanne d'Arc«. Jetzt springt Gabriel auf und beginnt zu rufen und mit den Armen zu kreisen. Doch seine Stimme trägt nicht, und seine Bewegungen sind nicht die eines Verzweifelten. Die Sonne trifft zur Frist den Vorsprung des Ras el Chansir, und die Steilwände des Musa Dagh liegen im tiefen Schatten. Bei einiger Vernunft müßte Bagradian daher zu den Klippen hinabfliegen, die äußerste erklettern und sich mit allen Mitteln bemerkbar zu machen suchen. Das Deck des »Guichen« ist voll von Armeniern, die über die Reling hängen und Abschied nehmen von dem Berg ihres Lebens, der ihnen jetzt mit verfinsterter Miene wie ein enttäuschter Mörder nachzublicken scheint. Wenn auch das Meer laut atmet und die Schraube pocht, irgend jemand auf Deck oder in den Beobachtungstürmen würde Gabriel Bagradian schon bemerken. Der Unglückselige aber verläßt nicht nur seinen schattigen Platz nicht, er stellt sogar das Winken und Rufen ein, als habe er solche zwecklose Förmlichkeit satt. Und wirklich, Gabriel ist tief erstaunt über die Ruhe, die ihn erfüllt. Ein Mensch in dieser Lage müßte doch wie ein Wahnsinniger um Hilfe rufen, er müßte sich ins Wasser werfen, nachschwimmen, aufgefischt werden oder ertrinken, gleichviel. So langsam ziehen die Schiffe. Noch ist es Zeit.
Gabriel versteht seine eigene Ruhe nicht. Lähmt der Schlaf noch immer sein Blut? Die Feldflasche, von den Franzosen mit schwarzem Kaffee und Kognak gefüllt, liegt neben dem guten Ort, wo er sitzt. Er will seine eigne Verzweiflung wecken und trinkt deshalb in vollen Zügen. Die Labung bewirkt das Gegenteil. Das Blut kommt zwar in Zug, die Muskeln spielen, doch die Ruhe verwandelt sich keineswegs in Notschrei und Todesangst. Sie nimmt nur eine aktivere Form an. Sie wird zu freudiger Getrostheit. Der irdische, der materielle Mensch schämt sich ihrer zunächst. Ich werde einen höheren frei gelegenen Punkt ersteigen und aus meinem Rock eine Fahne machen. Dieser Versuch ist praktisch wertlos. Gabriel gaukelt sich damit nur etwas vor. Es treibt ihn einfach hinauf und nicht hinunter. Jetzt denkt er selbstverständlich noch: Wovon werde ich leben? Er greift in die Taschen seines Überrocks. Drei Weißbrötchen und zwei Tafeln Schokolade, das ist alles. In den Taschen des Leibrocks findet er nichts Rechtes, die Karte des Damlajik, ein paar alte Briefe und Aufzeichnungen, eine leere Zigarettenschachtel und dann die Münze des Agha Rifaat Bereket mit der griechischen Aufschrift. Er hält das dünne goldene Ding in der Hand. Plötzlich erinnert er sich, daß er damals vor dem großen Aufbruch noch einmal in die Villa zurückgekehrt war, um die Münze zu holen. Hätte er's doch lieber nicht getan! Jetzt ist es ihm, als müsse er das böse Amulett im letzten Augenblick noch von sich werfen. Er tut es nicht, sondern steckt die Münze wieder ein, der Inschrift gedenkend. So gesund, so kraftvoll wie in dieser Stunde hat sich Bagradian nicht einmal in den ersten Tagen der Verteidigung gefühlt. Jede Spur von Müdigkeit ist aus den Beinen verschwunden, die Knie schwingen übermütig, das Herz kommt nicht ins Klopfen, und ehe er noch weiß wie, ist der freie Punkt erreicht, der schon hoch über dem Meere liegt. Gabriel tritt auf den Felsvorsprung, um den Mantel in weiten Kreisen über dem Kopf zu schwenken. Kaum aber hat er damit begonnen, läßt er die Arme wieder sinken. Und er weiß zugleich das erstemal mit blitzhafter Klarheit, daß er ja gar nicht von den Schiffen gesehen werden will, daß seine Lage kein unheilvoller Zufall ist, sondern eine tiefe Entscheidung, die nicht nur Gott allein getroffen hat, sondern auch er selbst. Wie ist das? Keine Spur von Sinn- und Gefühlsverrückung kann er in sich finden. Sein Geist ist ebenso klar, wie sein Gemüt ruhig ist. Ihm scheint es sogar, daß eine lange, dumpfe Betäubung jetzt erst von ihm weicht. Alles in ihm will ins reine kommen mit einer bisher unbekannten Bewußtseinskraft.
Er verläßt den Meeresausblick. Seine für sich selbst leicht gewordene Gestalt wandert mit großen Schritten den holprigen Steig aufwärts, der nichts andres ist als ein ausgetretener, durch Steine und Holzstücke kenntlich gemachter Zickzack zwischen Felswänden, Wasserrinnen und Schluchten. Doch die Klarheit in Gabriel ist auch im Sinnlichen so groß, daß er weder auf die Merkzeichen des Weges noch auf die Gefahren achten muß. Er weiß, daß er in diesem Lebenszustand sich nicht versteigen noch abstürzen kann. Gleichmäßig wie sein Puls arbeitet seine Erkenntnis. Es ist die Rechenschaft des Stolzes, die er sich auf diesem Wegabschnitt gibt. Darum also war er heute morgen, als das Wunder vom Meere donnerte, beinahe enttäuscht. Darum also erfüllte ihn die Mitteilung der Exzellenz, man werde das Volk vom Musa Dagh und somit auch ihn in Alexandria oder Port Said ans Land setzen, mit schwer begreiflichem Unbehagen. In diesem Unbehagen schon keimte der große Wille dieser Stunde. Im ersten Augenblick der allgemeinen Rettung hatte ihn sofort die Ahnung angewandelt, daß es für ihn diese Rückkehr ins Leben nicht gebe, schon deshalb, weil der wahre Gabriel Bagradian, wie er in diesen vierzig Tagen entstanden ist, wirklich gerettet werden mußte. Nach Port Said oder Alexandria? In irgendein Barackenlager für armenische Flüchtlinge? Den Musa Dagh mit einem engeren und niedrigeren Pferch vertauschen? Von der Höhe der Entscheidung in die Sklaverei hinabsteigen, um auf neue Gnade zu warten? Warum? Ein altes Wort Bedros Hekims klingt auf: Armenier sein ist eine Unmöglichkeit. Sehr wahr! Die Unmöglichkeiten sind aber für Gabriel Bagradian abgetan. Mit unbeschreiblicher Sicherheit erfüllt ihn das Einzigmögliche. Er hat das Schicksal seines Blutes geteilt. Er hat den Kampf seines Heimatvolkes geführt. Ist aber der neue Gabriel nicht mehr als Blut? Ist der neue Gabriel nicht mehr als ein Armenier? Früher hat er sich zu Unrecht als »abstrakter Mensch«, als »Mensch an sich« gefühlt. Er mußte zuerst durch jenen Pferch der Gemeinschaft hindurch, um es wahrhaft zu werden. Das ist es, darum fühlt er sich so unermeßlich frei. Kosmische Einsiedelei. Die Sehnsucht dieses Morgens. Nun ist sie gefunden, wie von keinem Sterblichen noch. Jeder Atemzug schwelgt in der trunkensten Unabhängigkeit. Die Schiffe entfernen sich, und Gabriel bleibt zurück auf diesem Felshang des Musa Dagh, der leer sich dehnt wie eben erschaffen. Nur zwei sind da, Gott und Gabriel Bagradian. Und Gabriel Bagradian ist von Gottesgnaden, ist wirklicher als alle Menschen und alle Völker!!
Auf der Höhe dieses Stolzes befällt ihn eine leichte Schwäche. Die Frauen! Wo Frauen sind, da ist auch männliche Schuld. Gabriel hat jene sanfte Bergstufe erreicht, wo heute die Krankenträger Rast hielten und Iskuhis Augen zu ihm vom Abschied sprachen. Er sieht aber nicht Iskuhi, sondern Juliette in ihrem Taftkleid. Was wird aus ihr werden? Gabriel bleibt einen Moment lang stehn und blickt aufs Meer hinaus. Die Schiffe ziehen so langsam. Sie haben noch immer nicht die Mitte der hochgestellten Meeresfläche gewonnen. Noch könnten ihn die Männer im Auslug vielleicht sehn, wenn er den Mantel über dem Kopf kreisen ließe. Doch ein andrer Gedanke beschäftigt ihn. Juliette wird frei sein und hat es dann leicht, die französische Staatsbürgerschaft zurückzuerhalten. Wenn es sich herausstellt, daß er verschollen ist, dann wird sich der Admiral und die ganze Welt ihrer liebevoll annehmen. Diese klare Überlegung steigert noch seine Freiheit. Er geht jetzt bedächtiger und mit leicht gesenktem Kopf eine Felshalde entlang, ehe der Steig in Wald und Buschwerk mündet. Gabriel hat wieder zwei Biegungen zurückgelegt, als er plötzlich zusammenschrickt. Ist das möglich? Hat sich Iskuhi tatsächlich im letzten Augenblick irgendwo versteckt, um zurückzubleiben und bei ihm zu sein? Während der nächsten Sekunden erscheint ihm dies nicht als verstiegene Phantasie. Seine Sinne glauben es sogar inbrünstig. Denn Iskuhis Schritt ist hinter ihm. Er unterscheidet das spitze, bestimmte Nachklappen ihrer Absätze. Wo werden wir sein, Schwester, du und ich? Sie hat ihr Wort wahrgemacht: Bei dir. Er sieht sich nicht um, läuft ein großes Stück weiter, bleibt dann stehn. Iskuhis leichter, gleichmäßiger Schritt ist unabwendbar hinter ihm. Immer deutlicher ein Frauenschritt, der emporsteigt. Der Weg raschelt, die Erde knirscht, Steine rollen seitab. Gabriel wartet. Nun müßte Iskuhi ihn schon erreicht haben. Aber der Schritt tickt immer gleich nah und gleich fern. Endlich spürt er, daß Iskuhis Schritt nicht außer ihm, sondern in ihm vorgeht. Seine Hand gleitet am Körper hinab und verhaftet die Taschenuhr. Wie er sie nun hervorzieht, wird das Ticken so laut, daß es nicht mehr einem Frauenschritt, sondern den hartnäckigen Schlägen eines feinen Hammers auf Gestein gleicht. Die Einsamkeit übertreibt den Laut. Oder ist es Gabriels persönliche Zeit, die sich in der Steigerung seines Lebens mitsteigert?
Er hält noch immer die Uhr in der Hand, als der Schatten von der allerletzten Gewißheit weicht. Der Schlaf vorhin ist kein gewöhnlicher Schlaf gewesen. Dieser Schlaf war vorgesehen, um seiner Schwachheit zu helfen, damit er seine Bestimmung erfüllen könne. Ohne ihn wäre er zurückgesunken. Doch Gott hat etwas andres mit ihm vorgehabt. Wann war das nur? Ist es eine Einbildung oder hat er diese Worte wirklich gesprochen: Seit einiger Zeit habe ich das felsenfeste Gefühl, daß Gott etwas mit mir vorhat ... Nun kennt er das Vorhaben in seiner ganzen Tiefe. Da ist es nicht mehr die Freiheit und freudige Getrostheit nur, die ihn durchflutet. Nein, etwas ganz und gar Neues bestürmt sein Wesen. Der Jubel des übernatürlichen Zusammenhangs, der geistige Strahl: Mein Leben ist gelenkt und daher geborgen. Mit leicht geöffneten Armen wandert er weiter, den Weg nicht fühlend. Die nächste Felslichtung öffnet sich. Immer hochgebauter steigt der Meereshorizont. Das Geschwader rückt, in der dreieckigen Form des Storchflugs, allmählich in größere Fernen. Gabriel aber späht nicht mehr nach den Schiffen. Er sieht in den Nachmittagshimmel, dessen Blau sich immer golddunkler färbt. Jetzt weiß er den Vater so stark, wie er ihn nur als kleines Kind gewußt hat. Die Schale wölbt sich tief und tiefer und ist kein kalter astronomischer Weltraum mehr, sondern der Ort des Empfangenwerdens. Schon verliert sich der Weg in der letzten Steigung. Gabriel spürt ihn nicht. Noch immer hält er die Arme leicht geöffnet und blickt in den schattigen Himmel. Jeder Schritt, den er tut, ist eine Darbringung. Doch auch oben herrscht keine Starrheit. Auch dort bewegt sich ein opferndes Entgegenkommen auf ihn zu.
Er durchquert den Gürtel der Myrten- und Rhododendronbüsche. Müßte er nicht an die nächsten Stunden denken, an die Nacht, an ein sicheres Versteck? Denn so wie er jetzt lebt, kann kein sterblicher Mensch über die Dämmerung hinausleben. Nichts fragt in ihm. Seine Füße tragen ihn die gewohnten Wege. Der Dreizeltplatz. Die Zelte sind nicht nur aus wasserdichtem, sondern auch aus feuerfestem Stoff verfertigt und haben sich daher den Flammen widersetzt. Nicht einmal im Innern hat das Feuer Glück gehabt. Die Betten stehen unversehrt. Gabriel geht an Juliettens Zelt vorüber, ohne sich aufzuhalten. Vor der Stadtmulde macht er unentschlossen halt. Es zieht ihn nach Norden, in die große Stellung, zu seinem Werk. Dann aber nimmt er die andre Richtung, gegen die Haubitzgruppe. Vielleicht ist er sogar ein wenig neugierig, ob den Marineinfanteristen die Sprengung der Geschütze gelungen ist. Zwischen Stadtmulde und Haubitzkuppe liegt der große Friedhof. Vierhundert Gräber haben in der mageren Erde dennoch Platz gefunden. Die aus der ersten Zeit tragen unbehauene Kalkblöcke und Platten mit schwarzgemalten Inschriften. Die späteren sind nur mehr durch leere Holzkreuze bezeichnet. Gabriel tritt zu Stephan. Der Aufwurf des Grabes ist noch ziemlich frisch. Wann haben sie ihn nur gebracht? Am dreißigsten Tage, und heute ist der einundvierzigste. Und wann war es, als er mich hier oben schlafend überraschte? Jetzt überrasche ich ihn wieder. Und wir sind wie damals allein auf dem Musa Dagh. Gabriel rührt sich nicht fort, denkt aber nicht nur an Stephan, sondern an hundert Begebnisse der Kampfzeit. Nichts stört die große Ruhe in ihm. Kaum merkt er, daß die Sonne untergeht.
Als es auf einmal kalt und dunkel wird, rüttelt er sich aus seiner Versunkenheit auf. Was war das? Fünf Schiffssirenen, in verschiedenen Tonlagen durcheinander, drohend, lang, doch unendlich fern. Gabriel reißt seinen Mantel vom Boden auf. Jetzt haben sie mein Fehlen entdeckt. Jetzt rufen sie mich. Auf die Schüsselterrasse! Ein Feuer anzünden! Vielleicht, vielleicht! Das Leben rast in ihm. Beim ersten Schritt aber fährt er zurück. Auf der Erde kriechend nähert es sich in einem Halbkreis. Sind es die wilden Hunde? Doch keine Augen glühn in der Dämmerung. Der kriechende Halbkreis erstarrt, zehn Schritt entfernt. Gabriel tut, als merke er nichts, blickt in die Luft, macht einen Schritt zurück und duckt sich hinter Stephans Hügel. Doch unvermutet blitzt es von der Seite auf, eins, zwei, dreimal.
Gabriel Bagradian hatte Glück. Die zweite Türkenkugel durchschmetterte ihm die Schläfe. Er klammerte sich ans Holz, riß es im Sturze mit. Und das Kreuz des Sohnes lag auf seinem Herzen.