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Fünftes Kapitel
Die Altarflamme

Ter Haigasun hatte nach einer langen Rücksprache mit Pastor Aram und Altouni die Verfügung getroffen, es solle mit den vorhandenen Resten nicht mehr gespart werden. War's nicht ganz und gar sinnlos, das Leben zu strecken und damit auch seine Qual? Schon gab es, ehe der wirkliche Hunger noch eingesetzt hatte, Entkräftete genug, Weiber, Kinder, alte Leute, die einfach hinfielen und nicht wieder aufstanden. Dieses langsame Aufgeriebenwerden entpuppte sich als die schlimmste Form des Untergangs. Der Priester war willens, den Prozeß abzukürzen. Besser, noch ein paar Tage lang sich satt zu essen und dann dem Nichts gegenüberzustehn, als dieses Nichts um den Preis ewig brennender Eingeweide für eine lächerliche Spanne hinauszuschieben. In den ersten Septembertagen wurden also die zwei mageren Kühe des Hauses Bagradian sowie alle Ziegen, Böcke und Geißen geschlachtet, ohne Rücksicht auf die Milch, die ihrer Menge und ihrem Gehalt nach nichts mehr bedeutete. Dann kamen die Pack- und Reitesel an die Reihe, deren ledernes Fleisch freilich weder am Bratspieß noch auch im Kochtopf garzubekommen war. Immerhin, das Großvieh ergab, bis auf Knochen und Blut verwertet, mit Schwanz, Haut, Huf und Kutteln, mächtige Nahrungsberge, welche die Mägen zugleich füllten und peinigten. Dazu kam noch der Zucker und Kaffee Rifaat Berekets, ungefähr ein viertel Pfund auf jeden Haushalt. Der Sud aber wurde immer wieder von neuem aufgekocht, so daß die Kaffeekannen, dem evangelischen Ölkrüglein gleich, nicht leer wurden. Von diesem Trank ging wenn auch nicht Heiterkeit und Zuversicht, so doch eine angenehme Ergebung in die Minute aus. Als beinahe ebenso wichtig erwies sich der Tabak. Ter Haigasun hatte es mit großer Weisheit gegen die widerstrebenden Muchtars durchgesetzt, daß der Löwenanteil, vier ganze Ballen, an die Männer der Südbastion verteilt werde, an Tunichtgute und unsichere Kantonisten also. Sie durften nun im Rauche schwelgen wie nicht einmal in ihren besten Lebenszeiten. Dieses Wohlbehagen sollte es verhindern, daß sie auf unnütze Gedanken kämen. Auch Sarkis Kilikian lag, vom Tabakgenuß völlig ausgefüllt, auf dem Rücken und schien gegen die Weltordnung derzeit nichts einzuwenden haben. Lehrer Hrand Oskanian freilich war Nichtraucher.

Diesen leichtsinnigen, aber lebensfördernden Maßnahmen standen zwei andre bedachtsame und nächtige gegenüber. Ter Haigasun hatte sie in einem langen Zwiegespräch dem Arzte abgerungen. Altounis Gesicht, runzlig wie ein welkes Blatt, wurde immer trockener und brauner. Ein Husten erschütterte seinen dürren Brustkasten, das tiefere Unbehagen verschleiernd. Sowenig Bedros Hekim auch vom Leben hielt, er hatte mit letzter Kraft für seine Erhaltung hier oben gekämpft. Jetzt aber mußte er einsehen, daß Ter Haigasun im Recht war. Die Umstände vertauschten die Rollen der beiden Männer. In dieser Sache entschied der Priester gottloser als der Arzt.

Am vierunddreißigsten Exilstag, vierundzwanzig Stunden nach Krikors Tod, befanden sich auf dem Infektionsplatz etwa zweihundert Kranke, im und um den alten Lazarettschuppen aber mehr als hundert, außer den Schwerverwundeten jene Entkräfteten zumeist, die während der Arbeit oder auf dem Wege zusammengebrochen waren. Angesichts eines Volkes von fünftausend Seelen konnte dieser Krankenstand, zu dem ja auch die Verwundeten gehörten, noch immer nicht beängstigend erscheinen. An diesem Tage aber schoß, unvermittelt und unbegründet, die Kurve der Sterblichkeit wild in die Höhe. Bis zum Abend erloschen dreiundvierzig Menschenleben, und es war zu erwarten, daß ihnen im Laufe der nächsten Stunden noch manche folgen würden. Der Friedhof genügte längst nicht mehr, um so vielen neuen Gästen Herberge zu geben. Der Rand der verhältnismäßig tieferen Erdschicht war schon überschritten. Jetzt stieß der Spaten bereits unter vier Fuß auf den Kalkknochen des Damlajik. Man hätte sich demnach im Umkreis der Möglichkeiten auf die Suche nach einem günstigeren Boden für die ewige Ruhestatt begeben müssen. Dieser aber wäre kaum zu finden gewesen. Auch war's angezeigt, mit der verbrauchten Arbeitskraft höchst vorsichtig umzugehen und sie nicht an den Tod zu verschwenden. Da sich überdies in den Butten kein Körnchen der alten Heimaterde mehr fand, die Ter Haigasun den Abgeschiedenen hätte mitgeben können, blieben diese ganz und gar auf Gottes Allwissenheit angewiesen, daß Er beim letzten Gericht erkenne, wohin sie gehörten. Es blieb demnach gleichgültig, wie und wo sich die Toten nach den Tagen des Musa Dagh ausschliefen. Ihr Schlaf würde ja nach all dem Erlebten tief und fest sein.

Ter Haigasun führte daher eine neue Begräbnisart ein, ohne sie dem Volke des langen und breiten vorher zu verlautbaren. In später mondloser Nacht wurden die Leichen gesammelt und auf die Schüsselterrasse getragen, die ja wie ein riesiger Schiffsschnabel weit ins Meer hinausragte. Alles mußte mit Hand anlegen, die Pfleger, das Friedhofsvolk und was sonst noch auf der Nachtseite des Lagerlebens beschäftigt war. Drei- und viermal wurde der Weg zurückgelegt, ehe alle Toten in ihren zugebundenen Hemdsäcken auf dem nackten Felsen nebeneinander lagen.

Seit Neumond hatte das Wetter umgeschlagen. Kein Regen zwar, doch über die Kuppen des Musa Dagh fegte ein unwilliger und aufsässiger Wechselsturm, manchmal als atemberaubender Steppenwind, manchmal als schaumiger Schirokko von der See her, doch immer wieder sich drehend, als wollte er die gebundeneren Elemente, Erde und Wasser, zum Narren halten. Hätte Gabriel Bagradian die Stadtmulde nicht so günstig gewählt, keine einzige Hütte wäre stehengeblieben. Auf der ausgesetzten Schüsselterrasse schien der Sturm seinen Horst zu haben. Wenn er den Felsen ansprang, konnten sich die Menschen kaum aufrechterhalten. Die Fackeln und Kirchenkerzen, die das Gefolge trug, wurden im ersten Augenblick ausgeblasen. Nur das silberne Rauchfaß, das der Diakon dem Priester hinhielt, erschimmerte leicht. Ter Haigasun ging mit kleinen Schritten, einsegnend, von einem Toten zum andern. Nunik, Wartuk und Manuschak waren über die Art dieses Begräbnisses äußerst ungehalten, übten aber, da sie auf dem Damlajik nur geduldet waren, keine Kritik. Sie beeilten sich, die Verfehlung des Priesters an den hilfsbedürftigen Seelen gutzumachen, indem sie inbrünstiger als sonst in ihre altheilige Klage ausbrachen. Die erbosten Windstöße nahmen frech den Wettstreit auf. Es kam dabei ein Geheul heraus, das keiner Seele in dem Kampf gegen die niederziehenden Höllengewalten helfen konnte. Zwei Männer hoben den ersten Toten an Schultern und Füßen hoch und trugen ihn an die Kante der Felsnase heran. Dort aber stand ein mächtiger Kerl auf gespreizten Beinen, fühllos gegen den Sturm, die Hände wie zwei große ungegliederte Lattichblätter in Bereitschaft erhoben. Dies war Kework, der Tänzer mit der Sonnenblume, der Kretin. Man hatte ihm sein Amt mit einiger Mühe klargemacht. Endlich war er zum Verständnis gelangt, erfreut nickend: »O ja, ganz wie auf den Schiffen ...« Dabei hörte man zum erstenmal, daß Kework in seiner Jugend auf einem Kohlenkutter das Schwarze Meer befahren hatte. Der Schwachsinnige besaß ein diensteifriges Herz, und nichts befriedigte sein Gemüt mehr, als wenn er sich nützlich erweisen konnte und ihm eine Arbeit anvertraut wurde. Die Art dieser Arbeit spielte keine Rolle. Alle anderen Männer machten hierbei Unterschiede. Für die Mitglieder der hohen Kriegerkaste, für die Leute aus den Zehnerschaften des ersten Treffens, galten alle Arbeiten, die nicht unmittelbar mit der Verteidigung zusammenhingen, für entwürdigend. Die Angehörigen der Reserve wiederum fanden die Tätigkeit der Metzger, Feueranzünder, Krankenpfleger unter ihrem Rang. Diese ihrerseits blickten verächtlich auf die Totengräber herab. Kraft eines unverwüstlichen Menschheitsgesetzes hatte sich auch auf dem Damlajik eine Hierarchie herausgebildet, deren Gründe hier ebenso unklar waren wie anderswo. Kework der Tänzer aber stand mit Sato und einigen andern Bettlern, Krüppeln, Geisteskranken jenseits dieser Stufenleiter. Wenn man ihm Arbeit gab, erhob man Kework über seine Klasse und adelte ihn gewissermaßen zum Proleten. Er fühlte sich erwünscht, gebraucht und mithin beglückt. Auch jetzt war dem so. Kework ließ es nicht zu, daß ihm ein andrer auch nur den kleinsten Anteil seiner Würdigkeit raubte. Er nahm den Leichnam in Empfang und stieß die beiden Männer, die ihm helfen wollten, mit den Ellenbogen zurück. Das Meer schien noch eine Sternspur der vergangenen hellen Nächte zu bewahren. Von den weißen Kämmen draußen stieg eine Lichtahnung auf und ließ die Gestalt des Tänzers scharf hervortreten. Einige Laternen bezeichneten den drohenden Rand des Felsens. Trotz der Laterne aber war's ein grausam gefährliches Werk, das man Kework aufbürdete. Die Schüsselterrasse lag nämlich auf der sogenannten Hohen Wand, die vollkommen lotrecht mehr als vierhundert Meter in die Tiefe sauste. Unten hatte sich das Meer so tief in den Fuß der Hohen Wand eingefressen, daß die Felsplatte wirklich wie auf einer ausgestreckten Hand frei im Raume schwebte und die Brandung von oben nicht sichtbar war. Ein falscher Schritt auf diesem gigantischen Schiffsbug, und der schnellste und gründlichste Tod war sicher. Den Tänzer aber faßte jetzt in tiefer Nacht keine Angst und nicht der leiseste Schwindel an, während sich die andern Männer eilig zurückzogen. Auf dem schmalen, schwacherleuchteten Rande tanzte er wirklich und wiegte sich und den Toten, einer gewaltigen Amme gleich. Seine Hände schwangen den entseelten Körper, der in seinem dreifach zugeknöpften Hemd noch durch einen Stein beschwert war, leicht und wägend hin und her, ehe sie ihn mit einem flachen unglaublichen Schwung weit hinausschleuderten. Der Leichnam versank lautlos und unsichtbar in der Nacht. Kework hatte, trotz der lächerlich geringen Nahrung, die ihm seit vielen Tagen zugewiesen wurde, nichts von seiner Kraft verloren. Als er, nach einer Stunde etwa, sich rhythmisch auf seinen gespreizten Beinen wiegend, den dreiundvierzigsten Toten mit leichtem Schwung in der Unendlichkeit verschwinden ließ, schien er dann über die leeren Hände und die beendete Arbeit sehr traurig zu sein. Gerne hätte er vierhundert, tausend, das ganze Volk so sanft gewiegt und zur Ruhe gebracht. Ein unbeteiligter Zeuge wäre erstaunt gewesen, wie ohne Grauen diese Bestattung war, ja wie schön.

Nicht hierum jedoch hatte es sich in dem Gespräch zwischen Ter Haigasun und Bedros Hekim gehandelt, denn dieser kämpfte nicht um die Toten, sondern um diejenigen, welche noch lebten. Der Priester vertrat die für seinesgleichen kühne Meinung, es sei besser, die Kranken, die sich schon hoffnungslos an der Grenze befänden, ruhig hinüberzulassen, jene vor allem, die nicht bei Bewußtsein waren oder wunschlos vor sich hin dämmerten. Der Arzt gab zu, daß die Kranken in diesem Zustand nicht nur nicht nach Nahrung verlangten, sondern sich wehrten, wenn ihnen die Pfleger die kärgliche Milch oder Suppe brachten. Sie würden darunter nicht leiden, wenn man sie ohne Unterbrechung träumen und im Traum verschmachten ließe. Ter Haigasun dachte dabei am wenigsten an den Verpflegungsgewinn für die gesunden Kinder, auch die Entlastung der Lebensfähigen von den Todgeweihten bekümmerte ihn nicht sehr. Ihm war es darum zu tun, alle jene, denen Gott die Gnade eines schönen Sterbens väterlich vors Auge hielt, um dieses Geschenk nicht zu bringen, nur damit Leben für die Türken aufgespart werde. Der Arzt und der Priester gingen durch die Reihen der beiden Lazarettplätze. Altouni mußte über jeden Kranken das Lebens- oder Todesurteil aussprechen. Nur in den offensichtlich hoffnungslosen Fällen entschied er sich sofort. Hier konnte man das Leiden um einen oder zwei Tage abkürzen. Fand er aber auf irgendeiner Miene, in irgendeinem Pulsschlag noch eine Spur von Zukunft, so begann er für den Kranken zu kämpfen, besonders wenn es sich um jüngere Menschen handelte. Der Priester schien weniger mitleidig zu sein als der Arzt. Für ihn besaß der Mensch dieses Leben und das ewige. Dieses war, solange man lebte, nicht unwichtiger als jenes. Wer es aber auf natürlichem Wege verlor, verlor nicht viel, ja mußte sich noch seligpreisen, daß er nicht durch den höllischen Schreck der Ermordung an seiner ewigen Seele Schaden nahm. So dachte der Priester in der Tiefe seines Herzens. – Der Arzt glaubte nur an dieses Leben und nicht an jenes. Wer dieses Leben verlor, der verlor, seiner Meinung nach, nicht nur nicht viel, sondern nichts. Dieses Nichts aber war umgekehrt auch alles. Niemand hatte etwas anderes zu verlieren als dieses All-Nichts. Es kam nur darauf an, wie er es selbst einschätzte. Bedros Hekim aber wußte nicht, wie zum Beispiel diese junge Frau hier zu seinen Füßen, die ihn mit glänzenden, gleichsam überfüllten Augen anstarrte, ihr eigenes Leben einschätzte. Vielleicht konnte sie, auch wenn sie nicht genas, noch einmal fünf Minuten lang irgendein irdisches Glück genießen. Darum zögerte er, der Lebensverächter. Für Ter Haigasun aber bedeutete das Fünf-Minuten-Glück dieser Frau gar nichts gegenüber einem reinen Eintritt in die Ewigkeit. Sprach der Arzt kein klares Ja oder Nein, so ging der Priester ruhig weiter. Einer von seinen Diakonen aber, der den beiden Männern folgte, steckte links neben dem Kopf des Kranken ein kleines Stöckchen in die Erde. Das war ein Zeichen für die Wärter, sie sollten, wenn der Sterbende keinen Wunsch mehr äußerte, ihm auch nichts mehr aufdrängen. Manchmal kehrte Altouni verstohlen zurück und zog das Stöckchen aus der Erde. Wie merkwürdig! Der Priester rechnete fest mit dem Untergang und glaubte dennoch an ein Wunder. Der Arzt glaubte fest an den Untergang und rechnete trotzdem mit einem tollen Zufall, der den Tod abwenden werde. So ähnlich diese Regungen auch schienen, sie waren voneinander sehr verschieden. Sowohl Ter Haigasun als auch Bedros Hekim schwiegen darüber.

Kework aber, der Tänzer, bekam viel Arbeit.

 

Zu unerwarteter Zeit kehrten die Schwimmer aus Alexandrette zurück.

Am frühen Morgen tauchten die beiden jungen Leute bei der Nordstellung auf. Sie waren glücklich durch die weitgezogenen Patrouillenketten der Saptiehs und Soldaten geschlüpft, die alle Höhenzüge des Musa Dagh seit zwei Tagen umspannt hielten, von Kebussije bis zum Küstendorf Arsus im Norden hin. Der körperliche Zustand der Schwimmer widersprach der Dauer und den Strapazen ihres zehntägigen Abenteuers. Sie waren zwar mager wie Gerippe, aber wie sehnig federnde Gerippe, sonnen- und salzluftfarben. Am sonderbarsten erwies sich ihre Tracht. Der eine trug einen angeschabten, ehemals eleganten Herrenschlafrock aus brauner Wolle, der andre eine weiße Flanellhose und dazu das Wrack eines Smokings aus der mythischen Urzeit dieser Kleidungsart. Beide schleppten je einen schweren Sack mit hartem Militärzwieback auf dem Rücken, das Zeichen eines heroischen Volksdienstes, wenn man an die fünfunddreißig englischen Meilen Gebirgsstrecke zwischen Damlajik und Alexandrette denkt.

Erfüllte die Heimkehr der Schwimmer die schnell zusammenströmenden Menschen mit Jubel, so war der Bericht der Boten danach angetan, den allerletzten Hoffnungsschimmer erlöschen zu lassen. Sechs Tage lang hatten sie sich in Alexandrette aufgehalten, ohne daß sich im Außenhafen auch nur die Spur eines Kriegsschiffes gezeigt hätte. An der Reede lagen eine Menge alter türkischer Schepperkasten, Kohlenschuten, Fischerschaluppen und ein vom Krieg überraschter russischer Handelsdampfer. Die riesige Bucht aber, die den rechten Winkel zwischen Kleinasien und Asien bildet, lag leer, so leer wie die Küste im Rücken des Musa Dagh. Seit vielen Monaten hatte niemand in Alexandrette, nicht einmal in der undeutlichsten Ferne auch nur die Ahnung eines Kriegsschiffes zu Gesicht bekommen.

Verständlicherweise waren die Jünglinge viel weniger von der Vergeblichkeit als von dem bunten Eifer ihres Unternehmens und der überstandenen Gefahr erfüllt. Sie erzählten im ungeordneten Durcheinander. Eifersüchtig nahm einer dem andern das Wort vom Munde. Sehr ausführlich schilderten sie Tag um Tag ihrer Expedition. Wenn einer eine Kleinigkeit vergaß, wurde der andre ungeduldig. Die Menge aber, ihrer eigenen Lage vergessend, konnte von all diesen Einzelheiten nicht genug bekommen. Manches deutete darauf hin, daß die Schwimmer während ihres langen Ausbleibens auch eine Zeit stattlichen Wohlergehens erlebt haben mußten, wie es auf dem Damlajik nicht mehr vorstellbar war.

Am ersten Tag nach ihrer Nachtwanderung hatten sie, immer auf der Gebirgshöhe, das Ras el Chansir abgeschnitten und waren unbehelligt auf die Küstenstraße gelangt, die von Arsus in die Hafenstadt führt. Einen ganzen Tag verbrachten sie dann auf einem Hügel in der nächsten Umgebung von Alexandrette, wo sie hinter der sicheren Deckung von dichtem Myrtengebüsch unablässig den äußeren Hafen belauerten. In der vierten Nachmittagsstunde etwa zeigte sich etwas schmales Graues, das aus weiter Ferne her in einer scharfen Kielschaumlinie der Küste zustrebte. Jede Vorsicht vergessend, flogen sie in weiten Sprüngen zur Küste hinab, stürzten sich ins Wasser und schwammen, an der hölzernen Landungsbrücke vorbei, in den offenen Hafen hinaus. Sie näherten sich, wie es ihr Auftrag erheischte, dem vermeintlichen englischen oder französischen Torpedoboot, das vor ihren Blicken rasch aufwuchs, in großem Bogen, erkannten aber sehr bald zu ihrem Entsetzen die Halbmondflagge am Heck. Doch auch an Bord hatte man die Schwimmer gesichtet. Schallende Zurufe! Als keine Antwort kam, wurden ihnen von der Besatzung der Inspektionsbarkasse des türkischen Hafenkommandanten, als welche sich ihr Irrtum entpuppte, ein Dutzend Gewehrschüsse nachgepfeffert. Sie tauchten und schwammen eine meisterhaft lange Strecke unter Wasser. Später verbargen sie sich zwischen den zyklopischen Felsen, auf denen die Landungsbrücke errichtet ist. Glücklicherweise war es schon Abend und der Hafen ausgestorben, dennoch konnten sie auf den morschen Planken der Brücke hoch über sich den schallenden Patrouillenschritt des Wachtpostens vernehmen. Da saßen sie nun, vollkommen nackt und naß. Ihre Kleider, ihr Proviant waren dahin. Zum Überfluß begann jetzt noch ein nahes Blinkfeuer jede halbe Minute einmal über ihre Leiber scharf hinzutasten. Sie verkrochen sich, so gut sie konnten. In tiefer Nacht erst wagten sie es, mit Vermeidung der langen Hafenstraße, ans Land zu gehn. Es blieb ihnen keine andre Wahl, als entweder feige auf den Hügeln zu verschmachten, oder sich mutig in die Stadt zu wagen. Es ergab sich vorerst ein Mittelweg. Auf einer parkartigen Anhöhe, die gepflegten Schutz vor der Malaria bot, lagen mehrere große Herrschaftsvillen. Die Schwimmer waren, nach allem, was sie über Alexandrette gehört hatten, überzeugt davon, daß mindestens eine dieser Villen armenischer Besitz sein müsse. Gleich an dem ersten Gartentor gab ihnen das Namensschild, das sie im Mondschein entzifferten, recht. Das Haus aber war verschlossen, ohne Licht, die Laden vernagelt, tot. Die Boten ließen sich nicht abschrecken. Sie waren bereit, einzubrechen, um einen Unterschlupf zu finden. An der Gartenmauer lehnten ein Grabscheit und eine Hacke. Nun begannen sie mit verzweifelten Schlägen auf das Tor loszuarbeiten, ohne zu bedenken, daß ihr Gedonner auch den Todfeind wecken konnte. Doch schon nach wenigen Sekunden rasselte innen das Schloß. Es wurde geöffnet. Ein zitterndes Licht und ein zitternder Mann: »Wer?« – »Armenier! Gebt uns zu essen und versteckt uns, Jesus Christus!« – »Ich kann niemanden verstecken. Sie inspizieren täglich, von oben bis unten, die Saptiehs. Unsere Aufenthaltsbewilligung gilt immer nur für eine Woche. Und jede Woche kostet hundert Pfund. Wenn sie euch bei uns finden, so werden wir auch verschickt.« – »Wir kommen aus dem Meer. Wir sind nackt.« Der Lichtpunkt der Taschenlampe zitterte über die frierenden Körper: »Barmherziger Gott! Herein kann ich euch nicht lassen. Es wäre unser aller Verderben. Aber wartet hier!« Die Minuten zogen sich endlos. Dann wurden den Schwimmern durch den Torspalt zwei Hemden und zwei Decken gereicht. Auch Brot und kaltes Fleisch bekamen sie in großer Menge und dazu jeder noch zwei Pfund. Der schlotternde Volksgenosse aber flüsterte: »Im Namen des Erlösers, bleibt hier länger nicht stehn! Schon hat man euch vielleicht bemerkt. Geht zum deutschen Vizekonsul! Er ist der einzige, der euch helfen kann. Herr Hoffmann heißt er. Ich schicke eine alte Frau mit euch, eine Türkin. Folgt ihr! Aber nicht zu nahe! Und redet nicht!«

Das Haus des Herrn Hoffmann lag glücklicherweise in demselben Parkviertel. Der deutsche Vizekonsul erwies sich als ein sehr gütiger Mann, der für die Armenier seines Amtsbereiches mehr zu tun bestrebt war, als er durfte und als in seinen Kräften stand. Er gehörte zu den Mitarbeitern des Generalkonsuls Rößler in Aleppo, der sich von allem Anfang an der Verschickten mit Unerschrockenheit angenommen hatte und der einen Riesenkampf der Menschlichkeit gegen Ittihad, die Staatsräson und gegen die Verleumdung seiner eigenen Ehre auszufechten hatte. Hoffmann nahm die Schwimmer bereitwillig auf, sorgte für sie, gab ihnen ein Zimmer, herrliche Betten und dreimal täglich märchenhafte Mahlzeiten. Er versprach ihnen, sie dürften dieses wunderbare Asyl so lange bewohnen, bis der normale Zustand wieder eintrete. Doch schon am dritten Tage ihres Schlaraffenlebens teilten die Armeniersöhne Herrn Hoffmann mit, daß sie nun die Zeit für gekommen hielten, zu den Ihren auf dem Musa Dagh schleunig zurückzukehren. Zur selben Stunde, da sie ihren gütigen Gastvater von diesem Entschluß in Kenntnis setzten, wollte es eine besondere Fügung, daß Generalkonsul Rößler in Alexandrette eintraf, und zwar mit dem ersten Zug der zwischen Toprak-Kaleh und der Hafenstadt neueröffneten Zweiglinie der Bagdadbahn. Rößler riet den beiden Jünglingen auf das dringendste, Gott für ihre Rettung zu danken und den sicheren Zufluchtsort keinesfalls zu verlassen. Der Gedanke an Entsatz bringende Kriegsschiffe sei nichts als der Wahn von Leuten, die durch ihr Elend verrückt geworden seien. Zum ersten gebe es im nordöstlichen Mittelmeer überhaupt keine französischen Kreuzer. Im Hafen von Zypern sei zwar eine englische Flotte stationiert, diese aber habe den Suezkanal und Ägypten zu bewachen und verirre sich niemals nach dem Norden. Wozu auch? Eine Möglichkeit, an der syrischen Küste Truppen zu landen, bestehe nicht. Zum zweiten aber bedeute die Aufnahme von flüchtigen Armeniern in einem Konsular-Haus einen preisenswerten Glücksfall, der sich klarerweise nur sehr selten ereignen könne. Wirklich helfen freilich könne weder er, Rößler, noch auch sein amerikanischer Kollege in Aleppo, der verehrte Mr. Jackson. Dabei erwähnte der Generalkonsul mit großer Befriedigung, daß es Jackson vor wenigen Tagen gelungen war, einen Armenierjungen zu bergen, der ebenfalls dem Armenierlager auf dem Musa Dagh entkommen sein sollte. Die Schwimmer freuten sich herzlich über Haiks Glück, dankten für die wohlwollenden Ratschläge Herrn Rößlers und Herrn Hoffmanns, erklärten aber dennoch, sie wollten so bald wie möglich den gefahrvollen Weg in ihr Elend zurückwandern. Auf neuerliche Mahnungen, ja Beschwörungen erwiderten sie mit der wortkargen Verlegenheit, in die junge kräftige Männer eine derartige Gefühlsäußerung versetzt:

»Wir haben Vater und Mutter oben ... und auch unsre Mädchen ... Das könnten wir nicht aushalten ... Wenn dort das Unglück geschieht und wir sind hier ... am Leben ... und in diesem schönen Haus ...«

Am zweiten Tag des neuen Monats ließ Vizekonsul Hoffmann die Schwimmer ziehen, nachdem alle Bekehrungsversuche fehlgeschlagen waren. Da er durch sie von der Brotentbehrung auf dem Damlajik wußte, erwarb er auf einem nicht ganz rechtmäßigen Umweg von der kaiserlich ottomanischen Militärintendantur zwei Säcke mit Dauerzwieback, die er den Heimkehrern mitgab. Seine schönste Tat aber war es, daß er die Konsular-Yayli anspannen ließ. Die Schwimmer mußten sich links und rechts von ihm in den Wagenfond setzen. Neben dem Kutscher in seiner hohen Pelzmütze prangte der uniformierte Khawaß und schwenkte langsam, aber unablässig eine kleine deutsche Reichsfahne. Stolz fuhren sie an dem Saptiehposten vorbei, der die Zufahrten der Hafenstadt scharf überwachte. Die Gendarmen nahmen stramm Stellung und salutierten ehrfürchtig dem Vertreter des Deutschen Reiches, der Fahne und ihren zweifelhaften Schützlingen. Herr Hoffmann brachte sie auch noch an dem zweiten Posten bei Arsus vorbei. Dort stiegen die Schwimmer aus und nahmen, ihre Tränen nicht verbergend, von ihrem warmherzigen Gönner Abschied.

Dieser Bericht währte länger als eine Stunde, durch Zwischenrufe, Seitenfragen, Abschweifungen und das Einander-ins-Wort-Fallen der Erzähler gedehnt. Es war für alle eine höchst wohltuende Stunde, obgleich der eigentliche Inhalt und Zweck des Berichtes hätte niederschmetternd wirken müssen. Der Botengang war vergeblich gewesen. Die Hoffnung auf Entsatz vom Meere her hatte sich als tollhäuslerische Phantasieausgeburt entlarvt. Und doch zitterte ein sanfter Lichtblick über den Menschen, die sich um die Helden in einem weiten dichten Kreis gelagert hatten. Die Schwimmer saßen auf der Erde, und die Ihrigen waren, um ihren Anspruch kenntlich zu machen, ganz nahe an sie gerückt. Die Väter hörten mit sachgemäßer Miene zu, die zum Ausdruck brachte: Recht gut! Ungefähr so und vielleicht noch ein wenig klüger hätten wir uns auch verhalten. Die Mütter blickten mit fanatischem Stolz um sich. Die beiden Geliebten oder Bräute aber, die sich nun wider allen Brauch offen zur Familie bekannten, tasteten die seltsame Tracht der Burschen ab und überboten einander in einem verlegen krampfhaften Geflüster, in dem verräterische Laute mitschwangen. Dies alles aber war flach gegen Schuschiks Ausbruch. Jemand hatte sie aus ihrer Hütte geholt. Sie hörte, daß Haik in Sicherheit sei. Zuerst schien sie es gar nicht aufzufassen. Stumpf vornübergebeugt sah sie zur Erde. Seit Stephans Tod hatte sie ihren Blick kaum mehr gehoben. Sie war noch knochiger geworden. Ihre harten Männerfäuste aber hingen schlaff herab. Sie holte sich nur mehr sehr unregelmäßig ihr Essen von den Austeilungstischen. Wenn jemand sie ansprach, wandte sich Schuschik noch gröber, noch gehässiger ab als früher. Jetzt aber fing ihr ungeschlachter Rücken ein Geflüster auf:

»Schuschik! Hör doch! Haik lebt ... Haik lebt ...«

Es dauerte lange, ehe das Geflüster in sie eindrang, ehe sich ihr Wesen damit vollsog und der ungeschlachte Rücken allmählich weiblich sanft wurde. Sie sah von einem zum andern, vorerst geduckt noch, dann aber flehend, man solle nicht grausam sein. Da aber tat einer der Schwimmer ein übriges, indem er nach Art erfolgreicher Abenteuerkünder dem Glück nachhalf und ein bißchen aufschnitt:

»Rößler und Jackson sind täglich beisammen. Der Deutsche hat es mir selbst gesagt, daß er Haik gesehen hat und daß es dem Jungen ausgezeichnet geht ...«

Da durchdrang die Gewißheit auch den fernsten Punkt von Schuschiks Sein. Zwei lange, stöhnende Atemzüge. Sie stolperte mehrere Schritte vor. Und diese Schritte führten mitten aus einer fünfzehnjährigen Einsamkeit in den leeren Kreis, der sich um die Schwimmer und ihre Familien gebildet hatte. Noch ein Stolperschritt, dann lag sie da, stützte sich sogleich wieder auf, kniete, diese mächtige Gestalt. In ihrem farb- und alterslosen Gesicht ging etwas Staunendes auf, die Sonne einer jähen unaussprechlichen Menschenliebe. Diese Abweisende, diese lebelang Verkrochene hob ihre plumpen Arme schwach und sehnsüchtig gegen die Wiedervereinten. Die plumpen Arme Schuschiks aber baten: Nehmt mich auf! Laßt mich teilnehmen! Denn nun gehöre ich zu euch ...

 

Noch wurde sie nicht aus dem Schatten gestoßen. Noch lag der Eingang fern, eine rundliche winzige Lichtscheibe, wie das Ende eines Tunnels. Noch durfte sie in der großen Schwäche zu Hause sein, in dem guten Labyrinth, das nicht mehr brannte und dampfte, sondern dumpfig kühl sie umlagerte. Sie sah meist nur bewegte Flächen. Wenn sie sich anstrengte, vermochte sie diese Flächen zu entziffern. Doch sie war ja viel zu klug, um sich anzustrengen. Alle Worte und Schälle schlugen hohl an ihr Ohr wie in einem Raum mit dicken Polsterwänden. Und da stand sie wirklich in der Telefonzelle am unteren Ende der Champs-Élysées und rief Gabriel im armenischen Klub an, denn man gab im Trocadéro eine neue Komödie, die sie sehn wollte. Wenn sich aber das kühle unbestimmte Leben so ausgesprochen verdichtete, wurde sie sofort nervös und floh. Der einzige ihrer Sinne, dem sie sich mit Wonne hingab, war nicht nur in Ordnung, sondern überentwickelt, grandios gesteigert: der Geruch. Sie roch ganze Welten in sich hinein. Welten, die zu nichts verpflichteten. Violette Kleefelder, Vorfrühling in kleinen nordischen Hausgärten, wo farbige Glaskugeln die Straße spiegeln. Nur um Gottes willen keine Rosen! Der Geruch, aus Sonnenstaub, Mittagslärm, Autobenzin, kaltem Weihrauch und Keller tausendfältig gemengt, wenn man die kleine Seitenpforte im Brettergerüst öffnet, die in die Kathedrale führt. Wieder einmal beichten und die Kommunion empfangen! Selten genug geschieht's ja, und nun ist es doch höchste Zeit, falls überhaupt noch geholfen werden kann. Aber der gewisse Name fällt ihr nicht ein. Ist es denn notwendig, etwas zu beichten, das nicht wirklich geschehen ist und wahrscheinlich nur zur Krankheit gehört? Doch nun beginnt schon wieder dieser fürchterliche Geruch der Myrtenbüsche. Nur das nicht, Jesus Maria! Die Myrten werden durch ein starkes Gegenmittel beschworen: Haare waschen. Sie sitzt bei Fauchardière, rue Madame 12, in der engen feuchtwarmen Kabine, weiß verhüllt, weit zurückgelehnt im Frisierstuhl. Kein Wohlgeruch, nur der herbe ländliche Duft der Kamille. (Bäuerinnen, die sonntags zur Messe gehn.) Juliettens Kopf schwebt in einer Wolke von Kamillenschaum. Dann sind die Haare ganz glatt, ganz schütter, ganz strähnig wie bei einem spitzknochigen Schulmädchen. Aber schon streift der warme Fön über das minderjährige Blond und plustert es fraulich auf. Empfindsame Finger beginnen zu arbeiten. Eine weiße Kühle legt sich über Stirn, Wangen und Kinn. Man wird schon bald vierunddreißig sein, und zu gewissen Stunden ist die Haut um Mund und Augen müde. Es sollte immer nur Abend sein, und die Sonne künstliches Licht. Ah, sich wieder einmal liebhaben dürfen! Nicht für andre leben! Ganz versunken sein in den eignen gepflegten Körper, von seinen Reizen bei allem Mißtrauen selbstbeseligt, als ob es keine Männer gäbe ...

Trotz ihres schweifenden Geistes aber konnte Juliette so manches Gegenwärtige sehr scharf beobachten. (Auch in ihrer tiefsten Bewußtlosigkeit noch hatte sie niemals ihre körperliche Scham und Reinlichkeit verloren.) Jetzt, sah sie genau, daß Mairik Antaram sich mit der größten Sorgfalt um ihre Genesung bemühte. Sie hörte, wie die Frau des Arztes sich mit Iskuhi über die Speisen besprach, die für sie zubereitet werden sollten. Bei aller Abgestumpftheit ihrer Gedanken wunderte sie sich doch darüber, daß die suchenden Hände aus der Proviantkiste immer noch eine Tafel Schokolade, eine Handvoll Grieß, eine Dose mit Quaker-Oats hervorzogen. Diese Sachen mußten doch schon längst verbraucht sein. Sie versuchte zu zählen, wer davon mitlebte: Stephan. Ja, und um Stephans willen muß man äußerst sparsam sein. Dann Gabriel, Awakian, Iskuhi, die Tomasians, Kristaphor, Missak, Howsannahs Kind und ... Der Name fiel ihr nicht ein. Sofort verwirrte sich ihr Hirn und drehte sich sausend im Kopf. Auch zählen konnte sie nicht, und mit dem Zeitbegriff war es sehr schlecht bestellt. Was vorher und nachher hieß, was kurz vorbei und längst schon geschehen war, das geriet durcheinander.

Wenn in diesen Tagen der Wiederkehr Juliette das meiste nur undeutlich wahrnahm, wenn ihr auch unendlich viel entfallen war, so enthüllten sich ihr Verborgenheiten mit doppelter Schärfe. Sie lag allein. Mairik Antaram hatte sie für zwei Stunden verlassen müssen, um in den Lazarettschuppen zu gehen. Da trat Iskuhi ins Zelt und setzte sich dem Bett gegenüber auf ihren gewohnten Platz, den kranken Arm, wie es ihre Art war, mit einem Umhangtuch verhüllend. Juliette wußte durch ihre dünngewordenen Augenlider hindurch, daß Iskuhi an ihrem Schlaf nicht zweifelte und sich deshalb in Mienen und Gedanken gehenließ. Sie wußte aber noch mehr. Gabriel hatte eben das Mädchen verlassen, und darum war es in das Zelt gekommen, das wußte sie. Und Iskuhi würde so lange hier bleiben, bis Gabriel wieder zurückkehrte. Auch erkannte Juliette, daß Iskuhis Gesicht, obgleich er nur ein schwankender Schein war, ihr bittere Vorwürfe machte. Bittere Vorwürfe, weil sie nicht die gute Gelegenheit benützt hatte, zu sterben. Und dieses gehässige, dieses häßliche hübsche Ding hatte eigentlich recht. Denn wie lange noch würde Juliette der Aufenthalt im verantwortungslosen Zwischenreich erlaubt bleiben? Wie lange noch würde sie schweigen und schlafen dürfen, wenn Gabriel in der Nähe war? Juliette fühlte die Vorwürfe, den Tadel, die Feindschaft, die von Iskuhi ausgingen, wie scharfe Strahlen auf ihrem Gesicht. Hier saß nicht nur irgendeine Feindin und starrte sie mit stillen Todesflüchen an. Hier saß die Feindin, die große Fremdheit selbst, das Unüberwindlich-Armenische, dem sie zum Opfer gefallen war. Und Juliette hatte immer geglaubt, sie sei das Harte, und das Asiatische das Weiche. Das Harte aber war vom Weichen aufgelöst worden. Während sie zu schlafen schien, überfielen sie schneidende Erkenntnisse. Wie war das? Nicht sie, Juliette, hatte den ersten Anspruch auf Gabriel. Iskuhi besaß den älteren Anspruch, und niemand konnte es ihr verwehren, wenn sie ihr Gut zurücknahm. Ein großes Mitleid mit sich selbst erschütterte Juliette. Hatte sie nicht für diese Asiatin alles getan, um ihre Liebe zu gewinnen, sie, die tausendmal höher stand? Hatte sie dieses ahnungslose Frauenzimmer nicht angezogen, sie mit ihren eigenen Dingen aufs beste geschmückt, sie gelehrt, wie man sein Gesicht und die Hände pflegt? (Ah, und wenn sie nackt ist, hat die Person trotz ihrer reizenden kleinen Brüste eine graubraune Haut, da hilft ihr kein Gott. Und der rechte Arm ist verkrüppelt. Kann das einem so heiklen Mann wie Gabriel gefallen?) Juliette staunte darüber, daß diese Urgegnerin ihr, seitdem sie sich überhaupt des Lebens entsinnen konnte, die Tasse oder den Löffel mit der Nahrung zum Munde geführt hatte, fürsorglich, trotz ihres Gebrechens. Sie hätte doch auch Gift in den Löffel tun können, ja sie hätte das müssen, es wäre ihre Pflicht gewesen. Juliette blinzelte zwischen den geschlossenen Lidern nach der Feindin hinüber. Und wirklich! Iskuhi war aufgestanden, hatte, wie sie das immer zu tun pflegte, die Thermosflasche unter ihre linke Achsel geklemmt und schraubte den Trinkbecher los. Dann stellte sie diesen auf das Spiegeltischchen, schenkte ihn vorsichtig voll und näherte sich damit der Kranken. Also doch! Es war kein leerer Verdacht gewesen. Die Mörderin kam mit dem Gift. Juliette preßte die Augen und Lippen zusammen. Es war ihr, als wage die Mörderin während der Tat mit ihrer gläsernen Stimme noch leise zu singen oder mindestens zu summen. Wie das Surren von Moskitos klang das, die sich auf Juliettens Gesicht niederließen. Sie lauschte mit angespanntem Gehör. Iskuhi neigte sich über sie:

»Du hast schon seit fünf Stunden nichts getrunken, Juliette. Der Tee ist noch schön warm.«

Die Kranke schlug lauernde Augen auf. Iskuhi merkte nichts. Sie hatte den Becher wieder hingestellt und noch ein Kissen zur Stützung unter Juliettens Kopf geschoben. Dann erst hielt sie ihr den Trank an die Lippen. Juliette wartete, damit die Erzfeindin nicht Verdacht fasse, und tat so, als wollte sie wirklich trinken. Plötzlich schlug sie mit wohlberechneter Tücke Iskuhi den Becher aus der Hand. Der Tee ergoß sich über die Decken. Juliette aber hatte sich aufgesetzt und keuchte:

»Geh! Geh du! Geh doch ...«

Viel Schlimmeres noch mußte sie erleiden, als gegen Abend Gabriel an ihr Bett kam. Jetzt galt es, eilig zu fliehn, rasch wieder ins Labyrinth zurückzutauchen. Die dunkeln Gänge waren aber auf einmal verschüttet, und das Zwischenreich bestand nur aus einem lächerlich engen Raum. Gabriel nahm forschend ihre Hand wie immer. Ein klar bewußtes Herzklopfen: Wird er reden? Werde ich heute schon alles erfahren und wissen müssen? Darf ich mich nicht mehr verstecken? Sie versuchte lang und gleichmäßig zu atmen. Doch zugleich spürte sie, daß in dieser Stunde ihr Schlafwandel nicht mehr ganz rein und gerecht war, sondern durch Willen getrübt. Auch Gabriel redete kein Wort zu ihr. Nach einer Weile zündete er die Kerzen auf dem kleinen Spiegeltisch an – Petroleum brannte man nicht mehr – und ging. Juliette atmete auf. Doch nach zwei Minuten kehrte Bagradian noch einmal kurz zurück, um Stephans große Photographie auf Juliettens Bett zu legen, jenes vorjährige Bild, das sonst immer auf seinem Schreibtisch gestanden hatte, in Paris und auch in Yoghonoluk.

Das ist ja gar nicht Stephans Bild, sagte sich Juliette, das ist irgend etwas andres, ein Brief vielleicht und ich soll ihn lesen, wenn ich wieder gesund bin. Jetzt aber darf ich mich nicht länger dem Leben aussetzen. Das tut mir schlecht. Ich habe ja wirklich noch das Recht, zu verschwinden. Sie verkroch sich und zog mit ihren eiskalten Händen die Decke bis an den Mund. Dabei fiel der Karton zur Erde, mit dem Bilde nach oben. Die Photographie sah deutlich zu Juliette empor, deren Kopf sich aus dem Bett neigte. Das vom Spiegel verstärkte Kerzenlicht glänzte mitten auf der Bildfläche. Nun war es geschehen. Nun gab es kein Zurück mehr für sie. Doch Stephans Besuch erfolgte nicht aus der Photographie heraus. Die Wesenheit des Jungen stand hinter dem Kopfende des Bettes. Es war, als käme er atemlos von der Knabenkohorte der Haik-Bande, vom Ordonnanzdienst oder irgendeinem Spiel hergelaufen, um schnell und sehr widerwillig seine Milch hinunterzustürzen:

»Du suchst mich, Mama?«

»Heute noch nicht, Stephan«, flehte Juliette, »komm heute noch nicht! Ich bin zu schwach. Komm erst morgen! Laß mich noch heute krank sein! Geh lieber zu Papa ...«

»Bei Papa bin ich immer ...«

»Ich weiß ja, daß du mich nicht liebhast, Stephan ...«

»Und du, Mama ...?«

»Wenn du ein guter Junge bist, habe ich dich lieb. Du mußt wieder deinen blauen Anzug tragen. Denn sonst bist du ein Armenier ...«

Mit diesen Worten war Stephan höchst unzufrieden. Er schien durchaus keine Lust zu haben, zu seiner alten Tracht zurückzukehren. Sein Schweigen bewies, daß er trotzte. Juliette aber flehte immer stürmischer: »Nur heute nicht, Stephan! Komm morgen früh! Laß mich noch diese Nacht ...«

»Morgen früh ...?«

Das war kein Versprechen, sondern eine leere Frage, ungeduldig, zerstreut, auf dem Sprung, den Kopf schon wieder den Kameraden zugewandt. – Als Juliette aber ihr Flehen bereits erfüllt fühlte, da fuhr sie aus dem Bett. Die Stimme schoß heiser in ihre Kehle zurück: »Stephan ... hierbleiben ... nicht fortlaufen ... hierbleiben ... Stephan ...«

Mairik Antaram war auf dem Wege zum Dreizeltplatz, um für die Nachtruhe der Kranken zu sorgen. Schuschik hatte sich ihr angeschlossen. Denn seitdem sie wußte, daß Haik lebte, war sie von einem scheuen Drang nach Gemeinschaft und Hilfeleistung beseelt. Wer aber konnte ihr da einen besseren Weg weisen als Antaram, die Helferin? Die Frauen fanden die Hanum auf dem Wege zusammengebrochen, zweihundert Schritt etwa vom Zelt entfernt. Sie kauerte im bloßen Hemd neben einem Strauch, die abgezehrten Beine ans Kinn gezogen. Auf ihrer Stirn perlte noch immer der Todesschweiß, doch ihre offenen Augen waren wieder fern und stumpf.

 

Axtschläge hämmerten fern von den Nordhöhen des Musa Dagh zum Sattel herüber. Die Türken fällten die Steineichen des Berges. Bauten sie Geschützstände? Oder errichteten sie ein befestigtes Lager, um für den neuen Angriff einen Rückzugspunkt zu besitzen und nicht wie bisher die Höhen in der Nacht verlassen zu müssen oder einem Überfall ausgesetzt zu sein? Man entsandte Kundschafter, um den Bergrücken jenseits des Nordsattels auszuforschen, vier der bewährtesten Jungen aus der Spähergruppe. Sie kehrten nicht mehr zurück. Die weite Hochfläche, die noch vor einigen Tagen bis nach Sanderan auf der einen und zum Ras el Chansir auf der andern Seite einen freien Ausweg geboten hatte, war nun tödlich versperrt. Tiefste Bestürzung! Man schickte Sato, die Meisterspionin, aus. Um die war's nicht schade. Sie kehrte auch zurück. Doch man konnte von ihr nichts Brauchbares erfahren. »Viele tausend Soldaten!« Satos Zahlenbegriffe waren höchst unzuverlässig und beschränkten sich nur auf die kleinsten und größten Bezeichnungen. Über die Tätigkeit dieser »vielen tausend« gab sie nur unklare Nachricht: »Sie rollen Holz« oder »sie kochen«. Die Aufgabe schien sie nicht besonders interessiert zu haben. Hingegen hatte sie für ihre Person Beute gemacht: ein Fladenbrot, eine große knusprige Scheibe. Sie hielt es fest an ihren Vogelleib gedrückt, der noch immer in dem artigen Hängekleidchen steckte, das freilich in den wildesten Fetzen und Drapierungen ihre abstoßende Nacktheit umschlotterte. Das Brot war von Satos Rattenzähnen rings angefressen, nicht an zwei oder drei Stellen, sondern an zehn, in gar nicht menschlicher Art. Sie ließ Nurhan Elleon und die andern, die sie ausholten, alsbald stehen und verschwand unauffindbar. Niemand sollte von ihrem Schatz auch nur einen Bissen abbekommen, keiner von der Jugendkohorte und am allerwenigsten Iskuhi. Mit dieser erging es Sato ähnlich wie Lehrer Oskanian mit Juliette. Sie hätte die Kütschük Hanum von einst am liebsten auch an zehn Stellen angebissen, mit wutvergifteten Zähnen. Was aber das Brot anbelangt, so konnte sich Sato doch nur an einem Viertel des Fladens mästen. Vor Nunik gab es nämlich keinen Schwindel und kein Versteck. Sie war allwissend, und schlimmer noch, sie forderte das Ihre, ohne gegenwärtig zu sein. Sato war gezwungen, das abseitige Lager ihrer Freunde aufzusuchen, ob sie wollte oder nicht. Die Allwissende aber schien sie schon zu erwarten. Sie stand im Winde, der ihr ganzes Zunderkleid zurückwehte, und streckte ihre Hände nach Satos Beute aus.

Dies geschah am sechsunddreißigsten Tag des Lagers und am vierten des Septembermonats. Man hatte des Morgens an jede Familie die vorschriftsmäßige Portion Eselfleisch ausgegeben. Niemand aber wußte, ob es nicht das letztemal sei. Zugleich meldeten alle Beobachtungsstände, daß die Dörfer und die ganze Talsohle so belebt seien wie noch nie. Doch nicht nur neues Militär und neue Saptiehs bewegten sich dort, sondern eine Menge von neugierigem Gesindel habe sich wieder aus den muselmanischen Ortschaften zusammengerottet. Die Ursache dieser Neugier entpuppte sich schnell. Als Samuel Awakian, mit Gabriels Feldstecher ausgerüstet, die große Kuppe erstieg, um die Lage aufzuklären, stürzten ihm die Beobachter erregt entgegen. Etwas ganz und gar Neuartiges hat sich ereignet. Die meisten der Dorfbewohner sahen ein solches Ding zum erstenmal. Es hielt gerade auf der großen Straße von Antakje nach Suedja am Ortseingang des Fleckens Jedidje, wo es von einer kleinen Abteilung Kavallerie erwartet wurde. Awakian erkannte in seinem Fernglas ein kleines graues Militärautomobil, das die Bergengen bei Ain el Jerab mit Todesverachtung überwunden haben mußte. Drei Offiziere kletterten aus dem Wagen und bestiegen die für sie bereitgehaltenen Pferde. Die kleine Reiterschar bog sogleich ins Dörfertal ein. Voran trabten die Offiziere, hinterher die Kavalleristen, in einigen Minuten schon mußten sie Wakef erreichen. Der mittlere Offizier war den zwei anderen stets um eine halbe Pferdelänge voraus. Während diese die üblichen Astrachanmützen trugen, hatte er eine feldgraue Kappe auf dem Kopf. Deutlich sah Awakian die roten Generalstreifen an seinen Reithosen. Die Kavalkade durchtrabte ohne Aufenthalt die Dörfer. Kaum eine Stunde brauchte sie, um Yoghonoluk zu erreichen. Auf dem Kirchplatz wurden der General und seine Begleitoffiziere von einigen Herren schon erwartet. Ohne Zweifel war es der Kaimakam von Antakje, der mit dem Müdir und anderen Beamten den Generalpascha samt seinem Gefolge in die Villa Bagradian führte. Das große Ereignis wurde sofort dem Befehlshaber gemeldet. Samuel Awakian ließ auf eigene Verantwortung den großen Alarm verkünden. Gabriel billigte diese Maßregel nachher. Er verstärkte sie sogar, indem er anordnete, daß von Stund an das Lager für alle Zeit unter Alarm stehe, gleichgültig, ob sich irgend etwas ereigne oder nicht. Awakian aber verriet er seine Überzeugung, daß die Türken noch lange nicht fertig seien und daß sich weder heute noch morgen, wahrscheinlich auch in den nächsten Tagen nichts ereignen werde. Die Tatsachen schienen ihm recht zu geben. Nach zweistündigem Aufenthalt in der Villa bestiegen die fremden Offiziere ihre Pferde und verritten in noch schärferem Trab als bei der Ankunft nach Jedidje. Sie hatten kaum einen halben Tag auf dem Kriegsschauplatz geweilt, als der kleine, verzweifelt ratternde Kraftwagen sie wieder nach Antakje entführte. Der Kaimakam begleitete die Herren in seine Hauptstadt zurück.

An demselben Tage erhob sich Gabriel Bagradian aus dem Schmerz um seinen Sohn und ermannte sich. Der kriegerische Teil seines Wesens, den die Verschickung in ihm erweckt hatte, gewann noch einmal Macht. Er hatte übrigens schon die letzte Nacht wieder in der Nordstellung verbracht. Da aber wegen der unfreundlichen Gesinnung gegen den Dreizeltplatz die Frauen nicht ohne Schutz bleiben sollten, beurlaubte er Kristaphor und Missak vom Nachtdienst in der Stellung, damit sie für die Sicherheit der Zelte sorgten. Im übrigen hatte Mairik Antaram die Witwe Schuschik zum Pflegedienst herangezogen, wodurch noch zwei weitere schützende Arme von männlicher Kraft zur Verfügung waren.

Gabriel gelang es von einer Stunde auf die andre, sein inneres Leben völlig auszuschalten. Der Schmerz war da, doch nur als ein dumpf entferntes Bewußtsein, wie eine wunde Körperstelle, die man durch eine Einspritzung betäubt hat. Und wieder stürzte er sich mit wilder Leidenschaft in die Arbeit. Er schien sich durch einen jähen Willensentschluß vollständig erholt zu haben, ja straffer und unbeugsamer geworden zu sein als früher. Erst in diesem Augenblick wurde es ihm klar, welchen unschätzbaren Beistand er an seinem Adjutanten, oder besser, an seinem Stabschef Awakian besaß. Dieser Nimmermüde, dieses seltsam unpersönliche Ich, das in keiner Minute – obgleich den meisten Führern an Wissen und Intelligenz himmelhoch überlegen – sich eine Führerrolle angemaßt hatte, bewies eiserne Kräfte. Awakian war es mehr als Nurhan Elleon zu verdanken, daß die Feldordnung und die Mannszucht unter den Zehnerschaften bisher noch keinen ernsten Schaden genommen hatte. Manche zerrissen sich zwar den Mund über den ungelenken »Büchermacher« mit der Brille, denn überall, wo Waffen getragen werden, stellt sich sogleich eine spöttische Geringschätzung des Intellekts ein. Und dennoch, wenn Awakian in den Stellungen auftauchte, breitete sich ein beinahe behaglicher Eifer aus, jene kostbare Soldatenstimmung, die man Vertrauen in die Führung nennt. Das kam daher, weil der Adjutant, selbst in Abwesenheit des Kommandanten, Bagradians Überlegenheit widerstrahlte wie ein Licht. Auch Awakian konnte seit Stephans Tod keinen Schlaf mehr finden. Leiden und Schuldgefühl peinigten seine Seele. Vier Jahre hatte er im Hause Bagradian gelebt und Stephan liebgehabt wie einen kleinen Bruder. Immer wieder mußte er die Zähne zusammenpressen, und das Blut schoß ihm in den Kopf. Wäre es nicht möglich gewesen, das Unglück zu verhindern? Warum hatte er an jenem furchtbaren Tag nicht gespürt, was in dem Jungen vorging? Eine Gewissenlosigkeit, die er sich nie würde verzeihen können. Nie?? Ah, das blieb ja der einzige Trost, daß dieses Nie nur eine Sache von wenigen Tagen war und daß dadurch alles, alles leichter wog. Samuel Awakian ließ sich nichts anmerken und erwähnte im Verkehr mit Gabriel den Namen Stephans nicht. Doch ebensowenig kam dieser Name über des Vaters Lippen. Dennoch oder gerade deswegen spannte Awakian seine letzte Energie an, um Gabriel zu dienen. Er hatte unter anderem auch eine neue Evidenzliste der Zehnerschaften angelegt. Bagradian konnte ihr entnehmen, daß die Zahl der Kämpfer auf etwa siebenhundert gesunken war. Die große Lücke, die der Tod gerissen hatte, bedeutete aber keine wesentliche Verminderung der Kampfkraft. Mit den frei gewordenen Gewehren konnten die besten Männer der Reserve ausgerüstet werden. Und dann! Die Verteidigungsfront hatte sich ja dank dem Waldbrand auf einige wenige Abschnitte verengt. Die Steineichenschlucht war noch immer ein einziger Ofen voll glühender Kohlen. Diese Heizung spürte man in der Stadtmulde nach wie vor, wo sie zumeist gegen Abend die Gemüter aufstachelte. Gleichviel, die schwächste Stelle der Linie war nun vor Angriffen geschützt, für immer. Und nicht in diesem größten Einschnitt des Damlajik, sondern auch weit umher auf den Hängen, Buckeln, Vorhügeln gloste es unter den zusammengebrochenen Strünken weiter. Hier hatte eine gnädige Hand alles zugunsten der Armenier gelenkt. Bagradian löste die Besatzungen der überflüssig gewordenen Abschnitte endgültig auf und schuf dafür eine starke Postenkette, die den Bergrand vor Überraschungen und türkischen Kundschaftern zu sichern hatte. Den vorhandenen Möglichkeiten und Anzeichen nach zu schließen, beruhte die Absicht der Türken auf einem von zehnfacher Übermacht geführten Generalstoß im Norden, der, von Artillerie wahrscheinlich unterstützt, die verbrauchten Armeniersöhne aufreiben sollte. Unablässig schallten die Axthiebe. Trotz dieser eindeutigen Zurüstungen aber war Bagradian vorsichtig genug, eine Spähergruppe auch in den südlichen Raum vorzuschicken. Diese mutigen Burschen wagten sich am Abend bis nach Suedja hinein. Sie meldeten, daß nur ganz wenig Militär und fast gar keine Saptiehs in der Orontes-Ebene lägen. Alle Truppen seien im Dörfertal zusammengezogen. Die Felsbastion und ein neuer Steinschlag schien den Türken trotz ihres Generals noch immer einen heillosen Respekt einzuflößen. Dennoch beschloß Gabriel, die Südbastion morgen zu visitieren.

Am Abend saß er auf seinem Schlafplatz und starrte auf die Sattellehne hinüber, auf die Baumgruppen des Höhenrandes, zwischen denen Stephan verschwunden war, ohne daß er es hatte verhindern können. Noch immer rückten ihm seine Nachbarn nicht näher. Wenn er kam, unterbrachen sie ihr Gespräch, standen auf und grüßten ihn als Führer. Das war alles. Auch von ihnen sprach keiner ein Wort wegen Stephan zu ihm. Vielleicht wagten sie es nicht. Alle sahen ihn so merkwürdig an, traurig und forschend. Tschausch Nurhan allein war immer hinter ihm her gewesen, als habe er so manches auf dem Herzen, wolle aber erst den rechten Augenblick abwarten. Nun schlief er schon seinen wohlverdienten Schlaf, denn keiner der Jüngsten reichte an diesen alten Kerl und seine Unermüdlichkeit heran. Gabriel Bagradian hatte nun schon vierundzwanzig Stunden weder Iskuhi noch Juliette gesehen. Ihm war wohler so. Alle Bindungen zerrannen. Er durfte sich nicht mehr in die Schwäche zurückwerfen lassen. Er mußte kalt und frei sein für den letzten Kampf. Ja, trotz seiner unermeßlichen Traurigkeit fühlte er sich kalt und frei für diesen letzten Kampf. Auf dieser Bergeshöhe waren die Septemberabende schon recht kühl. Auch hatte sich der umspringende Wind noch nicht gelegt, wenn er hie und da auch pausierte. Wo waren die schönen Mondnächte hin, da der gräßliche vierzigfache Mord an Stephan noch nicht in seinem Bewußtsein lebte? Gabriel starrte noch immer auf die schwarze Wand gegenüber. Manchmal winselte der Wind in den Bäumen oben. Wie feige waren die Feinde! In solcher Nacht hätten sie auf der Lehne dort einen Graben anlegen können, ohne gehindert zu werden. Ach was, solche Künste brauchten sie nicht, wenn sie Kanonen hatten. Dann war alles im Handumdrehen zu Ende. Doch, vielleicht sollte man das gar nicht abwarten, vielleicht sollte man zuvorkommen, wieder einmal eine Idee haben. Hatte er, Gabriel Bagradian, nicht immer eine rettende Idee gehabt, so daß man noch heute ungebrochen dastand? Zuerst war's der Verteidigungsplan gewesen, das ganze System, dann die Komitatschis, die fliegende Garde, der rettende Waldbrand ... Zuvorkommen?! Ein neuer Einfall jetzt! Aber was? Aber wie? Sein Kopf war leer.

 

Am nächsten Tag visitierte Gabriel Bagradian die Südbastion, wie er sich's vorgenommen hatte. Vorher aber machte er bei der Haubitzenstellung halt. Die Geschützrohre waren nach entgegengesetzten Seiten gerichtet, das eine auf die Nordhöhen, das andre nach Suedja. Gabriel hatte noch in den Tagen vor Stephans Tod die Elemente nach seiner Karte ermittelt. Es war immerhin möglich, den Anmarsch des Feindes zu stören und aufzuhalten. In den Geschoßverschlägen fanden sich noch vier Schrapnells und fünfzehn Granaten. Die Geschütze hatten eine Wache und Bedienung von acht Mann, die durch Nurhan Elleon in den einfachsten Handhabungen wie Vorführen, Sporenwerfen, Geschoßzubringen, Schnurabziehen und so weiter notdürftig ausgebildet worden waren.

Tschausch Nurhan, Awakian und einige Abschnittsführer begleiteten Gabriel auf seinem Inspektionsgang. Die ersten Eindrücke, die diese Männer im Gebiet der Südbastion empfingen, waren weiter nicht verdächtig. Sarkis Kilikian hatte es sich nach seiner Haftentlassung sogar angelegen sein lassen, die Maschinerie der Sturmwidder noch weiter zu verbessern. Die mächtigen Stoßschilde waren durch strahlenförmig über den Rand greifende Ruder vergrößert. Der Anprall der Schilde konnte nun eine weit umfangreichere Fläche der lockeren Mauern erfassen. Auch waren die Platten selbst verdoppelt und durch reichlichen Eisenbeschlag und starke Klammern gesichert. Wenn man dem gedrungenen Anblick trauen durfte, so waren diese Katapulte imstande, Blöcke von Zentnergewicht bis in die Ruinen von Seleucia zu schleudern. Kilikian schien sich für nichts andres als für dieses düstere Spielzeug zu interessieren. Es war ein kindhafter Zug, dieser Anfall von verbohrtem Eifer, mit dem er immer wieder an den Mauerbrechern herumarbeitete. Der Eifer stand im schärfsten Widerspruch zu der ausgelaugten Verödung seines Wesens. Gabriel Bagradian aber hatte vom ersten Augenblick an irgendeine verschüttete Quelle in diesem Opfer eines schrecklichen Lebens gespürt. Sein Verhältnis zu Kilikian war voll unaufgelöster Spannungen. Etwas in dem wohlerzogenen Großstädter und vornehmen Bürger fürchtete sich vor dem radikalen Nichts, das in dem Deserteur steckte. Es hatte zwischen ihnen nur ein einziges Mal ein Kampf stattgefunden, bei dem Kilikian schmählich unterlegen war. Doch weder ist dem Sieger damals wohl zumute gewesen, noch auch konnte er heute die Unsicherheit ganz überwinden, die ihn angesichts dieses Menschen jedesmal überfiel. Es war eine ausgesprochene Schwäche Bagradians und nicht leicht zu erklären. Er konnte die eigentümliche Achtung nicht loswerden, die ihm dieser Mensch einflößte, ohne sie durch irgendeine Eigenschaft oder Leistung zu verdienen. Jedesmal, wenn er ihm begegnete, versuchte Gabriel durch ein paar freundliche Worte, durch eine teilnehmende Erkundigung mit Sarkis in Verbindung zu treten und jedesmal wurde diese werbende Bemühung auf das peinlichste enttäuscht. Kilikian war der einzige Mensch auf dem Musa Dagh, demgegenüber Gabriel Bagradian nicht den richtigen Ton fand. Entweder sprach er allzu herablassend zu ihm oder allzu gleichgestellt. Der Russe aber fand immer irgendeine Art, Bagradian abzulehnen. Daß er zum Beispiel jetzt ruhig auf dem Rücken liegenblieb, während der oberste Führer seinen Katapulten neues Lob zollte, war nicht nur eine Unverschämtheit, sondern eine Verletzung der Subordination, die unverzüglich hätte bestraft werden müssen. Anstatt dessen wandte sich Gabriel ab, Lehrer Oskanian mit den Blicken suchend. Dieser aber hatte sich bei der Ankunft Bagradians in hysterischer Feigheit rasch aus dem Staub gemacht. Er konnte ja nicht wissen, daß weder Ter Haigasun noch Bedros Hekim noch Schatakhian den Betroffenen von jener widerwärtigen Beratung in Kenntnis gesetzt hatten, in welcher der Lehrer soviel Gift gegen das Haus Bagradian verspritzt hatte. Im übrigen schien sich seit seinem Ausschluß aus dem Führerrat Hrand Oskanians Geisteszustand nur noch eitler verwirrt zu haben. Er suchte wahrscheinlich eine Oskanianpartei zu gründen. Seit Tagen redete er auf allerlei schlichte Leute sprudelnd los, die nicht zur Südbastion gehörten, ihn aber dort besuchten. »Die Idee«, wie er es nannte, nahm in seinem Hirn immer schärfere Gestalt an. Diese Idee aber war durchaus nicht Eigenwuchs, sondern entstammte einer lichtvollen Darlegung Meister Krikors, der vor vielen Jahren einmal während eines philosophischen Spaziergangs über den Freitod gehandelt hatte, »die Pflicht zu leben« und »das Recht zu sterben« mit Hilfe unbekannter, aber wohllautender Autoren gegeneinander abwägend.

In den Stellungen der Südbastion fanden die Visitierenden keine grobe Fahrlässigkeit. Der Dienst war nach den Gesetzen der Zehnerschaftsordnung eingeteilt, die Posten waren besetzt, die vorgeschobenen Feldwachen lagen am Rande der großen Steinhalde. Auch der Zustand der Gewehre ließ nichts zu wünschen übrig. Und doch hatte die Haltung dieser Mannschaft, trotz aller oberflächlichen Ordnung, etwas Unbestimmtes, Träges, Verdächtiges, das Tschausch Nurhans Unwillen herausforderte. Die Besatzung bestand aus elf Zehnerschaften, etwa fünfundachtzig Männer zählten zu den Deserteuren. Nicht alle unter diesen waren zweifelhafte Gesellen, im Gegenteil, die Mehrzahl setzte sich aus recht harmlosen Ausreißern zusammen, die vor drohender Mißhandlung, Bastonade oder Straßenarbeit durchgegangen waren. Was nun auch immer schuld sein mochte, Elend, Verlotterung, schlechtes Beispiel, alle hatten Sarkis Kilikians störrische Apathie angenommen, als wäre sie die rechte schicke Lebensart, die Männer ihresgleichen kleidet. Das war ein schlappes Hinundherschlurfen, ein höhnisches Herumlungern, ein freches Auf-dem-Rücken-Liegen und Sichrekeln, ein herausforderndes Grölen und Gepfeife, das für die künftige Schlacht nichts Gutes hoffen ließ. Nicht eine Truppe von Kämpfern glaubte man vor sich zu haben, nicht einmal eine echte Verbrecherbande, sondern ein Rudel verkommener und aufsässiger Landstreicher, die sich in einer Einöde zusammengerottet hatten. Gabriel Bagradian aber schien der Sache keine übermäßige Bedeutung beizumessen. Die meisten dieser Burschen hatten sich im Kampfe bewährt. Alles andre war Nebensache. Man mußte mit ihnen jedenfalls vorsichtiger umgehen als mit der Elite.

Der Feuerfrevel aber war doch zu bunt. Die Südbastion besaß im Westen, wo der Damlajik die Biegung zum Meer beschrieb, drei hochaufgeworfene Deckungen zur Flankensicherung. Diese Schanzen beherrschten die auslaufende Steilseite des Berges, die in waldbedeckten Terrassen gegen Habaste herabfiel, und machten jede Umgehung unmöglich. Und hier, fünfzig Schritt unterhalb dieser ebenfalls mauerbewehrten Deckungen, brannte auf dem offenen Vorfeld ein großes vergnügliches Feuer, eine freundliche Einladung an die Türken geradezu. Auf das Brennen offener und von der Führung nicht eigens erlaubter Feuer stand das strengste Verbot. Doch nicht genug damit. Um dieses Feuer saß nicht nur ein Lumpenpack der minderwertigsten Deserteure, sondern zwei Frauenzimmer dazu, die aus der Stadtmulde in diese Welt übergegangen waren. Und diese Weiber drehten das schönste Ziegenfleisch an langen Stöcken in der Flamme. Nurhan und die andern stürzten wie Besessene auf die Gesellschaft los. Bagradian kam langsam hinterdrein. Der Tschausch packte einen der Deserteure an seinem schmutzigen Hemd und riß ihn hoch. Es war ein langhaariger Mensch mit einem bräunlichen Gesicht und kleinen raschen Augen, die auch nicht die geringste Ähnlichkeit mit Armenieraugen hatten. Nurhans langer grauer Feldwebelschnurrbart zitterte vor Wut:

»Du Läuseturm! Wo habt ihr diese Ziegen her?«

Der Langhaarige suchte sich zu befreien. Er tat so, als kenne er den Tschausch gar nicht:

»Was geht dich das an? Wer bist du überhaupt?«

»Da hast du, wer ich bin!«

Ein Faustschlag schleuderte den Kerl zu Boden, so daß er fast in das Feuer getaumelt wäre. Kriecherisch gekränkt raffte er sich wieder auf:

»Warum schlägst du mich? Was habe ich dir getan? Die Ziegen haben wir uns in der Nacht aus Habaste geholt ...«

»Aus Habaste, du Senkgrube!? Aus dem Lager habt ihr sie geholt, ihr feigen Verbrecher! Die Hungernden habt ihr um das Letzte bestohlen ... Jetzt haben wir die Erklärung.«

Der Blick des Langhaarigen suchte Gabriel Bagradian, der sich abseits hielt und seinem Unterkommandanten die Abwickelung der unerquicklichen Szene überließ. »Effendi«, klagte der saubere Häuptling, »sind wir keine Menschen, hungern wir weniger als die andern? Und ihr verlangt doch Arbeit von uns, den ganzen Tag müssen wir Dienst machen und die ganze Nacht, ärger als in jeder Kaserne ...«

Bagradian antwortete nicht, sondern gab seinen Leuten nur einen knappen Wink, das Feuer zu zerstören und das Fleisch zu beschlagnahmen. Tschausch Nurhan drohte mit einer der schon gebräunten Ziegenstelzen: »Ihr werdet noch ganz anders hungern! Freßt euch gegenseitig auf!«

Der Langhaarige näherte sich Bagradian mit demütig über der Brust gekreuzten Armen:

»Effendi! Gebt uns Munition! Jeder von uns hat nur ein Magazin. Alles andre habt ihr uns abgenommen. Dann können wir auf die Jagd gehen und uns einen Hasen oder Fuchs schießen. Es ist nicht gut, daß wir so wenig Patronen haben. In der Nacht können die Türken kommen ...«

Gabriel Bagradian drehte sich um und ließ den Deserteur stehen. Auf dem Heimweg erklärte Nurhan Elleon, der noch immer sehr aufgeregt war:

»Man muß die Südbastion ausmisten. Am besten, wir jagen zwanzig der Ärgsten davon.«

Gabriel Bagradians Gedanken waren schon längst von dem widerwärtigen Vorfall zu wichtigeren Fragen abgeschweift:

»Das ist unmöglich«, entgegnete er zerstreut, »wir können armenische Volksgenossen nicht in den Tod jagen.«

»Armenische Volksgenossen!?«

Tschausch Nurhan spuckte in einem höhnischen Bogen aus. Das Gesicht des Langhaarigen stieg vor Gabriel auf:

»Unter fünftausend Menschen muß es auch Gesindel geben. Das ist überall so.«

Der Tschausch sah Gabriel argwöhnisch an:

»Es ist nicht gut, daß man solche Verbrechen hinnimmt ...«

Bagradian blieb stehn, packte das Mausergewehr des Längerdienenden und stieß den Kolben hart auf die Erde:

»Wir haben nur eine Strafe, Tschausch Nurhan, diese da! Alles andre ist lächerlich! War's nicht lächerlich, daß man den Kilikian in die Baracke gesperrt hat, wo er dann der Nachbar des armen Krikor war? Um die Bande bei dem Feuer zu strafen, hätten wir sie alle erschießen müssen.«

»Das hätten wir auch müssen! ... Jetzt aber werden wir eine neue Einteilung machen, Effendi ...«

Gabriel Bagradian blieb stehn:

»Ich werde eine neue Einteilung machen, Tschausch Nurhan, etwas ganz und gar Neues ...«

Er sprach nicht weiter, denn über dieses Neue war er sich noch immer durchaus nicht klar.

Als am Morgen des sechsten September die Frauen zu den Fleischbänken kamen, um den Tagesanteil der Familien einzuholen, da erhielt nur mehr ein Teil von ihnen Knochen, an denen einige Flechsen hingen. Verzweifelt stürzten sich die Mütter auf die Muchtars, die an den einzelnen Dorfbänken die Verteilung leiteten wie immer. Die Ortsschulzen wichen zurück, grün und grau wie das schlechte Gewissen. Man habe auf Anordnung des Führerrates die besten Teile in die Stellungen hinausgebracht, so stammelten sie, denn die Krieger müßten ja für die zu erwartenden Kämpfe bei Kräften sein. Was aber die allerletzten Geißen und Esel anbelangt, so dürften sie auf Ratsbeschluß nicht geschlachtet werden, die Ziegen nicht wegen der Milch für die kleinsten Kinder, und die vier letzten Tragtiere nicht, weil sie für den Kampf notwendig seien. Es bleibe nichts anderes übrig, als daß sich die Familienmütter in den nächsten Tagen selbst nach Nahrung umschauten. Sie müßten jetzt versuchen, aus allerhand Pflanzen, aus Arbutuskirschen, Eicheln, Feigenkaktus, Wildbeeren, Wurzeln und Blättern eine Brühe herzustellen, die wenigstens über den Schmerz des Hungers hinweghelfe. Während die Muchtars solche trostlose Ratschläge erteilten, duckten sie sich und hielten die Hände vors Gesicht, denn sie waren gewärtig, daß die Weiber in ihrer Wut sie erdrosseln und zerreißen würden. Doch es geschah etwas andres. Die Frauen senkten die Köpfe und erstarrten. Die fiebrische Unruhe in ihren Augen verwandelte sich in jenen gelähmten Ausdruck von damals, als der Blitz des Verschickungsbefehls in die Dörfer eingeschlagen hatte. Die Muchtars atmeten auf. Sie hatten nichts mehr zu fürchten. Der Weiberhaufen löste sich. Es waren ihrer mehrere hundert, alt und jung, hübsch und häßlich, doch alle in bejammernswertem Zustand, abgezehrt, verfallen. Die Stattlichsten noch konnte ein Wind umwerfen. Sie kehrten den leeren Verteilungsbänken langsam den Rücken. Die vielen Füße setzten sich schwerfällig in Bewegung, als müßten sie an ihren nackten Sohlen oder an den Absätzen der ausgetretenen Pantoffeln die ganze steinichte Elendserde des Damlajik mit sich schleppen.

Eine kleine Weile später ergoß sich dann die ganze Schar strahlenförmig über das Plateau des Berges, verteilte sich zwischen den Felsen der Steilseite und wagte sich sogar in die grünen Lücken der Talseite, die der große Brand übersprungen hatte. Die Kinder liefen mit, darunter auch Drei- und Vierjährige, die den Müttern immer wieder zwischen die Beine gerieten und die Arbeit hemmten. Ja, hätte man wie früher über den Nordsattel hinausgehen können, dann wäre noch Hoffnung vorhanden gewesen, irgendwelche nahrhaften Überraschungen anzutreffen. Das Revier innerhalb der Verteidigungsgrenzen aber war ausgesogen und abgenagt wie der Beuteknochen eines wilden Hundes. Ein Teil der Frauen durchstreifte zum hundertstenmal die Arbutus- und Heidelbeerplätze, um das Überbleibsel früherer Pirschgänge aus dem Gedörn zu raufen. Andre versuchten auf den Felswänden jene seltenen Stellen zu erklettern, wo der Feigenkaktus wuchs, dessen große fleischige Früchte als höchste Kostbarkeit galten. Aber was half das? Alle Gedanken schrien nach Fett und Mehl, nach einem Stückchen Schafbutter, nach einem Bissen Käse. Was man auch hinunterschlang, das betäubte zwar im Augenblick den Magen, nicht aber das phantasierende Verlangen nach Fett und Brot. Der Kaffee und Zucker des Agha, von dem jeder ein wenig zu schmecken bekommen hatte, die zähen Portionen grobtrockenen Eselfleisches in den letzten Tagen (der Zwieback der Schwimmer fiel nicht ins Gewicht), dies alles war eine Ursache mehr, daß sich angesichts des absoluten Hungers das Verlangen zur krankhaften Raserei steigerte.

Auf Pastor Arams Fischfang lag kein Segen. Mangels der richtigen Behelfe war es unmöglich, ein in der Brandung haltbares Floß zu zimmern, und auch die Netze hatten sich als wertlos erwiesen. Ebensowenig aber lachte den Vogelstellern ein Erfolg, obgleich ihre Lockgabeln und Klappnetze den Anforderungen entsprachen. Hier aber blieben die Vögel aus, welche ihre nördlicheren Sommerfrischen noch nicht verlassen hatten; Wachteln, Schnepfen, Wildtauben jedoch gingen so kindlichen Künsten nicht in die Falle. Allein es gab noch Kräfte wie Nunik, Wartuk, Manuschak und die Ihren. Die waren seit undenklichen Zeiten schon gewohnt, von der Erde in den Mund zu leben. Unten im Tal und oben auf dem Damlajik war seit siebenunddreißig Tagen nicht einmal mehr der Abfall für sie abgefallen. Nunik erbarmte sich der armen Weiber. Die Friedhofsleute hatten immer jenseits des Volkes gehaust und ihren Ausschluß aus der Gemeinschaft als naturgegeben hingenommen. Daß Klageweiber, Bettler, Blinde, Krüppel, Sieche, Verrückte nicht unter den Lebendigen zu wohnen haben, daran zweifelte keiner von ihnen und sie nährten daher auch keinen rachsüchtigen Haß gegen ihre Volksgenossen, die ihr lichteres Dasein mit härterer Arbeit bezahlen mußten. Die Klageweiber gar, die die Toten bejammerten und die Gebärenden vor den bösen Geistern schützten, fühlten sich trotz allem als Persönlichkeiten von notwendigem Wert und unbestrittener Würde. Sie halfen ja den Generationen in diese Welt herein und aus dieser Welt hinaus. In ihren magischen Handhabungen verwalteten sie gewissermaßen jene wichtigen Geheimmittel des Seelenheils, welche Ter Haigasun und die Kirche nicht anwenden durften. Brot und Fett aber konnte selbst eine Nunik nicht herbeizaubern. Doch sie half nun den hungernden Frauen, indem sie eine ihrer eigenen Nahrungsquellen preisgab. Ein unglaubwürdiges Bild war's, als diese Alte, an deren Hundertjährigkeit gläubige Gemüter nicht zweifelten, sich mühelos auf eine der Felswände herabließ, mit ihren dürrbraunen Füßen prüfend Halt suchte und sicheren Griffs weiterturnte, um alsbald in einer Spalte zu verschwinden. Nur drei Mädchen wagten es, Nunik diese Kletterei nachzumachen. Die andern Frauen schauten ihr ratlos zu. Doch auch die jungen Geschöpfe kamen kaum vom Fleck, klammerten sich krampfhaft an die Felsgewächse, ihre Füße zitterten bei jedem Tritt und der Münzenschmuck machte ein Angstgeklingel. Freilich, der aufgewandte Mut schien sich lohnen zu wollen. In der Felsspalte hatte Nunik einen Brutplatz von Möwen und anderen Meervögeln entdeckt und verraten. Die Frauen konnten ein paar Körbe voll kleiner Möweneier nach Hause bringen. Doch auf tausend Familien verteilt, bedeuteten sie nur eine kaum sichtbare Zubuße zum Nichts.

 

Während die verzweifelte Expedition der Weiber im Gange war, tagte der Führerrat. Noch ahnten die Männer nicht, daß sie das letztemal in der Regierungsbaracke zusammen saßen. Vor dem verlassenen Sterbelager Krikors von Yoghonoluk stand unverändert die Bücherwand, die der Apotheker zwischen sich und der Welt errichtet hatte. Die Bücher schienen ihrem Herrn nachgestorben zu sein, so erfroren standen sie da, wie durch Leichenstarre zu abwehrenden Quadern versteift. Doch nicht nur die Bücher waren vom Tode berührt. Auch Ter Haigasuns wachsfarbiges Antlitz sah aus, als sei es seine eigene Totenmaske. Er zählte mit seinen scheuen und unzugänglichen Priesteraugen die Versammelten ab. Alle waren da, bis auf den Toten und Hrand Oskanian, der es nicht gewagt hatte, das Verbot Ter Haigasuns zu mißachten. Doch der zwirnsdünne Asajan saß da, sein Freund, der alte Feind und Hasser Ter Haigasuns. Der Schweiger hatte den Kirchensänger bis vor einer halben Stunde noch mit all seiner zänkischen Eindringlichkeit bearbeitet, er möge ihn rächen, die Führer durcheinanderbringen und die Gegensätze immer wieder verschärfen. Asajan war jedenfalls bereit, seinem alten Quälgeist in Kirche und Schule auch heute noch jeglichen Tort anzutun. Als letzter trat Bedros Hekim in die Runde. Auf seinen morschen Beinen, die immer krummer wurden, wackelte er zu den Büchern und warf einen langen Blick in die leere Koje. Dann erst drehte er sich zur Versammlung um:

»Laßt uns des Apothekers gedenken! Er war ein verrückter Bursche, weiß Gott, aber ein Mann wie Krikor kommt nicht wieder zur Welt ...«

Das war eine im Ton recht grobe Totenrede, doch dem Redner selbst ging sie nahe, denn er seufzte plötzlich tief auf. Ter Haigasun faltete die Hände:

»Der Arzt hat recht. Laßt uns einen Augenblick Krikors gedenken. Er hat das Ende nicht abgewartet. Gott wird seiner Seele gnädig sein.«

Auch die andern falteten die Hände und versanken in sich. Bei den meisten war's nur eine Förmlichkeit. Gabriel Bagradian aber senkte den Kopf sehr tief, um sein Gesicht nicht zeigen zu müssen, das freilich nicht Krikors wegen verzerrt war. Nach dieser flüchtigen Gedächtnisfeier erteilte Ter Haigasun sofort dem Pastor Aram das Wort. Die heutigen Beratungen und ihr unglücklicher Ausgang waren durch die Spannung vorherbestimmt, die zwischen Aram Tomasian und Gabriel Bagradian herrschte. Der Pastor hatte Gabriel noch immer nicht zur Rede gestellt. Vor seinem eigenen Gewissen führte er eine Menge Gründe ins Treffen, um seine Zaghaftigkeit zu rechtfertigen. Seit einigen Tagen schon lebte er ununterbrochen unten an der Küste, in vergeblicher Erwartung des Fischerglücks. Ganz selten nur kam er ins Lager hinauf, wenn ihn Ter Haigasun rufen ließ. Dies war die äußere Ausrede vor sich selbst. Ferner hatte Bedros Hekim seine Frau zur vollen Pflege abgeordnet, wodurch die ärgste Schande für Iskuhi abgewendet war. Auch Bagradian lebte wieder in der Nordstellung, und Zeugen berichteten, daß er den Dreizeltplatz überhaupt nicht mehr betrat. Mit solchen Feststellungen, die sich noch vermehren ließen, beruhigte der Pastor seine Seele oberflächlich. Im Grunde aber kannte er die Wahrheit über seine Gefühle genau. Er litt an einer unüberwindlichen Scheu, mit Bagradian darüber zu sprechen. Es war eine aus Keuschheit, Achtung und Widerwillen quälend gemischte Empfindung. Und dann, Aram liebte Iskuhi; jetzt, da er ihr aus dem Wege ging, da Howsannah seine Schwester in zügellosen Ausbrüchen verfemte, jetzt liebte er sie doppelt. Immer wieder klangen ihm ihre Worte in den Ohren: »Ich bin neunzehn Jahre alt und werde keine zwanzig werden.« Tomasian wollte den Konflikt nicht auf die Spitze treiben. Er wußte, daß Iskuhi zu allem entschlossen war, auch zum vollständigen Bruch mit der Familie; das hatte sie dem Vater offen gesagt, als er sie beschworen hatte, den Dreizeltplatz zu verlassen. Wozu diese Qual noch, dachte Tomasian. Die Tage schleppen sich hin und einer der nächsten wird der letzte sein. Und eins noch: Iskuhi hatte nie gelogen und auch jetzt log sie nicht, wenn sie sagte: »Zwischen mir und Gabriel Bagradian ist nichts vorgegangen.« Die große Sünde war also nicht geschehen. Vielleicht aber wird Gott einen ganz neuen, ganz unerwarteten Weg weisen, der alles verwandelt. Um die Erkenntnis dieses Weges oder Ausweges rang Pastor Aram in seinem täglichen Gebet. Er glaubte auch schon, ihm auf der Spur zu sein.

Die erste Begegnung mit Gabriel Bagradian hatte Aram mit Verlegenheit und Erbitterung erfüllt. Er konnte sich kein einziges Wort der Teilnahme abpressen, obgleich er Gabriel seit Stephans Tod nicht gesehen hatte. Es mußte allgemein auffallen, daß er ihn, auch während des unmittelbaren Gespräches, anzusehen vermied. Die Sitzung begann jetzt mit Tomasians Bericht über die verzweifelte Lage:

»Das Beschlossene ist geschehen. Wir haben nun alles Fleisch ausgegeben. Nur für die Zehnerschaften wurde der letzte Teil heimlich zurückgehalten. Es reicht aber höchstens für zwei Tage noch. Die Frauen und Kinder haben ihren ersten vollkommenen Fasttag, wenn man das Essen der vorhergehenden Tage nicht auch als Fasten bezeichnen will.«

Muchtar Thomas Kebussjan hob die Hand, nachdem er sich mit dem ungleichen Blick seiner Augen versichert hatte, daß alle Parteigänger vom letzten Mal auf dem Posten waren:

»Ich sehe nicht ein, warum man den Leuten aus den Zehnerschaften zu essen gibt und die Frauen und Kinder fasten läßt. Junge kräftige Männer vertragen eher einen Stoß.«

Hier griff Gabriel Bagradian sofort in die Verhandlung ein:

»Das ist doch sehr einfach einzusehn, Muchtar Kebussjan. Die Kämpfer müssen jetzt bei Kräften sein, mehr als je.«

Um den Befehlshaber der Verteidigung zu unterstützen, lenkte Ter Haigasun von der Ernährungsfrage ab:

»Vielleicht sagt uns Gabriel Bagradian seine Ansicht über die wahren Kräfte der Zehnerschaften.«

Gabriel machte eine Handbewegung auf Tschausch Nurhan hin:

»Die Verfassung der Zehnerschaften ist nicht viel schlechter als vor dem letzten Kampf. Erstaunlich genug, doch es ist so, und Tschausch Nurhan wird es bestätigen. Die Verteidigungswerke sind aber viel stärker und besser als damals. Die Angriffsmöglichkeiten der Türken haben sich sehr verringert. Im großen und ganzen bleibt ihnen nur der Norden übrig, und alle Vorbereitungen beweisen das auch. Die Bastion werden sie trotz ihres Generals nicht anzugreifen wagen, das ist so gut wie sicher. Mit der Besatzung dort kann man, wie wir alle wissen, keine besondere Ehre aufstecken. Ich beabsichtige aber, Tschausch Nurhan für ein oder zwei Tage hinzuschicken, damit er Ordnung mache. Der Angriff der Türken im Norden wird furchtbarer sein als alle früheren zusammengenommen. Es handelt sich darum, ob und wieviel Artillerie sie haben. Wir konnten es bisher noch nicht erkunden. Davon hängt alles ab. Das heißt, wenn wir nicht ein neues Mittel ergreifen ... doch davon werde ich später sprechen ...«

Ter Haigasun, der nach seiner Art mit gesenktem Haupt und in fröstelnder Haltung zugehört hatte, konnte die große Frage nicht unterdrücken: »Gut, aber was dann?«

Gabriel Bagradian, von einem brennenden Durst nach dem Ende und der Befreiung erfüllt, erhob seine Stimme viel zu hallend für den dumpfen Raum:

»Bedenken wir doch! In dieser Stunde stehen Millionen Männer der ganzen Welt im Schützengraben, wie wir. Sie erwarten den Kampf oder sie kämpfen, bluten, sterben, wie wir. Dies ist der einzige Gedanke, der mich beruhigt und tröstet. Wenn ich daran denke, dann bin ich nicht schlechter, nicht ehrloser als einer von diesen Millionen. Und so wie ich, wir alle! Wenn wir kämpfen, sind wir nicht mehr Kot, der irgendwo am Euphrat verfault. Wenn wir kämpfen, haben wir Ehre und Würde. Deshalb dürfen wir nichts andres vor uns sehn und nichts andres wollen als den Kampf.«

Diese heroische Auffassung der Sachlage schienen aber die wenigsten zu teilen. Das »Was dann?« des Priesters pflanzte sich in der Runde fort. Gabriel sah sich erstaunt um:

»Was dann? Ich habe geglaubt, wir sind uns alle einig darüber. Was dann? Hoffentlich nichts mehr!«

Hier kam für Asajan eine gute Gelegenheit, sich seinem Freunde gefällig zu erweisen. Der schwarze Lehrer hatte ihn beschworen, nichts zu versäumen, was Mißtrauen erwecken konnte, das heißt, wo es nur anging, auf den »Verräter« Gonzague Maris und auf den geheimnisvollen Besuch des alten Agha hinzuweisen. Der Kirchensänger räusperte sich geziert:

»Der Heldentod, Effendi, ist nicht ganz uneigennützig. Ich wünsche mir nichts anderes. Auch will ich mir kein Urteil über Ihre geschätzte Gattin herausnehmen. Vielleicht haben Sie ihretwegen irgendwelche Verabredungen mit dem türkischen Pascha getroffen, der Sie vor einigen Tagen besucht hat. Man kann das nicht wissen. Was aber geschieht mit unseren Frauen, Schwestern, Töchtern, wenn ich fragen darf?«

Es gehörte zum Charakter Gabriels, daß er gegen vergiftete Pfeile der Bosheit und Gemeinheit durchaus nicht mit Schlagfertigkeit gewappnet war, hauptsächlich deshalb, weil es immer eine Weile dauerte, bis sie ihm ganz zu Bewußtsein kamen. Auch jetzt starrte er Asajan verständnislos an. Ter Haigasun aber, der Bagradian schon von Grund auf kannte, sprang ihm energisch bei:

»Sänger, hüte deinen Mund, ich warne dich! Willst du aber wissen, warum der Agha Rifaat Bereket aus Antakje den Effendi besucht hat, so werde ich dir's sagen. Gabriel Bagradian könnte längst im Hause des Agha in sicherem Frieden sein Brot und seinen Pilaw essen, denn der Türke hat ihm den Antrag gemacht und die gute Möglichkeit gegeben, sich zu retten. Unser Gefährte Bagradian aber hat es vorgezogen, uns die Treue zu halten und seine große Pflicht zu erfüllen bis zum letzten Augenblick.«

Nach dieser Erklärung, die ein notwendiger Vertrauensbruch an Gabriel war, entstand eine längere, einigermaßen betroffene Stille. Außer Ter Haigasun hatte nur noch Bedros Hekim die Wahrheit gewußt. Man war übereingekommen, den Besuch des Agha dem Volke als einen reinen Freundschaftsakt darzustellen, der Bagradian galt. Die Stille dauerte an. Doch es wäre falsch zu glauben, daß sie die Hochachtung aller Versammelten für Gabriels vornehme Handlungsweise zum Ausdruck brachte. Bei den Muchtars zum Beispiel traf dies gleich nicht zu. Jeder von diesen geeichten Volksmännern legte sich im Geiste die Frage vor, wie er sich einer ähnlichen Versuchung gegenüber verhalten hätte. Und jeder von ihnen kam innerlich zu dem übereinstimmenden Schluß, daß sich dieser aus Europa zugereiste Enkel des alten geriebenen Awetis als ein schandbarer Narr und Einfaltspinsel benommen hatte. Aram Tomasian brach als erster die betroffene Stille.

»Gabriel Bagradian«, begann er, sah aber den Gegner nicht an, »empfindet immer als Militarist, als Offizier. Auch mir kann schließlich niemand den Vorwurf machen, daß ich im Kampf ausgekniffen bin. Doch ich empfinde nicht als Militarist. Ich empfinde anders. Wir alle empfinden anders als Bagradian, das läßt sich nicht leugnen. Hat es denn einen Zweck, wenn wir uns in einem neuen ungleichen Kampf verbluten, um allerbestenfalls drei Tage später ungeschoren zu verhungern? Und das wäre schon ein unausdenklicher Glücksfall. Was ist damit getan?«

Bis zu diesem Augenblick war Arams »Ausweg« ein ziemlich unbestimmtes Gedankenspiel gewesen, ohne rechte Wirklichkeit. Der erbitterte Drang, Bagradian zu widersprechen, gab dem vagen Plan auf einmal feste Formen und den Anschein gewissenhafter Wohlüberlegtheit:

»Ter Haigasun und ihr Männer alle müßt mir zugeben, daß wir hier oben auf dem Damlajik nicht weiterkommen und daß es besser wäre, wir bringen zuerst unsre Frauen und dann uns selbst um, als daß wir die Türken oder den Hungertod abwarten. Ich schlage deshalb vor, den Berg zu verlassen, morgen, übermorgen, so schnell wie möglich. Auf welche Weise dies am besten zu machen ist, das muß genau durchberaten werden. Ich stelle mir vor, wir wählen den Weg nach Norden, natürlich nicht auf den Höhen, die ja von den Türken abgesperrt sind, sondern der Küste entlang. Zum vorläufigen Ziel könnten wir die Hänge des Ras el Chansir nehmen. Die kleine Bucht dort ist gut geschützt und ganz gewiß fischreicher als die Küste hier. Wir brauchen kein Floß und die Netze werden genügen, darauf möchte ich euch mein Wort geben ...«

Dies klang gar nicht so phantastisch, wie es vielleicht war. Vor allem brachte Arams Rede eine Aktion in Vorschlag und damit die ungenaue, aber beschwingende Aussicht, die Todesverlarvung des Damlajik durchbrechen zu können. Die bisher regungslosen Köpfe begannen, wie von einem leichten Wind bewegt, zu schwanken, bekamen Farbe. Nur Gabriel Bagradian blieb derselbe, als er jetzt, das Wort fordernd, seine Hand erhob.

»Es ist ein sehr schöner Traum, den sich Pastor Aram da ausgedacht hat. Ich bekenne, daß auch ich ähnliche Träume schon gehabt habe. Wir müssen solche Vorstellungen aber genau auf ihre Erfüllbarkeit prüfen. Ich will also – was ich als verantwortlicher Befehlshaber nicht darf – den allergünstigsten Fall annehmen, daß es uns nämlich in der Nacht gelingt, an den Türken vorbeizukommen und das Ras el Chansir zu erreichen. Ich will in meinem Leichtsinn noch viel weiter gehen und setze den Fall, daß die Saptiehs und das Militär den langen zerrissenen Zug von vier- bis fünftausend Menschen nicht bemerken, der sich, wir haben das zweite Mondviertel, an der hellen Steilküste entlang bewegt. Gut! Wir kommen ungehindert bis zu den Felshängen des Kaps. Dort müssen wir zuerst einen großen Vorsprung umgehn, weil sich die kleine Bucht erst jenseits des Kaps in den Felsen einschneidet ... Unterbrechen Sie mich nicht, Pastor, Sie können sich auf meine Worte verlassen, ich habe die Karte genau im Kopf ... Ob diese Buchten nur nackte Felsrisse sind oder ob sie irgendeine bewohnbare Fläche bieten, weiß ich nicht. Aber ich will noch einmal zu Tomasians Gunsten die glücklichste Möglichkeit annehmen. Wir finden also einen ausreichenden Lagerplatz, und die Türken sind derart mit Blindheit geschlagen, daß sie sechs, ja meinetwegen acht Tage brauchten, um ihn aufzustöbern. Jetzt aber muß ich mir die allerwichtigste Frage stellen: Was ist damit gewonnen? Antwort? Wir haben das Bekannte mit dem Unbekannten vertauscht. Wir haben die verbrauchten, verhungerten Körper der Frauen und Kinder einem langen Klettermarsch über weglose Klippen und Felsen ausgesetzt, den sie wahrscheinlich gar nicht überwinden können. Anstatt unseres gut eingelebten Lagers müssen wir eine neue Siedlung schaffen, ohne Kraft und ohne Mittel. Das sieht wohl jeder ein! Da uns die Tragtiere fehlen, so bleiben natürlich auch alle Betten und Decken, alles Kochgerät und Handwerkszeug auf dem Damlajik zurück. Ohne unsre Sachen aber können wir kein neues Leben beginnen, selbst wenn wir in ein Paradies kämen, wo das Brot auf den Bäumen wächst, das wird auch der Pastor nicht leugnen. Wir verlassen eine erprobte und starke Festung, vor der die Türken den größten Respekt haben. Wir tauschen einen beherrschenden Platz auf der Höhe mit einem hilflosen Platz in der Tiefe, der keine Deckungen bietet. Binnen einer halben Stunde werden wir abgefangen sein, Tomasian. Einen großen Vorteil haben wir freilich. Die letzte Flucht ins Meer dürfte dort unten kürzer sein als der Sprung von der Schüsselterrasse hier oben. Jedenfalls, so fürcht ich, werden die Fische mehr an uns zu fressen bekommen als wir an ihnen.«

Aram Tomasian hatte diese klaren Darlegungen Gabriels mit gereizten Zwischenrufen begleitet. Die Stimme der Besonnenheit, die ihn mahnte, sich in dieser Entscheidungsstunde nicht von dumpfen Gefühlen treiben zu lassen, verlor immer mehr an Macht. Während er Bagradian mit kaum beherrschter Heftigkeit angriff, sah er ihn auch weiterhin nicht an:

»Gabriel Bagradian vertritt seinen Standpunkt immer sehr selbstherrlich. Uns billigt er keinen eigenen Verstand zu. Wir sind armselige Bauern. Er steht hoch über uns. Nun, ich will das gar nicht leugnen. Wir sind einfache Bauern und Handwerker und nicht seinesgleichen. Doch, da er uns so viele Fragen gestellt hat, so möchte auch ich ihm einige Fragen vorlegen. Er, als ausgebildeter Offizier, hat aus dem Damlajik eine gute Festung geschaffen, zugegeben! Aber was nützt uns diese ganze Festung und der Damlajik heute? Nichts! Im Gegenteil, er hindert uns daran, einen letzten Weg der Rettung zu suchen. Wenn die Türken klug sind, so lassen sie sich in gar keinen Kampf mehr ein, da sie ja ihr Ziel in ein paar Tagen ohne jeden Verlust erreichen können. Doch ob es nun zu einem Kampf kommt oder nicht, wo ist eine neue Idee, ein neuer Versuch, dem Tod zu entkommen? Es ist jedenfalls die bequemere Art, hier oben in den gewohnten Verhältnissen zugrunde zu gehen. Man braucht sich dabei wenigstens nicht anzustrengen. Ich aber halte dieses faule Hinnehmen, dieses schlappe Verkommen für verächtlich. Und die Frage aller Fragen: Was für Vorschläge hat Gabriel Bagradian gegen den Hunger zu machen? Genügt es, wenn er meine Versuche mit dem Fischfang bespöttelt? Es ist und bleibt leider das einzige, was geschehen ist. Hätte man mich unterstützt, anstatt alle kräftigen Männer immer und immer nur exerzieren zu lassen, wären wir auch erfolgreicher gewesen ...«

Der Pastor, der bisher wenigstens die äußere Ruhe gewahrt hatte, sprang jetzt leidenschaftlich vor und schrie:

»Ter Haigasun, ich stelle einen sehr ernsten Antrag. Alles noch vorhandene Vieh wird geschlachtet, gebraten und verteilt. Aufbruch in der nächsten, spätestens übernächsten Nacht. Lagerung an einer der Felsbuchten, die Fischreichtum verspricht!«

Die rasche und schroffe Art dieses Antrags verwirrte die schwerfälligen Köpfe. Die Muchtars begannen sich auf ihren Bänken unbehaglich hin und her zu wenden wie betende Moslems. Der alte Tomasian, Arams Vater, blinzelte erschrocken. Kebussjan aber wischte seine schwitzende Glatze, und jammernd entrang es sich ihm:

»Wären wir in die Verschickung gegangen ... lebend oder tot ... wir hätten es besser ...«

In diesem Augenblick zog Ter Haigasun einen zerknitterten Zettel aus seinem Kuttenärmel. Die gute Gelegenheit war da, nicht nur Kebussjans Stoßseufzer zu beantworten, sondern auch den Damlajik gegen Aram zu verteidigen. Er verlas den Schicksalszettel ziemlich leise und fast ohne Ausdruck:

»Harutiun Nokhudian, Pastor von Bitias, an den Wartabed der Küste bei Suedja, Ter Haigasun von Yoghonoluk. Frieden vorerst und langes Leben für Dich, geliebter Bruder in Christo, Ter Haigasun, und für all meine geliebten Landsleute oben auf dem Musa Dagh, oder wo Ihr sonst sein möget, hoffentlich aber noch auf dem Berge. Wenn Gott es will, so wird Dich dieser Brief erreichen; ich händige ihn einem gütigen türkischen Offizier ein. Unser Gottvertrauen ist auf eine schreckliche Probe gestellt worden, und der Herr würde uns sicher verzeihen, wenn wir es verloren hätten. Während ich dies schreibe, liegt die sterbliche Hülle meiner engelsguten heiligmäßigen armen Gefährtin unbegraben neben mir. Sie hat, wie Du Dich erinnern wirst, immer für mein Leben gezittert und wegen meiner schwachen Gesundheit nie geduldet, daß ich mich anstrengte, daß ich barhaupt ins Freie ging oder mich allzusehr an belebenden Getränken erfreute, welche sündige Schwäche mir einwohnt. Jetzt hat sich alles verkehrt. Ihr flehentliches Gebet wurde erhört, sie ist vor mir dahingegangen, verhungert, und hat mich verlassen, die Böse! Ihre letzte Tat war es, daß sie mir in der Morgenkälte der Steppe ihr eigenes Halstuch aufzwang. Gott straft mich wie Hiob. Ich, der Schwache, Kranke, Hustende, Elende, habe Kräfte, die nicht ausgehen wollen und die ich tausendmal verfluche. Meine irdische Beschützerin aber ist gestorben, und ich überlebe alle. Von meiner Gemeinde wurden die jungen Männer in Antakje abgesondert, wir wissen nichts von ihnen, die andern sind tot bis auf siebenundzwanzig, und ich fürchte, ich werde der letzte sein müssen, ich, der ich nicht kräftig und würdig genug bin. Wir bekommen jetzt täglich etwas Brot und Bulgur, weil Kommissionen dagewesen sind, dies aber verlängert die Qual nur. Vielleicht kommen an diesem Tag noch Inschaat Taburi, um die vielen, vielen Leichen zu begraben. Sie werden mir dann auch meine Gefährtin nehmen und ich muß noch sehr dankbar sein dafür. Das Blatt ist nun vollgeschrieben. Leb wohl, Ter Haigasun, wann werden wir wieder vereint sein ...«

Der Priester hatte auch die letzten Zeilen noch tonlos wie eine sachliche Mitteilung gelesen. Dennoch hängte sich jede Silbe wie ein Uhrgewicht an die bärtigen Köpfe der Männer und zog sie nieder. Bedros Hekim erhob seine Stimme, die schartig und rostig wie ein Messer war:

»Ich glaube, daß sich Thomas Kebussjan daraufhin nicht mehr nach den Segnungen der Deportation sehnen wird. Wir haben nun achtunddreißig Tage hier oben gelebt, unser eigenes Leben, es war schwer, aber ganz anständig, mein ich. Schade, daß keiner von uns später die Gelegenheit haben wird, darauf stolz zu sein. Im übrigen stelle ich den Antrag, daß Ter Haigasun den Brief Nokhudians öffentlich auf dem Altarplatz verliest.«

Der Antrag fand lebhafte Zustimmung. Denn in der Stadtmulde ging der Seufzer Kebussjans, »wären wir nur in die Verschickung gegangen«, schon recht lange um. Gabriel war die ganze Zeit über unbeteiligt und in seine eigenen Gedanken versunken dagesessen. Er kannte ja den Brief des kleinen Pastors schon. Sein Sinn beschäftigte sich mit der auffahrenden Feindseligkeit, die Aram Tomasian während der Beratung ihm gegenüber zeigte. Gabriel spürte genau, daß Iskuhi der Grund war. Um so weniger aber wollte er auf den verletzenden Ton Arams eingehen. Es war eine sehr große Sache, die er vorzuschlagen hatte. Er bemühte sich deshalb in seinen Worten um höchste Milde und Versöhnlichkeit:

»Es fällt mir nicht ein, die Pläne und Taten Pastor Arams zu verspotten. Von allem Anfang an hab ich den Plan der Fischerei für gut gehalten. Wenn der Erfolg ausblieb, so ist nicht der gute Gedanke daran schuld, sondern die schlechten Gerätschaften. Was aber den Plan eines neuen Lagers anbetrifft, so habe ich pflichtgemäß zeigen müssen, daß er nicht nur unausführbar ist, sondern noch dazu das Ende beschleunigt und verschärft. Dagegen hat Aram Tomasian mit vollem Recht die Frage an mich gestellt, was ich gegen den Hunger zu tun gedenke. Paßt gut auf, Männer! Ich werde jetzt auf alle Fragen zugleich eine Antwort geben ...«

Auch Gabriel Bagradian improvisierte in gewissem Sinne ähnlich wie der Pastor. Auch er hatte diesen Einfall, den er jetzt mit aller Schärfe entwickelte, nachts unter anderen Einfällen hin und her gewendet, ohne ihn noch ganz ernst zu nehmen. Aber dies ist nun einmal so: Wird eine Idee oder eine Absicht in Worte gefaßt, so gewinnt sie damit schon die erste Stufe der Wirklichkeit und ein eigenes Schwergewicht. Er wandte sich an Nurhan Elleon, an Schatakhian und all diejenigen, von denen er Unterstützung erwartete:

»Es gibt ein altes Mittel, das alle Belagerten seit je anwenden ... Die Türken haben ihr Lager auf den Musa Dagh verlegt. Wenn sie auch sechs oder acht Kompanien haben sollten und Gott weiß wieviel Saptiehs, so brauchen sie doch einen großen Teil dieser Truppen, um den Berg abzuriegeln. Ihr müßt euch nur ausrechnen, wie groß die Strecke von Kebussije etwa bis Arsus ist. Es ist klar, daß sie uns aushungern wollen und daß sie deshalb mit ihrem großen Angriff noch ein paar Tage warten werden. Das beweist auch die Abreise ihres Generals, der den Angriff leiten soll. Wie wichtig sind wir ihnen! ... Ich nehme an, daß dieser General mit seinen Offizieren, dem Kaimakam und vielleicht noch andren hohen Persönlichkeiten sehr bald zurückkehren und in meinem Hause wohnen wird ... Also, ich will einen Ausfall versuchen, verstehst du, Ter Haigasun? Folgendermaßen! Wir werden aus den besten Zehnerschaften eine Überfallgruppe zusammenstellen. Ob es vier- oder fünfhundert Mann sein sollen, das weiß ich noch nicht. Bis heute abend werde ich die ganze Unternehmung genau ausgedacht und berechnet haben. Zwischen den Brandstellen gibt es Wege genug, um ins Tal zu kommen. Sie müssen genau ausgekundschaftet werden. Meines Wissens aber hat das Militär unten nur Patrouillen aufgestellt, die in der Nacht das Tal und die Vorberge abstreifen. Man muß da eine Streifungspause erwischen, was nicht schwer ist. Um zwei oder drei Uhr Mitternacht überfallen wir ... wie? ... nein, nicht Yoghonoluk, so weit kommen wir gar nicht ... wir überfallen mit unserer ganzen Übermacht mein Haus. Die Zahl der Schutzmannschaft dort wird natürlich vorher ausgeforscht werden. Außer den Offiziersdienern rechne ich allerhöchstens mit einem Zug Infanterie oder Saptiehs. Die Torwachen werden niedergemacht, Garten und Stallungen schnell besetzt. Alles Nähere gehört übrigens nicht hierher. Es ist meine und Tschausch Nurhans Sache. Mit Gottes Hilfe werden wir den General, den Kaimakam, den Müdir, den Jüsbaschi und die anderen Offiziere gefangennehmen. Wenn uns die volle Überrumpelung glückt, so können wir binnen zwei Stunden die mächtigen Herrschaften sowie eine Menge Tragtiere und vielleicht sogar Mehl und Proviant in der Stadtmulde haben.«

»Jetzt träumt Gabriel Bagradian«, krähte der Kirchensänger, Oskanians Sendling. Der sanfte Schatakhian aber sprang enthusiastisch auf:

»Ich finde, daß Bagradian wieder einmal die einzige kühne Idee hat. Sie ist noch großartiger als alles Frühere. Wenn es wirklich gelingt, die Villa zu überrumpeln und einen General, einen Kaimakam, einen Jüsbaschi gefangenzunehmen, ja, dann lassen sich die Folgen gar nicht übersehn ...«

»Sie lassen sich genau übersehn, Lehrer«, schnitt ihm Aram Tomasian mit hochmütiger Verächtlichkeit das Wort ab. »Wenn wir einen der höchsten Offiziere und einen der höchsten Beamten gefangennehmen, dann hört für die Türken der Spaß auf. Dann kommen sie mit Regimentern und Brigaden. Falls Gabriel Bagradian meint, das Militär werde mit ihm um das Leben der Geiseln schachern und Zugeständnisse machen, da irrt er sich gewaltig. Der Tod eines Generals und eines Kaimakams durch armenische Rebellen kommt ihnen sehr zustatten. Dann haben sie vor dem ganzen Ausland und Inland die stärkste Rechtfertigung für ihre Verschickungspolitik in der Hand. Solche Geschichten sind ihnen höchst willkommen. Was wißt ihr Leute von Yoghonoluk? Ich aber habe Zeitun erlebt.«

»Nicht Gabriel Bagradian, sondern du irrst dich gewaltig, Pastor, trotz deinem Zeitun.« Schatakhian kochte auf. »Ich kenne Ittihad, ich kenne die Jungtürken, wenn ich auch nur in Yoghonoluk gelebt habe. Die halten zusammen. Einen der Ihrigen opfern die nicht auf. Unter keinen Umständen. Point d'honneur! Der schmähliche Tod eines Generals und eines Kaimakams wäre für sie eine fürchterliche Niederlage in den Augen des Volkes, der sie sich gar nicht aussetzen können. Im Gegenteil, sie werden alles tun, um uns das Leben der Geiseln abzukaufen, mit Mehl, Fett, Fleisch, und sogar mit Freiheit ...«

Der übermütige Optimismus Lehrer Schatakhians erregte den Hohn der Zweifler. Wiederum begann wie bei der letzten Beratung ein leerer und erboster Streit, bei dem keine Ansicht mehr klar zur Geltung kam. Nur mischte sich diesmal das drohende Volk nicht ein. Auf dem Altarplatz lungerten zwar dichte Gruppen der Bevölkerung, sie waren aber zu matt und kraftlos, um Forderungen zu stellen oder aufzubegehren. Die Stadtwache lag teils hindämmernd, teils schlafend vor der Regierungsbaracke. In dem Beratungsraum aber tat Asajan sein Bestes, um den Streit nicht erschlaffen zu lassen. Er wagte es sogar, dunkel auf die Proviantschätze des Hauses Bagradian anzuspielen, deren sättigender Besitz noch immer zu mutigen Träumen verleitete. Die Anspielungen trafen ihr Ziel nicht. Gabriel hatte schon einige Tage vorher alles, was er noch an Konserven besaß, in die Nordstellung bringen lassen, damit es an die Zehnerschaften verteilt werde. Tschausch Nurhan Elleon, der gewaltige Längerdienende, nahte dem spindeldürren Kirchensänger mit unheimlicher Breitspurigkeit, legte ihm seine lederharten Finger um das Hälschen und versprach, daß er ihn beim nächsten unsauberen Muckser glatt erwürgen werde. Ter Haigasun, der nach seiner Gewohnheit den Lärm eine Weile lang ertrug, suchte mit der trockenen Bemerkung Ruhe zu schaffen, man möge den Zwist über die Brauchbarkeit des Generals und Kaimakams erst dann austragen, sobald man sie gefangen habe. Indessen hatte sich Aram Tomasians der leidige Dämon völlig bemächtigt. Er beging die ebenso grundlose wie törichte Unvorsichtigkeit, auf den orthodoxen Priester loszufahren:

»Ter Haigasun! Du bist das Oberhaupt und der Verantwortliche! Ich klage dich der Unentschlossenheit an. Du läßt alles gehn, wie es geht. Du willst es dir mit niemandem verderben. Es ist ein Wunder, daß wir bei deiner – wie nenn ich's – Gelassenheit den heutigen Tag überhaupt erlebt haben ...«

Dieser Anwurf gegen die höchste Autorität – ein unerhörtes erstmaliges Ereignis – empörte den Freigeist Altouni so sehr, daß er den altgläubigen Wartabed gegen den protestantischen Pfarrer schreiend in Schutz nahm:

»Was hast du hier anzuklagen, junger Mensch? Das wäre noch schöner! Von uns und unserm Leben weißt du nichts, denn als kleiner Bursche hat dich dein Vater nach Marasch geschickt. Nimm dir also nicht mehr heraus, als dir zukommt!«

Zurechtgewiesen wie ein dummer Junge und unter seiner eigenen Taktlosigkeit blutend, wurde Arams Stimme und Wesen noch schriller:

»Es mag sein, daß ich ein Fremder hier bin und euch nicht verstehe, obgleich ihr die wirklichen Fremden unter euch sehr wohl versteht. Meinen Antrag aber halte ich aufrecht. Mehr noch! Ich bin für mich und für meine Familie entschlossen, so zu handeln, wie ich es für richtig halte. Wo steht es übrigens geschrieben, daß wir alle bis ans Ende zusammenbleiben müssen? Es wäre viel klüger, das gesamte Lager aufzulösen. Jede Familie soll sich retten, so gut sie kann. Der volle Haufen auf einem Punkt ist viel leichter abzufangen. Wenn wir uns lose über die ganze Küste zerstreuen, dann wird ein Teil wenigstens auf irgendeine Weise am Leben bleiben. Ich aber will meine Familie, meine ganze Familie zusammenpacken und mit ihr einen Weg finden. Meine ganze Familie hab ich gesagt, Gabriel Bagradian ...«

Während der vielen, oft sehr erregten Tagungen des Führerrates hatte Ter Haigasun niemals die Ruhe verloren. Selbst als er vor genau sechs Tagen Hrand Oskanian durch einen Fußtritt hinausbeförderte, geschah dies souverän, ohne daß er dabei aus der Fassung geriet. Auch jetzt zeigte er kein äußeres Erregungszeichen, als er sich erhob, sehr blaß und beinahe feierlich:

»Schluß! Unsere Beratungen haben keinen Zweck mehr. Das Volk hat uns den Auftrag der Führung gegeben. Ich erkläre hiermit heute am achtunddreißigsten Tage diesen Auftrag für erloschen, da der Führerrat nicht mehr die innere Kraft und Einheit besitzt, Entschließungen zu fassen. Wenn es möglich ist, daß ein Mann wie Pastor Aram Tomasian, der für die innere Ordnung und Ruhe die Verantwortung trägt, selbst unsere Gemeinschaft aufzulösen trachtet, dann kann man auch von keinem andern mehr Gehorsam und Unterwerfung fordern. Es tritt also in diesem Augenblick derselbe Zustand ein, wie er in den Dörfern vor der Wahl des Führerrates geherrscht hat. Die Muchtars übernehmen wieder die alleinige Sorge für ihre Gemeinden und ich, als Wartabed des Bezirkes, die Leitung der Gesamtheit. In dieser Eigenschaft fordere ich Gabriel Bagradian auf, den Befehl über die Verteidigung weiterzuführen wie bisher. Er ist in seiner Befehlgebung unabhängig. Ob er sich für einen Überfall entscheidet oder für eine andre Abwehrmaßnahme, ist seine Sache, und niemand hat ihm dreinzureden. In meiner Eigenschaft als Priester ordne ich ferner einen feierlichen Bittgottesdienst an, dessen Stunde ich noch bekanntgeben werde. Ich habe nicht das Recht, irgendeine Möglichkeit der Rettung abzuweisen. Infolgedessen wird Pastor Aram Tomasian nach dem Gottesdienst die Gelegenheit haben, seinen Antrag vor der Volksversammlung zu wiederholen und zu begründen. Die Mehrheit des Volkes kann dann selbst entscheiden, ob es den Berg verlassen will oder der Tapferkeit unserer Kämpfer und den Plänen ihres Führers weiter vertraut. Nach diesem Entscheid aber wird das Volk beschließen, daß jeder, der sich gegen den allgemeinen Machtspruch in Taten oder Worten auflehnt, auf der Stelle erschossen werden soll. – So! Hat jemand noch etwas vorzubringen?«

»Zehnmal einverstanden! Wenigstens hört endlich das öde Geschwätz auf«, knurrte Bedros Hekim, der schon längst bei Krikors erbenloser Bücherburg stand und die bunten Tafeln in einem Band des alten Brockhaus bestaunte. Doch auch die Mehrzahl der anderen Führer war nicht unerfreut. So manchem kam die Diktaturerklärung Ter Haigasuns recht gelegen. In behaglicher Zeit ist es sehr erhebend, eine Führerrolle zu spielen, einen Schritt vor der Vernichtung aber taucht man lieber in der Masse unter. Auch die Muchtars waren nun wieder einfache Dorfschulzen und nichts mehr. Der im Park der Villa Bagradian von der großen Versammlung eingesetzte Führerrat löste sich ohne Protest sang- und klanglos auf. Ter Haigasun hatte einen weisen Schachzug getan und brachte zugleich ein furchtbares Opfer. Die Volksführung war von allen unzuverlässigen Seelen und Störenfrieden gesäubert. Er selbst aber mußte jetzt in diesem letzten Augenblick sein Volk durch den Tod Gott entgegenführen, er allein. Die Männer verließen schweigend die Regierungsbaracke.

Pastor Aram aber haßte Ter Haigasun, haßte Gabriel Bagradian und mehr als beide sich selbst. Kurz verabschiedete er sich von seinem Vater, ohne auf dessen verzweifelte Fragen Rede zu stehn. Die Verschickungstage von Zeitun stiegen zürnend auf. Hatte er nicht schon damals dem Evangelium Schande gemacht und seine Herde, seine Kinderherde am dritten Tage verlassen? Und war es kein pflichtvergessenes Auskneifen gewesen, als er seinen Amtsbruder Harutiun Nokhudian ziehen ließ, diesen reinen Blutzeugen des Herrn, den alten schwachen Mann, der nicht wankte? Bitter erkannte der Pastor, daß es immer die gleiche Sünde ist, die den Menschen in die Falle lockt. Um wieviel gemeiner, schmählicher, verwirrter, selbstbesessener aber war er bei der heutigen Prüfung durchgefallen! Aram Tomasian irrte zuerst eine Zeitlang auf dem Damlajik umher, dann kletterte er den Steig zur Küste hinab, um sich wieder mit den unlösbaren Problemen des Fischfangs zu befassen. Er empfand aber durchaus keine Zerknirschung, sondern nahm mit Schrecken wahr, daß es von Stunde zu Stunde in ihm verstockter wurde. Am besten, den Volksentscheid gar nicht abwarten und, ohne Anträge zu stellen, sich mit Howsannah und dem Kind einfach auf den Weg machen! Kework als Diener reicht vollkommen aus. Den Vater freilich muß man zurücklassen, er wird nicht fliehen wollen. Die Schwimmer sind über Arsus ganz leicht nach Alexandrette gekommen. Warum sollte eine kleine Familie in drei Nachtmärschen, der Küste entlang, nicht auch Alexandrette erreichen können? Herr Hoffmann, der den Schwimmern Obdach geboten hat, wird als Protestant einen protestantischen Pfarrer nicht verjagen. Mit seiner Priesterschaft war es nach solchem schmählichen Versagen natürlich zu Ende. Tomasian tastete seine Brieftasche ab. Er besaß fünfzig Pfund, viel Geld. Dann, sein Gesicht vor moralischem Widerwillen verzerrend, starrte er in das Brandungswasser zu seinen Füßen. Und Iskuhi?

 

Es war aber dafür gesorgt, daß weder Gabriels noch Arams Plan zur Ausführung kam, noch auch der Volksentscheid stattfand. Der Damm bricht immer schon ein, ehe ihn die Fluten überborden, und dann zumeist an einer unerwarteten Stelle.

Im Umkreis der Südbastion gab es, gegen die Meerseite hin gelegen, eine breite, mit verdorrtem Schafgras bewachsene Fläche. Dort hatten sich Sarkis Kilikian und der umsichtige Kommissär dieses Verteidigungsabschnittes, Hrand Oskanian, gelagert. Ein paar Schritte abseits von ihnen spielte der Langhaarige mit zwei anderen Deserteuren dunkler Herkunft ein Muschelspiel, die verschiedenen Wendungen der Partie mit melodischen Ausrufen in allen Sprachen Syriens begleitend. Der Lehrer versuchte nicht nur dem Russen mit großen Worten gewaltig zu imponieren, sondern sprach so laut und nachdrücklich, daß auch die verlotterten Spieler einiges von seinen verwegenen Ansichten abbekommen mußten. Den aufgeregten Versuchen des kleinen Mannes aber setzte Kilikian, lang ausgestreckt und Krikors kalten Tschibuk im Mund, ein beharrlich taubes Schweigen entgegen:

»Du bist ein gebildeter, ein studierter Mensch, Kilikian«, eiferte der kraushaarige Lehrer, »also wirst du mich verstehn. Immer habe ich geschwiegen, weißt du, meine Gedanken waren mir zu gut. Nicht einmal zu dem Apotheker, der viele meiner Ansichten und Meinungen übernommen hat, hab ich darüber geredet. Du kennst das Leben, Kilikian, dich hat es umhergeworfen wie keinen. Siehst du, auch mich, wenn du vielleicht auch glauben wirst, Hrand Oskanian ist sein Lebtag nichts anderes gewesen als ein lächerlicher Lehrer in einem schmutzigen Dorf. Du weißt ja nichts von ihm. Er hat seine Idee! Und willst du sie hören? Schluß machen, verstehst du das, Schluß machen! Denn wozu alles andre?«

Sarkis Kilikian stützte sich auf und zerkrümelte in seiner Hand einen Rest des geschenkten Tabaks. Während alle andern den reinen blonden Tabak mit getrocknetem Laub vermischten, rauchte ihn der Russe ungemengt, ohne darauf zu achten, daß sein Anteil dadurch doppelt so schnell zu Ende ging. An dem Schweiger Kilikian hatte der ehemalige Schweiger Oskanian seinen Meister gefunden. Das Schweigen des Russen hätte einen Baum entblättern können. Dem Lehrer aber entlockte es einen prahlerischen Wortschwall, auf dem unverdaute und entwürdigte Geistesbrocken Krikors schwammen:

»Also du verstehst mich, Kilikian, wie ich dich verstehe, da brauchst du erst gar nicht zu reden. Wie du, glaube ich, daß es keinen Gott gibt. Warum sollte es auch solch einen Blödsinn geben? Die Welt ist ein dreckiger Klumpen, der herumfliegt. Lauter Chemie und Astronomie, sonst nichts. Ich werde dir ein Sternbuch des Apothekers zeigen. Da kannst du das alles auf Bildern sehn. Nichts als Natur. Wenn sie jemand gemacht hat, so war's der Teufel. Ein Schwein ist sie, ein unreines. Das Letzte aber kann sie uns nicht nehmen, Kilikian, du verstehst mich. Du kannst ihr ins Gesicht spucken, du kannst sie entehren, du kannst ihr den Stärkeren zeigen, du kannst aus ihr austreten. Siehst du, und das ist meine Idee! Ich, Hrand Oskanian, der ich klein bin, werde die Natur, den Teufel und den Herrgott zurechtweisen, strafen, ärgern. Giften sollen sie sich, die Herrschaften, über den Lehrer Oskanian, gegen den sie ohnmächtig sind, du verstehst mich. Ich habe schon Leute gefunden, die meine Idee verstehn. Nachts besuche ich die Hütten, haha, da kann Ter Haigasun nichts dagegen tun ... Hast du dabei zugesehen, wenn der blöde Kework die Toten vom Felsen ins Meer wirft? Wie weiße Vögel fliegen sie davon. Das ist meine Idee. So wollen wir davonfliegen, du und ich und andre noch, ehe wir unfreiwillig krepiert sind. Ein kleiner Schritt und du weißt nichts mehr, ehe du noch das Wasser berührt hast. Du verstehst mich? Dann aber lösen wir uns im Meer auf. Das haben wir frei gewählt, und die Natur, der Teufel, die Türken und alle andern Halunken werden vor Wut zerplatzen, weil wir sie gezüchtigt haben, weil sie die Schwächeren geblieben sind. Du verstehst mich, Kilikian ...«

Sarkis Kilikian lag längst wieder auf dem Rücken. Sein lethargischer Totenkopf starrte in das rasch ziehende Gewölk des Himmels. Nichts wies darauf hin, daß er dem Selbstmordhymnus Oskanians zugehört hatte. Der Langhaarige hingegen unterbrach das Spiel und äugte aufmerksam nach dem tückischen Besieger der Natur hin, als verstehe er die »Idee« und finde sie gar nicht so übel. Dann schob er sich etwas näher:

»Haben die bei den drei Zelten viele Kisten?«

Der Lehrer stutzte betroffen. Er hatte schmachvoll ins Leere geredet. Auch griff ihm die Erwähnung des Dreizeltplatzes immer peinlich an die Seele. Andrerseits aber bot sich jetzt die gute Gelegenheit, all diesen hochmütigen und hartgesottenen Burschen hier zu zeigen, wer man war, einer von den Notabeln, ein geschultes Mitglied der höheren Welt, ein gewählter Volksführer. Oskanians Ton hielt zwischen Geringschätzung und Protzerei die Mitte:

»Nur Kisten? Kisten sind das wenigste! Sie haben große Schränke, und sie haben Koffer, die wie Schränke sind. Darin hängen so viele Frauengewänder, wie der reichste Pascha sie gar nicht zusammenträumen kann. Und jedes ist anders. Denn sie trägt nicht nur jeden Tag, sondern dreimal täglich ein anderes Kleid. Am Morgen sind es weite Gewänder, rosafarben oder himmelblau. Die sehen aus wie feine Tscharschaffs ohne Schleier. Die Mittagskleider sind sehr knapp und lassen die Füße sehn, die nicht dreimal, sondern sechsmal täglich andre Schuhe tragen. Dies alles aber ist noch gar nichts gegen die Gewänder des Abends ...«

Der Langhaarige zergähnte die Aufzählung, in deren begeisterte Wehmut sich die dichterische Gabe Lehrer Oskanians verirrt hatte:

»Was gehen mich die Gewänder an? Ich will wissen, was sie dort für Proviant aufheben?«

Oskanian warf den Kopf zurück, der durch den krausen Bart und das stachlige Haar so dicht verwachsen war, daß nur ein kleiner gelblicher Gesichtsfleck hervorlugte:

»Das kann ich euch genau sagen. Niemand weiß das besser als ich. Denn mich rief die Hanum unten in der Villa zu Hilfe, als all diese Sachen ausgewählt und eingepackt wurden. Da haben sie ganze Türme von silbernen Dosen, in denen Fische in Öl liegen. Sie haben süßes Brot und Backwerk und Schokolade. Sie haben viele Krüge mit Wein. Sie haben amerikanisches Räucherfleisch und ganze Eimer mit Grieß und Haferflocken ...«

Bei den Haferflocken hielt Oskanian inne. Plötzlich überkam ihn eine sehr ekelhafte Empfindung. Es war ein lichter Moment, in dem ihm die ganze verbohrte Niedertracht bewußt wurde, deren er sich seit seiner Liebesenttäuschung hemmungslos befleißigte. Seine niedrige Stirn begann zu schwitzen. Er schlug sich trist aufs Knie:

»Schluß machen ... Schluß machen ...«

Sarkis Kilikian aber meinte recht einsilbig und mürrisch:

»Werden wir auch ... morgen Abend ...«

Bei diesen schläfrig hingeworfenen Worten wurden die Hände des kleinen Lehrers eiskalt. Und sie wurden durchaus nicht wärmer, als Kilikian in vier gleichgültig knappen Sätzen seine Absichten verriet. Oskanians kugelrunde Augen hingen so starr an dem Gesicht des Russen, als vermöchte er mit dem Gehör allein nicht aufzunehmen, was unter der Besatzung der Südbastion schon lange abgekartet worden war. Sarkis Kilikian, die Deserteure und einige andre Männer noch, die unter ihrem Einfluß standen, hatten genug vom Damlajik. Sie wollten morgen in den ersten Nachtstunden ausrücken. Ein schändlicher Verrat an der Volksgemeinschaft! Vielleicht fühlte Kilikian als einziger etwas davon. Bei den andern aber war durch ein vielmonatiges Wolfsleben der Idealismus aufgebraucht, an dem Gewissensbisse Nahrung finden. Mit der unbelehrbarsten Naivität sahen sie in den Verteidigungsgrenzen des Musa Dagh nicht ein strenges Kriegslager, dem sie zu getreuem Ausharren verpflichtet waren, sondern eine Herberge, deren Mietzins sie durch einen fast vierzigtägigen Waffendienst hoch bezahlt hatten. Jetzt brach gewissermaßen der Hunger den Vertrag, da bis auf einen widerlichen Knochenhaufen der Südbastion seit Tagen von den Herbergsleuten keine Nahrung geliefert worden war. Sollten sie wirklich langsam verhungern, nur um den Türken in die Hand zu fallen? Was ging sie das Volk der sieben Dörfer an? Nur eine kleine Minderheit stammte aus dem armenischen Tal. Sie hatten schließlich auch vor der Besitzergreifung des Musa Dagh durch Ter Haigasun und Gabriel Bagradian auf den Gebirgen des Landes gelebt und sich ernährt, so gut oder so schlecht es ging. Keiner von ihnen dachte daran, das Schicksal der fünftausend zu teilen. Wozu auch? Sie konnten sehr leicht ihr Leben retten. Für sie würde einfach wieder der Zustand vor den vierzig Tagen eintreten. Jenseits des Orontes, im Süden, erstreckte sich der kahle weitläufige Dschebel el Akra bis gegen Latakijeh hin. Dieser Dschebel Akra war nicht quellenreich und grün wie der Musa Dagh, sondern nackt, zerrissen, unwegsam und somit der idealste Aufenthalt für flüchtige Deserteure. Ein ganz einfacher Plan: Nachts wollten sie, etwa hundert Mann stark, an Habaste und den Ruinen vorbei in die Orontesebene einbrechen. Da alles Militär im Bergtal und auf den Nordhöhen konzentriert war, so gab es unten wahrscheinlich nur ein paar Saptiehposten, die in der Nacht den Bergrand und die Orontesbrücke bei El Eskel bewachten. Mit einem gefährlichen Widerstand war kaum zu rechnen. Ob es zu einem Kampf kam oder nicht, die hundert würden ohne Zweifel die schmale Ebene schnell durchquert und bei Sonnenaufgang das Gebirge erreicht haben. Während der heimlichen Beratungen hatten ein paar ehrenhafte Elemente die Frage gestellt, ob es nicht möglich sei, die Lagerführung von dem Abmarschentschluß in Kenntnis zu setzen. Sie waren aber wegen dieser Frage fast verprügelt worden. Was wäre die Folge einer solchen schwachsinnigen Bekanntmachung? Bagradian und Tschausch Nurhan würden sie wahrscheinlich zum Teufel ziehen lassen, ihnen vorher aber durch die Nordzehnerschaften heilig die Gewehre abnehmen. Die Anständigkeit stand demnach hier, wie so oft auf dieser Welt, außerhalb des Menschenmöglichen. Im übrigen aber befanden sich die besseren Elemente in einer erschreckenden Minderzahl, während der radikale Flügel eine gewaltige Partei bildete. Dieser verbrecherische Flügel wollte sich aber nicht mit einem stillen Verschwinden begnügen. Und auch er hatte für sein Vorhaben vernünftige Gründe anzuführen. Da war vorerst die Geschichte mit der Munition. Von ihr hing Leben und Zukunft einer räubernden und wildernden Freischar ab. In diesem Sinne hatte schon bei jenem Auftritt an dem verbotenen Feuer der Langhaarige kriecherisch frech von Bagradian Patronenmagazine gefordert. Mit der Munition ging Tschausch Nurhan äußerst sparsam um. Nur wenn ein Gefecht unmittelbar zu erwarten war, wurden die Verschläge in die Stellungen hinausgetragen und selbst dann noch verteilte ein Vertrauensmann der Führung sehr geizig die Magazine. Gegenwärtig besaßen die Deserteure kaum fünf Schuß für jedes Gewehr. Ein unmöglicher Zustand! In der Regierungsbaracke aber lagen die Verschläge hochgeschichtet und außerdem noch ganze Tröge mit Patronen, denn Nurhans Manufaktur hatte in ununterbrochener Arbeit nicht nur die ausgeschossenen Hülsen neu gefüllt, sondern auch neue Kugeln hergestellt. Die Deserteure sahen die unabweisliche Notwendigkeit vor sich, ihren Munitionsbedarf aus den allgemeinen Beständen zu ergänzen. Zu diesem Zwecke mußte der Regierungsbaracke ein entsprechender Besuch abgestattet werden, wann und wie, das schien noch nicht festzustehen. Dabei konnte man sich auch in der Stadtmulde ein wenig umsehn, ob nicht dieses und jenes noch mitzunehmen wäre. Der Aufenthalt auf dem rauhen Dschebel el Akra erforderte gewisse Gebrauchsartikel, die das Volk des Damlajik, dessen Schicksal ja besiegelt war, fernerhin nicht nötig hatte. Und wenn man sich schon in der Stadtmulde umsah, so durfte man wohl einige unbeliebte Persönlichkeiten ins Auge fassen, Ter Haigasun zum Beispiel. Der Priester hatte aus seinem Haß gegen die Deserteure niemals ein Hehl gemacht und sie an den Gerichtstagen und bei jeder möglichen Gelegenheit die Härte des Lagergesetzes fühlen lassen. Die gesamte Südbastion war alles in allem zu fünf Fasttagen verdonnert worden. Und nicht genug damit. Ter Haigasun hatte sich nicht gescheut, den und jenen Deserteur im Notfall zu scharfer Bastonade zu verurteilen. Eine kleine Abrechnung konnte mithin nicht schaden. Aus all diesen Gründen floß mit dem Fluchtplan der zweite Plan eines Putsches zusammen, womit man die Sache nur ganz ungefähr bezeichnet. Wie weit Sarkis Kilikian an diesem verbrecherischen Vorhaben beteiligt war, das läßt sich nun und in alle Ewigkeit nicht mehr feststellen, ebensowenig wie sich seine aktive Teilnahme an dem Attentat gegen den Fürsten Galitzin wirklich feststellen ließ. Er lag noch immer auf dem Rücken und schien sich weder um Oskanian noch auch um die sauberen Andeutungen des Langhaarigen zu scheren. Hätte ein Sterblicher in sein Inneres schauen können, er hätte nichts andres gefunden als Ungeduld. Die Ungeduld des jagenden Wolkenhimmels über seinem Kopf. Hinter seiner erstorbenen Maske raste die Sehnsucht, auszubrechen, aus einer Gefangenschaft in die andre.

Der Lehrer stand schon längst auf seinen kläglichen Beinen. Er wölbte die Hühnerbrust vor, als wolle er, der Selbstmordverherrlicher, beweisen, daß er vor keinem verwegenen Frevel zurückscheue. Seinen Mut aber hätte er jetzt nur dadurch beweisen können, wenn er den Deserteuren im Galopp durchgegangen wäre. Doch Oskanian rührte sich nicht, um das Volkslager zu warnen. Mit gespitztem Mund stand er da und wiegte den Kopf. Kilikian und die andern konnten das für ein Zeichen der Bewunderung halten. Im Hirn des Lehrers flatterte der Gedanke der Warnung wie ein verfangener Vogel. Doch immer wieder stand die eitle Furcht dagegen, Kilikian und die andern Gesellen könnten ihn für einen Weichling halten und nicht für einen verfluchten Kerl unter verfluchten Kerlen. Da aber geschah es, daß gegen seinen Willen ein undeutlicher, aber abgründig hochverräterischer Hinweis ihm über die Lippen kam:

»Für morgen am Spätnachmittag hat Ter Haigasun einen außerordentlichen Bittgottesdienst angesetzt. Die Zehnerschaften aber bleiben in den Stellungen ...«

Dabei zwinkerte er die Deserteure trübe und liebedienerisch an. In diesem Blick lebte nicht einmal mehr der widerlich überhebliche Kauz, sondern nur ein gebrochener Feigling. Einer der Spießgesellen aber beantwortete Oskanians Selbsterniedrigung in gebührlicher Form:

»Damit du dein Maul hältst, Lehrer, wirst du dich heute und morgen von hier nicht fortrühren.«

Die Deserteure stießen ihren Regierungskommissär grob vor sich her, obgleich das gar nicht nötig war, denn er trabte als freiwilliger Gefangener ohne Fluchtgedanken mit. Und man ließ ihn tatsächlich keine Sekunde lang aus den Augen. Er saß trübsinnig auf einem der Beobachtungspunkte und stierte auf das schmale Straßenband tief unten hinab, das von Antakje nach Suedja führt. Der Haß gegen Gabriel, Juliette, Ter Haigasun flackerte mit einem Mal sehr bescheiden in seinem schreckerfüllten Herzen. Er wünschte sehnlichst einen Angriff der Türken herbei. Diese jedoch schienen gar nicht daran zu denken, sich auf dem offenen Steinhang noch einmal blutige Köpfe zu holen. Die Straße in der Orontesebene war friedlich belebt. Man konnte nicht eine einzige Abteilung von Soldaten oder Saptiehs unterscheiden. Ochsenwagen, Packesel und sogar ein paar Kamele zogen langsam ihres Weges zum Wochenmarkt nach Suedja, als lebe kein einziger Armeniersohn mehr auf dem Musa Dagh. Nur bei Jedidje am Fuß der Vorberge erhob sich plötzlich eine Staubwolke. Als sie sich verzog, konnte man ein kleines graues Militärauto erkennen.

 

Nun war er da, der vierzigste Tag auf dem Musa Dagh, der achte des Septembermonats und der dritte des uneingeschränkten Hungers. Die Frauen hatten sich heute die Mühe erspart, auf die Suche nach leerem Grünzeug zu gehn, um daraus eine bitterschmeckende Brühe zu bereiten. Das blanke Quellwasser tat denselben Dienst. Und wenn man dazu irgend etwas knabberte, ein fettes grünes Rohr, eine geschälte Wurzel, dann waren auch die Kauwerkzeuge beschäftigt. Alles, was noch auf den Beinen stehn konnte, hatte sich an den verschiedenen Quelläufen gelagert, alte Männer, Mütter, Mädchen, Kinder. Es war ein sonderbarer Anblick, wenn sich immer wieder eines der todesmatten Gesichter zu den Wassersträhnen hinabbeugte, um ohne Durst aus der hohlen Hand zu trinken, als sei dies strenge Pflicht. Verwunderlich genug, daß diese Nährquellen der Erde nach so vielen regenlosen Wochen, nach solchem tausendmündigen Verbrauch noch immer nicht versiegt waren. Nun hatten sich die Menschen zu ihnen geschleppt und fingen das Leben nur mehr mit Händen und Lippen auf, ohne es in Krügen und Eimern nach Hause zu tragen.

Es kann aber gar nicht geleugnet werden, daß sich die Hungernden an diesem dritten absoluten Fasttage im allgemeinen wohler fühlten als in der vorhergehenden Zeit. Der Krampf in den Därmen, der Druck auf dem Zwerchfell waren einer empfindungslosen Leichtigkeit gewichen. Manche lagen tiefatmend ausgestreckt und spürten ihr eigenes Selbst wie porösen Gips, der an der Luft erstarrt. Andre wieder träumten beglückt vor sich hin. Sie wähnten, ein Flügelkleid wachse allmählich aus ihrer Haut, und wenn sie nur wollten, dann vermöchten sie bald den ersten seligen Flugversuch zu wagen. Es gab auch nicht wenige, die, von einer verschlagenen Heiterkeit erfaßt, lange Geschichten aus ihrem früheren Leben erzählten, kernlose Anekdoten von Haus und Handwerk, von Bienen und Raupen, von Reben und Holz, wobei sie selbst ihre fleißigen Lacher waren. Über allem aber lag ein Schleier von sanfter Langsamkeit. Die kleinen Kinder schliefen fest, die größeren machten keinen Lärm, und selbst die Jugendkohorte zeigte, soweit sie sich nicht im Dienste befand, eine erschreckende Bewegungslosigkeit. Bis gegen Mittag starben drei alte Leute und zwei Säuglinge. Die Mütter hielten die armen Kreaturen fest an ihre leeren Brüste gedrückt, bis sie kalt und steif wurden.

Der Wechselsturm der letzten Tage hatte sich heute zur Eindeutigkeit entschlossen. Er fuhr in kurzen Stößen vom Südosten her über die Hochfläche. Die Stadtmulde lag nicht tiefgebettet genug, um gegen den feinen Sandschleier Schutz zu bieten, in den der Wind gehüllt war. Oft hatte es den Anschein, als wolle er die riesigen Gluthalden, die weithin die Brust des Damlajik bedeckten, von neuem entflammen. Noch einmal warf sich mörderische Steppenhitze mit trockenen Drosselgriffen über alles Leben. Das Laub der Eichen und Buchen war längst verdorrt. Doch auch die immergrünen Lederblätter des Buschwerks und der Klettergewächse wollten sich schließen wie verrunzelte Hände. Die Menschen aber in ihrer guten Betäubung litten kaum mehr unter dem Wetter. Sie merkten es nicht einmal, daß Mundhöhle, Gaumen, Zunge und Rachen von den kristallharten Körnchen des Küstenstaubes entzündet waren.

Im Gegensatz zu dem Lagervolk besaßen die Männer in den Stellungen draußen noch Leben und Tatkraft genug. Auch sie waren alles eher als satt. Das ausgeteilte Fleisch und die Konserven des Hauses Bagradian reichten nicht hin, um den Hunger auch nur in bescheidenem Maße zu stillen. Die Entbehrung aber erregte die Verteidiger in eigentümlicher Weise, sie erzeugte ein trunkenes Verlangen nach Kampf, nach Entscheidung. Die neue Ordnung der Dinge hatte den Vorteil, daß Gabriel Bagradian den nächtlichen Handstreich vorbereiten konnte, ohne sich darum zu kümmern, ob sich das Volk entschließen werde, den Damlajik zu verlassen. Seiner Leute war er sicher. Und heute nacht wollte er den großen Schlag führen. Der Vorstoß ins Tal war aufs peinlichste durchdisponiert. Nichts hatte er vergessen. Jeder Mann und jede Minute waren eingeteilt und ausgenützt. Gabriels gelehrter Hang zum Theoretischen überließ nichts dem Glück. Immer neue Widerstände erfand er, immer wieder setzte er eine Möglichkeit gegen die andre. Die Rückzugslinie der eigentlichen Überrumpelungsgruppe war durch ein fein ausgeklügeltes System von Komitatschis gesichert, die ihre Posten schon drei Stunden vor der Unternehmung beziehen sollten. Doch nicht genug damit! Gabriel Bagradian entschloß sich, die Türken auf den Nordhöhen den ganzen Tag über durch Scheinangriffe und jähe Feuerüberfälle in Unruhe zu versetzen, damit sie so viel Truppen wie möglich vom Tal abziehen müßten. Unerwarteterweise kamen die Türken seinen taktischen Wünschen entgegen. Ihre Vorbereitungen ließen unschwer darauf schließen, daß sich binnen vierundzwanzig Stunden alles entschieden haben mußte. Auf den Höhen jenseits des Sattels herrschte das Leben des Stellungskrieges vor einer Offensive. Die Armeniersöhne konnten drüben zwischen Bäumen und Strauchwerk ängstlich vorzögernde Reihen von Infanteristen beobachten, die auf ihren Schultern dicke entlaubte Baumstämme schleppten, welche sie auf den Höhenrand hinpoltern ließen. Ohne Zweifel sollten diese glatten mächtigen Stämme als bewegliche Deckungen dienen, wenn die Schwarmlinien zum Angriff vorkrochen. Bagradian und Tschausch Nurhan gingen im vordersten Graben von Mann zu Mann, die Gewehraufsätze auf die richtigen Entfernungen hin prüfend. Wenn sich auf der Gegenseite einer der Türken zu weit zwischen den Bäumen vorwagte, gaben sie vereinzelte Schußbefehle. Auf diese Weise fielen bis zur Mittagsstunde einige Feinde. Die tödliche Kugel wurde jedesmal mit einem wilden regellosen Feuer beantwortet, das über die Köpfe der Verteidiger hinwegfuhr oder in den Steinhaufen des Schanzwerks steckenblieb. Die Kämpfer sahen mit wildem Stolz, daß die neuen Sicherungen so stark waren, daß sie nur durch Artillerie zusammengeschossen werden könnten. Für das Vorhandensein dieser Artillerie sprach aber noch immer kein Anzeichen. Die seltsame Trunkenheit des Hungers erzeugte bei den Armeniersöhnen Tollheitsausbrüche. Sie wollten mit allen Mitteln die Türken zu einem Angriff herauslocken. Sie kletterten aus den Gräben, sie tanzten auf der Deckung, manche wagten sich weit ins Hindernisfeld vor; Tschausch Nurhan und die Unterkommandanten hatten alle Mühe, die Ungebärdigen vor verrückten Wagnissen zurückzuhalten. Die Türken ließen sich nicht herausfordern. Dem Anschein nach waren sie durch die lebenstolle Wildheit derer, die man ihnen als Halb- und Ganzverhungerte geschildert hatte, aufs äußerste betreten. Und als dann gar ein Teil der im Gefelse postierten Zehnerschaften auf eigene Faust vorbrach, eine Türkenpatrouille zusammenschoß und ungehindert wieder zurückkehrte, da hatten die Regierungstruppen neuerdings den klaren Beweis dafür, daß es bei der verfluchten Rasse nicht mit rechten Dingen zuging.

Um die Mittagsstunde besuchte Ter Haigasun die Kämpfer. Gabriel Bagradian bat ihn, er möge in ihrer Mitte ein Gebet sprechen, da die Zehnerschaften heute ja nicht bei dem großen Bittgottesdienst zugegen sein konnten. So geschah es auch. Gabriel meldete dem Priester ferner, daß die Anwesenheit dieser Männer beim Volksentscheid überflüssig sei, denn sie hätten durch Tschausch Nurhans Mund erklärt, immer und überall mit dem Führer gehn zu wollen. Ter Haigasun sah den von Tateifer glühenden Gabriel verwundert an. Noch vor wenigen Tagen hatte er geglaubt, diese Seele sei nicht rauh genug, um den Foltertod des Sohnes zu überwinden. Auf dem Rückweg in die Stadtmulde aber wußte Ter Haigasun genau, daß Bagradians Seele gar nichts überwunden hatte als sich selbst. Und das vielleicht nur für die wenigen Stunden dieser allerletzten Anspannung.

 

Generalmajor Ali Risa Bey war einer der jüngsten Brigadegenerale der ottomanischen Armee, noch nicht vierzig alt. Er hatte sich schon in Libyen und im Balkankrieg als Frontoffizier ausgezeichnet und gehörte jetzt zum engsten Mitarbeiterstab Dschemals. Ali Risa war jedoch äußerlich und innerlich das gerade Gegenteil seines Chefs, des malerischen Diktators von Syrien. Er vertrat gewissermaßen den allermodernsten und westlichsten Kriegertypus, den es gab. Man mußte ihn nur sehen, wie er zur Stunde im Selamlik der Villa Bagradian auf und ab ging, während die Offiziersversammlung um ihn kleinlaut und erstorben seinen schlanken Schritten folgte. Der ganze Unterschied wurde klar, wenn man den jungen General etwa mit dem verwundeten Jüsbaschi verglich, der, den Arm noch immer in der Schlinge, in vorschriftsmäßiger Haltung auf eine Anrede seines Vorgesetzten wartete. Der Major mit seinen zigarettengebräunten Fingern und den abgelebten Zügen hatte, an Ali Risa gemessen, etwas Trübes, um nicht zu sagen Schmutziges. Jetzt stieß der General unmutig die Fenster des Salons auf, um die dichten, von den Offizieren erzeugten Rauchwolken zu verjagen. Er rauchte nicht, er trank nicht, er liebte weder Weib noch Mann, die Sage ging, daß er sich seines schwachen Magens wegen ausschließlich von roher Ziegenmilch nähre, ein durchsichtiger Asket des Krieges. In diesem Augenblick trat ein Onbaschi ein und überreichte ihm einen Dienstzettel. Der General warf einen Blick auf die Meldung und zog seine dünnen blassen Lippen ein:

»Wir haben im Norden durch einen Ausfall der Armenier Verluste gehabt ... Ich werde den Kompaniekommandanten gründlichst zur Verantwortung ziehn ... Die Herren hier mögen es sich alle zu Gemüte führen ... Ich habe Seiner Exzellenz versprochen, daß bei der ganzen Aktion nicht ein einziger Mann auf unsrer Seite geopfert werden soll ... Wir heben ein Lager von Verbrechern auf, alles andre wäre eine unabsehbare Schmach ... Schändlich genug, daß es so weit gekommen ist.«

Sein Blick suchte den Adjutanten:

»Noch immer keine Nachricht über die beiden Batterien?«

Der Adjutant verneinte kurz. Seit zwei Tagen schon erwartete man ungeduldig die Ankunft der Gebirgskanonen, die in Aleppo ausgeladen worden waren. Da dieser Transport aber nicht über Antakje, sondern über Beilan und das schwierige Gebirge ging, so verzögerte er sich endlos. Der General war daher gezwungen gewesen, den Hauptschlag von heute auf morgen zu verschieben. Jetzt blieb er vor einem der jüngeren Offiziere stehn:

»Wieviel Kilometer Telefondraht sind bei den Kompanien vorhanden?«

Der Angeredete erbleichte und fing Unbestimmtes zu stammeln an. Ali Risa Bey horchte gar nicht hin:

»Es ist mir gleichgültig! Ich mache Sie aber dafür verantwortlich, daß bis gegen Abend, genau eine Stunde vor Sonnenuntergang, hier im Hause eine Telefonstation errichtet ist, die mit dem Berg in Verbindung steht, und zwar im Süden und Norden. Wie Sie das machen, ist Ihre Sache. Ich werde über die morgige Unternehmung des Jüsbaschi telefonische Meldung verlangen. Jetzt können Sie gehn ...«

Der Unglückliche, der keine Ahnung hatte, wieviel Drahtspulen sich bei den Kompanien befanden, und der eine unlösbare Aufgabe vor sich sah, stürzte verzweifelt hinaus. Der General aber rief jetzt ziemlich scharf:

»Jüsbaschi ... Ich bitte sehr ...«

Der Verwundete riß sich zusammen. Die beiden Männer traten in den einsamen Vorraum. Ali Risa warf einen kalten flüchtigen Blick auf den verbundenen Arm des Majors:

»Jüsbaschi! Ich gebe Ihnen heute Gelegenheit, Ihre schwere Schlappe gutzumachen ... Das wird aber nur dann der Fall sein, wenn Sie keine Verluste erleiden werden. Sie sind mir für jeden Verwundeten Rechenschaft schuldig. Ich bitte, sich danach zu richten ... Ist also die Situation mit den Deserteuren vollkommen aufgeklärt?«

Der Jüsbaschi machte eine nachdrückliche Bewegung mit dem verletzten Arm, als weise er darauf hin, daß er mehr als seine Pflicht erfüllt habe:

»Ich selbst, Herr General, bin gestern dicht vor den Seitenstellungen über Habaste gewesen. Sie waren ganz leer. Das Pack hält die Deckungen nicht mehr besetzt. Es war eine Stunde vor Sonnenuntergang ...«

»Gut! Und Ihre vier Kompanien?«

»Ich glaube, daß der unsichtbare Aufmarsch in der Nacht vollkommen gelungen ist. Nicht eine Laterne hat gebrannt. Die Truppen haben sich gestern während des ganzen Tages nicht aus Habaste gerührt. Jetzt liegen sie unter den Felsen in einer völlig versteckten Stellung. Auch die drei Maschinengewehre meiner Gruppe.«

»Sie werden am Abend nachher selbst zum Telefon kommen, Jüsbaschi. Wenn Sie die Höhe genommen haben, wünsche ich nicht, daß Sie weiter vorgehen ...«

Damit war die Unterredung beendet, und Ali Risa wandte sich schon um.

Die Stimme des Jüsbaschi aber hielt ihn fest:

»Ich bitte gehorsamst den Herrn General um ein Wort ... Da ist folgende Sache noch ... Diese Deserteure, ich habe in Erfahrung gebracht, daß es sich nicht um Armenier handelt ... Im übrigen hat sich gestern ein früherer Armenier bei mir gemeldet, der zum wahren Glauben übergetreten ist, ein Advokat, Doktor Hekimian heißt er ... Er ist bereit, mit diesen Leuten zu reden, daß sie die Stellung freiwillig räumen ... Man wird vielleicht einige Zugeständnisse machen müssen, hat aber dafür die Sicherheit eines unblutigen Verlaufs ...«

Der General hatte ruhig zugehört. Jetzt unterbrach er den Major jäh:

»Ausgeschlossen, Jüsbaschi! Wir können uns doch nicht nachsagen lassen, daß wir mit diesen Teufelsarmeniern nur durch armenischen Verrat fertig werden konnten. Denken Sie an den Hohn der feindlichen Presse, der Seine Exzellenz und die ganze Vierte Armee treffen würde.«

Schwere Schritte hallten auf den Steinfliesen des Hausflurs. Die große schlaffe Gestalt des Kaimakams trat, vom sommersprossigen Müdir gefolgt, in den Raum. Der Kaimakam legte nachlässig die Hand an den Fez:

»Endlich, meine Herren! Ihre Batterien, General, werden in drei Stunden in Sanderan sein. Die Wirtschaft bei euch ist noch viel schlimmer als bei uns ...«

Das helle asketische Soldatengesicht Ali Risas brachte den dicken und von schlechten Säften geplagten Kaimakam in Wut. Er beschloß das Militär zu ärgern. Während er schon wieder die Türklinke in der Hand hielt, um den Raum zu verlassen, drehte er sich noch einmal hoheitsvoll um:

»Ich hoffe, daß mich unsre Wehrmacht nicht ein viertes Mal enttäuschen wird.«

 

Da Kristaphor und Missak nur in der Nacht den Dreizeltplatz zu bewachen hatten, waren die Frauen jetzt, um die vierte Nachmittagsstunde, allein. Witwe Schuschik, Haiks Mutter, bediente Juliette in ebenso rührender wie ungeschlachter Art. Diese Hilfe war auch notwendig, da Mairik Antaram, die wieder die Leitung des Lazarettschuppens übernommen hatte, sich nur vorübergehend einstellen konnte. Mit Iskuhi aber hatte es eine eigene Bewandtnis. Juliette war nun schon eine körperlich Genesende, wenn auch noch so abgezehrt und schwach, daß sie bei jedem Schrittchen zusammenknickte. Ihr Gesicht hatte eine bläulichweiße Farbe oder Farblosigkeit angenommen, als wollte es sich nach der furchtbaren Krankheit doppelt von dem sonnverbrannten Braun ringsum unterscheiden. Sie verbrachte täglich eine Stunde oder zwei Stunden außer Bett. Dann saß sie vor ihrem Spiegeltischchen, den Kopf auf die Arme gelegt, regungslos. Manchmal kniete sie auch, wie sie es in der Verzweiflung früher schon getan, vor dem Bett und preßte das kleine spitzengemusterte Kopfkissen an ihr Gesicht wie eine letzte Heimat. Das bedenklichste Zeichen ihrer geistigen Zerrüttung aber war es, daß der starke Trieb, schön und sauber zu sein, in ihr erloschen zu sein schien. Der Wäschekoffer stand aufgeklappt im Zelt. Aber sie griff weder hinein, noch auch verlangte sie nach frischen Sachen, obgleich das Hemd, das ihr Mairik Antaram am Tage nach dem Fiebersturz angezogen hatte, schon ganz zerknittert war. Juliette schien es gar nicht zu merken, daß an diesem zarten Batisthemd das rechte Achselband zerrissen war und ihre abgemagerte Brust meist bloßlag. Ganz im Gegensatz zu den inneren Wunschbildern, die sie erfüllten, griff sie nicht nach der Flasche mit Eau de printemps, in der noch immer ein Rest darauf wartete, die verdorrte Haut des Körpers neu zu beleben. Nicht einmal in die Pantoffeln schlüpfte sie, die unter ihrem Bett standen, sondern wankte bloßfüßig die wenigen Schritte, zu denen sie die Kraft besaß. In ihren Augen lebte weder Qual noch Angst, nur eine starre zusammengekauerte Bereitschaft, sich gegen jeden zu wehren, der sie ins Leben zurückreißen wollte.

Schuschik sah in Juliette eine Mutter, die über dem furchtbaren Tod des einzigen Kindes den Verstand verloren hatte. Sie sah in ihr das eigene Los, das ein unermeßliches und unverdientes Gotteswunder von ihr selbst abgewendet hatte. Haik lebte. Und mehr als das. Sein Leben war in alle Ewigkeit gesichert, denn er stand unter dem Schutze Jacksons und Amerikas. Diese Worte bedeuteten im Herzen Schuschiks überirdische Gewalten. Jackson, das war kein Mensch, sondern wahrscheinlich der Erzengel selbst, der den feurigen Säbel schwingt. Ihr war damit von Gott eine Auszeichnung widerfahren wie keiner Mutter des Musa Dagh sonst. Und dies nach einem Leben voll Sünde und Zornigkeit, das ihr der Priester immer warnend vorgehalten hatte. Mußte sie jetzt nicht Tag und Nacht sich abmühen, um zu dienen und zu danken, um zu danken und zu dienen? Wem aber danken, wem aber dienen, wenn nicht ihr, der anderen Mutter, die der volle Fluch getroffen hatte? Diese war eine reiche Hanum, eine Vornehme, eine Fremde. Wie unendlich weit war der Weg von Schuschik zu ihr! Und doch, das fühlte die große Kaukasierin, der Weg konnte nicht so weit sein von der geretteten Mutter zu der verlorenen. Sie holte ihre seit Jahren verrostete Stimme aus sich heraus, machte sie leise und zart und sang beinahe ihre Tröstungen. Es war ja alles so einfach. Diese Welt ist diese Welt, dort drüben aber hat es der Erlöser Jesus Christus so klug eingerichtet, daß man wieder miteinander vereint wird. Zuvörderst jedoch sehen die Mütter ihre Kinder wieder. Was sie jetzt verriet, das wußte sie weder von Nunik noch von einer anderen Totenwäscherin, sondern ihre eigene Mutter hatte es von einem weisen Wartabed gehört, der auf der Klosterinsel Agthamar im Wan-See lebte. Dort oben im Himmel, dort sehen die Mütter ihre Kinder nicht als jene erwachsenen Söhne und Töchter wieder, die sie auf Erden verlassen haben, sondern als wirkliche kleine Kinder, so wie sie einst zwischen zwei und fünf Jahren gewesen sind. Und die guten Mütter dürfen dort oben im Himmel ihre Kleinen wieder auf dem Arm tragen.

Von dieser Aussicht beglückt, hob das plumpe Weib die Arme und wiegte auf ihnen einen kleinen unsichtbaren Haik. Während solcher Geschichten wurden Juliettens Augen immer abwehrender und schienen zu vereisen. Schuschik glaubte, die Fremde verstehe ihre Sprache nicht. Sie ließ sich neben der Hanum auf den Boden nieder, überlegend, wie sie sich tröstlich und nützlich erweisen könne. Sie fühlte Juliettens erfrorene Füße an. Mit einem leisen Mitleidston drückte sie diese Füße an die Brust und begann sie mit ihren ledernen Bauernhänden sanft zu streicheln und dann warmzureiben. Juliette schloß die Augen und sank zurück. Schuschik zweifelte nicht daran, die Unglückliche war wahnsinnig. Und sie begriff durchaus diesen Wahnsinn, denn wie weit war sie selbst auf dem gleichen Wege schon gewesen, ehe die erlösende Botschaft sie zurückgerufen hatte. Ihre rauhe Einfalt konnte nicht auf den Verdacht verfallen, daß dieser Wahnsinn gar kein richtiger Wahnsinn war, sondern nur ein aus Körperschwäche, Fiebernachhall, Entsetzen, Bilderflucht und Wahrheitsfurcht zusammengehäufter Wall, hinter dem die Hanum sich vor dem taghellen Wissen verbarg. Im übrigen teilte auch Bedros Hekim die Ansicht Schuschiks und hielt Juliettens Zustand für eine Geisteskrankheit infolge des Fleckfiebers. Ein überraschender Vorfall, der sich am Morgen dieses vierzigsten Tages bei seiner Visite ereignet hatte, gab ihm guten Grund dazu. Der Alte saß am Bettrand und versuchte mit dem besten Französisch, dessen er mächtig war, der erstarrten Seele Hoffnung und Licht zu geben. Alles entwickle sich zum Besten. Der Krieg sei jetzt bestimmt in wenigen Wochen vorüber, und die Welt werde Frieden schließen. Madame habe doch sicher vom Besuch des Agha aus Antakje gehört. Nun, dieser alte, einflußreiche türkische Herr hatte deutlich durchblicken lassen, daß Gabriel Bagradian mit Madame werde nach Frankreich zurückkehren dürfen, und zwar in allernächster Zeit schon. Es handle sich daher nur um einige Tage noch, und dann beginne ein neues und schöneres Leben für zwei so junge und prächtige Menschen. Seine Herzensgüte verwandelte den alles verneinenden Nörgler in einen erfindungsreichen Märchenerzähler. Selbst der geringschätzig schartige Ton seiner Stimme klang behutsam. Während dieser linden Fabel aber zeigte sich plötzlich Iskuhis Gestalt im Zelteingang. Juliette, die der Dichtung des Arztes die ganze Zeit über mit freundlich abwesenden Augen zu lauschen schien, fuhr beim Anblick Iskuhis zusammen, setzte sich schreckerfüllt auf, zog die Knie hoch und begann zu schreien:

»Nicht sie ... Nicht sie ... Sie soll gehn ... Ich nehme nichts von ihr ... Sie will mich umbringen ...«

Das Sonderbare aber war, daß sich Iskuhi während dieses Wahnsinnsausbruches nicht fortrührte, sondern daß ihr eigenes Gesichtchen sich zu einer Maske des Wahnsinns verzerrte und daß es aussah, als würde nun auch sie sogleich losschreien. Bedros Hekim sah die beiden Frauen bestürzt an. Grauenhafte Erkenntnisse überfielen ihn. Auch als Iskuhi schon längst wieder verschwunden war, ließ sich Juliette, deren geschwächtes Herz tobte, lange nicht beruhigen.

 

Was war mit Iskuhi geschehen?

Seit fünf Tagen hatte sie Gabriel nicht gesehen. Seit zwei Tagen hatte sie keinen Bissen mehr zu sich genommen. Sie hungerte ohne Notwendigkeit, denn Kristaphor hatte, als er die Konserven in die Nordstellung brachte, den Frauen zurückgelassen, was sich noch an Schokoladetafeln und Zwieback vorfand. Doch Iskuhi wollte hungern, und nicht nur weil das ganze Volk hungerte. Fünf Tage lang hatte sie Gabriel nicht gesehn, dafür aber war ihr Bruder Aram zweimal vor ihrem Zelt erschienen, sie aber hatte sich verkrochen und nicht geöffnet. Jeder dieser fünf Tage schlich mit seinen Stunden, die wie Jahre dauerten, unerträglich dahin. Warum kam Gabriel nicht? Iskuhi erwartete sein Kommen in jeder Sekunde des Tages und der Nacht. Sie wäre jetzt, selbst wenn ihr erschöpfter Körper die Kraft dazu besessen hätte, dem Geliebten nicht in die Stellung nachgegangen. Mit jeder Stunde weniger. Sie lag im früheren Tomasianzelt schweratmend auf ihrem Bett, unfähig, ein Glied zu rühren. Ein Ohrensausen, mächtig wie Meeresbrandung, zersprengte ihren Kopf. Und doch, dieses Ohrensausen war nicht mächtig genug, die Stimme der Wahrheit zu lähmen. Wie ein Sterbender mit seinen letzten Augenblicken geizt, so hatte Iskuhi mit den Minuten der Gemeinschaft gegeizt. Und war das etwa nicht in der Ordnung? Wieviel Minuten hatte man auf dem Damlajik zum Verschwenden übrig? Gabriel aber verschwendete nicht nur die unersetzlichen Minuten, sondern ganze unendliche Lebenstage ihrer kurzen Liebe. Verschwendete? Liebe? Grausam holte Iskuhi alles Erlebte aus sich hervor. Ja, Gabriel war zärtlich zu ihr gewesen, das heißt, er streichelte sie, manchmal durfte sie ihre Hand auf seinem nackten Herzen halten und mit ihm weinen. Doch er weinte um Stephan. Und wenn er sein Herz öffnete, so war es Gram und Erbarmen mit der Ehebrecherin, was sich offenbarte. Unerbittlich hing er an dem »Fremden«, wie tief es ihn auch verraten hatte. Was half es, wenn er Iskuhi »Schwesterchen« nannte und »Heimkehr«. Diese Worte waren für sie keine Liebkosungen mehr, sondern Brandwunden. Immer wieder stieg die zögernde Antwort auf, die Gabriel noch vor Stephans Tod auf ihre sehnsüchtige Fallenfrage gegeben hatte: »Wenn wir uns draußen in der Welt begegnet wären, hättest du in mir die Schwester bemerkt?« Gabriel war wenigstens sehr offen zu ihr. Mit seiner ganzen Haltung sagte er: Du bist ein blasses, unwissendes, niedriggeborenes Ding, das ohne den grausamen Lauf der Dinge niemals würdig gewesen wäre, von mir angeblickt zu werden. Ich danke dir, du kleines Schwesterchen, mit meinen kühlen Händen, mit meinen brüderlich fernen Küssen dafür, daß du dich so sehr bemühst, meinen Schmerz mit mir zu tragen. Wie aber könntest du das, du armes Armenierkind aus Yoghonoluk? Trotz allem und für immer gehöre ich der Fremden, der Französin. Nicht mit Iskuhi werde ich sterben, sondern mit Juliette. Mag sie mich auch verraten haben, vor Juliette beug ich mich, zu Iskuhi beuge ich mich nur herab.

Bei diesen Erkenntnissen blieb der Schmerz nicht stehn. Noch schärfer forschte er nach der Wahrheit. Was Gabriel ihr gab, das war nur ein sanftes Entgegennehmen ihres Dienstes, nichts mehr. Wäre es anders, fragte sich Iskuhi, wenn Juliette – was sie im Innersten hundertmal heiß ersehnt – das Fieber nicht überstanden hätte? Und sie erkannte: Nein! Gabriel würde sie dann noch viel weniger liebhaben als jetzt. Ah, wie fühlte diese Kranke das Heimlichste. Iskuhi aber wollte Juliettens Zelt nicht mehr betreten, sie nie, nie mehr wiedersehn. Und doch, nicht an Juliette lag die Schuld, sondern einzig und allein an ihr, Iskuhi. Worin aber bestand ihre Unwürdigkeit, geliebt zu werden? Sie war keine Europäerin, sie war nur die Tochter eines armenischen Zimmermanns, ein Dorfmädchen aus Yoghonoluk. Konnte das der tiefste Grund sein? War Gabriel ein Europäer? Stammte er nicht aus demselben armenischen Dorf wie sie? Der ganze Unterschied war, daß sie nur zwei Jahre in Lausanne und er dreiundzwanzig Jahre in Paris gelebt hatte. Das konnte der Grund nicht sein. Wenn er sie ansah, nannte er sie schön. Halt! Hier lag es. Warum sah er sie oft so merkwürdig, so fern an? Etwas an ihr störte ihn und machte ihn kalt. Iskuhi entwand sich ihrer Schwäche und lief zu dem kleinen Spiegel, der auf dem Tischchen stand. Sie mußte aber diesen Spiegel gar nicht in Anspruch nehmen, da sie ja alles wußte. Ein Krüppel war sie, wenn auch nicht als solcher geboren, so doch dazu geschlagen. In dem halben Jahr seit den Verschickungstagen von Zeitun war der linke Arm immer schlimmer geworden. Wenn sie ihm nicht durch die Schlinge half, hing er abgemagert und verkümmert herab. Doch wie geschickt sie auch war, diese Entstellung zu verbergen, Gabriel kam darüber nicht hinweg, oh, sie wußte es. Einmal hatte er einen leichten Kuß auf diesen Arm gedrückt. Noch jetzt vermeinte sie die mitleidige Selbstüberwindung dieses Kusses zu spüren. Iskuhi fiel wieder aufs Bett. Das Ohrensausen wuchs wie ein Sturm, der alles verschlang. Krampfhaft versuchte sie Gabriels Ausbleiben sachlich zu rechtfertigen: In diesen Tagen hatte wohl der Hunger in den Stellungen alles drunter und drüber geworfen. Bagradian mußte die ganze Verteidigung neu organisieren. Es wurde auch wieder geschossen. Doch diese vernünftigen Erklärungen gewannen nicht die geringste Macht über sie. Hingegen kam ihr auf dem Grunde des Ohrensausens ihre eigene Stimme entgegen, so fremd. Sie hörte das »chanson d'amour«, das sie auf Juliettens Verlangen unten in der Villa Bagradian einmal gesungen hatte, Stephan war dabeigewesen und Gabriel nachher ins Zimmer gekommen. Immer wieder kreisten die ersten Zeilen des alten Volkslieds in ihrem Kopf, zum Wahnsinnigwerden:

»Sie kam aus ihrem Garten
Und hielt an ihre Brust gepreßt
Zwei Früchte des Granatbaums ...
Sie gab sie mir, ich nahm sie nicht.«

Weiter kam das Lied nicht. Zugleich aber geschah das Entsetzliche wieder, das sie nun lange schon verschont hatte. Das Gesicht von der Landstraße nach Marasch, die wechselnde Kaleidoskopfratze des stoppelbärtigen Mörders war da und bedrängte sie. Plötzlich blieb das Greuelgesicht stecken, als wäre in dem Verwandlungsapparat etwas nicht in Ordnung. Das Steckengebliebene aber wurde auf geheimnisvolle Weise zu Gabriels Gesicht, und noch feindseliger und noch mörderischer als das andre. Iskuhi verlor den Atem vor Angst und Unglück. Stumm flehte sie um Hilfe: Aram ...!

In diesen Minuten war Pastor Aram Tomasian tatsächlich nicht mehr weit vom Zelt seiner Schwester entfernt. Er war mit Howsannah gekommen, die ihr armseliges Kind trug. Als Aram grob Einlaß forderte, antwortete ihm kein Laut. Da zog er kurzerhand sein Messer und zerschnitt die Schnüre, die das Zelt von innen verschlossen. Der Pastor hatte den großen Sack, den er geschultert trug, niedergleiten lassen. Die Frau mit dem fast leblosen Bündel des Säuglings blieb einige Schritte hinter ihm. Der ganze Aufzug sah danach aus, als wollten die sinnverwirrten Menschen wirklich schon in dieser Stunde den Damlajik verlassen, ohne den Gottesdienst und die Volksversammlung erst abzuwarten. Tomasian schien nur noch auf der Suche nach Kework zu sein, um dann sogleich mit den Seinen in das sichere Nichts aufzubrechen.

Wäre Pastor Aram in dieser Stunde er selbst gewesen, mild, evangelisch, liebevoll, der starke frohe Bruder von Zeitun, Iskuhi hätte sich vielleicht nicht lange geweigert, mit ihm zu gehn. Warum auch sollte sie in diesem verlassenen Zelt bleiben? Sie wußte, daß ihre Füße sie nicht mehr weit tragen konnten. Dann würde irgendwo auf sanfte Weise alles zu Ende sein, das Ohrensausen, Gabriel, sie selbst. Statt des liebevollen Bruders von Zeitun jedoch stand ein unbekannter Gewaltmensch im Zelt, der mit dem Stock zu fuchteln begann:

»Steh auf! Mach dich fertig! Du kommst mit!«

Diese bösen Worte wälzten sich wie Felsen auf Iskuhi. Steif ausgestreckt, starrte sie diesen fremden Aram an. Jetzt konnte sie sich nicht mehr rühren, selbst wenn sie hätte gehorchen wollen. Tomasian faßte seinen Stock fester:

»Hörst du nicht? Ich befehle dir, daß du sofort aufstehst und dich fertigmachst. Als dein älterer Bruder und als dein geistlicher Vater befehl ich's. Hast du verstanden? Ich will doch sehn, ob ich dich nicht der Sünde entreißen kann!«

Bis zu dem Wort »Sünde« war alles Erstarrung gewesen. Die »Sünde« aber weckte hundert Quellen zornigen Widerstandes in Iskuhi. Alle Schwäche fiel von ihr ab. Sie sprang auf. Hinter den Bettrahmen sich zurückziehend, ballte sie ihre kleine rechte Faust wie zur Verteidigung. Doch ein neuer Feind lugte jetzt ins Zelt, Howsannah:

»Laß sie doch, Pastor, gib sie auf! Sie ist eine Verlorene. Ich bitte dich, komm ihr nicht zu nahe, sonst wird sie dich anstecken. Laß sie! Wenn sie mit uns geht, wird uns der Herr nur noch mehr strafen. Es hat keinen Zweck. Komm, Pastor! Immer hab ich es gewußt, was für eine sie ist. Du aber warst närrisch mit ihr. Schon in der Schule von Zeitun hat sie sich mit den jungen Lehrern abgeschmiert, die Männertolle! Laß sie, ich bitte dich, und komm!«

Iskuhis Augen wuchsen immer fassungsloser. Sie hatte seit Juliettens Erkrankung Howsannah nicht mehr gesehn und ahnte nicht, daß sie eine völlig Besessene vor sich hatte. Die junge Pastorin war auf schreckliche Weise verändert. Um Gott durch ein Opfer zu versöhnen, hatte sie sich das schöne Haar ganz kurz abgeschoren. Ihr Kopf wirkte nun winzig klein und hexenhaft böse. Alles an ihr war abgezehrt und verschrumpft, nur der Leib wölbte sich vor, eine krankhafte Folge der Niederkunft. Jetzt streckte Howsannah mit einer unbeschreiblichen Gebärde der Anklage das Bündel mit dem Säugling der Schwägerin entgegen und kreischte:

»Sieh her! Nur du bist schuld an diesem Unglück!«

Da kam der erste Laut von Iskuhis Lippen: »Jesus Maria!« Ihr Kopf sank auf die Brust. Sie gedachte der schweren Stunde Howsannahs, da sie mit ihrem Rücken die Gebärende gestützt hatte. Was wollten diese tollen Menschen von ihr? Warum gab man ihr in den allerletzten Stunden ihres Lebens nicht Frieden? Der Pastor hatte indessen seine plumpe Silberuhr gezogen und ließ sie an der Kette pendeln:

»Zehn Minuten gebe ich dir Zeit, damit du dich bereitmachen kannst.«

Dann drehte er sich zu Howsannah um:

»Nein, du! Sie kommt mit. Ich lasse sie nicht! Vor Gott muß ich Rede stehn für sie ...«

Iskuhi stand immer noch hinter dem Bett, ohne sich zu rühren. Aram Tomasian aber wartete die Zeit nicht ab, sondern ging schon nach drei Minuten hinaus. Die plumpe Uhr pendelte noch immer an seiner Faust. Draußen auf dem Dreizeltplatz war es inzwischen sonderbar laut geworden.

Wie auf Katzensohlen waren die dreiundzwanzig Männer aufgetaucht, die sich jetzt in dem Raum zwischen dem Scheich- und dem Krankenzelt bewegten. Der langhaarige Deserteur schien nach seinem ganzen Benehmen der Anführer zu sein. Spielte sich diese bedenkliche Erscheinung als Kommandant der unerwarteten Kömmlinge auf, so hatte Sato, als vierundzwanzigste im Bunde, zweifellos die Rolle einer Pfadfinderin inne. Sie rieb sich unschuldig mit ihrem Ärmel die Nase, als wollte sie den Eindruck erwecken, daß ihre kindliche Wenigkeit den Zweck dieser unangesagten Unternehmung nicht kenne und verstehe. Ein dienstlicher Auftrag wahrscheinlich. Doch weder Kilikian noch auch sein famoser Kontrollmeister waren zugegen. Es herrschte jene tückisch geladene Verlegenheit, wie sie so oft einem Verbrechen vorauszugehn pflegt. Der Anblick der Deserteure bot anfangs nichts weiter Erstaunliches, es sei denn, daß einige von ihnen die türkischen Beutebajonette auf ihre Gewehre gepflanzt hatten. Aber man sah ja immer wieder die Zehnerschaften in geschlossenen Zügen vorüberziehen, wenn sie von der Ablösung aus den Stellungen kamen oder zur Ablösung in die Stellungen marschierten. Heute besonders, da die Schüsse im Norden nicht verstummen wollten, hatte eine Rotte von Bewaffneten nichts Auffälliges. Als Aram Tomasian vor Iskuhis Zelt trat, begann sich die Sache schon zu entwickeln. Und doch sah er eine ganze Weile lang mit der größten Gleichgültigkeit dem Vorgang zu. Sein Sinn, von dem eigenen unverzeihlichen Beginnen umwölkt, vermutete irgendeinen Befehl Bagradians, der von diesen Kämpfern dort ausgeführt werden sollte. Was aber ging ihn, der sich von dem Volke schon gelöst hatte, die Verteidigung des Damlajik noch an?

Witwe Schuschik jedoch hatte schärfere Augen. Mit ihrer großen Gestalt füllte sie den Zelteingang völlig aus. Sofort erkannte sie, was sich hinter Satos Getue verbarg, hinter dieser vertrackten Zeichensprache, die immer wieder auf das Zelt der Hanum wies. Schuschik stellte sich breitbeinig hin und öffnete die Arme, bereit, alles Böse mit ihrem eigenen Leib abzufangen. Der Langhaarige löste sich aus dem Knäuel:

»Wir sind geschickt, um den Proviant abzuholen, den ihr noch immer hier bei euch habt.«

»Ich weiß von keinem Proviant ...«

»Du wirst schon davon wissen. Die silbernen Büchsen, mein ich, mit den Fischen, die in Öl schwimmen, die Weinkrüge und die Haferflocken.«

»Ich weiß von keinem Wein und keinen Haferflocken. Wer schickt dich?«

»Was geht das dich an? Der Kommandant!«

»Der Kommandant soll selbst kommen.«

»Also weg da! Ich warne dich zum letztenmal, dummes Weib! Länger werdet ihr da drin nicht auf eurem Fraß hocken. Der kommt uns zu!«

Schuschik aber sagte nichts mehr, sondern verfolgte mit Blick und Hand eines Ringers die Bewegungen des Langhaarigen, der sein Gewehr fortgeworfen hatte und den besten Ausfallspunkt suchte. Als er sich dann von links her auf die Frau stürzte, hatte sie ihn schon mit Untergriff um die Hüfte gefaßt, hob den Schmächtigen mit eisernen Händen hoch und schmiß ihn unter den Haufen, so daß er zwei Männer mit sich umriß. Und dann stand sie wieder ruhig da, die Riesin, ohne daß ihr Atem schneller ging, die Arme lauernd geöffnet, um den nächsten Kunden zu empfangen. Ehe aber Schuschik ihren Tod noch ahnen konnte, war es schon um sie geschehn. Ein tückisch von der Seite geführter Kolbenhieb hatte ihr den Schädel zerschmettert. Sie starb blitzschnell, auf der Höhe ihres Glücks, denn noch in diesen Kampfsekunden war ihr Wesen nur von einem einzigen Gefühl erfüllt: Haik wird leben. Zu Boden stürzend, versperrte sie mit ihrer Leiche den Weg zu der unseligeren Mutter Stephans. Jetzt erst begriff Pastor Aram, was vorgegangen war. Aufschreiend, mit hoch erhobenem Stock flog er auf die Rotte zu, die in diesem Augenblick, durch den Mord abgekühlt, scheu auseinanderwich. Nun hätte Tomasian seine ganze persönliche Macht ins Spiel werfen müssen. Er war der Pastor und einer der obersten Führer. Zwei kurze Befehlsworte in den Haufen geschleudert und dann mit raschem Griff das Gewehr des Langhaarigen vom Boden gepackt! Nicht wenige Augen harrten neugierig, ob diese Autorität sie bändigen werde. Aram aber, seiner Seelenkräfte längst nicht mehr Herr, tat das Verkehrteste. Er fuhr mitten unter das Rudel, mit seinem lächerlichen Stock blind und sinnlos um sich schlagend. Die Antwort war ein Bajonettstich, der ihn unterhalb der rechten Schulter in den Rücken traf.

Was ist das, dachte er, und was habe ich eigentlich mit all diesem Zeug zu schaffen? Ich bin ein Mann Gottes, das Wort ist mir auferlegt, sonst nichts. Überlassen wir diese fremden Leute sich selbst. Der Stock war ihm aus der Hand gefallen. Doch seiner geistlichen Würde voll bewußt, richtete er sich hoch auf, machte kehrt und ging mit steifen Schritten den Weg zurück. Ah, die Frauen dort! Nun? Hat sich Iskuhi doch endlich zum Gehorsam entschlossen? Warum aber ist sie weißgekleidet? Ja, man wird wieder in freundlicher Gemeinschaft leben, wie in Zeitun. Howsannah muß das einsehn. Der Weg zu dem dritten Zelte dehnte sich ungemein lang. Der Pastor lächelte seiner Frau aufmunternd zu. Diese aber schien mit Schreckensaugen über ihn hinwegzublicken. Knapp drei Schritte von ihr entfernt brach Aram zusammen, das verdorrte Gras mit seinem Blute färbend. Obgleich seine Wunde nicht sehr schwer war, verlor er die Besinnung. Howsannah kauerte sich zu ihm nieder, hilflos, ratlos, das Kind im Arm. Als Iskuhi das Blut sah, lief sie mit einem Schrei ins Zelt, brachte reine Tücher, eine Schere und kniete neben dem Bruder nieder. Jetzt erst raffte sich Howsannah auf und legte den Säugling ins Gras. Sie schnitten Arams Rock auf. Iskuhi preßte das Tuch mit aller Kraft auf die Wunde. Ihre Rechte färbte sich vom Blute des Bruders, der ihr unheilbar fremd geworden war.

Der Langhaarige, Sato und einige Deserteure drängten sich über Schuschiks Körper hinweg in das Zelt der Hanum. Juliette hatte, aus bleiernem Schlafe halb erwacht, den Wortwechsel, das Getümmel, die Schreie vernommen. Das Fieber, Gott sei Dank, das Fieber ist wieder da, so glaubte sie verschlagen. Doch auch als die Gestalten und der Gestank schon das Zelt erfüllten, wich ihre schlaffe Hingegebenheit noch immer keiner Angst. Entweder ist es das Fieber, dann bin ich froh. Wenn es aber die Türken sind, dann ist es am besten jetzt, zwischen Schlaf und Schlaf. Niemand dachte daran, der Hanum etwas anzutun. Sie schenkten der Kranken überhaupt keine Beachtung. Ihnen war's nur um die kulinarischen Schätze zu tun, von denen neidische Sagen umgingen. Sie schleppten den großen Schrankkoffer und das übrige Gepäck vor das Zelt. Dort war auch schon alles andre zusammengetragen worden, was sich im Scheichzelt an Kisten und Koffern gefunden hatte. Nur Sato und der Langhaarige hielten sich länger bei Juliette auf, dieser, weil er auf eigene Faust etwas Brauchbares zu finden hoffte, jene aus Neugier und Bosheit. Da ihr nichts Grausameres einfiel, riß sie plötzlich die Bettdecke von Juliette fort. Der Mann sollte die Blöße der Fremden sehn! Der aber hatte sich inzwischen einen großen Schildpattkamm zum Andenken ausgewählt, wohl mit Rücksicht auf sein langes, verklebtes Haar. In den Anblick dieser Beute versunken, trollte er sich aus dem Zelt, ohne die Frau anzutasten. Draußen hatte die Bande schon den Inhalt der zahlreichen Gepäckstücke um und um gewühlt. Wieder lagen Juliettens Kleider und Wäschestücke ringsumher wie damals bei der Entehrung durch die Saptiehs in Yoghonoluk. Einzelweise waren die Lack-, Atlas-, Goldkäferschuhe und dünnen Stiefelchen dazwischengestreut. Doch nicht nur Kleider und die Gläser ringsum, alles, was man mit Mühe auf den Musa Dagh geschleppt hatte. Die Ausbeute der Räuber aber war lächerlich: zwei Sardinenbüchsen, eine Dose mit Kondensmilch, drei Schokoladentafeln, eine Blechschachtel mit Biskuitbröseln. Das konnte ja nicht alles sein. Zum dritten Zelt, rasch. Sato gestikulierte. Da aber näselte die kleine Glocke vom Altarplatz herüber, zum Bittgottesdienst rufend. Das mit der Hauptgruppe verabredete Zeichen lud zum zweiten Teil des Tagewerks ein. Man mußte sich beeilen, um zurechtzukommen. Jeder raffte irgend etwas zusammen, um nicht leer auszugehen, Löffel und Messer, eine Schüssel, eine Karaffe, ja selbst ein Paar Frauenschuhe.

Iskuhi und Howsannah hatten die Blutung der Wunde mit Tüchern erstickt. Der Pastor war zu sich gekommen. Unendlich erstaunt sah er aus. Er konnte nicht begreifen, welch ein verwirrter Mann in ihm getötet worden war. Nun durfte er in der Volksgemeinschaft verharren. Nun zwang ihn sein Trotz nicht mehr, die große Sünde der Absonderung von neuem zu begehn. Vergossenes Blut! Und dieses vergossene Blut war die Gnade, die ihn vor der nichtbestandenen Prüfung bewahrte. Er sah Howsannah. Mit Grasbüscheln rieb sie sich die Hände rein, damit das Wickelkissen des Kindes nicht blutig werde. Aram Tomasian wunderte sich, daß unter seinen Kopf eine Menge von Decken und Kissen geschoben war, so daß er beinahe aufrecht saß. Iskuhi preßte noch immer mit ihrer rechten Hand die Kompresse gegen seine Wunde, wodurch sie zugleich verhinderte, daß er auf den Rücken zu liegen kam. Ihr abgezehrtes Gesicht war von der unsäglichen Anstrengung ganz verzerrt. Aram wandte den Kopf ab und sagte: »Iskuhi«, und fünf- und sechsmal nichts als seufzend: »Iskuhi.« Der Name klang wie ein zärtliches: »Verzeih mir!«

 

Der Sakristan läutete wie ein Toller die kleine Glocke, die neben dem Altar an einem Mast tanzte. Dieses heischende Geläute war gar nicht notwendig, denn die Gemeinde der Alten, der Frauen und Kinder war schon längst auf dem Altarplatz versammelt. Unter der fanatischen Rechten des Küsters aber jammerte das Glöckchen weit hinaus, als sollten nicht nur die türkischen Kompanien, sondern Land und Meer wissen, daß hier die Sterbestunde eines christlichen Volkes eingeläutet werde. In der linken Hand schwang der Küster nicht minder wild das Räucherfaß. Auf dem Damlajik, wo es keine irdische Nahrung mehr gab, war der Weihrauch in solcher Menge vorhanden, daß man damit noch monatelang hätte auskommen können. Zur angesetzten Stunde der Bittfeier, die übrigens schon überschritten war, ließ der Südostwind nicht im geringsten nach. Wie Gottlose, die eine Religionsstörung verüben wollen, fegten die Windwürfe über den Platz, schluckten den Glockenlaut, verbissen sich knurrend ins Dachgeflecht der Laubhütten und rüttelten am Altar, dessen Bekleidung für diesen Fall besonders befestigt war. Die starke, vier Meter hohe Blätterwand hinter der heiligen Stätte wurde zum preisgegebenen Windfang. Sie bebte unter den Sturmhieben, das welke Laub wirbelte auf, und die ganze große Wand schwankte oft so bedenklich, als werde sie nicht standhalten. Vor dem Altartisch, auf der obersten Stufe, waren zwei Stangen rechts und links mit einer Querschnur angebracht, auf der der Vorhang in Ringen lief, der während der Opferung den Priester nach armenischem Brauch den Blicken der Gemeinde entziehen mußte. Der schwere Stoff dieses Vorhangs wehte immer wieder gegen den geweihten Tisch. Man band ihn fest, damit er die heiligen Geräte nicht vom Altar werfe. Einige Fromme hatten ihr wachsames Auge auf diese Geräte gerichtet, besonders auf die hohen silbernen Leuchter, in denen von Glasschirmen geschützte Windlichter brannten. Zwischen den einzelnen Windstößen waren lange Pausen einer beklemmenden Stille eingeschaltet. In dieser Stille knallte dann und wann ein Schuß vom Nordsattel herüber.

Ter Haigasun hatte in seiner Pfarrhütte, die dicht neben der Regierungsbaracke lag, längst schon die Meßgewänder angelegt. Die Sänger und die Diakone, die ihm assistieren sollten, warteten bereits eine gute Weile vor dem Eingang. Eine tiefe Beklommenheit aber hielt ihn zurück, hinaus und an den Altar zu treten. Was war das? Sein Herz, das niemals aus dem Gleichgewicht kam, schlug laut ans Priesterkleid. Fürchtete er das Unbekannte, das nahe bevorstand? Zweifelte er, ob er richtig gehandelt hatte, im Augenblick der höchsten Not das Volk selbst aufzurufen? Hatte er damit nicht in listiger Schwäche die Entscheidung von seiner Person abgewälzt und den Unmündigen eine Aufgabe zugemutet, der sie nicht gewachsen waren? Nun, die Kämpfer standen alle hinter Gabriel Bagradian, und Ter Haigasun glaubte nicht, daß der Pastor für seinen Antrag auch nur einen kleinen Bruchteil von Anhängern finden werde. Und doch! Bestand nicht Gefahr, daß sofort nach der feierlichen Gnadenerflehung Verwirrung, Zank, Zerfall durch Tomasians Antrag in die hungernde Menge geworfen werde? Vielleicht fühlte Ter Haigasun nur den niederschmetternden Ernst der Sendung, zu der er gewürdigt und verdammt war. Trotz des heißen Windes fror er. Sein Kopf schien zu wachsen, immer größer und dünnwandiger zu werden wie ein Ballon, den man aufbläst. Auch er hatte seit zwei Tagen fast nichts mehr genossen. Er saß auf der Matte, die sein Schlaflager war. Auf den Knien hielt er das große Kirchenbuch aufgeschlagen. Den ganzen Nachmittag lang hatte er Eintragungen gemacht und die Summe dieser vierzig Tage gezogen. Jetzt war das Buch des Lebens und des Todes, soweit es in seiner Macht stand, in Ordnung gebracht und die Rechnung abgeschlossen. Er hatte seine Pflicht getan und konnte das Kirchenbuch übergeben. Wem übergeben? Ter Haigasun schüttelte den Kopf. Und doch, es lag eine große Befriedigung darin, daß die Seelen der Lebendigen und der Abgeschiedenen namentlich verzeichnet standen und daß die göttlich-menschliche Ordnung von ihm bis zu dieser Stunde aufrechterhalten wurde. Dadurch, daß jede verewigte Seele mit Geburts- und Todestag, mit Namen und Herkunft der Eltern hier sauber eingeschrieben war, konnte sich Gott ihrer leichter erbarmen, und sie brauchte nicht wie ein unbenannter Hund um die Pforten der Hölle zu schweifen. Ter Haigasun glaubte fest an das Heil der Benennung und Einschreibung, in der sich das Heil der Taufe fortsetzt. Seine vergilbten Hände durchblätterten noch einmal die letzten Seiten des Buches. Siebzehn Kinder des Musa Dagh hatte er getauft. Dem standen vierhundertzweiunddreißig Seelen gegenüber, die er zur Jenseitsreise eingesegnet hatte. Eine gewaltige Zahl. Dennoch, war's nicht ein Wunder, daß trotz der türkischen Kompanien und trotz des Hungers noch immer mehr als viereinhalbtausend am Leben geblieben waren? Und darunter immer noch mehr als siebenhundert wohlgeübte und todesmutige Krieger in allen Stellungen, die vielleicht noch einmal den Ansturm der türkischen Übermacht zurückschlagen würden! Gottes Gnade hatte Gabriel Bagradian nach Yoghonoluk geführt. Ter Haigasun fielen die Lider bleiern über die Augen. Die viereinhalbtausend lebten nicht mehr. Er sah sich allein unter den Toten in seinen starren Kirchengewändern stehn. Nie hatte er daran gezweifelt, daß er der letzte sein werde, so grausam das auch war. Sein Herz schlug nun wieder ruhig. Dafür aber erfüllte ihn eine unbeschreibliche Todeserwartung, wie er sie auch in der schlimmsten Minute der Kämpfe bisher nie empfunden hatte. Ohne zu wissen warum, malte er mit seinem dicken Rotstift unter den letzten Toten des Kirchenbuches ein großes Kreuz.

Einer der beiden Hilfspriester steckte immer wieder den Kopf mahnend zur Pfarrhütte herein. Die angesetzte Zeit war längst verstrichen, und es bestand Gefahr, daß die anschließende Volksversammlung bis in die Nacht dauern werde. Ter Haigasun aber konnte sich noch immer nicht losreißen. Ihm war's, als gebe ihn eine innere Macht nicht frei, die den außerordentlichen Bittgottesdienst zu verhindern trachte. Schwindel und Schwachgefühl drohten ihn aufs Lager zu ziehn. Er war krank, verhungert. Sollte er den Gottesdienst absagen oder sich vertreten lassen? Ter Haigasun erkannte, daß es nicht Schwäche war, sondern die Furcht, der Aufgabe nicht gewachsen zu sein, die heute vor ihm lag. Und noch etwas andres, Unbestimmtes. Endlich erhob er sich und gab das Zeichen. Der Mesnerjunge nahm das Stangenkreuz auf, um es dem Zug voranzutragen. Ter Haigasun folgte den Sängern und Diakonen langsam mit gefalteten Händen und gesenktem Blick. Dieser nach innen geschlagene Priesterblick, welcher an der sich spaltenden Menge teilnahmslos wie an Buschwerk vorbeizog, beobachtete dennoch alles mit überscharfer Klarheit. Ter Haigasun hatte nicht mehr als fünfzig Schritt zum Altar zurückzulegen. Doch bei jedem dieser Schritte durchdrang ihn der Seelenzustand des Volkes ringsum mit schmerzhafter Strahlung. Die Lethargie des Morgens war einer erregten Beweglichkeit gewichen. Die menschliche Natur hatte in dieser Stunde irgendwelche äußerste Reserven oder Scheinkräfte aufgeboten. Vor allem zeigten die kleinen Kinder die tückischeste Ungebärdigkeit. Sie brüllten aus voller Kehle, strampelten und warfen sich zur Erde. Vielleicht waren es die Hungerschmerzen in den kleinen aufgeschwollenen Bäuchen. Die empörten Mütter aber schüttelten und schlugen sie, weil kein andres Beruhigungsmittel half. Da die langen Kreischlaute und das Geschelte sich steigerten, war vorauszusehen, daß die heilige Handlung immerfort gestört und daß Erhebung und Gebetessammlung unmöglich sein werde. Doch nicht nur die Kinder, auch die Erwachsenen benahmen sich zum Teil äußerst unruhig. Da gab es alte Männer – jene bekannten »kleinen Besitzer« zumeist –, die zusammenhanglos aufgeblasene Reden führten, ohne wie sonst ehrfürchtig zu verstummen, da der Priester an ihnen vorbei zum Altar wandelte. Ter Haigasun erkannte daran, daß die innere Auflösung mit dem Hunger Schritt hielt. Es ist gut, überlegte er, daß die Zehnerschaften nicht zu der Versammlung kommen. Solange sie fest bleiben, ist noch nicht alles verloren. Gleichzeitig aber mit diesem beruhigenden Gedanken hob er die Augen und blieb eine Sekunde lang angewurzelt stehen. Was bedeutete das? Hier waren dennoch Bewaffnete erschienen. Einzeln und in losen Gruppen freilich, aber jedenfalls gegen seinen und Gabriel Bagradians ausdrücklichen Willen. Wer hatte diese Leute aus den Stellungen hergeschickt? Da die Frauen, die Schlaffheit der ersten Tageshälfte überwindend, für den Gottesdienst ihre Festgewänder, die bunten Tücher und den blitzenden Münzenschmuck angelegt hatten, verschwanden die braunen Flecke der Krieger in der allgemeinen Farbigkeit. Der nächste Blick aber überzeugte Ter Haigasun, daß sich diesmal nicht etwa die bewährten Kämpfer der nahe gelegenen Abschnitte eingefunden hatten, sondern die Deserteure der fernen Südbastion, jene landfremden und an der äußersten Grenze gehaltenen Burschen, welche nicht im Kirchenbuch standen und sich zum Glück nur selten im Lager, niemals aber bei der Messe zeigten. War diese Gesellschaft auf einmal fromm geworden? Ter Haigasun wandte den Kopf knapp zur Regierungsbaracke rechter Hand. Wo war die Wache? Ach ja, Bagradian hatte alles, selbst einen Teil der Reserve, in die Stellungen gezogen. Der Priester erwog blitzschnell: Umkehren, unter irgendeinem Vorwand! Den Gottesdienst verschieben! Nach Gabriel Bagradian schicken! Die Muchtars zusammenrufen! Vorkehrungen für die Sicherheit treffen! Trotz dieser Erwägungen ging er aber weiter, langsamer allerdings und mit kleinen zögernden Schritten. In der Nähe des Altars standen dichtgereiht die Mitglieder der alten, hervorragenden Familien, die Muchtars mit ihren Frauen und Töchtern, die Schar angesehener Grauhäupter in derselben Ordnung, wie sie in den Kirchen des Tals üblich war. Der Führerrat schien nur spärlich vertreten zu sein. Bedros Hekim, der übrigens seine Freidenkerei niemals äußerlich betätigte, hatte im Lazarettschuppen nicht abkommen können. Ter Haigasun suchte vergebens das Gesicht Pastor Arams. Lehrer Schatakhian war entschuldigt, da er als Befehlshaber der Ordonnanzen in der Nordstellung bleiben mußte. Was Gabriel Bagradian betrifft, so hatte er zwar versprochen, rechtzeitig zum Gottesdienst zu kommen, schien aber durch irgendwelche Umstände abgehalten worden zu sein. Als die Reihen der Dorfalten auseinandertraten, um eine Gasse für den geistlichen Aufzug zu bilden, wurde die Seele Ter Haigasuns noch einmal gewarnt. Zwischen Sarkis Kilikian und einem Unbekannten stand Hrand Oskanian eingeklemmt wie ein Verhafteter. Der Knirps mit dem schwarzumwucherten Gesicht schnitt eine unselige Grimasse, zwinkerte den Priester heftig an und schnappte mit verzweifeltem Mund wie ein Fisch auf dem Trockenen. Und wieder war es Ter Haigasun, als sollte er stehnbleiben und sich scharf dem Ausgestoßenen zuwenden: Was gibt's da? Was hast du mir zu sagen, Lehrer Oskanian? Und wieder ging Ter Haigasun weiter, den Blick kaum hebend, von irgendeiner Macht oder Ohnmacht geführt, die ihm das erstemal auf dem Damlajik den starken Willen raubte.

Gerade als er die erste Stufe des Altars betrat, bemerkte er, daß er den Brief Nokhudians daheim in der Pfarrhütte vergessen hatte. Diese Tatsache verwirrte ihn über die Maßen, denn sie vereitelte die Absicht, sogleich nach dem Segen den Brief über das Ende der Landsleute von Bitias zu verlesen, um dadurch alle fluchtsinnenden Strömungen zu entkräften. Das vergessene Blatt und die böse Vorbedeutung bestürzten ihn so tief, daß er eine schier endlose Weile verstreichen ließ, ehe er die Altarstufen hinanstieg. Das Volk hinter seinem Rücken schien die Geistesabwesenheit und Unkraft des Priesters genau zu spüren, denn das Kindergeschrei, das unruhige Gewoge und der zudringliche Schwatz wurden immer unverschämter. Und in diesen ausgehöhlten Herzen sollte sich die große Inbrunst bilden, um das Wunder Gottes herabzuflehen? Gequält drehte sich Ter Haigasun um. Da stürzte gerade Gabriel Bagradian atemlos herbei und stellte sich in die erste Reihe. Ter Haigasun fühlte einen Augenblick lang Erleichterung. Schon hatte der Sängerchor hinter seinem Rücken den Hymnus begonnen. Ihm war nun eine Pause geschenkt, und er schloß die Augen, um sich zu sammeln. Hohl und matt klangen die Stimmen im Freien:

»Der Du Deine Schöpferarme gegen die Sterne streckst,
Gib Stärke unsern Armen,
Damit sie, ausgestreckt, zu Dir gelangen!

Durch die Krone des Hauptes kröne den Geist,
Bekleide die Sinne mit dem Orarion,
Mit Arons blühendem goldenem Kleid!

Gleich allen Engeln, den theokratischen, herrlichen,
Sind wir angetan mit Deiner ummantelnden Liebe,
Dem Geheimnis, dem heil'gen, zu dienen.«

Der Chor schwieg. Ter Haigasun sah das kleine silberne Waschbecken vor sich, das ihm der Diakon reichte. Er tauchte seine Finger ein und ließ sie so lange im Wasser, daß ihm der Diakon mit erstauntem Blick das Becken entzog. Dann erst kehrte er sich halb, im Profil, zur Gemeinde und bezeichnete die Gläubigen dreimal mit dem Kreuz. Darauf wandte er sich wieder zum Altar und erhob die Hände. In diesem Augenblick teilte sich das Wesen Ter Haigasuns. Der eine Teil war der zelebrierende Priester, der nach alter Vorschrift diesen außerordentlichen Gottesdienst abhielt und keinen Einsatz der Wechselgesänge versäumte. Der andere Wesensteil, er bestand aus einigen Schichten, war ein sterbensmatter Kämpfer, der übermenschliche Kräfte aufwenden mußte, damit der Priester seine Pflicht erfüllen könne. Es war zuvörderst ein Kampf mit dem eigenen Körper, den der zweite Ter Haigasun führte. Dieser Körper sagte bei jedem Wort der Liturgie: Bis hierher und nicht weiter! Merkst du denn nicht, daß ich keinen Tropfen Blut mehr im Kopf habe? Noch ein oder zwei Minuten, und ich werde dir die Schande bereiten, hier am Altar zusammenzustürzen. Mit dem Körper allein wäre der Kämpfer leicht fertig geworden. Aber hinter diesem verbargen sich viel tückischere Feinde. Einer vor ihnen war ein Taschenspieler, der unablässig alle Geräte vor den Augen des Priesters verwandelte. Die großen Silberleuchter wurden zu aufgepflanzten Bajonetten. Aus den schöngedruckten Seiten des Breviariums sprangen die Namen der Toten des Kirchenbuchs, und überall drohte das große Kreuz des Rotstifts. Wenn von Zeit zu Zeit ein Windstoß herüberpfiff, prasselte das Laub an der Altarwand auf, und welke Blätter tanzten dann herbei und senkten sich ohne Ehrfurcht auf das Tabernakel und aufs Evangelium mit dem goldenen Kreuz im Deckel, überall lagen schon diese verdorrten braunen Blätter, einzeln und in Häuflein. Ter Haigasun, der Zelebrant, war zum Psalm gelangt. Seine von ihm ganz und gar abgetrennte Stimme sang:

»Schaffe mir Recht, o Herr, und entscheide meine Sache im Gericht!«

Der Diakon respondierte mit säuselndem Tonfall:

»Errette mich vom Geschlechte, das nicht heilig ist, vom sündig arglistigen Manne.«

»Warum hast Du mich vergessen? Warum gehe ich traurig einher, wenn mein Feind mich plagt?«

»Ich will treten zum Altare Gottes, zu Gott, der meine Jugend erfreut.«

Während Ter Haigasun diesen langen Wechselgesang mit dem Diakon fehlerlos zu Ende führte, zeigten sich den Augen des andern Ter Haigasun ganz unerträgliche Dinge. Das welke Laub, das überall verstreut lag, war gar kein welkes Laub, sondern Schmutz, Mist, irgendein unbeschreiblicher Kot, von Feinden Gottes, von Verbrechern auf den Altar geworfen. Eine andre Erklärung war unmöglich, denn es konnte ja nicht Schmutz vom Himmel geregnet haben. Ter Haigasun stierte ins Brevier, um die grauenhafte Entweihung nicht sehen zu müssen. Aber sah sie das Volk nicht? Und hier geschah die erste Verwirrung im Text. Der Diakon hatte gesungen: »Allmächtiger Herr, unser Gott erhalte uns und erbarme Dich unser!«

Jetzt sollte der Priester mit seinen Worten einfallen. Ter Haigasun aber schwieg. Der Diakon drehte sich mit großen Augen zum Sängerchor. Da sich aber Ter Haigasuns Stimme noch immer nicht erhob, trat er einen Schritt näher und flüsterte scharf:

»Im Hause der Heiligkeit ...«

Der Priester schien nichts zu hören. Der Diakon flüsterte jetzt schon halblaut und verzweifelt:

»Im Hause der Heiligkeit und am Orte ...«

Ter Haigasun erwachte:

»Im Hause der Heiligkeit und am Orte des Lobgesanges, in dieser Wohnung der Engel und an dieser Sühnstätte der Menschen, werfen wir uns vor diesem Gott angenehmen und lichtvollen Zeichen in Ehrfurcht nieder und beten an ...«

Ter Haigasun atmete schwer. Unter der Krone rann ihm der Schweiß in Stirn und Nacken. Er wagte es nicht, ihn abzutrocknen. Hinter seinem Rücken schwang sich jetzt die näselnde Stimme des Obersängers Asajan auf: »An dieser geweihten Opferstätte des Tempels sind wir versammelt zur Bittfeier ...«

Die eitle eingebildete Stimme Asajans reizte den Priester wie noch nie. Wann werde ich den Menschen los, dachte er. Zugleich ließ der Druck in den Schläfen ein wenig nach. Vielleicht überstehe ich's doch, Christus, hilf mir! Ter Haigasun starrte mit angstvollen Augen auf das Altarkruzifix. Die Stimme eines der Wesen, aus denen er bestand, warnte ihn: Sieh ja nicht fort! Doch gerade dieser Warnung wegen mußte er fortsehn, vorwärts nämlich, zur hohen Wand aus Buchsbaumzweigicht, die den Altar abschloß. Dort aber stand jemand, leicht an den Pfosten des Rahmens gelehnt, mit gekreuzten Armen, eine Zigarette rauchend. Unerhörte Frechheit! Ter Haigasun verschluckte diesen Ausruf. Beim nächsten Hinblicken war dieser Jemand aber nicht mehr Sarkis Kilikian, den er verabscheute, den er hatte in Fesseln legen lassen. Dieser Jemand war zeitweilig überhaupt ein Niemand. Die Wand starrte leer. Dann kam der Russe wieder, verwandelte sich in alle möglichen Leute, einmal schien es sogar Krikor zu sein, zuletzt geschah es, daß ein Priester im Meßgewand dort stand. Ter Haigasun hielt es anfangs für lächerlich, daß dieser Priester er selbst sein sollte. Er war es ja auch nicht, denn er trug doch keine militärische Lammfellmütze, sondern die goldverzierte Krone:

»Segen und Preis dem Vater, Sohne und Heiligen Geist ...«

Weiter kam er nicht. Zwischen dem Menschen an der Wand und ihm schwebte seine eigene Stimme und bohrte sich in sein Gehör: »Was gaukelst du da am hellen Tag? Wozu dieser Bittgottesdienst?«

Ter Haigasun suchte mit seinem Blick die aufsteigenden Weihrauchwolken. Die Gestalt und die Stimme aber ließen nicht ab von ihm:

»Was für ein Teufel von Gott müßte das sein, der seinem frommen Armeniervolk dieses Jahr zubereitet hat ...«

Ter Haigasun begann nach der Vorschrift den Vespergesang anzustimmen:

»Heiliger Gott, heilig und unsterblich, erbarme Dich unser! Bewahre uns vor der Versuchung und all ihren Pfeilen!«

Jetzt schien die Antwort gar nicht mehr von Kilikian, sondern ganz aus ihm selbst zu kommen:

»Du glaubst nicht, du glaubst ja nicht an das Wunder. Du bist überzeugt, daß morgen viereinhalbtausend armenische Leichen den Damlajik bedecken werden.«

Der Diakon reichte Ter Haigasun das Räucherfaß, damit er nach dem Brauche das Volk inzensiere. Ein unsinniges Durstgefühl durchzuckte Ter Haigasun. An der Wand lehnte niemand mehr. Doch die Stimme war nahe wie zuvor:

»Du willst mich töten. Töte mich, wenn du den Mut hast.«

Das Räucherfaß klirrte aus der Hand des Priesters zu Boden. In dieser Sekunde entstand ein ganz neuer Ter Haigasun. Mit einem barbarischen Aufschrei ergriff er einen der schweren Silberleuchter und schwang ihn hoch über seinem Kopf. Doch er stürzte sich nicht, um seinen Feind zu finden, auf die Erscheinung vor der Zweigichtwand, nein, sondern mitten unter die Gemeinde.

 

Ohne die Hungervision und den Anfall Ter Haigasuns wäre es wahrscheinlich zu gar keinem »Putsch« gekommen. Auch die Deserteure der Südbastion waren zum größten Teil Armeniersöhne, voll Scheu und Ehrfurcht vor dem Altar. Der Langhaarige aber hatte seine Truppen, überfallsbereit, in der Nähe der Regierungsbaracke versammelt. Als der Aufruhr am Kopf des Altarplatzes losbrach, hielt er das Zeichen für gegeben. Zehn von seinen Leuten begannen, um das nötige Chaos zu erzeugen, Schreckschüsse in die Luft zu knattern. Die andern stießen die Tür ein und hatten binnen wenigen Sekunden schon die Munitionsverschläge entdeckt und vor die Baracke geschleppt. Was aber an den Altarstufen geschah, das geschah so traumschnell, daß weder die Muchtars noch auch Gabriel zum Bewußtsein des Vorgangs kamen. Dabei war das Traumhafte wesentlicher als die Schnelligkeit, denn vielleicht dauerte das Ganze mehr als zwei Minuten. Es waren freilich zwei Minuten, die auf einem unbekannten Nebengeleise der Zeit einhersausten. Als Ter Haigasun mit dem hochgeschwungenen Leuchter sich unter die Andächtigen geworfen hatte, war alles auseinandergefahren. Gabriel Bagradian sah, daß der Priester auf eine Gruppe von Deserteuren zustrebte. Auch er hatte nicht begriffen, wer dieses Pack zum Gottesdienst und zur Versammlung geladen hatte. Ter Haigasun schien einen bestimmten Mann zu suchen. Doch schon im nächsten Augenblick war er in einem Haufen dieser Bewaffneten eingeklemmt. Sie entwanden ihm den Leuchter, sie stießen ihn brüllend hin und her, endlich rissen sie ihn zu Boden. Jetzt knatterten die Schüsse im Rücken der Menge auf. Ein wahnsinniger Angstschrei drosch alles auseinander. Die Muchtars mit ihren Weibern versuchten jammernd zu fliehen. Bagradian aber drängte mit vorgehaltenem Revolver in den Knäuel, um Ter Haigasun zu befreien. Einer der Deserteure, der ihm folgte, ließ mit voller Wucht den Gewehrkolben auf ihn niedersausen. Gabriel stürzte zusammen. Hätte der Hieb den Tropenhelm von seinem Kopf geschleudert, so wäre es sein Ende gewesen. Der Kolbenschlag trieb aber den widerstandsfähigen Korkhelm tief in sein Gesicht, wobei zugleich die tödliche Wucht abgefangen wurde. Bagradian fiel in Betäubung, ohne wirklich verletzt zu sein. Andre hatten inzwischen Ter Haigasun an einen der tief in die Erde gerammten Eckpfosten des Altargerüstes mit starken Hanfstricken gebunden. Der Priester wehrte sich lautlos, aber mit erstaunlicher Kraft. Hätte er das Dolchmesser gehabt, das er in seiner gewöhnlichen Kutte bei sich trug, einer von den Verbrechern wenigstens hätte mit dem Leben bezahlen müssen. Die Muchtars standen in der Feme, keuchend und schlotternd. Alte Leute waren sie alle mit hungerverschrumpften Muskeln. Sie konnten Ter Haigasun nicht beispringen. Ihnen fehlte ja selbst die Kraft, sich in Sicherheit zu bringen. Die Weiber und Töchter versuchten es, sie mit unmenschlichen Schreien zurückzuzerren. Die Menge verstand noch immer nichts. Durch das Gewehrgeknatter halb wahnsinnig geworden, drängte sie vorwärts gegen den Altar. Da aber zugleich die vorderen Reihen zurückfluteten, entstand ein heilloser Strudel von Leibern, Angst- und Wehgekreisch. Schon stießen ein paar der schlimmsten Burschen, die seit Monaten kein Weib berührt hatten, von außen her wie Fischadler in den Tumult und packten mit ihren schmutzigen Fängen eine Frau hier, ein Mädchen dort. An Ort und Stelle versuchten sie den aufgellenden Opfern die Feiertagskleider und den Schmuck vom Leibe zu zerren. Ein andrer Trupp, der größere Nüchternheit bewies, stürmte in die Hüttengassen, um die ärmste Armut zu plündern. All dies war von solch unermeßlicher Greulichkeit, daß die menschliche Seele, um aufatmen zu können, diese Schurkerei lieber für Tollwut ansehn möchte, für die Todeszuckung eines Volkskörpers, dem der Rassenfeind jeden Nerv einzeln durchschnitten hatte. So war's denn noch tröstlich, daß nicht alle von den Spießgesellen sich aktiv beteiligten und eine erhebliche Anzahl nur Zuschauer-, Mitläufer- und Statistendienste leistete.

Mittlerweile machten sich die ersten Zeichen der Gegenwehr bemerkbar. Einige vom Lagervolk, die noch halbwegs bei Kräften waren, bekamen diesen und jenen Deserteur, der zwischen ihnen festgekeilt stand, zwischen die Fäuste. Die Kunden wurden entwaffnet, niedergeworfen und halb zertreten. Entschlossene drängten vor, um Ter Haigasun zu befreien. Noch ein paar Minuten, und es wäre vielleicht zu einem namenlosen Blutbad durch die von der Oberzahl bedrängten Verbrecher gekommen, die ihre Gewehre schon fertigmachten. Aber das tollgewordene Schicksal übersteigerte sich noch einmal. Wie in den letzten Tagen so oft schon, sprang der Wind um, das heißt, ein jäher Wirbelwind begann um den Platz zu kreisen. Da niemand mehr den Altar bewachte, wurden zwei hölzerne Leuchter und ein Gefäß mit Blumen umgeworfen und rollten vom heiligen Tisch. Ter Haigasun rang noch immer stumm mit den dicken Stricken, die ihn an das Gerüst fesselten. Von Zeit zu Zeit hielt er inne, um Kraft zu sammeln. Bei jedem neuen Stoß wankte der Bau. Seine blutunterlaufenen Augen suchten die Hilfspriester, die Sänger, Asajan, den Küster. Diese alle aber waren verschwunden oder wagten sich nicht in die Nähe des Gefesselten, der von einem Haufen der Deserteure bewacht wurde, wohl damit die Munitionsräuber in Ruhe entkommen könnten. Bei diesen Deserteuren am Altar stand auch Sarkis Kilikian. Er sah Ter Haigasun und seinen wilden Befreiungsversuchen interessiert zu, so als hätte er an all diesen Vorgängen und Schicksalen nicht den geringsten Anteil und stehe aus purer Neugier hier. Nach einer Weile verließ er schlendernd den Schauplatz. Sein gelangweilter Rücken schien zu sagen: Nun hab ich genug. Es ist auch höchste Zeit. Kaum aber hatte sich Kilikian entfernt, geschah das Ungeheuerliche. Nur weil sein Verschwinden so auffällig damit zusammenfiel, brachte ihn Ter Haigasun später mit der Brandstiftung in Zusammenhang. In Wirklichkeit ging der Russe an den Stufen vorbei und berührte gar nicht die Blätterwand, die sich drei Schritte hinter dem Gerüst erhob. Anfangs knisterte es in dem trockenen Holz- und Blättergeflecht nur recht zahm und harmlos. Die Flamme aber, die dann jählings hochflatterte, hatte mindestens die doppelte Höhe der Flechtwand. Sie wurde vom Meerwind sofort eingeknickt und nach rechts umgelegt. Geflügelte Zungen und freie Fähnchen lösten sich los und besprangen das Dach der nächstliegenden Baracke. Dies war die prächtige Behausung Thomas Kebussjans, die sogar durch die Aufschrift »Gemeindehaus« ausgezeichnet war. Bei dieser ersten Gelegenheit benahm sich das Feuer gleichsam noch verlegen, als habe es Gewissensbisse zu überwinden. Als aber das Reisigdach der Baracke binnen einer Minute mit einem Knall hoch aufflammte, da gab es keinen Halt mehr. Wie auf dem Boulevard einer Großstadt die Lichterreihe aufblitzt, so fuhr der Brand um den Platz, fast gleichzeitig aus jeder Hütte emporschlagend. Vielleicht hatten die Schurken mehrere Brandherde entzündet, um durch ein Riesenfeuer das Volk festzuhalten und eine Verfolgung unmöglich zu machen. Auch die Feuerfahne der Regierungsbaracke stieg jetzt in die Höhe. Sicher war eines nur, daß sich schon bei Beginn des Brandes der böse Besuch aus der Stadtmulde verzogen zu haben schien.

Als die Zweigichtwand hinter dem Altar urplötzlich aufflammte, barst die Menge wie eine Granate. Niemand kümmerte sich mehr um die Verbrecher, niemand mehr um den Altar, den gefesselten Priester und den vermeintlichen Toten. Mit einem fremdartigen, fast wiehernden Jammerlaut stürzten sich die Menschen in die Hüttengassen. Alles verloren! Kein Löschgerät. Wer konnte den Brand beschwören? Nur retten, was zu retten ist! Die Matten, die Decken, die Betten! Das Lebensnotwendigste. Vielleicht auch das Handwerkszeug, ein Angedenken, alles, alles was man aus der Talheimat mitgeschleppt hatte, daß es einen bis zum Tod begleite. So verwachsen war selbst in diesem Augenblick noch der Eigentums- mit dem Lebenstrieb, daß es in dem ganzen Volke nicht einen einzigen gab, der dem Bergungsdrang nicht erlegen wäre. Keiner schien auf den einfachsten Gedanken zu kommen: Wozu die Mühe? Was hilft es mir noch, ob ich das Lumpenzeug habe oder nicht? Besser stillsitzen und dem Feuer zusehn! – Die Muchtars und Dorfreichen aber, jene schlotternden Alten, die der Schreck so festgenagelt hatte, daß sie Ter Haigasun nicht beistehn konnten, nun bekamen sie plötzlich Beine. Ihr Geld verbrannte. Die schön geglätteten Pfundnoten, die, in den Winkeln der Hütten, unter dem Bettzeug wohlvergraben, hilflos des Retters harrten. Geld war Geld, bitter erworben, heilig gehalten, wenn's auch für dieses Leben keinen ersichtlichen Zweck mehr haben konnte. In großen Sprüngen jagten die Alten mit ihren Weibern und Töchtern heimwärts. Kebussjan und die Seinen belagerten längst schon mutig die Brandstätte des »Gemeindehauses«. Und Ter Haigasun? Ach, irgend jemand hat ihn gewiß schon befreit.

Noch ein rasender Versuch, dann ergab sich Ter Haigasun. Die groben Hanfstricke hatten ihm durch die starre Seide des Meßgewandes hindurch Arme und Brust aufgeschürft. Schweiß rann ihm eiskalt den Rücken herab. Immer wieder fielen die Brandkränze der lohenden Wand auf das Altargerüst, das stellenweise schon zu brennen begann. Hie und da traf eine dieser Fackeln auch den Gefesselten. Haar und Bart waren ihm schon versengt. Der schwere Altarvorhang hatte Feuer gefangen, doch war die Schnur, an der er lief, sogleich gerissen, und er loderte nun als mächtiger Flammenhaufen auf den Stufen. Mochte es sein! Der Platz war leer. Nur schreiende Familien umsprangen die brennenden Hütten. Nicht um Hilfe rufen! Ein Priester, der, an den Altar gefesselt, den Martertod stirbt, hat drüben die Sündenvergebung gesichert. Wieder fuhr ein flammender Peitschenhieb dicht an Ter Haigasun vorbei. Wenn doch nur die Türken seine Mörder wären! Aber Armeniersöhne, sein eigenes Volk!? Die Hunde, diese wilden Hunde! Hunde! Und mit diesem Wort brach ein Wutgeheul aus ihm, das seinen Kopf zu sprengen drohte. Er spreizte die Beine, so weit es ging, und legte sich brüllend in die Fesseln, wie ein Zugtier vor einem hochaufgetürmten Lastwagen sich ins Geschirr legt. Vor den Hütten keiften die Stimmen der Verzweifelten. Doch als Ter Haigasuns rasendes »Hunde, Hunde« über den Platz heulte, da erschraken die Eigensüchtig-Betäubten, und alle rannten zum Altar, um den Wartabed zu erlösen. Bevor aber noch der erste ihn erreichte, hatte der schon gelockerte Pfosten nachgegeben, das Gerüst knickte zusammen, die Bretter loderten empor, der Priester stürzte. Die Leute fingen ihn auf. Rasch wurden die Stricke durchgeschnitten. Ter Haigasun machte ein paar Schritte, mußte sich aber sogleich hinlegen.

Bedros Hekim kam gerade zurecht, als sich ein paar alte Männer und Frauen des besinnungslosen Bagradian erbarmen wollten. Sofort, ehe er noch den Puls gefühlt hatte, sah er, daß Gabriel nicht tot war. Altouni ließ sich ächzend auf die Erde nieder und nahm den Kopf des Hingestreckten auf den Schoß. Vorsichtig lockerte er den Korkhelm, den der Kolbenhieb so tief eingetrieben hatte, daß er auch die Augen bedeckte. Sogleich, als er frei war, schlug Gabriel die Lider auf. Er glaubte nur geschlafen zu haben. Dies alles hatte sich ja in einer unwirklich kurzen Zeit abgespielt, in einer Zeit außerhalb der Zeit gleichsam. Allmählich erst spürte er das brennende Gewicht seines Schädels. Der Arzt fuhr leise über die Kopfhaut. Kein Blut. Nur eine große Beule. Doch vielleicht war durch den Hieb eine innere Verletzung erfolgt, eine Ader im Gehirn geplatzt. Bedros Hekim rief Gabriel sanft beim Namen. Dieser blickte ungläubig um sich und lächelte. Er begriff nichts. Ringsum die brennenden Hütten und das mächtige Feuer der Regierungsbaracke. Nun ja, die Bibliothek des Apothekers gab Brennstoff genug. Weinende Menschen, Bettlaken und Decken nachschleifend, rannten richtungslos durcheinander. Jetzt stürzten sich die Dorfpriester und Sänger, alle im Ornat, auf den zusammengesunkenen Altar, mitten in die Flammen, um die heiligen Geräte, Evangelium und Brevier zu retten. Gabriel selbst lag auf dem Schoß des alten Arztes, wo er als kleines Kind schon gelegen war. Eine recht trauliche Empfindung. Aber was bedeutete das? Dort, ein paar Schritte weiter, lag auch Ter Haigasun, und der Gemeindeschreiber von Yoghonoluk reichte ihm einen Krug Wasser. Die Brust des Priesters war nackt, und eine alte Frau behandelte sie mit nassen Tüchern. Gabriel sah den Alten unendlich erstaunt an: »Was ist hier geschehn ...?«

Bedros Hekim lachte kurz:

»Wenn ich das nur selbst wüßte, mein Sohn ...«

Dann nahm er zärtlich die Wangen des Erwachten zwischen seine braunen, verschrumpften Hände:

»Dir ist jedenfalls nichts geschehn, das weiß ich jetzt.«

Gabriel Bagradian sprang auf die Beine. Nur langsam wollte sich die Erinnerung herausbequemen. Wie aus einer dumpfen Trunkenheit stieß er hervor:

»Was ist mit dem Überfall ...? Haben wir ihn gemacht ...? Jesus Christus, die Südbastion ... Jetzt ist alles verloren ...«

Doch auch Ter Haigasun hatte sich aufgestützt. Und seine Stimme schien aus einer andern Trunkenheit zu kommen, einer hellen, überbewußten: »Jetzt nicht mehr ...«

Bagradian hörte ihn nicht. Das Rauschen und Knacken des Feuers war so laut, daß man sich nicht vernehmlich machen konnte. Der Brand fraß sich Schritt für Schritt in die Hüttengassen hinein. Auch standen schon einige Baumgruppen an den Grenzen der Stadtmulde in hellen Flammen. Immer zahlreicher sammelten sich die Familien mit ihren geretteten Habseligkeiten auf dem Altarplatz, einen Befehl erwartend, der ihnen Richtung und Ziel gab. Einige Frauen hatten mit den letzten Kräften ihre Nähmaschinen hierher und in Sicherheit gebracht. Jedes Auge suchte den Führer. Doch dieser war nicht vorhanden. Denn sowohl Ter Haigasun als auch Gabriel Bagradian starrten noch immer wie im Halbschlaf vor sich hin. Bedros Hekim zählte nicht. Kein Muchtar und kein Lehrer zeigte sich; die waren alle mit der Rettung ihres Eigentums beschäftigt. In der verzweifelten Frist kam aber wenigstens Hilfe vom Nordsattel. Als Beweis für die unheimliche Geschwindigkeit des Ereignisses, das zwischen dem Anfall Ter Haigasuns und diesem Augenblick lag, kann es gelten, daß Awakian mit den sechs Zehnerschaften erst jetzt eintraf, nachdem alles vorbei war. Tschausch Nurhan hatte ihn sofort zu Hilfe gesandt, als die Deserteurschüsse aufknatterten. Awakian stürzte auf Gabriel zu:

»Sind Sie verwundet, Effendi? ... Jesus Christus, wie sehen Sie aus? ... So reden Sie doch ...«

Gabriel Bagradian aber redete nicht. Mit ein paar raschen Schritten verließ er, am lodernden Altar vorbei, den Platz, die Stadtmulde, geriet ins Laufen und blieb endlich auf einer kleinen Anhöhe stehn. Awakian folgte ihm wortlos. Mit angestrengten Zügen schob Gabriel den Kopf weit vor, scharf lauschend, damit sein Gehör das Rauschen des Brandes durchdringe. Lange knatternde Striche im Süden. Wie von Maschinengewehren. Und jetzt wieder. Aber vielleicht war's eine Täuschung, denn die Schmerzen in seinem Kopf tobten.


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