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Siebentes Kapitel
Das Begräbnis der Glocken

Zwei Tage und zwei Nächte blieb Gabriel Bagradian auf dem Damlajik. Noch am ersten Abend sandte er Botschaft an Juliette, daß sie ihn nicht erwarten möge. Mehrere Ursachen waren es, die ihn zwangen, ohne Unterbrechung so lange auf dem Bergrücken zu verweilen. Der Damlajik war auf einmal nicht mehr die trotz aller rauhen Stellen idyllische Alpe, die Gabriel von seinen träumerischen und später von seinen strategischen Streifzügen her kannte. Er zeigte ihm zum erstenmal sein wahres, sein nacktes Gesicht. Alles auf dieser Welt, nicht nur der Mensch, zeigt erst dann sein wahres Gesicht, wenn es in Anspruch genommen wird. So auch der Damlajik. Der Abglanz des Paradieses, das Lächeln quellbelebter Einsamkeiten war aus seinen durchfurchten und schroff gewordenen Zügen verschwunden. Der Verteidigungsbezirk, den Bagradian gewählt hatte, umfaßte eine Bodenfläche von einigen Quadratkilometern. Diese Fläche war, bis auf die ziemlich plane »Stadtmulde«, ein beschwerliches Auf und Ab von Hügeln und Tälern, Kuppen und Schluchten, das sich gewaltig fühlbar machte, wenn man mehrmals am Tage die verschiedensten Punkte aufzusuchen hatte. Gabriel wollte die Kraft - und Zeitverschwendung eines nicht unbedingt notwendigen Abstiegs in das Tal vermeiden. Dennoch fühlte er eine körperliche Leistungsfähigkeit wie noch nie im Leben. Auch sein Körper zeigte erst jetzt, da er rücksichtslos in Anspruch genommen wurde, was er war und was er vermochte. Dagegen gehalten erschienen ihm die Kriegswochen, die er an der Balkanfront erlebt hatte, trüb und schlaff. Damals war man menschlicher Schlamm gewesen, der durch irgendwelche Naturgewalten unter Todesgefahr entweder vorgewälzt wurde oder sich ohne eigenen Antrieb unter Todesgefahr rückwärts ergoß. – In den letzten Jahren hatte Gabriel oftmals an Herzschwankungen und Magenbeschwerden gelitten. Diese Anfälle eines verzärtelten Körperbewußtseins waren jetzt vom Hauche der Notwendigkeit wie fortgeblasen. Er wußte nicht mehr, daß er ein Herz und einen Magen hatte, er beachtete es gar nicht, daß ihm drei Stunden Schlaf auf und unter einer Decke völlig genügten, daß ein Brot und irgendeine Konserve ihn für den ganzen Tag sättigten. Wenn er darüber auch nicht viel nachdachte, so erfüllte Gabriel dieser Selbstbeweis seiner Kräfte doch mit glücklichem Stolz. Es war der Stolz, der unsere Materie immer nur dann durchglüht, wenn der Geist ihr eine Niederlage bereitet hat.

Wichtiger jedoch erwies sich ein anderer Umstand. Der größte Teil der zum Kampfe bestimmten Männer hatte schon auf dem Berge Quartier bezogen, überdies auch eine kleine Schar von kräftigen Frauen und ein Rudel Halbwüchsiger, die zur Arbeit verwendet wurden. Alles andere war aus kluger Vorsicht im Tale zurückgelassen worden. Dort sollte das alltägliche Leben zum Schein ruhig weiterlaufen, damit die Entvölkerung der Dörfer nicht ruchbar werde, überdies hatten die Dorfbewohner die Aufgabe übernommen, allnächtlich zu heimlicher Stunde soviel Vorräte wie nur möglich den Berg hinaufzuschleppen. Nicht alles ließ sich den Packeseln auflasten. Die langen Bretter und Balken aus der Werkstatt Vater Tomasians zum Beispiel mußten die Gesellen auf ihren eigenen Schultern tragen. Dieses Holz war zum Bau des Altars, der Regierungsbaracke und des Lazarettschuppens bestimmt. Von den erwählten Führern blieben die jüngeren, vor allem Pastor Aram Tomasian und die Lehrer, mit Gabriel auf dem Damlajik, während der große Rat unter Ter Haigasuns Leitung im Tale seines Amtes waltete.

Fünfhundert etwa war die Zahl der Männer, die während jener Tage auf dem Berge lagerten. Es galt, in dieser Stoß- und Elitetruppe nicht nur den Arbeitseifer bis zur Erschöpfung zu steigern, sondern auch den leidenschaftlichen Kampfgeist, der schon in ihr lebte, immer höher zu schüren. Wenn man sich am Abend mit zerschlagenen Gliedern um die Lagerfeuer in der Stadtmulde versammelte, dann setzte Pastor Aram in längerer Rede, die mit einer Predigt recht wenig zu tun hatte, den Sinn des kriegerischen Unternehmens auseinander; er verkündigte das göttliche Recht der Selbstverteidigung, er sprach von dem unbegreiflichen Blutpfad des armenischen Volkes seit Urzeiten und von dem beispielgebenden Wert dieses Wagnisses, das vielleicht die ganze Nation zum Widerstand emporreißen und damit retten werde. Dann schilderte er die Austreibung in allen ihren Einzelheiten, in solchen, die er selbst gesehen, und in solchen, die er durch Berichte kannte. Er stellte sie als das unwiderrufliche Ende für die Fünftausend des armenischen Tales hin und ließ mit derselben Bestimmtheit keinen Zweifel darüber aufkommen, daß die große Tat, die sie alle hier vereine, zu Sieg und Freiheit führen werde. Wie dieser Sieg und diese Freiheit beschaffen sein würden, darüber freilich ließ er nichts verlauten. Es fragte auch niemand danach. Nicht die Vorstellung hinter den großen Worten, sondern ihr bloßer Klang genügte für die jungen Leute als Anfeuerung. Manchmal nahm Gabriel Bagradian dem Pastor die Mühe des Redens ab. Im Gegensatz zu Aram Tomasian vermied er die großen Worte eher und mahnte, keine Sekunde der Zeit leer verstreichen zu lassen, keinen Bissen des Proviants ohne Skrupel zu genießen und jeden Herzschlag dem Ziele zu unterwerfen. Sie sollten weniger des unentrinnbaren Unglücks eingedenk sein als der grauenhaften Schmach, mit der die türkische Regierung das Armeniervolk befleckte:

»Wenn es uns ein einziges Mal gelingt, die Türken den Berg hinabzuwerfen, so haben wir nicht nur die Schmach gerächt, sondern haben sie entehrt und erniedrigt für immer. Denn wir sind die Schwachen, und sie sind die Starken. Denn uns verhöhnen sie als Händler und sich selbst überheben sie als Krieger. Wenn wir sie nur ein einziges Mal schlagen, vergiften wir ihren Hochmut, so daß sie sich davon nie wieder erholen werden.«

Was Gabriel und Aram von der Sache auch in Wirklichkeit halten mochten, sie sprachen immer und immer wieder von dem glorreichen Ausgang des Widerstandes und hämmerten so in die bereitwilligen Seelen der Jugend fanatischen Glauben und, was nicht minder wichtig war, fanatische Zucht.

So wenig Gabriel Bagradian etwas von seiner stählernen Körpernatur geahnt hatte, so wenig war er sich seiner Organisationsgabe bewußt gewesen. In der Welt seines bisherigen Lebens bedeutete »praktische Veranlagung« soviel wie plattes und habsüchtiges Denken. Mit erfolgreichem Ehrgeiz hatte er sich deshalb immer auf die Seite der Unpraktischen geschlagen. Nun aber gelang es ihm, dank seinen Vorarbeiten, schon in den ersten Stunden eine sinnreiche Einteilung des Heeres zu schaffen, feste Kader gleichsam, in die sich die Nachrückenden aus dem Tale dann leicht würden einfügen lassen. Er schuf drei Hauptgruppen: ein erstes Treffen, eine große Reserve und eine Jugendkohorte der Halbwüchsigen zwischen dreizehn und fünfzehn Jahren, die nur im Notfall, bei größeren Verlusten und an zerriebenen Fronten eingesetzt werden sollte, sonst aber den Späher-, Melde- und Läuferdienst zu besorgen hatte. Auf den vollen Stand gebracht, war die erste Linie mit achthundertsechzig Mann berechnet. Sie umfaßte abzüglich der Schwachen, Ganzuntauglichen und einer Anzahl der wichtigsten Professionisten alle Männer im Alter von sechzehn bis zu sechzig Jahren. In die Reserve sollte nicht nur der Rest der alten, noch arbeitsfähigen Männer eingeteilt werden, sondern auch eine beträchtliche Menge von Frauen und Mädchen, so daß dieses zweite Treffen zwischen tausend und elfhundert Menschen schwankte. Das dritte Glied, die Aufklärungstruppe der Jugendkohorte, die Kavallerie des Damlajiks gewissermaßen, bestand aus mehr als dreihundert Knaben. Gabriel schickte am Morgen des zweiten Tages seinen Adjutanten Awakian hinunter in die Villa nach Stephan. Er war nicht sicher, daß Juliette ihn ohne weiteres ausliefern werde. Der Student aber kam mit dem glückstrahlenden Jungen pünktlich zurück, den sein Vater sogleich in die Jugendkohorte einreihte. Von den achthundertundsechzig Mann der Kerntruppe konnten freilich nur dreihundert mit den vorhandenen Infanteriegewehren bewaffnet werden. Der größere Teil mußte sich leider mit Jagdflinten und den romantischen Feuerwaffen begnügen, die fast jedes Haus der Dörfer besaß. Auch Gabriel ließ alle brauchbaren Büchsen aus dem Waffenkasten seines Bruders verteilen. Es war ein besonderes Glück, daß die meisten Männer, nicht nur jene, die beim türkischen Militär gedient hatten, mit Gewehren umzugehen wußten. Dennoch aber mußte alles in allem die Bewaffnung der Kerntruppe kläglich genannt werden. Vier Züge regulärer Infanterie auch ohne Maschinengewehr waren ihr weit überlegen. Diese wichtigste Kampfschar war natürlich nicht als gestaltlose Masse gedacht, sondern zerfiel nach Gabriels Kriegsplan in feste Einheiten von je zehn Mann, in winzige Bataillone gewissermaßen, die selbständig bewegt und verwendet werden konnten. In der Einteilung sah er ferner darauf, daß jegliche von diesen Zehnerschaften aus Dorf-, ja womöglich aus Sippengenossen bestand, damit der stärkste Zusammenhalt in der Kameradschaft erreicht werde. Schwieriger schon stand es um die Kommandantenfrage, denn einem unter den zehn Männern jeder Einheit mußte die Führung anvertraut werden, so wie auch die größeren Verbände der Befehlshaber bedurften. Diese wählte Bagradian aus den gedienten Männern der verschiedensten Altersstufen aus. Der unschätzbare Tschausch Nurhan übernahm aber die Rolle eines Truppengenerals, eines Zeugmeisters, eines Festungsingenieurs und eines Exerzierlöwen in einer Person. Die ausgezogenen Spitzen seines grauen Draht-Schnurrbartes zitterten, der große braune Adamsapfel des dürren Halses hüpfte auf und ab. Nurhan schien den Türken für die Austreibung heißen Dank zu wissen, so leidenschaftlich war der Eifer, mit dem er sich auf die langentbehrte militärische Tätigkeit warf. Stundenlang übte er mit der arbeitsfreien Mannschaft, ohne sich und ihr die geringste Ruhe zu gönnen. Er hatte sich's in den Kopf gesetzt, die Gegenstände des türkischen Exerzierreglements, die für eine jahrelange Ausbildungsdauer berechnet sind, der armenischen Intelligenz und Geschicklichkeit in wenigen Tagen abzutrotzen. Er beschränkte sich hauptsächlich auf Gefechtsübungen, auf Schwarmlinienbilden, »Sprung auf« und »Nieder«, auf Deckungsuchen, schnelles Eingraben, Geländeausnützung und Sturm. Nur mit großem Unwillen nahm er es hin, daß Bagradian das Scharfschießen nicht bloß wegen Munitionsersparnis begreiflicherweise verboten hatte. So alt Nurhan auch war, er galoppierte von einer übenden Abteilung zur anderen, er belehrte die einzelnen Zehnerschaftsführer, er brüllte und schimpfte im unflätigsten Kasernenhoftürkisch. Mit Säbel, Armeepistole, Gewehr, Patronentasche bis an die Zähne bewaffnet, hatte er auch noch das dem Ärar entführte Infanteriekornett umgehängt, mit dessen heiser stotternden Signalen er jeden Augenblick seine Truppe anfeuerte. Bagradian lief das ganze Stück vom Nordsattel erregt zum Exerzierplatz, um das aberwitzige Getute streng zu verbieten. Es war ja nicht unbedingt notwendig, die Saptiehs und mohammedanischen Dörfer der Umgebung von den Manövern auf dem Damlajik schallend in Kenntnis zu setzen.

Bereits am ersten Morgen waren die Deserteure des Musa Dagh zu den Kämpfern gestoßen. Sie vermehrten sich im Laufe der beiden Tage zu der stattlichen Menge von sechzig Mann, denn Nurhans Trompete schien die Gesellen von den Nachbarbergen, vom Ahmer Dagh und dem kahlen Dschebel el Akra, herbeigelockt zu haben. Für Gabriel Bagradian bedeuteten sie, obgleich alle gut bewaffnet waren, einen willkommenen-unwillkommenen Zuwachs. Zweifellos befanden sich unter diesem herzbeklemmenden Element nicht nur gewöhnliche Fahnenflüchtige, mißhandelte, freiheitssüchtige oder feige Soldaten, sondern auch düstere Burschen, die mehr als den militärischen den bürgerlichen Richter zu fürchten hatten. Hochstapler mit einem Wort, die sich die Deserteurwürde fälschlich anmaßten, da sie Wegelagerer von Beruf waren und nicht den Kasernen von Antakje, Alexandrette und Aleppo, sondern dem Bagno von Payas entsprungen zu sein schienen. Das wahre Gewerbe der sechzig Neuankömmlinge zu unterscheiden, fiel äußerst schwer, denn alle sahen sie gleich scheu, tückisch und verkommen aus, was ja bei solchen Ausbrechern nur selbstverständlich war, die bei Tag und Nacht den Fahndungen der Gendarmerie Trotz bieten mußten und sich niemals vor zwei oder drei Uhr morgens in die Dörfer wagten, um von den zusammenschreckenden Volksgenossen ein Stück Brot zu erbetteln. Die verhungerten Knochen der Deserteure – von Körpern konnte man kaum mehr reden – staken in den Lumpen der wüstenfarbenen Felduniform. Soweit man durch das verlauste Haar- und Bartgestrüpp noch so etwas wie Gesichter wahrnahm, waren sie gebräunt von Sonne und Schmutz. Aus ihren Armenieraugen blickte nicht nur das große allgemeine Leiden, sondern noch ein besonderes dazu, das boshafte Leiden verkrochener Nachtseelen, die langsam wieder im Tiersein untergehen. Das Gesindel sah aus wie von der Menschheit gekündigt. Nur auf den Deserteur Sarkis Kilikian, den man den Russen nannte, stimmte dieses Wort äußerlich wenigstens nicht, obgleich gerade er noch unerbittlicher aus dem menschlichen Sicherheitsverband entlassen war als alle anderen. Gabriel erkannte in ihm auf den ersten Blick das nächtliche Gespenst vom Dreizeltplatz. Die Frage, wie diese sechzig unholden Gesellen auf die Zehnerschaften verteilt werden sollten, ohne die werdende Disziplin zu gefährden, konnte nicht sofort gelöst werden. Vorläufig wurden sie trotz ihrer erstaunten Grimassen in die eiserne Zucht Tschausch Nurhans geschickt, wo sie für Speis und Trank dasselbe schweißtreibende Kriegsgewerbe üben mußten, dem sie entlaufen waren.

Doch nicht Nurhans Gefechtsexerzieren war die wesentlichste Aufgabe dieser arbeitsbegeisterten Tage, sondern Vorbereitung und Bau der Kampfstellungen. Die blauen und braunen Linien, die Gabriel in Awakians Karten eingezeichnet hatte, mußten nun in Wirklichkeit umgesetzt werden. Da es auf dem Damlajik zurzeit mehr Hände als Grabscheite, Krampen und Spaten gab, wurde die Arbeit in zwei Schichten geleistet, die einander in ihrer Beschäftigung ablösten. Als eigentliches Arbeitsheer war von Bagradian ja die Reserve gedacht, das heißt jene elfhundert Männer und Frauen, die nur in der Stunde des Kampfes ihre Posten zu beziehen hatten, sonst aber im Lager das notwendige Handwerk und den allgemeinen Dienst verrichten sollten. Das Volk aber, das zur Reserve gehörte, befand sich noch in den Dörfern unten.

Nach Gabriel Bagradians Berechnung gab es dreizehn Einfallspunkte, an denen der Damlajik bedroht war. Die offenste Zugangsstelle lag im Norden, wo jener schmale Einschnitt, den Gabriel als Nordsattel bezeichnete, den Berg von den anderen Teilen des Musa Dagh trennt, die in die Richtung von Beilan verlaufen. Der zweite, obwohl schon weniger gefährdete Ort, war der breite Ausstieg der Steineichenschlucht oberhalb Yoghonoluks. Diesem glichen dann die übrigen Gefahrzonen des westlichen Bergrandes im kleineren Maße, und zwar überall dort, wo die steilen Hänge sich sänftigten und Hirten und Herden schmale Naturpfade ausgetreten hatten. Einen Unterschied machte nur der mächtige Felsturm im Süden, die Südbastion der Karte, welche die weiten Steinhalden beherrschte, die aus der Orontes-Ebene in schroffen Stufen und Terrassen zur Höhe stiegen. Unten in der Ebene der Zusammenbruch einer menschlichen Riesenwelt, die römischen Ruinenfelder von Seleucia. Und dieses Steinmeer einer zertrümmerten Gesittung äffte der Berg mit dem Halbrund der gestaffelten Trümmerhalden seiner Südflanke nach. Unter Samuel Awakians Aufsicht wurden nach Bagradians genauer Vorzeichnung nicht nur auf dem Felsturm, sondern auch links und rechts von ihm aus großen Blöcken ein paar ziemlich hohe Mauern errichtet. Der Student wunderte sich, daß man der Deckung wegen so umständliche Wände aufführte. Seine kriegerische Phantasie war in diesen ersten Tagen noch sehr ungelenk und er verstand die Absichten seines Meisters nur selten. Die härteste Arbeit wurde freilich im Norden, an der verwundbarsten Stelle der Verteidigung, gefordert. Gabriel Bagradian hatte den langen Graben eigenhändig abgesteckt, der mit all seinen Ausbuchtungen und Winkelzügen mehrere hundert Schritt maß. Im Westen lehnte er sich an das Felsgewirr der Meerseite, wobei dieses mit seinen Barrikaden, Gängen, Schanzen, Kavernen eine labyrinthische Festung bildete. Im Osten sicherte Bagradian den Graben durch vorgeschobene Wachen und Verhaue. Ein günstiger Umstand war's, daß hier der größte Teil der Bodenfläche aus weichem Erdreich bestand. Dennoch aber stießen die Spaten immer wieder auf große Kalk- und Dolomitsteine, wodurch der Fortschritt des Werkes wesentlich gehemmt wurde, so daß kaum zu hoffen stand, daß man für diesen Graben weniger als vier Arbeitstage brauchen werde. Während muskelstarke Männer und auch einige Bäuerinnen die Erde aushoben, legten die Knaben mit Sicheln und Messern an gewissen Stellen das struppige Unterholz des Vorgeländes um, damit das Schußfeld frei werde. Bagradian rührte sich den ganzen Tag von den Arbeitern nicht fort. Immer wieder lief er in die Kerbung und auf die Gegenhöhe des Sattels, um von den verschiedensten Einsichtspunkten den Graben zu begutachten. Er befahl, daß der Erdaufwurf stets wieder dem Boden angeglichen werde. Sein ganzes Augenmerk war darauf gerichtet, daß die breite Rinne vollständig maskiert sei und daß der dicht bewachsene Hang, den sie entlanglief, nirgends durch Menschenhand verletzt erscheine. Bedenkt man, daß außer dem Reservegraben in der nächsten Bodenwelle noch der Ausbau von zwölf kleineren Stellungen vorgesehen war, so könnte jeden Verständigen Bagradians hartnäckige Einseitigkeit mit Sorge erfüllen.

Pastor Aram Tomasian war auch wegen dieser eigensinnigen Arbeitseinteilung des Befehlshabers ziemlich erbost. Er hatte als Verwalter der inneren Ordnung damit gerechnet, daß auch mit dem Bau der Unterkünfte sogleich begonnen werde. Doch weder der geplante Lazarettschuppen noch auch die Regierungsbaracke, geschweige denn die Errichtung der Reisighütten für das Volk wurden in Angriff genommen. Einzig am Gerüst des Altars in der Mitte der Stadtmulde hämmerten der Kirchendiener, der Totengräber und ein paar fromme Leute bereits herum. Auch der Rahmen für die hohe, aus Buchsbaumzweigicht geflochtene Altarwand stand schon hinter der Gebetstätte. Dem religiösen Gefühl Aram Tomasians hätte es mehr entsprochen, wenn einer der vielen efeuumklammerten Felstische zum Naturaltar erwählt worden wäre. Doch Ter Haigasun schien für dergleichen Romantik nichts übrig zu haben. Der verehelichte Priester, den er mit dem Altarbau betraut hatte, zuckte bei Pastor Arams Anregung nur spöttisch die Achsel. Darauf sagte dieser kein Wort mehr, denn als protestantischer Geistlicher mußte er mit den gregorianischen Amtsbrüdern vorsichtig umgehen. Es war Abend. Gabriel lag erschöpft auf der Erde und starrte das unvollkommene Altargerüst an, das ihm unverhältnismäßig groß vorkam. Da bemerkte er in seinem Halbschlummer, daß auch ihn jemand anstarrte. Sarkis Kilikian, der Deserteur! Der Mann konnte jünger sein als Gabriel, vielleicht war er kaum dreißig Jahre alt. Und doch hatte er die scharfen verfallenen Züge eines verbrauchten Fünfzigjährigen. Fest und dünn spannte sich die trotz aller Sonnenglut bleiche Gesichtshaut um einen höhnischen Totenkopf. Weniger vom Leiden erschienen seine Züge so ausgehöhlt als von einem fanatisch gelebten Leben. Satt, übersatt vom Leben, dies war das Wort. Obgleich seine Uniform ebenso zerfetzt war wie die der anderen Deserteure, machte er den Eindruck von verwilderter Eleganz oder eleganter Verwilderung. Das kam hauptsächlich daher, weil er als einziger seiner Spießgesellen glatt barbiert war, und zwar frisch und sauber. Gabriel fühlte es kalt werden und setzte sich auf. Er reichte dem Kerl eine Zigarette hin. Kilikian nahm sie wortlos, zog irgendeine barbarische Feuervorrichtung aus der Tasche, schlug Funken, die nach vielen vergeblichen Versuchen endlich einen Wergstreifen in Brand setzten, und begann so blasiert zu rauchen, als sei die kostbare Marke Bagradians sein alltäglicher Tabak. Jetzt schwiegen beide sich an, Gabriel mit wachsendem Unbehagen. Der Russe wandte seinen toten und doch verächtlichen Blick nicht von Bagradians weißen Händen, bis dieser es nicht länger aushielt und ihn anherrschte:

»Nun, was willst du von mir?«

Sarkis Kilikian stieß einen starken Rauchstrahl aus, veränderte aber seine Miene um keinen Schatten. Das Lästigste war, daß er noch immer nicht die Augen von Gabriels Händen abwandte. Er schien sich in tiefsinnige Betrachtungen über eine Welt zu verlieren, in der es so weiche und unversehrte Hände gab. Endlich öffnete er den lippenlosen Mund über schlechten, schwärzlichen Zähnen. Seine tiefe Stimme klang weniger haßerfüllt als seine Worte:

»Keine Sache für so feine Herren ...«

Bagradian sprang auf. Er wollte eine starke Antwort finden. Zu seinem tiefen Unbehagen fand er aber überhaupt keine. Ihm langsam den Rücken kehrend, sprach der Russe mehr zu sich selbst, in keinem übelklingenden Französisch:

»On verra ce qu'on pourra durer.«

Als man dann um die Lagerfeuer saß, erkundigte sich Gabriel bei den verschiedensten Männern nach Sarkis Kilikian. Dieser war seit vier Monaten schon im ganzen Umkreis des Musa Dagh wohlbekannt. Er gehörte nicht zu den ortsansässigen Deserteuren, und doch machten die Saptiehs auf ihn namentlich Jagd. Von Schatakhian erfuhr Gabriel die Lebensgeschichte des Russen im Zusammenhang. Da die Lehrerschaft der sieben Dörfer sich im allgemeinen durch eine lebhafte Phantasie auszeichnete, so hätte Bagradian fast geargwöhnt, für Schatakhian sei des Grauens nicht genug und er füge diesem echt armenischen Schicksal noch aus freier Willkür einige Schreckenszüge bei. Aber Tschausch Nurhan saß daneben und nickte ernsthaft zustimmend zu jeder Einzelheit. Tschausch Nurhan war als Gönner der Deserteure und als Kenner ihrer Lebenswege verschrien. Was aber die Phantasie anbelangt, hatte man bei ihm nichts zu argwöhnen.

Sarkis Kilikian war in Dört Yol, einem großen Dorfe in der Issusebene nördlich von Alexandrette, geboren. Ehe er noch sein elftes Lebensjahr vollendet hatte, brachen in Anatolien und Zilizien die klassischen Metzeleien Abdul Hamids aus, und zwar wie ein wolkenloses Gewitter von einem Augenblick zum andern. Kilikians Vater war Uhrmacher und Goldschmied, ein kleiner, stiller Mann, der in seinen Verhältnissen auf feine Lebensart und gute Erziehung der fünf Kinder viel Wert legte. Da er ein hübsches Vermögen besaß, sollte Sarkis, der Älteste, an eines der Priesterseminare gesandt werden, um zu studieren. An jenem schwarzen Tage von Dört Yol sperrte Uhrmacher Kilikian seinen Laden schon um die Mittagsstunde. Dies aber half ihm nichts, denn kaum hatte er sich in seine Wohnung zur Mahlzeit begeben, war die wüste Kundschaft schon da und begehrte Einlaß. Frau Kilikian, eine große, blonde Armenierin aus dem Kaukasus, hatte das Essen bereits aufgetragen, als sich der kreidebleiche Mann erhob, um die Ladentür wieder zu öffnen. Der Uhrmacher beruhigte seine Frau mit den Worten, es sei am besten, den Laden der Plünderung zu überlassen, um das eigene Leben zu retten. Die Ewigkeiten der nächsten Minuten wird Sarkis Kilikian bewahren müssen, solange eine geschaffene Seele im Universum durch alle Wandlungen und Wanderungen hindurch sie selbst bleiben muß. Er lief dem Vater in die Werkstatt nach, die sich indessen mit einem Haufen von Männern gefüllt hatte. Ein malerischer Sturmtrupp von Seiner Majestät des Sultans Hamidijehs. Der Führer dieses Sturmtrupps war ein junger Mann mit einem rosig wohlgenährten Gesicht, der Sohn eines kleinen Beamten. Das Auffälligste an diesem dicklichen Türkenjüngling waren die vielen sonderbaren Abzeichen und Medaillen, mit denen sein Rock übersät war. Während zwei ernste, sachliche Kurden sogleich ans Werk gingen und den Inhalt der Schubladen vorsichtig in ihre Schnappsäcke leerten, schien der kühn ausstaffierte Beamtensohn seine Sendung rein politisch aufzufassen. Das tölpelhafte Milchgesicht glühte vor Überzeugung, als er den Uhrmacher anbrüllte: »Du bist ein Wucherer und Blutsauger! Alle Armenierschweine sind Wucherer und Blutsauger! Ihr unreinen Giaurs seid am Elend unseres Volkes schuld.« Meister Kilikian wies ruhig auf seinen Arbeitstisch mit der Lupe, den Pinzetten, Rädchen und Federn: »Warum nennst du mich einen Wucherer?« – »Das hier ist alles nur Lüge, hinter der du deinen Wucher versteckst.« Das Gespräch konnte nicht beendet werden, da in dem engen niederen Raum ein paar Schüsse krachten. Der kleine Sarkis roch zum erstenmal den betäubenden Pulverrauch. Er verstand anfangs gar nicht, was geschehen war, als sich sein Vater über das Tischchen wie zur Arbeit beugte, es aber sogleich mit sich zu Boden riß. Ohne einen Laut flitzte Sarkis ins Familienzimmer zurück. An der Wand wartete hoch aufgerichtet die blonde Mutter, ohne zu atmen. Ihre Hände umkrampften rechts und links das zweijährige und das vierjährige Mädchen. Ihre Augen hielten den Korb mit dem Säugling fest. Der siebenjährige Mesrop starrte verlangend nach dem herrlichen Hammelkebab, das auf dem Tische noch immer friedlich dampfte. Als aber die Bewaffneten in den Raum drangen, hatte Sarkis die Schüssel mit dem Hammelkebab schon gepackt und schleuderte sie dem Führer mit einem verzweifelten Schwung mitten ins dicke, rosige Gesicht. Aufschreiend duckte sich der tapfere Beamtenjüngling, als sei er von einer Granate getroffen. Der braune Saft der Speise rann ihm über den prächtigen Rock. Dem ersten Wurfgeschoß folgte der große Wasserkrug aus Ton, der schon eine bessere Wirkung erzielte. Der Truppführer blutete aus der Nase, trieb aber mit wehleidigem Gebrüll seine Mannschaft vor. Der kleine Sarkis stellte sich, mit dem Fleischmesser bewaffnet, schützend vor seine Mutter. Diese armselige Waffe in Händen eines Elfjährigen genügte, daß die unüberwindlichen Hamidijehs es auf einen Nahkampf nicht ankommen ließen, obgleich die Frau noch jung und hübsch war. Einer von ihnen warf sich mit einem feigen Schwung auf den Wiegenkorb, riß die quäkende Kreatur aus den Decken und zerschmetterte den Schädel des Kindchens an der Wand. Sarkis preßte sich dicht an den erstarrenden Leib der Mutter. Zwischen ihren festgeschlossenen Lippen wimmerte es sonderbar hervor. Und dann begann das donnernde Gekrache und Geknatter auf eine Frau und vier Kinder, ein Feuer, das genügt hätte, ein Regiment in die Flucht zu schlagen. Das Zimmer war von Qualm erfüllt, und die Bestien schossen schlecht. Es war wie eine abgekartete Teufelei des Schicksals, daß Sarkis von keiner einzigen Kugel getroffen wurde. Als erster starb der siebenjährige Mesrop. Die Leichen der beiden kleinen Mädchen hingen schlaff an den Händen der Mutter, die sie nicht losließ. Ihre große volle Gestalt stand straff und unbewegt. Ein Schuß traf sie in den rechten Arm. Sarkis fühlte mit seinem Rücken den kurzen Schlag, der sie durchzuckte. Zwei andre Schüsse zerschmetterten ihr die Schulter. Sie stand regungslos und ihre Hand ließ das Kind noch immer nicht. Erst als zwei weitere Kugeln ihr das halbe Gesicht wegrissen, schwankte sie vor, neigte sich über Sarkis, der sie festhalten wollte, überströmte sein Haar mit ihrem mütterlichen Blut und begrub ihn unter ihrem Leib. Still lag er unter der warmen, schweratmenden Last der Mutter und rührte sich nicht. Nur noch vier Schüsse klatschten in die Wand. Dann hielt der milchgesichtige Jüngling sein Werk für getan: »Die Türkei den Türken«, krähte er, aber niemand sonst fiel in diesen Triumphruf nach errungenem Sieg ein. Während Sarkis so in sicherer Mutterhut lag, waren seine Sinne zu übermäßiger Schärfe verdammt. Er hörte ein Gespräch, das darauf schließen ließ, daß sich der Truppführer in einem Stubenwinkel abscheulich benahm. »Warum tust du das«, tadelte ihn eine Stimme, »es liegen hier Tote.« Der nationale Überzeugungskämpfer aber ließ sich nicht stören und fauchte: »Noch als Tote sollen sie wissen, daß wir die Herren sind und sie nur Gestank.« Lange schon herrschte tiefe Stille, ehe der blutüberströmte Sarkis unter der Mutter hervorzukriechen wagte. Durch diese Bewegung schien Frau Kilikian aus ihrer Bewußtlosigkeit zu erwachen. Sie hatte kein Gesicht mehr. Aber ihre Stimme war die alte und so ruhig: »Hol mir Wasser, mein Kind.« Der Krug war zerbrochen. Sarkis schlich sich mit einem Glas zum Brunnen im Hof. Als er zurückkam, atmete die Mutter noch, doch sie konnte weder trinken mehr noch reden. – Der Knabe wurde zu reichen Verwandten nach Alexandrette gebracht. Nach einem Jahre schien er alles überwunden zu haben, wenn er auch kaum etwas aß und niemand, selbst die gütigen Zieheltern nicht, mehr als die notwendigsten Worte aus ihm herauspumpen konnten. Lehrer Schatakhian war über all diese Dinge genau unterrichtet, weil es dieselben Alexandretter Bürger waren, die ihm den Aufenthalt in der Schweiz ermöglicht hatten. Später wurde Sarkis nach Edschmiadsin in Rußland an das größte theologische Seminar des armenischen Volkes gesandt. Den Kandidaten dieser berühmten Hochschule stand der Weg zu den höchsten Würden der gregorianischen Kirche offen. Der geistliche Drill, in den sich die Studenten fügen mußten, war eher mild als hart zu nennen. Und dennoch floh Sarkis Kilikian, in dem sich langsam ein wilder, ja krankhafter Freiheitstrieb entwickelte, noch ehe er sein drittes Schuljahr vollendet hatte. Er stand vor seinem achtzehnten Geburtstag, als er in den schmutzigen Gassen von Baku umherirrte, mit nichts anderem ausgestattet als mit seiner alten Seminarkutte und einem vieltägigen Hunger. Es fiel ihm nicht ein, sich an seine Zieheltern um eine Geldsendung zu wenden. Vom Tage seiner Flucht aus Edschmiadsin an blieb der Schützling für jene braven Leute verschollen. Sarkis Kilikian hatte keine andere Wahl, als Arbeit zu suchen. Er fand auch die einzige Arbeit, die in Baku reichlich angeboten wurde, die Sklavenarbeit auf den weiten Ölfeldern, die sich längs der öden Küste des Kaspischen Meeres erstrecken. Dort wurde schon nach wenigen Monaten durch die Macht des Öls und der Erdgase seine Haut gelb und welk. Seine Gestalt dorrte aus wie ein abgestorbener Baum. In Anbetracht seiner Bildungsstufe und Wesensart kann es nicht wundernehmen, daß er in die sozialrevolutionäre Bewegung geriet, die damals die Arbeiterschaft des russischen Orients zu erobern begann, Georgier, Armenier, Tataren, Tjurken und Perser. Wohl hetzte die Zarenregierung die einzelnen Volksstämme immer wieder gegeneinander, konnte aber die einigende Bewegung gegen die Petroleumherren doch nicht brechen. Von Jahr zu Jahr wurden die Streiks umfassender und erfolgreicher. Bei einem dieser Aufstände kam es durch die Kosaken zu einem furchtbaren Blutvergießen. Als Antwort darauf wurde der Gouverneur des Bezirkes, ein Fürst Galitzin, während einer Spazierfahrt meuchlings ermordet. Unter den Angeklagten, denen Verschwörung und Attentat zur Last gelegt wurden, befand sich auch Sarkis Kilikian. In der Verhandlung konnte man ihm so gut wie nichts nachweisen. Kilikian schien ein sonderbarer Politiker gewesen zu sein. Er hatte weder jemals Reden gehalten noch sich in unterirdischen Organisationen hervorgetan. Keiner wußte etwas Bestimmtes über ihn auszusagen. Doch »entlaufener Priesterzögling«, das war eine Klasse für sich, aus ihr kamen die ganz hartgesottenen Empörer. Dies allein schon genügte. Sarkis wanderte auf Lebensdauer in die Katorga von Baku. In dieser Unrat- und Rattenburg wäre er heillos verwest, hätte die Bestimmung ihre Wohltaten für ihn nicht pfiffiger aufgespart. Der Nachfolger des ermordeten Galitzin war ein Fürst Woronzow. Dem neuen Gouverneur, einem unverheirateten Mann, folgte seine Schwester, auch sie unverheiratet, in das Regierungspalais von Baku. Prinzessin Woronzow trug ihre Altjungfernschaft mit großer Härte gegen sich selbst. Tatkräftig und von bestem Willen erfüllt, eröffnete sie in jedem Amtsbezirk, den ihr Bruder bezog, einen eigenartigen Seelenerlösungsbetrieb. Wer gegen sich selbst hart ist, wird es auch meist gegen andre sein, und so hatte sich die hohe Dame im Laufe der Zeit zu einer ausgesprochenen Sadistin der Nächstenliebe entwickelt. Ihr frommes Augenmerk richtete sie, wohin sie kam, zuerst auf die Gefängnisse. Die großen Dichter der russischen Erde hatten gelehrt, daß der Sündenpfuhl die allernächste Nachbarschaft des Gottesreiches bilde. In den Gefängnissen waren es hauptsächlich die jungen Intellektuellen und Politischen, die ihren Eifer weckten. Mit dieser ausgesuchten Schar wurde nun Sarkis Kilikian allmorgendlich in eine leere Kaserne geführt, wo nach Irene Woronzowas Lehrplan und unter ihrer tätigen Mitwirkung die Erlösungskur auch an ihm versucht wurde. Sie bestand teils aus scharfen Exerzierübungen, teils aus moralischem Unterricht. Die Prinzessin sah in dem jungen Armenier den reizvollen Sohn des Teufels selbst. Diese Seele war des Kampfes wert. Die Dame nahm deshalb Kilikian höchstpersönlich an die Kandare. Nachdem der dürre Teufelskörper durch mehrstündig hartes Exerzieren für die Zügelhilfen des Heiles zugeritten war, wurde die Seele an die Longe genommen. Zu ihrer größten Freude bemerkte Irene Woronzowa sehr bald die unglaublichen Fortschritte, die Kilikian auf dem guten Wege machte. Die Stunden mit diesem wortkargen Luzifer begannen sie selbst zu erleuchten. In der Nacht träumte sie oft das Frage-und-Antwort-Spiel des Unterrichtes weiter. Es war selbstverständlich, daß der gelehrige Schüler belohnt werden mußte. Die Prinzessin erwirkte immer mehr Freiheiten für ihn. Mit der Abnahme der Fesseln begann es und endete damit, daß Kilikian, anstatt im Gefängnis, in einem Kämmerchen der leeren Kaserne wohnen durfte. Leider machte er von der guten Freistatt nicht lange Gebrauch. Schon am dritten Morgen nach seiner Übersiedlung war er verschwunden und bereicherte damit die Prinzessin Woronzow um eine bittere Erfahrung im Kriege gegen den Teufel. Wohin kann man aus Russisch-Kaukasien fliehen? Nach Türkisch-Kaukasien! Einen Monat später mußte Sarkis bereits erkennen, daß er als Unzurechnungsfähiger gehandelt und ein Paradies mit der Hölle vertauscht hatte. Als der Halbverhungerte sich in Erzerum nach einer Arbeit umsehen wollte, schleppten ihn die Schergen auf die Polizei. Da er sich weder rechtzeitig der Assentierung unterzogen noch auch den vorgeschriebenen Bedel entrichtet hatte, wurde er als Militärflüchtling im Schnellgericht abgeurteilt und erhielt drei Jahre schweren Kerkers. Kaum also war er der russischen Katorga entkommen, als ihn die türkische gastfreundlich aufnahm. In dem Gefängnis von Erzerum legte der unerforschliche Bildhauer der Kreatur die letzte Hand an Sarkis Kilikian. Jene geheimnisvolle Gleichgültigkeit entstand, die Gabriel Bagradian schon an dem nächtlichen Gespenst verspürt hatte, eine Gleichgültigkeit, die mit diesem Wort nur angetastet und nicht erschöpft wird. Erst die Monate, die dem Ausbruch des großen Krieges vorangingen, setzten der Zuchthausstrafe ein Ende. Obgleich ihn der ausmusternde Arzt für mindertauglich erklärte, wurde Kilikian sofort unter die Rekruten eines Erzerumer Infanterieregimentes gesteckt. Das Leben, das er nun führte, glich wenigstens entfernt einem Menschenleben. Dabei zeigte es sich, daß sein äußerlich hinfälliger Körper über unverwüstliche Kraft und Zähigkeit verfügte. Auch schien das Soldatenwesen, trotz aller Gebundenheit, der Natur Sarkis Kilikians noch am ehesten zu entsprechen. Sein Regiment nahm im ersten Kriegswinter an dem denkwürdigen Kaukasus-Feldzug Enver Paschas teil, in dessen Verlaufe der zarte Kriegsgott nicht nur ein ganzes Armeekorps einbüßte, sondern selbst mitsamt seinem Hauptquartier beinahe in russische Gefangenschaft geriet. Die Abteilung, welche die Flucht des Stabes deckte und damit Envers Freiheit und Leben rettete, bestand fast durchwegs aus Armeniern, und ein Armenier war's, der den Generalissimus auf seinem Rücken aus der Linie trug. (Als Schatakhian den Sarkis unter diese Armenier versetzte, warf Gabriel, der eine legendarische Ausschmückung des Lehrers fürchtete, dem alten Tschausch Nurhan einen forschenden Blick zu. Dieser aber nickte mit ernster Gemessenheit.) Ob sich nun Kilikian unter diesen Tapferen geschlagen hatte oder nicht – der Dank Envers an die ganze Nation folgte der Rettung jedenfalls auf dem Fuße. Kaum waren die Erfrierungswunden des Soldaten Sarkis halbwegs geheilt, kaum hatte er sein Lager auf den Steinfliesen des überfüllten Hospitals mit seinem Lager auf den Steinfliesen der überfüllten Kaserne wieder vertauscht, als der Befehl des Kriegsministers verlesen wurde, der alle Armenier aus den Kompanien schmachvoll ausstieß, sie der Waffen beraubte und zu Inschaat Taburi, zu verächtlichen Armierungssoldaten, erniedrigte. Man hetzte sie aus allen Winkeln zusammen, nahm ihnen die Gewehre ab und trieb sie in elenden Rudeln nach Südosten, in die hüglige Gegend von Urfa. Dort mußten sie, hungernd und allstündlich von der Bastonnade bedroht, die Steine zum Bau einer Straße herbeischleppen, die in der Richtung auf Aleppo angelegt wurde. Ein eigener Befehl verbot ihnen, sich durch Tragpolster gegen die kantigen Lasten zu schützen, obgleich schon in den ersten glutheißen Arbeitsstunden ihre Schultern und Nacken blutig gescheuert waren. Während alle anderen stöhnten und jammerten, stapfte Sarkis Kilikian lautlos den Weg vom Steinbruch zum Straßenstück, vom Straßenstück zum Steinbruch, als habe sein Körper längst schon vergessen, was Schmerz sei. Eines Tages ließ der Hauptmann alle Mannschaften der Inschaat Taburi antreten. Unter diesen befanden sich zufalls- oder strafweise auch einige Mohammedaner. Sie wurden aus den Reihen gesondert. Die waffenlose Armenierschar aber marschierte unter Führung von zwei Offizieren ungefähr eine Stunde weit weg von ihren Quartieren, in ein liebliches Tal, das sich zwischen zwei Hügeln verengte. »Das sind die Hügel von Tscharmelik«, sang ein Argloser, der aus dieser Gegend stammte und sich des freien Tages unbändig freute. Doch auf dem sanften Rasen dieses Tals empfing sie nicht nur Thymian und Rosmarin, Orchideen, Pimpernell und Melissen, sondern höchst merkwürdigerweise auch eine kriegsmäßig ausgerüstete Kompanie. Die Armenier ahnten nichts. Als man sie an der Hügellehne ein langes Glied bilden ließ, ahnten sie noch immer nichts. Dann ging ohne alle Umstände und Vorbereitung das Feuer urplötzlich am rechten Flügel los. Schreie durchschnitten die Luft, weniger Schreie der Todesangst als der Ausbruch eines unermeßlichen Erstaunens. (Eine Frau, die unter den Zuhörern saß, unterbrach hier den Lehrer Schatakhian: »Kann Gott unter seinen Engeln diese Schreie vergessen?« Dann packte sie selbst ein Weinkrampf, den sie nur mühsam ersticken konnte.) Sarkis Kilikian warf sich geistesgegenwärtig auf die Erde. Die Kugeln zirpten über ihn hinweg. Er entging ein zweites Mal dem türkischen Tod. Unter Leichen und hilflos Verreckenden blieb er liegen, um die Finsternis abzuwarten. Doch lange vor Abend noch bekam die blumige Mordstätte Enverscher Nationalpolitik neuerlichen Besuch. Die Leichenfledderer der Gegend wollten das ärarische Gut, das die »Hingerichteten« an sich trugen, nicht vorzeitig verkommen lassen. Auf die festen Militärstiefel hatten sie es besonders abgesehen. Während ihrer schwierigen Arbeit ächzten sie eines jener Lieder, welche die Austreibung hervorgebracht hatte. Es begann mit dem lautmalenden Vers: »Kessé, kessé sürür jarlara. – Mordend, mordend hetzt man sie.« Auch an Kilikians Stiefel kam die Reihe. Er spannte seine Muskeln zum Zerreißen an, um Leichenstarre zu simulieren. Die Totenräuber zerrten und zogen wütend an seinen Füßen, es fehlte nicht viel und sie hätten sie ihm mit einer Hacke abgeschlagen, um der Stiefel habhaft zu werden. Endlich aber empfahlen sich auch diese herzhaften Kunden, ein neues Lied auf den Lippen: »Hep gitdi, hep bitdi! – Alle fort, alle hin!« In dieser Nacht begann Sarkis Kilikians ungeheuerliche Irrfahrt. Die Tage brachte er in wilden Verstecken zu, die Nächte lief er auf unbekannten Pfaden durch Steppen und Sumpffelder. Er nährte sich von nichts, das heißt von dem, was überall aus der Erde wuchs. Nur selten wagte er sich in ein Dorf, um in tiefer Dunkelheit an eine armenische Tür zu klopfen. Wahrhaftig, nun zeigte es sich, daß Sarkis einen Teufelskörper mit übermenschlichen Kräften besaß. Das lederumspannte Gerippe, das er war, starb nicht am Wege, sondern erreichte in den ersten Apriltagen Dört Yol, die alte Heimat. Ohne der Gefahren zu achten, ging Kilikian auf sein Vaterhaus zu, aus dem ihn vor zwanzig Jahren weinende Menschen hinweggeführt hatten. Das Haus war dem Gewerbe seines Vaters treu geblieben; ein Uhrmacher und Goldschmied bewohnte es. Das wohlbekannte Feilen und Feingehämmer drang aus dem Laden. Sarkis trat ein. Der entsetzte Uhrmacher wollte ihn schon hinausjagen, als Sarkis seinen Namen nannte. Darauf beriet sich der neue Hausvater mit seiner Familie. Dem Flüchtling wurde eine Schlafstelle in dem großen Zimmer angewiesen, wo sich das Furchtbare ereignet hatte. Die Kugelspuren an der Wand waren nach zwanzig Jahren noch immer zu sehen. Kilikian hielt sich zwei Tage lang an dieser Zufluchtstätte auf. Der Uhrmacher verschaffte ihm inzwischen ein Gewehr und Munition. Auf die Frage, womit man ihm sonst noch helfen könne, bat er nur mehr um ein Rasiermesser, ehe er nach Einbruch der Dunkelheit verschwand. Schon in der übernächsten Nacht begegnete er im Dorfe Gomaidan zwei Deserteuren, die ihm mit der Miene von gewiegten und verläßlichen Kennern den Musa Dagh als wohlerprobten Aufenthaltsort anempfahlen.

Das ist die Geschichte Sarkis Kilikians, des Russen, wie sie sich aus Lehrer Schatakhians Erzählung, aus Tschausch Nurhans zustimmendem Schweigen, aus den Einwürfen und Beifügungen andrer Zuhörer in Gabriel Bagradians empfindsam mitformendem Geiste spiegelte. Der abendländische Mensch erschauerte in Ehrfurcht vor der Schicksalswucht eines solchen Lebens und vor der Kraft, die unter ihm nicht zusammenbrach. In die Ehrfurcht aber mischte sich auch Grauen und der Wunsch, diesem Opfer der Kerker und Kasernen möglichst aus dem Wege zu gehen. Nach langer nächtlicher Beratung mit Tschausch Nurhan beschloß Bagradian, den Russen und die übrigen Deserteure unter die Besatzung der Südbastion zu verteilen. Sie war der sicherste Punkt der gesamten Verteidigung und lag überdies am weitesten vom Volkslager entfernt.

Am dritten Morgen kehrte alles in die Dörfer zurück. Nur einige verläßliche Wachen blieben bei den Vorräten und Waffen auf dem Damlajik zurück. Ter Haigasun selbst hatte diese Anordnung getroffen. Die Saptiehs durften bei der Waffensuche keine leeren oder halbleeren Häuser vorfinden. Das auffällige Fehlen der Jugend hätte sich weder durch die gottergebene Schar Pastor Nokhudians in Bitias noch auch durch den gesetzten Volksteil in den anderen Dörfern verschleiern lassen. Gabriel Bagradian hatte die Anordnung des Priesters erwartet. Vermutlich steckte noch eine erzieherische Absicht hinter ihr. Die Jugend des Musa Dagh, die bisher alle Greuel nur vom Hörensagen kannte, sollte der lebendigen Wirklichkeit in die Augen sehen, um dann den Kampf mit der allerletzten Verzweiflung zu führen.

Genau zur Stunde, die Ali Nassif vorausgesagt hatte, trafen die Saptiehs in Yoghonoluk ein, etwa hundert an Zahl. Es lag offensichtliche Geringschätzung darin, daß die Behörde mit so wenig Bewaffneten den großen Bezirk auszuheben gedachte: Die armenischen Hammel leisten keinen Widerstand, wenn man sie zur Schlachtbank führt. Die wenigen, der Regierung hochwillkommenen Gegenbeispiele beweisen nichts. Wie könnte sich ein schwaches Handelsvolk mit einem heroischen Wehrvolk messen?! Die Antwort auf diese Frage bildeten die hundert nach Yoghonoluk entsandten Gendarmen. Dies aber waren nicht mehr die gemütlichen Mordgesellen von Anno Abdul Hamid. Keine von Pockennarben entstellten Gesichter, deren treuherzig-grausames Zwinkern anzeigte, daß es für entsprechende Gegenleistung mit sich reden lasse. Da war nur mehr schlichte Grausamkeit ohne Nebenzweck. Die Saptiehs trugen keine räudigen Lammfellmützen wie früher und auch nicht jene aus Waffenrock und irgendeinem unaussprechlichen »Zivil« zusammengesetzte Zufallsuniform der guten alten Zeit. Ihr Körper steckte in der allgemeinen gelbbraunen Feldmontur, die frisch gefaßt war. Um den Kopf hatten sie nach Beduinenart lang herabhängende Sonnen- und Schweißtücher gebunden, die ihnen das unerbittliche Aussehen ägyptischer Sphinxe verliehen. In Reih und Glied zogen sie auf, zwar noch nicht ganz mit dem militärischen Maschinenschritt des Westens, doch auch nicht mehr ganz in der wiegenden Gangart des Orients. Auch auf diese stambulfernen Saptiehs von Antiochia hatte Ittihad eingewirkt, indem es den alten kurzlodernden Fanatismus des Religionshasses in den kalten langbrennenden Fanatismus des Nationalhasses geschickt zu verkehren wußte.

Die Austreibungsmannschaft wurde vom Muafin, dem Polizeihauptmann von Antiochia, befehligt. Der junge Müdir mit den wimperlosen rötlichen Augen und den Sommersprossen auf Gesicht und Händen begleitete sie. Um die Mittagszeit rückte das Aufgebot, von Kundschaftern längst gemeldet, auf dem Kirchplatz von Yoghonoluk ein. Die scharfen türkischen Trompetensignale stiegen auf, und die Trommeln wurden gerührt. Doch trotz dieser herrischen Mahnungen blieben die Armenier in ihren Häusern. Ter Haigasun hatte jedermann in den sieben Dörfern einschärfen lassen, sich so wenig wie möglich zu zeigen, alle Ansammlungen zu vermeiden und ja nicht in die Falle irgendwelcher Herausforderung zu gehn. Der Müdir verlas vor einem Publikum, das aus den Saptiehs, einigen Mitläufern und den geschlossenen Fenstern des Kirchplatzes bestand, den langen Ausweisungsbefehl, der gleichzeitig in Gestalt mehrerer Plakate an die Kirchenmauer, ans Gemeinde- und Schulhaus angeschlagen wurde. Nach diesem Staatsakt lagerten sich die Saptiehs, da es Essenszeit war, auf dem Erdboden, machten Feuer und begannen ihren Kessel mit Fuhl, Saubohnen in Hammelfett, zu wärmen. Während sie dann mit Brotfladen ihr Teil aus dem Sud schöpften und kauend dahockten, schauten sie träge im Kreis umher. Was für hübsche Häuser! Und alle aus Stein gebaut, mit festen Dächern und holzgeschnitzten Veranden! Reiche Leute, diese Armenier, überall reiche Leute! Zu Hause, in den eigenen Dörfern, ist man schon froh, wenn die altersschwarzen Holzhütten unter der Last des Storchennestes nicht einstürzen. Und die Kirche dieser unreinen Schweine ist dick und überheblich wie eine Festung, mit all ihren Kanten, Winkeln und Vorsprüngen. Nun, Allah ist ja eben dabei, ihnen etwas von ihrem Übermut abzuhandeln. In allen Dingen haben sie ihre Hände gehabt, sie haben in Stambul geherrscht, sie haben das Geld scheffelweise geerntet. Man hatte sich alles gefallen lassen, bis endlich die schläfrigste Geduld riß. Auch der Müdir und der Muafin staunten wieder einmal über die Stattlichkeit dieses Dorfplatzes. Vielleicht erfüllte den Polizeihauptmann einen Lidschlag lang die Unsicherheit eines Barbaren, der einer überlegenen Kultur gegenübersteht. Dann aber mochte mit verdoppeltem Haß das berühmte Wort Talaat Beys in ihm aufkochen, das der Kaimakam gestern bei der Abfertigung erwähnt hatte: »Entweder sie verschwinden oder wir.«

Unheimlich war die Stille, die trotz der vielen Bewaffneten auf dem Kirchplatz lastete. Und sie wurde durch die Anwesenheit etlicher Zaungäste der Austreibung, die sich den Saptiehs angeschlossen hatten, nicht im geringsten unterbrochen. Die Menschengosse Antakjes und der größeren Ortschaften ringsum hatte ihre Abwässer ins Tal der sieben Dörfer gelenkt. Auf nackten, schmutzstarrenden Füßen kam es geschlichen: aus Mengulje, Hamblas und Bostan. Aus Tumama, Schahsini, Aïn Jerab und weither sogar aus Beled es Scheikh. Augen voll unbeherrschter Gier zupften an den Häusern. Arabische Bauern aus dem El-Akra-Gebirge im Süden harrten, geruhsam auf ihren Fersen hockend, fetter Ereignisse. Sogar eine kleine Gruppe von Ansarijes hatte sich eingefunden, die niedrigsten Parias des Propheten, volkloses halbarabisches Knechtsgesindel, das nun die seltene Möglichkeit benützte, sich anderen Menschen überlegen zu fühlen. Auch einige Mohadschirs waren bereits zur Stelle, Kriegsflüchtlinge, von der Regierung ins Innere gesandt und freundlichst eingeladen, sich an armenischem Hab und Gut für ihre Verluste schadlos zu halten. Neben dergleichen offenherzigem Volke standen, sehr verwunderlich zu melden, tief verschleierte Frauen scheu und glühend im Kreis. Sie gehörten zweifellos den besseren Ständen an. Auf den ersten Blick sah man das am feinen Stoff der über den Kopf gezogenen Mäntel, am Gewebe der Schleier, an den schmalen Pantoffeln oder Lackhalbschuhen, in die sich die beringten Füße schmiegten. Diese Frauen waren eifrige Kundinnen eines so vorteilhaften Ausverkaufes, den sie mit Ungeduld erwarteten. Schon seit Wochen ging das Gewisper in den Weiberstuben von Suedja und El Eskel: »Ah, wißt ihr es denn nicht? Diese Christen besitzen in ihren Häusern herrliche Sachen, die man bei uns gar nicht kennt oder nur um schweres Geld erstehen kann.« – »Warst du jemals in einem armenischen Haus?« – »Ich nicht! Aber die Frau des Moliah hat mir alles genau beschrieben. Da werdet ihr Schränke und Kommoden finden mit Türmchen darauf und kleinen Säulen und Kronen. Da werdet ihr nur wenig Schlafmatten finden, die man tagsüber wegsperrt, sondern echte Betten mit geschnitzten Blumen und gottverbotenen Kinderköpfchen darauf, Betten für Mann und Frau, so groß wie die Equipage des Wali. Uhren werdet ihr finden, auf ihnen sitzt ein vergoldeter Adler, oder ein schreiender Kuckuck springt aus ihren Eingeweiden.« – »Nun, da habt ihr wieder einen Beweis, daß sie Verräter sind, denn wie hätten sie sonst solches Hausgerät aus Europa bekommen können?« Gerade nach derartigem Hausgerät aber stand den Weibern, die der schönsten Teppiche, Messingschüsseln und kupfernen Kohlenbecken überdrüssig waren, gar mächtig der Sinn.

Die unheimliche Stille zerplatzte urplötzlich. Der Polizeihauptmann, der schon längst eines Opfers geharrt hatte, warf sich auf einen der Dorfbewohner, der unvorsichtigerweise vor sein Haustor getreten war. Der Mann wurde in die Mitte des Platzes gestoßen. Das Gesicht des Polizeihauptmanns war durch zwei gänzlich verschiedene Augen gekennzeichnet. Das rechte blickte groß und starr, das linke klein und halb zugeschwollen. Der Feldwebelschnurrbart konnte noch so martialisch drohen, das Kinn noch so mörderisch vorstoßen, durch die ungleichen Augen war der Polizeivogt zu furchterregender Lächerlichkeit oder lachenerregender Furchtbarkeit verurteilt. Da er sich dieses Gebrechens ständig bewußt war, übertrieb er aus Angst, lächerlich zu wirken, die fürchterliche Seite seines Wesens und Gewerbes. Aus diesem Grund mußte er den Rohling, der er von Natur schon war, auch noch spielen. Sein starres Auge versuchte zu rollen, als er den Armenier anbrüllte:

»Wie heißt euer Priester? Wie heißt euer Muchtar?«

Der Mann gab flüsternd Auskunft. Im nächsten Augenblick heulte es hundertstimmig über den Platz:

»He, Haigasun! Wo steckst du? Heraus mit dir, Kebussjan! He, Haigasun und Kebussjan!!«

Ter Haigasun hatte in der Kirche dieses Zeichen abgewartet. Nach der Messe des heutigen Feiertages war er mit seinen Diakonen kniend am Altar verblieben, ohne die heiligen Gewänder abzulegen. Er wollte den Saptiehs in dem Glanz und in der Erhabenheit seines Amtes entgegentreten. In dieser Absicht verriet sich das Wesen Ter Haigasuns aufs beste. Mit der feierlichen Gebärde verband er einen seelenkennerischen Zweck. Jeden Orientalen erfüllen zeremonielle Aufzüge und religiöse Gewänderpracht mit heiligen Schauern. Ter Haigasun rechnete damit, daß seine Priestererscheinung die Roheit der Saptiehs dämpfen werde. Langsam tauchte er in Gold und Purpur aus dem Kirchenportal. Auf seinem Kopf glänzte die hohe griechische Bischofskrone, in seiner Rechten trug er den Doktorstab des armenischen Ritus. Und wirklich, der hohe Anblick des Wartabeds legte sich auf die Stimme des Polizeihäuptlings, deren menschenfresserisches Bellen unsicher klang:

»Du bist der Priester! Du wirst mir für alles verantwortlich sein! Für alles! Hast du mich verstanden?«

Ter Haigasun neigte zur Antwort sein blutloses Gesicht, das in der starken Sonne wie aus einem Stück Ambra geschnitten schien, schweigend auf die Brust. Der Polizeiherr spürte, daß er in Gefahr sei, höflich, das heißt schlapp zu werden. Auch begann das linke verschwollene Auge zu zucken. Diese zwei Tatsachen erfüllten ihn mit wachsender Erbitterung. Es war höchste Zeit, dem Müdir, der Mannschaft, dem Priester seine niederschmetternde Allmacht in Erinnerung zu bringen. Er ging also mit hocherhobenen Fäusten auf Ter Haigasun zu, mußte aber dennoch zu seinem tiefsten Unbehagen in einem schmachvollen Respektabstand haltmachen. Um so mehr fühlte sich seine Stimme verpflichtet, jenen Schreck zu verbreiten, den er als Auswirkung seiner gebietenden Person erwarten durfte:

»Du wirst alle Waffen abliefern, alle eure Waffen! Verstehst du mich?! Wenn du auch wie ein Bazargaukler aussiehst, bist du mir doch für jedes Messer in den Dörfern verantwortlich.«

»Wir haben in den Dörfern keine Waffen.«

Ter Haigasun sagte damit die volle Wahrheit sehr ruhig und bestimmt. Inzwischen hatte sich im dunkeln Flur des Muchtarhauses eine kleine Tragikomödie abgespielt, die damit endete, daß der alte Gemeindeschreiber mit dem pfiffigen Spitzbart schwungvoll zum Tor hinausflog, das sich schnell hinter ihm schloß. Auf diese unsanfte Weise wurde ihm nämlich von Muchtar Kebussjan in dem schwierigsten Augenblick seiner ganzen Amtszeit die Stellvertretung anvertraut. Der unglückliche Pseudo-Muchtar taumelte kreidebleich den Saptiehs in die Arme, die ihn vor ihren Befehlshaber zerrten. Er lallte die Worte Ter Haigasuns nach: »Wir haben keine Waffen in den Dörfern.«

Die bebende Persönlichkeit des vermeintlichen Muchtars kam dem Hauptmann hochwillkommen. Sie überzeugte ihn vorbehaltlos von seiner niederdonnernden Gottähnlichkeit. Er riß einem Gendarmen die Lederpeitsche aus der Hand und durchpfiff mit ihr die Luft:

»Um so ärger für euch, wenn ihr keine Waffen habt!«

Hier mischte sich zum erstenmal der rötliche Müdir in das Verfahren. Dem jungen Mann aus Salonik war ungemein viel daran gelegen, diesem christlichen Priester den himmelweiten Abgrund vor Augen zu führen, der seinesgleichen von einem Polizeitölpel aus der dunkelsten Reichsprovinz trennte. Ittihad veranstaltete keine urtümlichen Metzeleien mehr, Ittihad machte feinste Politik, Ittihad verwirklichte mit eisernem Willen unvermeidliche Staatsnotwendigkeiten, wobei Ittihad, soweit das irgend möglich war, unnötige Härten zu vermeiden trachtete. Man war modern gebildet. Man war ein Feind der allzu handgreiflichen Methoden, man legte sogar Wert darauf, »Nerven« zu haben. Infolgedessen warf der Müdir einen kurzen Blick auf das Kunstwerk seiner langen Fingernägel und wandte sich mit jener gefahrgeladenen Freundlichkeit, die alle beamteten Herren über Leben und Tod so trefflich zu gebrauchen wissen, höchst achtungsvoll an Ter Haigasun:

»Du weißt, was über euch beschlossen ist.«

Fest und stumm sah ihn der Priester an. Der Müdir wies, durch diesen freien Blick leicht verwirrt, auf die Plakate:

»Die Regierung hat den Beschluß gefaßt, euch umzusiedeln. Neue Wohnsitze werden euch angewiesen.«

»Und wo werden uns neue Wohnsitze angewiesen?«

»Das ist weder meine noch eure Sache. Ich habe euch nur zu sammeln, und ihr habt nur zu marschieren.«

»Und wann werden wir aufbrechen müssen?«

»Das hängt allein von eurem Betragen ab, wieviel Zeit ich euch lassen werde, eure Sachen in Ordnung zu bringen und euch genau nach der Vorschrift reisefertig zu machen.«

Der Gemeindeschreiber, der sich bereits gefaßt hatte, erkundigte sich mit lauernder Demut:

»Und was werden wir mitnehmen dürfen, Effendi?«

»Nur das, was jeder auf seinem Rücken und in seiner Hand selbst tragen kann. Alles andere, eure Felder, Gärten, eure Grundstücke, eure Häuser mit allem, was an unbeweglichem und beweglichem Gut dazugehört, verfällt laut Ministerialerlaß vom fünfzehnten Nisan dieses Jahres dem Staate, der euch nach dem Umsiedlungsgesetz vom fünften Mayis neues Land für den abgetretenen Grund zuteilen wird. Jeder Besitzer hat mit Berufung auf sein grundbücherlich festgelegtes Eigentum um den rechtmäßigen Ersatz einzukommen. Das Gesuch muß mit fünf Piastern gestempelt sein. Der Stempel ist beim Gendarmeriekommando erhältlich.«

Dieses Amtslied kam so mild-melodisch von den Lippen des Rothaarigen, als handle es sich um eine Verordnung über Obstbau. Wohlwollend hob der Müdir den Zeigefinger:

»Es ist am besten für euch, wenn ihr keine Geschichten macht, nichts zerstört und vernichtet, sondern alles in seiner bisherigen Ordnung dem Staate übergebt.«

Ter Haigasun öffnete die Hände und hielt sie dem diplomatischen jungen Mann aus Salonik hin:

»Wir wollen nichts behalten, Müdir. Was könnte es uns auch helfen? Nehmt alles, was ihr findet. Die Tore stehen offen.«

Den Polizeihauptmann reizte der glatte Ton des Müdirs, der ihm die Führung entwand. Schließlich war einzig und allein er der Befehlshaber der Austreibung und der Federfuchser nur eine Begleitperson, die der Kaimakam entsandt hatte. Wenn er diesem sanftmäuligen Kanzleibewohner noch länger das Wort überließ, würde ihm kein Mensch mehr glauben, daß er der Polizeigewaltige der Stadt Antakje sei. Er riß daher sein starres Auge noch weiter auf, ließ es blutunterlaufen büffelhaft glotzen, machte zwei lange Schritte auf Ter Haigasun zu und packte ihn bei seiner reichgestickten Stola:

»Du wirst jetzt sechshundert Gewehre zusammenbringen und hier vor mir niederlegen!!«

Ter Haigasun sah lange auf die Erde, dorthin, wo er die Waffen niederlegen sollte, dann trat er jählings mit einem kräftigen Ruck zurück, so daß der Hauptmann fast gestürzt wäre:

»Ich habe dir schon gesagt, daß wir keine Gewehre in den Dörfern besitzen.«

Der Müdir lächelte. Die Reihe war wieder an ihm, ohne Augenrollen und Brüllen nur durch politische Verschlagenheit ans Ziel zu kommen. Seine Stimme klang wohlwollend nachdenklich, als sei er bereit, den Armeniern eine Brücke zu bauen:

»Wie lange bist du schon Priester in diesen Ortschaften, verzeih die Frage, Ter Haigasun?«

Die unbestimmte Liebenswürdigkeit dieser Worte beunruhigte Ter Haigasun. Er entgegnete leise:

»Im Herbste nach Wartawar, der Weinlese, werden es gerade fünfzehn Jahre sein.«

»Fünfzehn Jahre? Warte! Da warst du im großen Revolutionsjahr gerade acht Jahre in Yoghonoluk. Nun prüfe dein Gedächtnis! Hast du in diesem Jahre nicht einige Kisten mit Gewehren übernommen, die euch damals zum Kampfe gegen die alte Regierung zur Verfügung gestellt worden sind?«

Der Müdir, der sein Amt erst seit Kriegsausbruch innehatte, stellte diese Frage aus Intuition oder besser aus der vergleichenden Annahme, in Syrien würde Ittihad dieselben Bundesgenossen gesucht haben wie in Mazedonien und Anatolien. Daß er den gefährlichen Punkt getroffen hatte, wußte er nicht. Ter Haigasun drehte den Kopf nach seinen priesterlichen Gehilfen um, die sich noch immer nicht die Kirchenstufen herabgewagt hatten. Mit dieser flüchtigen Kopfwendung rief er sie zu Zeugen auf:

»Vielleicht haben eure Priester etwas mit Waffen zu tun, Müdir. Bei uns gibt es diesen Brauch nicht.«

Der Gemeindeschreiber begann in diese bedrohliche Minute vorwurfsvoll hineinzujammern:

»Wir haben doch immer in Frieden gelebt und dies ist unser Vaterland seit ewigen Zeiten.«

Ter Haigasun starrte den Müdir verloren an und schien sein eigenes Gedächtnis wirklich auf eine harte Probe zu stellen:

»Es ist wahr, Müdir! Die neue Regierung hat damals an verschiedenen Orten des Reiches Gewehre hie und da auch an Armenier verteilt. Wenn du alt genug bist, so wirst du dich jedoch auch erinnern, daß von allen Gemeinden den Überbringern dieser Waffen Empfangsscheine ausgefolgt werden mußten. Der Kaimakam, der zu jener Zeit Müdir war wie du, hat die Waffenverteilung geleitet. Er wird ganz gewiß die Empfangsscheine aufbewahrt haben, denn so wichtige Dinge wirft man nicht fort. Nun, ich glaube, er hätte dich gewiß nicht ohne diesen Empfangsschein zu uns geschickt, wenn es bei uns Gewehre gäbe.«

Der Einwand Ter Haigasuns war unwiderleglich. Man hatte tatsächlich in den letzten Tagen die Registratur des Hükümets von Antakje wegen dieser Empfangsscheine um und um gewühlt. Es fanden sich solche Bestätigungen aus den meisten Nahijehs, nur die Nahijeh von Suedja und Umgebung schien im Jahre 1908 wirklich keine Waffen gefaßt zu haben. Der Kaimakam behauptete zwar, sich des Gegenteils zu entsinnen, hatte aber keinen Beweis dafür. Mit Gelassenheit traf Ter Haigasun demnach das Richtige. Weil er sich überlegen zeigte, vergiftete er die schöne, diplomatische Ruhe des Müdirs, der seine Stimme höhnisch verschärfte:

»Was ist eine Empfangsbestätigung? Ein Wisch! Was beweist das nach so vielen Jahren?«

Ter Haigasun machte eine Handbewegung des Gleichmutes:

»Wenn ihr uns nicht glauben wollt, so seht selber nach und sucht!«

Der Hauptmann, gewillt, diesem langwierig überflüssigen Hin und Her ein Ende zu machen, ließ seine Polizeitatze auf die Schulter des Priesters niedersausen:

»Ja, wir werden suchen, den Sohn eines Hundes! Aber ihr zwei seid verhaftet, du und der Muchtar da! Mit euch kann ich machen, was ich will. Euer Leben steht in meinem Belieben. Wenn wir Gewehre finden, so nageln wir euch an die Kirchentüre. Wenn wir keine finden, laß ich euch über einem Feuer aufhängen.«

Zwei Saptiehs fesselten Ter Haigasun und den Gemeindeschreiber. Der Müdir zog eine kleine Nagelfeile aus der Tasche und begann sich mit seinen kokett verlängerten Fingern zu beschäftigen. Wie eine Geste des Bedauerns über die staatsnotwendige Grausamkeit wirkte diese Nägelreinigung und zugleich wie ein Hinweis darauf, daß er als Zivilbeamter mit der bewaffneten Exekutive nichts zu schaffen habe. Dennoch vergaß er nicht, letztere mit gelangweilter Stimme zu mahnen:

»Vergeßt die Friedhöfe nicht! Das sind sehr beliebte Verstecke für Gewehre und Patronen.«

Dann erst wandte er sich zu einem Spaziergang von dannen, alles Weitere dem ungleichäugigen Muafin überlassend. Auf das Kommando dieses Furchtgebietenden stoben die Saptiehs in kleinen Rudeln auseinander. Bei den Verhafteten blieb nur eine kleine Wache zurück. Ter Haigasun wurde gezwungen, sich in seinem starren Seidenornat auf dem Lehmboden des Platzes niederzulassen. Indessen stürmten die Saptiehs mit wüsten Rufen in die Häuser ringsum. Sofort erhob sich hinter den Mauern ein rauhes Gepolter, Gekreisch und Klirren. Fenster flogen auf, und aus ihnen sausten Teppiche, Decken, Kissen, Matten, Strohstühle, Heiligenbilder und hundert andre Habseligkeiten herab, um die sich der schlachtenbummelnde Auswurf quäkend zu balgen begann. Zerbrechlichere Dinge folgten, Spiegel, Petroleumlampen, Lampenschirme, Krüge, Vasen, Geschirr, das unter den Wehrufen der gierigen Kundinnen unten zerscherbte. Sie lasen aber auch die Scherben auf und sammelten sie in ihren Tscharschaffs. Langsam umwanderte der Lärm und die Verwüstung den Kirchplatz, dann erst zog er sich die lange Ortsstraße hinan. Drei schreckliche Stunden hockten die Gefesselten auf der Erde, ehe die Saptiehs von ihrem Kriegszug zurückkehrten. Die Beute war mehr als kläglich: zwei alte Sattelpistolen, fünf rostige Säbel und siebenunddreißig Dolchmesser, die eigentlich nur Gartenrebmesser und größere Taschenfeitel waren. Den Friedhof freilich hatten die Saptiehs aus Mangel an Geräten und aus Arbeitsscheu nicht entweiht. Der Polizeiherr raste. Dieses Schwein von einem verschlagenen Priester hatte ihn um einen waffenstrotzenden Rapport geprellt. Welch eine Schmach für die Polizei von Antakje! Ter Haigasun wurde emporgerissen. Das starre und das dickverschwollene Auge drangen auf ihn ein. Die Atemwelle, die ihn umkeuchte, stank nach Haß und schlecht verdautem Hammelfett. Er wandte sich mit einer Grimasse des Ekels ab. Im nächsten Augenblick aber erhielt er mit dem harten Knauf der Lederpeitsche zwei Schläge mitten ins Gesicht. Der Priester verlor für einige Sekunden die Besinnung, schwankte, erwachte, staunte, wartete auf den Blutstrom. Endlich brach es hervor, das Blut, aus Nase und Mund. Ein seltsames, ja ein seliges Gefühl entfaltete sich in ihm, während er sich weit vornüberbeugte, damit sein geringes Blut nicht Christi Priesterkleid beflecke. Wie eine ferne Engelstimme sang es in seinem Hirn: Dieses Blut ist gut.

Und dieses Blut war gut, da es auf den jungen Müdir aus Salonik, der von seiner Siesta eben heimgekehrt war, einen gewissen Eindruck nicht verfehlte. Er war ein eifriger Befürworter der Ausrottung, ohne das Bedürfnis zu haben, ihr Augenzeuge zu sein. Ittihad besaß in dem Müdir bei weitem nicht die härteste Seele. Er legte sich ins Mittel, wenn er es auch vermied, irgendeine Weichlichkeit zu zeigen. Die Zeit dränge. Man habe noch in sechs andern Ortschaften amtszuwalten. Da auch der Geltungsdrang und Machtbeweisungstrieb des Muafin durch die Züchtigung Ter Haigasuns vollauf befriedigt war, winkte er großartig. Der Priester und der Schreiber wurden von ihren Fesseln befreit. Sie durften nach Hause gehen.

Der Tag verlief für Yoghonoluk glimpflich genug, glimpflicher, als derartige Tage in den meisten Städten und Dörfern des armenischen Volkes zu verlaufen pflegten. Nicht mehr als zwei Männer, die sich bei der Haussuchung widersetzten, wurden getötet, und zwei junge Frauen von den Saptiehs vergewaltigt.

Volle vierundzwanzig Stunden mußte Gabriel Bagradian warten, bis die Reihe an ihn und sein Haus kam. Wiederum saßen sie alle die ganze Nacht hindurch wach. Es war, als ob es keinen Schlaf mehr gebe. Die Erschöpfung durchdrang die Glieder wie eine weiche Masse, die an der Luft langsam erstarrt. Das Knie zu biegen, die Hand zu heben, den Kopf zu wenden, dies alles kostete einen schier unerschwinglichen Willensaufwand. Dabei mußte man diese Erschöpfung noch preisen, denn sie entrückte die Wirklichkeit und schob zwischen die Welt und ihre Qual eine gute Nebelwand. Am wohltätigsten hüllte sie Juliette ein. Sie, die Lebensfreudige, die noch vor wenigen Tagen in ihren Rosen und Seidengeweben geschwelgt hatte, sie, die überlegene, die von ihrer französischen Höhe auf die Rasse ihres Gatten verächtlich hinabsah, sie, die Leichtsinnige, die es nicht für möglich hielt, daß sie in die Haßverstrickung von Halbwilden ernsthaft hineingezogen werden könnte, sie, Juliette, war nun von einem Keulenschlag betäubt. Ihre sonst so klaren Augen schauten wässerig aus dem schlaffen Gesicht. Das Haar war ausgetrocknet und in übernächtiger Unordnung. Sie trug dasselbe zerdrückte Reisekleid wie am Tage der Zeltprobe. Wie ein lästiger Körperschmerz, der unablässig geht und kommt, lief immer wieder der gleiche Gedanke durch ihren matten Geist: Er ist Armenier, ich bin Französin. Das ist doch trotz des Ehesakramentes zweierlei. Muß ich denn wirklich deshalb zugrunde gehen, weil er Armenier ist? Warum kann er nicht dadurch gerettet werden, daß ich Französin bin? Juliette wollte sich über das Los der Frau empören, die ihren Namen und ihr Volk in der Ehe opfert. Sie hatte aber nicht einmal geistige Kraft genug in dieser Stunde, um jenen Gedanken wirklich auszudenken. Er versiegte in ihrem Hirn jedesmal wie in Sand. Unwillkürlich und träge blätterte ihre Erinnerung immer dasselbe Bild auf: ihr Salon in der Avenue Kleber mit dem großen rötlichen Marmorkamin, den sie längst schon hatte entfernen wollen. Von Zeit zu Zeit aber wallte es in ihr auf, etwas Weiches und Schuldbewußtes. Sie bemühte sich, dieses weiche, schuldbewußte Gefühl in sich zu verewigen. Und dann preßte sie Stephan, der neben ihr lehnte, an die Brust:

»Streck dich doch aus und schlaf, Stephan!«

Sie sah dem Knaben in die müdigkeitsschwimmenden Augen, und das Schuldbewußte, Weiche in ihr fragte: Wer bist du, du mein ganz fremdes Kind?

Im großen Empfangszimmer waren alle Hausgenossen versammelt: neben Iskuhi auch Howsannah Tomasian, die zu Juliette gezogen war, da Pastor Aram in Bitias weilte, um seinem Amtsbruder Harutiun Nokhudian und der protestantischen Gemeinde vor der Stunde des Auszugs Beistand zu leisten. Die Anwesenheit Gonzagues fiel gar nicht mehr auf. Er hatte die letzten Tage zumeist in der Villa verbracht. Sein Hauswirt, der Apotheker Krikor, so behauptete er, lebe seit der großen Versammlung in einer sonderbar gestörten Geistesverfassung. Er kümmere sich um nichts, bereite keine Lebensmittel und kein Gerät fürs künftige Lagerleben vor und vernachlässige, obgleich gewähltes Mitglied des Führerrates, die ihm zugewiesene Obsorge für die Allgemeinheit in sträflicher Art. In der Apotheke gehe es drunter und drüber. Der taube Hausknecht bediene, alles verwechselnd, die Kunden, die das Gewölbe belagerten, um sich mit Krikors mageren Heilmittelschätzen sowie mit Petroleum, Spiritus, Hanfstricken, Besen und ähnlichem Zeug rechtzeitig zu versehen. Wegen des kopflosen Verkaufswesens sei es zwischen so alten Freunden wie Bedros Altouni und Krikor zu einem beträchtlichen Krach gekommen. Der Arzt habe großen Lärm geschlagen und den Apotheker in seinem Allerheiligsten überfallen: Es gehe nicht an, daß der blödsinnige Büffel von einem Hausknecht den ganzen Laden an eigensüchtige Schurken ausverkaufe. Die lächerlich geringfügige Menge Tincturae Jodi dürfe nicht an Baghdassar, Howhannes, Dikran, Barsam und andre Hamster aufgeteilt werden. Ob Krikor denn nicht wisse, daß seine schäbigen Arzneien allgemeines Gut bedeuten, ebenso wie Salz, Gewürze, Petroleum nebst allen anderen staubigen Lumpensorten, die er schon seit Jahrzehnten feilbiete. Daraufhin habe sich der Apotheker ganz gegen seine sonstige Art sehr aufgeregt und gerufen, er sei nicht habsüchtig, seit Jahrzehnten opfere er sich schon auf, denn der ganze Apothekenmist bedeute für ihn eine Herabwürdigung seines Daseins. Und um dem Arzt zu beweisen, wer vor ihm stehe, habe Krikor hoheitsvoll das Fenster geöffnet (was nicht oft geschah) und den gesamten Verkauferlös des Tages, Paras, Piaster und Metalliks, auf den Kirchplatz hinausgeschleudert, den Buben zum Raub. Der Arzt, durch diese königliche Gebärde keineswegs erschüttert, habe darauf den Apotheker aufgefordert, seine Bibliothek den Münzen nachfolgen zu lassen, da das Fenster schon offen sei. Damit würde er für sich und andere ein verdienstvolles Werk tun. Gonzague Maris erzählte, daß es ihm selbst nur mit allergrößter Mühe gelungen sei, die zwei kämpfenden Alten zu versöhnen. Heute habe Krikor seine Apotheke für immer geschlossen. Nun halte er sich nur mehr unter seinen von dem neidischen Altouni verlästerten Büchern auf und lese, lese. Nein, das sei nicht ganz richtig, Krikor lese eigentlich gar nicht, sondern wühle nur leidenschaftlich in seinen Schätzen, die er in zweckloser Folge aufschlage und zuklappe, durchblättere und auch nur außen befühle, als wolle er vor dem Abschied seine Bibliothek noch bis zur Neige auskosten. Vielleicht auch zeige sich in diesem Verhalten nur die Qual der Unentschiedenheit, die man ja genau nachfühlen könne. Denn was werde mit Krikors einzigartiger Büchersammlung wirklich geschehen? In Anbetracht dieser Frage sei die Verrücktheit des Apothekers gar nicht so verrückt. Gonzague wußte diese Geschichten von Krikor, seinem Hauswirt, so launig darzustellen, daß Gabriel für ein paar Minuten alles vergaß und lachend Juliette ansah. Es erging ihm merkwürdig mit diesem jungen Menschen, der das armenische Volksverhängnis für seine Person zu einem Abenteuer benützen wollte. Weil ihm diese Absicht (die überdies noch den Journalismus ins Treffen führte) nicht besonders sympathisch war, hatte er dem Griechen erst nach längerem Zögern die gewünschte Erlaubnis erteilt. Im übrigen war sein Gefühl Gonzague gegenüber äußerst schwankend. Das hübsche Gesicht mit dem dünnen Schnurrbärtchen, das den französischen Geschmack übertrieb, war ihm noch vor einer halben Stunde unangenehm gewesen. Jetzt war es ihm wieder angenehm, trotz aller Zweideutigkeit dieses Levantiners und Amerikaners, dieses Musikers und Journalisten, die seine genaue Natur störte. Gonzague war ihm jetzt nicht nur angenehm, seine Anwesenheit machte ihn Juliettens wegen beinahe glücklich. In dieser Nacht zeigte sich Maris nämlich von seiner besten Seite, und es gelang ihm, Juliette zeitweilig aus ihrem verfallenen Zustand herauszureißen. Schließlich hatte dieser »Freiwillige« kein andres Los zu erwarten als alle übrigen. Und doch schien er völlig unbeschwert, ja viel heiterer zu sein als sonst. Er offenbarte zum erstenmal eine unerschöpfliche Beobachtungsgabe, die aber niemals die Grenze des wohlgesinnten Spottes übertrat. Dieses scharfe Feingefühl für Grenzen war eine Eigenschaft Gonzagues, die Gabriel über seine Zweideutigkeit beruhigte. Das Wichtigste aber war, daß er es in dieser tödlichen Nacht zustande brachte, Juliette abzulenken. Und als in später Stunde gegen die Wucht des Wartens nichts mehr aufkommen wollte, sprang er auf:

»Courage, mes amis, es gibt nur den Augenblick und sonst nichts.«

Dann setzte er sich zum Piano, um unermüdlich alle möglichen Gassenhauer, Chansons und Schlager zu spielen, die Juliette aus Paris kannte. Die Matchiche verlangte sie dreimal zu hören. Doch nicht nur Juliette, auch Iskuhi und die elegische Howsannah wurden fortgezogen, ohne es zu merken, und begannen Kopf und Glieder im Takt zu bewegen. Die Dienerschaft des Hauses stand verlegen in der Tür des Selamliks. Wenn sich Missak, Kristaphor, Howhannes und die Mädchen auch nicht rührten, so zuckte in ihren Augen trotz aller Todeserwartung doch die Lust der heimischen Tänze des Tarz Bar und des stampfenden Polo Bar. Gabriel Bagradian hatte schon am Abend die Bedienten alle ins Zimmer geladen. Er betrachtete, seitdem der Ausweisungsbefehl sicher war, das Dienstverhältnis als aufgehoben. Was die Hausleute leisteten, geschah nunmehr freiwillig. Jeder einzelne war Herr über sein Los. Angesichts der Verschickung konnte es weder Herrschaft noch Dienerschaft geben. Alle Volksgenossen ohne Unterschied erwarteten in diesen Stunden den Einbruch der Saptiehs. Dies war der Grund, daß auch Sato die Nacht im Empfangszimmer verbrachte. Das gute Futter hatte in den letzten Wochen die Magerkeit der Verwahrlosten etwas gemildert. Es gehörte zur Eigenart der lähmenden Wartezeit, daß alle ihren Abscheu vor dieser kleinen, widerwärtigen Volksgenossin zu überwinden trachteten. Juliette hatte für Sato ein nettes europäisches Hängekleidchen anfertigen lassen, in dem freilich die spitzknochige Hexenhaftigkeit der Kreatur noch deutlicher zutage trat als in dem gestreiften Waisenkittel. (Der Verwalter Kristaphor behauptete, Sato sei gar keine Armenierin, sondern ein Zigeunerbastard aus Persien oder Daghestan.) Das neue Kleid übte auf das Wesen Satos eine sonderbare Wirkung aus. Es nötigte ihr ein Höchstmaß an zivilisiertem Benehmen ab. Obwohl es schon am ersten Tag von den abscheulichsten Flecken verunreinigt war, stolzierte Sato hochmütig umher und drängte ihren Anblick lobsüchtig jedermann auf. (Stephan hingegen hatte zur selben Zeit seiner Mutter das einheimische Bauerngewand abgetrotzt.) Mit Rücksicht auf ihr schmetterlinghaftes Prachtkleidchen, das eine Standeserhöhung sondergleichen bedeutete, schien Sato der Meinung zu sein, daß die geliebte Iskuhi ihrer Zärtlichkeit nicht länger werde widerstehen können. Sie hockte zu Fräulein Tomasians Füßen und ließ sich nicht verjagen. Aufdringlich spielte sie mit den Säumen und Bändern, hob das Röckchen, breitete es aus, raffte es zusammen, um Iskuhis Bewunderung und Wohlgefallen zu erregen. Wenn es ihr nicht gelang, die Augen der Waisenhauslehrerin auf sich zu lenken, dann verzerrte sich ihre gelbliche Fratze und sie preßte den Kopf mit wütendem Druck gegen die Beine Iskuhis: »Kütschük Hanum!« Es zeigte sich aber, daß die zivilisierende Macht des westlichen Kleides nicht groß genug war, um Satos Steppengemüt wirklich zu bändigen. Kaum hatte Gonzague Maris mit seiner übermütigen Musik begonnen, kam es zu einem schreckerregenden Ausbruch der Kleinen. Es war wie bei gewissen wölfischen Tieren, die Sang und Klang mit dem gequälten Heulen ihrer nächtigen Seelen beantworten. Denn allem Elementarwesen liegt die sehnsüchtige Todesfurcht vor Maß und Ordnung zugrunde, wie sie auch der Wohllaut verkörpert. Sato hörte eine Weile mit aufgerissenen Augen dem Klavierspiel Gonzagues zu. Man sah, daß sie sich mit aller Kraft beherrschte. Sie warf ihren Körper gepeinigt hin und her. Sie krallte sich verzweifelt an Iskuhi fest. Dann fuhr es jäh aus ihr hervor. Und es war wirklich ein Geheul wie von Schakalen und Hyänen, das sie mit weitgeöffnetem Munde ausstieß, während die aufgerufene innere Macht sie sichtbar schüttelte. Alle fuhren zusammen. Nicht einmal die großen Kindertränen, die über des Mädchens Wangen liefen, konnten den Ekel und das Grauen in allen Herzen versöhnen. Auf einen Wink Gabriels packte Awakian Sato bei der Hand und führte sie aus dem Zimmer. Gonzague aber mußte sehr laut auf die Tasten hämmern, damit man das klägliche Winseln des gebannten Kobolds draußen vor den Gartenfenstern nicht höre.

In dieser Nacht ging, wie man schon weiß, kein einziger der Hausgenossen zu Bette. Sie schlummerten minutenweise auf ihren Sitzen. Die Entsagung hatte nicht den geringsten Sinn, da der Besuch der Saptiehs vor dem Morgen, ja Mittag des kommenden Tages nicht zu erwarten war. Und dennoch dachte niemand daran, sich zurückzuziehen und niederzulegen. Bett, das weiche kissenreiche, das von faltigen Moskitonetzen kühl behütete Bett, diese liebende Mutter, diese Allheimat des Kulturmenschen, wie weit schon war sie ihnen entrückt; sie hatten keinen Anspruch mehr auf das selbstvergessene Glück. Als am frühen Morgen Howhannes, der Koch, frischen Kaffee, Eier und kaltes Huhn auf schönem Porzellan ins Zimmer schickte, da waren sie trotz Hunger und Durst beinahe beklommen. Sie aßen schnell und wie auf Abbruch. Hatten sie noch das Recht, die guten Dinge auf altgewohnte Art skrupellos zu verzehren? Vergingen sie sich nicht damit an dem Proviant der Gemeinschaft? All ihre Gedanken lebten schon oben auf dem Damlajik. Gabriel trug seine türkische Offiziersuniform. Er hatte den Säbel umgeschnallt und die Auszeichnungen angelegt. Als Offizier und Vorgesetzter wollte er die Saptiehs empfangen. Gonzague Maris riet heftig ab:

»Ihre militärische Maskerade dürfte aufreizend wirken. Ich glaube nicht, daß sie Ihnen Vorteile bringen wird.«

Gabriel Bagradian blieb starr:

»Ich bin ottomanischer Offizier. Ich habe mich ordnungsgemäß bei meinem Regiment gemeldet. Niemand hat mich vorläufig degradiert.«

»Das kann Ihnen noch früh genug zustoßen.«

Maris sagte das laut, aber seine Gedanken fügten hinzu: Diesen Armeniern ist nicht zu helfen, denn sie sind und bleiben feierliche Narren.

 

Gegen elf Uhr vormittags brach Iskuhi plötzlich zusammen. Erst war es eine kurze Ohnmacht, dann ein deutlicher Anfall von Schüttelfrost. Sie schleppte sich aus dem Zimmer, wies aber heftig jede Hilfe zurück. Juliette wollte ihr folgen. Howsannah hob abwehrend die Hand:

»Laßt sie doch ... Es ist Zeitun ... Es ist die Furcht ... Sie will sich verstecken ... Wir erleben es zum zweitenmal ...«

Nun bedeckte die junge Pastorin ihr Gesicht, während ihr schwerer Leib von einem Krampfschluchzen schmerzhaft erschüttert wurde.

Dies war ungefähr der Zeitpunkt, zu dem sich eine Abteilung der Saptiehs mit dem Polizeivogt und dem Müdir an der Spitze dem Hause Bagradian näherten. Atemlos meldeten die von Gabriel ausgestellten Wachen die Ankunft des Unheils. Sechs Saptiehs besetzten die Eingänge in der Umfassungsmauer, sechs andre den Garten, acht den Wirtschaftshof. Der Müdir, der Muafin und vier Mann betraten das Haus. Die türkische Truppe machte einen ermüdeten Eindruck. Sie hatte seit vierundzwanzig Stunden in den Dörfern mit Wut gewirtschaftet, das Innere der Häuser geplündert oder zertrümmert, Männer verhaftet und blutig geschlagen, ein wenig Notzucht getrieben und somit das ihnen von der Regierung zugesicherte Festprogramm zum Teile verwirklicht. Zu dieser Stunde war demnach glücklicherweise der erste Tatendurst der Rotte schon gestillt. Das große Haus Awetis Bagradians des Alten mit seinen dicken Mauern, kühlen Gemächern, lärmschluckenden Teppichen und fremdartigen Dingen ringsum übte zweifellos auf die Türken einen roheitsdämpfenden Einfluß aus. Die roten Fenstervorhänge des Selamliks waren herabgelassen, und die Eindringlinge sahen sich im kostbaren Halbdunkel dieses Raumes einer Gesellschaft von europäischen Damen und Herren gegenüber, die von ihren Dienern ehrfürchtig umgeben standen. Steif aufgerichtet warteten die Herrschaften regungslos. Juliette umkrampfte Stephans Hand. Nur Gonzague zündete sich eine Zigarette an. Gabriel Bagradian trat der Kommission einen Schritt entgegen, nach Offiziersvorschrift mit der linken Hand den Säbel raffend. Die Felduniform, die er sich in Beirût vor seiner Abreise hatte anfertigen lassen, hob seine Gestalt. Er war nicht nur der körperlichen Größe nach, sondern in seiner ganzen Erscheinung die ranghöchste Persönlichkeit an diesem Ort. Gonzague schien sich getäuscht zu haben. Bagradians militärisches Auftreten verfehlte die Wirkung nicht. Unsicher musterte der Polizeihauptmann den Offizier mit den Kriegsauszeichnungen. Was hatte das zu bedeuten? Das furchterregende Auge wurde trübe und das verschwollene schloß sich ganz. Auch der sommersprossige Müdir schien sich in seiner Rolle nicht besonders wohl zu fühlen. In den dumpfen Stuben der Holzschnitzer und Seidenweber die unerreichbare Aufsichtsgottheit zu spielen, das war ihm viel leichter gefallen. Hier aber, in dieser kultivierten Umgebung, kamen dem jungen Mann aus Salonik die leidigen Nerven in die Quere. Anstatt als Vertreter Ittihads und des Staates dieses Haus der verfluchten Rasse mit erbarmungslosem Tritt in Besitz zu nehmen, verbeugte er sich und griff an den Fez. Dabei kam die Unterredung, die er in seiner Kanzlei mit Bagradian geführt hatte, ihm unbehaglich zu Bewußtsein. Durch diese moralische Anfälligkeit versäumte er Zeit und fand den richtigen Anfang nicht. Gabriel Bagradian faßte ihn mit solch verächtlichem Ernst ins Auge, daß sich das Spiel zu verkehren drohte und ein hochgewachsen kriegerisches Armenien einem rothaarigen, verdrückten und schlechtrassigen Osmanentum gegenüberstand. Bagradian schien immer größer zu werden, und der Müdir litt unter seiner minderwertigen Gestalt, die das Heldenwesen seines Stammes so ungenügend verkörperte. Es blieb ihm schließlich nichts andres übrig, als ein großes Amtspapier aus der Tasche zu ziehen, sich daran gewissermaßen festzuhalten und seine Sache mit möglichster Schärfe herunterzurasseln:

»Gabriel Bagradian, in Yoghonoluk gebürtig! Sie sind Besitzer dieses Hauses und Familienvorstand. Als ottomanischer Staatsbürger unterstehen Sie den Befehlen und Verordnungen des Kaimakams von Antiochia. Gleich der übrigen Bevölkerung der Nahijeh von Suedja am Musa Dagh werden Sie an einem der nächsten Tage, der noch zu bestimmen ist, nach dem Osten abgehen und Ihre gesamte Familie mit Ihnen. Ein Recht des Einspruchs irgendwelcher Art gegen die allgemeine Maßregel der Verschickung steht Ihnen nicht zu, nicht für Ihre Person, nicht für die Person Ihrer Frau, Ihres Kindes, noch für irgendeinen anderen Angehörigen Ihres Hauses ...«

Der Müdir, der so tat, als lese er die Formel ab, schielte nun über das Blatt hinweg:

»Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß Ihr Name unter den politisch Verdächtigen eigens geführt wird. Sie sind der Daschnakzanpartei nahegestanden. Daher werden Sie auch während des Transportes täglich einer scharfen Kontrolle unterzogen werden. Jeglicher Fluchtversuch, jede Auflehnung gegen die Regierungsbefehle und die ausführenden Organe, jede Übertretung der Transportordnung wird nicht nur Ihren sofortigen Tod, sondern auch die unmittelbare Hinrichtung Ihrer Angehörigen zur Folge haben.«

Gabriel machte ein Zeichen, als wolle er antworten. Der Müdir aber ließ ihn nicht reden. Die verwickelte Amtssprache – so entgegengesetzt der Blumigkeit orientalischer Zunge – schien ihm ein schwelgerisches Vergnügen zu bereiten:

»Laut zusätzlicher Verfügung Seiner Exzellenz, des Wali von Aleppo, ist es den Verschickten nicht gestattet, nach eigenem Ermessen Fuhrwerk, Last- und Reittiere zu verwenden. In berücksichtigungswerten Fällen kann ich die Benützung eines landesüblichen Karrens oder eines Esels für Schwache und Kranke zulassen. Erheben Sie auf diese Vergünstigung Anspruch?«

Gabriel drückte den Säbelkorb fest an die Hüfte. Wie Steine fielen die Worte aus seinem Mund:

»Ich werde den Weg unsres Volkes gehen

Der Müdir hatte indessen sein anfängliches Unbehagen vollständig überwunden. Er konnte schon den Ton wohlwollender Besorgnis in seine Worte legen:

»Damit Sie nicht in die gefährliche Versuchung geraten, sich vorher wegzubegeben oder später abzusondern, belege ich Ihren Wagen, Ihre Pferde und anderen Reittiere sofort mit Beschlag.«

Was weiter geschah, war das Übliche, wenn auch anfangs in gebändigten Formen. Der Polizeivogt, der noch immer nicht wußte, was er mit Uniform, Säbel und Orden dieses Ausrottungsobjektes anzufangen habe, stellte knurrend die Waffenfrage. Gabriel ließ durch Kristaphor und Missak die langläufigen Beduinenflinten hereintragen, die als altertümliche Dekorationen in der Treppenhalle hingen. (Ein abgekartetes Spiel natürlich, da sich sämtliche brauchbaren Gewehre des Hauses bereits auf dem Damlajik befanden.) Hohnlachen zischte aus dem Mund des Polizeihauptmanns wie aus einem überheizten Kessel. Der Müdir beklopfte nachsichtig die romantischen Büchsen:

»Sie werden doch nicht behaupten wollen, Effendi, daß Sie in dieser Einsamkeit hier ohne Waffen leben?«

Gabriel Bagradian suchte den wimperlosen Blick des Müdirs und hielt ihn fest:

»Warum denn nicht? Seitdem dieses Haus steht, seit dem Jahre 1870 also, wird heute zum erstenmal ein Einbruch verübt.«

Der Sommersprossige zuckte bedauernd mit den Achseln, als könne er bei solchem Eigensinn leider nichts mehr für Bagradian tun und sei gezwungen, den schärferen Amtshandlungen der bewaffneten Macht das Feld zu räumen. Haussuchung nach Waffen: Der Muafin krempelte gewissermaßen seine Ärmel auf, obgleich die Offiziersuniform des rechtlosen Armeniers seinen Feldwebelgeist mit unruhig-zornigen Fragen noch immer verwirrte. Das starre rechte Auge kam von den Medaillen auf Bagradians Brust nicht los, die auf eine lobenswürdige Kriegsdienstleistung schließen ließen. Es war ihm ganz und gar nicht erfindlich, wie diese Verschickungsnummer von kaiserlich ottomanischem Gagistenrang zu behandeln sei. Um seine unmutigen Zweifel zu verbergen, führte er die Haussuchung mit großem Gepolter durch. Er stapfte mit den Saptiehs voran, dicht hinter ihnen ging der Müdir wie ein Unbeteiligter, Gabriel, Awakian und Kristaphor folgten. Die Türken krochen in jeden Winkel, klopften die Mauern ab, warfen die Möbel um und zerbrachen alles, was zerbrechlich war. Man merkte ihnen aber an, daß dieser nur nebenbei und wie aus Versehen geübte Vandalismus ihren Stolz beleidigte. Sie waren an ganze und offene Arbeit gewöhnt. Im Keller zerschlugen sie nur im Vorübergehen und ohne rechtes Temperament mit ihren Gewehrkolben die Weinkrüge, die Ölbehälter und was an Flaschen, Töpfen, Schüsseln, Häfen zu finden war. Die wichtigsten Vorrats- und Lebensmittel waren schon an sicherer Stätte. Die enttäuschten Saptiehs hatten in diesem Palast einen reicheren Keller erwartet. Da sich nichts anderes fand, nahmen sie ein paar leere Petroleumkannen mit, denn der Orientale hegt für diese Blechgefäße eine sonderbare Vorliebe. Nachher erstürmte die Kriegsschar, die einen sauren Schweißdunst verströmte, die Treppe zum Oberstock. Hier war es vor allem Juliettens Schlaf- und Ankleidezimmer, dessen Duft die Türken schon von ferne so mächtig anzog, daß sie darüber die anderen Räume vergaßen. Der große Kleiderschrank wurde aufgerissen. Braune Schmutzfäuste rissen die Pariser Modelle vom vorigen Jahr heraus, zartsinnige Blüten von Kleidern, die nun in zerknüllten Bündeln und Schlangen auf dem Boden lagen. Ein besonders düsterer Gendarm trat auf ihnen in stierem Gleichtakt herum, als wolle er diese süßen Reptilien Europas in den Grund stampfen. Nicht anders erging es den Schlafgewändern, Batisthemden, Spitzen und Strümpfen. Beim Anblick dieser Frauenwäsche konnte sich der Polizeivogt nicht beherrschen. Er schöpfte mit beiden Händen aus dem weißen und rosenroten Gischt und wühlte sein Nußknackergesicht hinein. Der Müdir trat zum Zeichen dessen, daß die bürgerliche mit der waffentragenden Macht nichts zu tun habe, träumerisch ans Fenster, um den Garten zu betrachten. Ein überaus eifriger Saptieh hatte sich aufs unberührte Bett geworfen und zerriß, da es nicht anders ging, mit den Zähnen die Seide des Kopfkissens. Vielleicht verbarg sich doch eine Bombe im dicken Innern der Polster. Von armenischen Bomben hörte man ja immer wieder. Ein andrer hieb mit seinem Knüppel über den Toilettentisch. Aufschreiend sprangen die Kristallflaschen, Schalen, Büchsen und Dosen zu Boden, einen stechenden Wohlgeruch verbreitend. Der Knüppel fuhr in den Spiegel, der nach allen Seiten zerspritzte. Gabriel Bagradian sah dieser Entweihung seiner Frau mit geistesabwesender Gleichgültigkeit zu. Arme Juliette! Aber was lag an all diesem Plunder angesichts der nächsten Stunden, Tage, Wochen? Eine tiefere Sorge bedrückte ihn. Er sah Iskuhi, wie sie sich in ihrem Zimmerchen lautlos im Bette versteckt hielt. Sie ging ihn zwar nichts an, war aber doch die Ärmste von allen. Durch diese Bestien zum Krüppel geschlagen, sollte sie jetzt das Ungeheuerliche noch einmal erleben. Bagradian sann, wie er den Muafin und die Saptiehs nur an Iskuhis Tür vorübertäuschen könne.

Und wirklich, der Himmel schien es günstig fügen zu wollen. Iskuhi, die sich in ihrem Bett wie im Grab verkrochen hatte, hörte das Schrittedonnern und Baßgedröhn des gräßlichsten Todes sich näherwälzen. Sie streckte sich steif aus und bedeckte mit der rechten Hand ihren Schoß, während ihr der Atem schwand und das zerfressene Kaleidoskopgesicht sich über sie beugte. Doch der Vergewaltiger beschnupperte sie nur ganz kurz und verging. Draußen brauste das Schrittedonnern und Baßgedröhn vorüber, verzog sich über die Treppe und blieb unten im Erdgeschoß dumpf hängen. Dann wurde es auf einmal ganz still. Waren sie fort? Iskuhi fuhr aus dem Bett. Auf Strümpfen zur Tür! Einen Spalt geöffnet! Christus, Erlöser, sie waren wirklich fort. – Fast fiel sie ins Zimmer zurück, als diese Peitschenschläge sie nun trafen. Die Peitschenschläge waren Stimmen, Männerstimmen. Sie erkannte den Aufschrei Gabriels. Den lahmen Arm festhaltend, damit er ihr nicht hinderlich sei, lief sie zur Treppe. Unten hatte sich folgendes zugetragen:

In der Meinung, daß die Schmach überstanden sei, war Gabriel in der Vorhalle nachdrücklich stehengeblieben. Er richtete sein Wort an den Müdir:

»Sie sehen, es ist Ihnen nichts verweigert worden. – Was noch?«

Der sommersprossige Edelpolitiker aus Salonik hatte seine Pflicht erfüllt. Es war dafür gesorgt, daß der armenische Effendi mitsamt seiner Familie auf keinen Fall mehr entkommen konnte. Der besondere Auftrag des Kaimakams, die Bagradian-Sippe betreffend, lautete dahin, daß dieselbe in der ersten Transportgruppe unter den schärfsten Bedingungen nach Antakje abzugehen habe, wo der Provinzgewaltige höchstselbst sich die Leute nach seinen eigenen Worten »ein bißchen anschauen« wollte. Der Müdir war der Ansicht, daß die Amtshandlung jetzt abzubrechen sei, um so hervorragende Opfer nicht vorzeitig zur Verzweiflung zu treiben. Ein gewisses Vertrauen dieser Opfer in die unerforschlichen Ziele der Regierung war notwendig und ebenso eine bestimmte Steigerung in den Erlebnissen, die man ihnen zudachte. An diesem Tage sollte Milde walten. Der Müdir zögerte noch, weil er über einen effektvollen Abgang nachsann, wobei sich sein Blick mit den zärtlich gepflegten Fingernägeln innig beschäftigte. Leider aber hatte er nicht mit dem Polizeivogt gerechnet. Dieses trübe Hirn konnte und konnte es nicht verdauen, daß der hochmütige Giaur in des Padischah Uniform, mit des Padischah Orden und Säbel sich wichtig machte. Dabei wußte er nicht, wie er die Sache am besten anpacken solle. Auch hatte ihn seine schmähliche Befangenheit noch immer nicht losgelassen. Da ihm also nichts Besseres einfiel, versuchte er sein starres Auge in rollende Bewegung zu setzen. Dann pflanzte er sich, breit und herausfordernd, vor Bagradian hin:

»Wir haben nicht alles gesehen! ... Dort oben! ... An einigen Türen sind wir vorübergegangen ...«

Hätte Gabriel jetzt die Fassung behalten, es wäre vielleicht alles gut abgelaufen. Er aber sprang auf die erste Stufe der Treppe, breitete abwehrend seine Arme aus und schrie:

»Jetzt aber ist es genug!«

Da hatte der Muafin endlich sein Stichwort. Er trat, sichtlich erlöst, auf Bagradian zu und hielt ihm die Faust unter die Nase:

»Was ist genug, Armenierschwein?! Sag es noch einmal? Was ist genug, unreines Schwein!?«

In Bagradians Geist vollzog sich einer von jenen endlosen und höchst komplizierten Augenblicken, aus denen die menschlichen Schicksale geboren werden. Es war ein ganz und gar besonnener Augenblick. Gabriel wußte genau, daß sein Leben, und nicht nur das seine, jetzt auf dem Spiele stand. Nachgeben, dachte er, zurücktreten, den Weg freigeben, bitte, und oben diesem Tier zehn Pfund zustecken ... Während aber seine Vernunft mit solch leidenschaftsloser Klarheit arbeitete, schrie er noch lauter:

»Zurück, Polizist! Ich bin Frontoffizier!!«

Damit war der Muafin ans Ziel seiner Wünsche gelangt:

»Offizier bist du? Nicht einmal ein stinkendes Hundeaas bist du für mich!«

Mit raschem Zugriff packte er die silberne Medaille und riß sie vom Waffenrock des Armeniers. Bagradian behauptete später, er habe nicht an die Waffe gerührt. Tatsache aber war's, daß er im Nu auf dem Boden lag. Der Säbel schmetterte gegen die Wand. Ein Saptieh kniete auf Gabriels Brust und die anderen rissen ihm die Uniform vom Leib. Aus dem Selamlik stürzten die Frauen und Gonzague. Stephans Schreie vermischten sich mit dem kämpfenden Keuchen seines Vaters. Es dauerte keine Minute, und Gabriel lag bis auf seine Stiefel nackt da. Er blutete aus einigen Schrammen. Sein Leben war keinen Para mehr wert. Es wäre wohl verloren gewesen, hätte Gonzague Maris in diesem Augenblick nicht die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. Seine Bewegung war lässig und doch von einschneidender Wirkung. Auch besaß er jene eindrucksvolle Stimmart, die in der Erregung eisige Ruhe gewinnt. Er hatte seine Dokumente hervorgezogen und hielt sie in die Höhe. Mit dieser Geste fing er alle Blicke ab. Der Müdir sah ihn betroffen an. Der Polizeivogt wandte sich ihm zu, und sogar die Saptiehs ließen von Gabriel. Gonzague entfaltete die Schriftstücke mit der überlegenen Würde eines von Ittihad entsandten Geheimagenten, der den Auftrag hat, die Gebarung der Landesbehörden überraschend zu beobachten:

»Hier, Paß der Vereinigten Staaten, vom Generalkonsulat in Stambul vidiert!« Er betonte diese selbstverständlichen Worte mit vernichtender Schärfe, als enthülle sich in ihnen eine diplomatische Geheimsendung von entscheidender Wichtigkeit für die Türkei: »Hier, Teskeré fürs Innere mit eigenhändiger Unterschrift seiner Exzellenz. Sie werden mich verstehen, Effendi.«

Nicht die leere Drohung mit den Pässen rettete Bagradian das Leben, sondern der verzweifelte Trick, die plötzliche Ablenkung. Sie verwirrte den Müdir eine kurze Weile. In den Ausführungsbestimmungen der Deportation wurde mehrfach darauf hingewiesen, daß die Maßregel vor den Augen der verbündeten und neutralen Konsularvertreter aufs dichteste zu verschleiern sei. Im ersten Moment nahm der Müdir tatsächlich an, daß er es mit einem Vertrauensmann der amerikanischen Botschaft zu tun habe. Ein Blick auf den Paß aber überzeugte ihn von der Ungefährlichkeit des Einspruchs. Im übrigen war er sehr zufrieden damit, daß die Einmischung des Fremden Blutvergießen verhindert hatte. Er gab Gonzague mit höhnischer Großartigkeit zurück:

»Was gehen mich Ihre Pässe an? Schauen Sie, daß Sie von hier verschwinden! Sonst lasse ich Sie verhaften.«

Die Verwirrung des Polizeivogts hingegen legte sich nicht so schnell. Auf ihn machte Blut einen weit geringeren Eindruck als Papier. Er hatte während seiner Laufbahn mit Geschriebenem einige üble Erfahrungen gemacht. Man war in dieser Hinsicht der Folgen nie gewiß. Er beschloß also, diesen Bagradian vorläufig leben zu lassen. Auf der Landstraße konnte man die Sache viel einfacher und ohne Zeugen mit amerikanischen Pässen erledigen. Der Muafin steckte daher seinen Dienstrevolver, den er schon entsichert hatte, wieder in die Pistolentasche, betrachtete noch einmal mit seinem großen und seinem kleinen Auge den nackten Offizier, spuckte in weitem Bogen aus und gab seinen Saptiehs den kurzen Befehl:

»Und jetzt holt die Pferde und Esel!«

Der Müdir war um seinen effektvollen Abgang gekommen. Er mußte sich damit begnügen, ohne ein nachhaltiges Echo seiner Persönlichkeit zu hinterlassen, der bewaffneten Macht gedankenvoll und unbeteiligt nachzuschlendern.

Schweratmend hatte sich Gabriel erhoben. Eine einzige Scham hämmerte unablässig in seinem Bewußtsein. Juliette hatte dieses Scheußliche erleben müssen, sie und Stephan. Seine Augen suchten die Frau, die in völliger Erstarrung ihr Gesicht abgewandt hielt. Gabriel schwankte, faßte sich wieder. In seinem Rücken spürte er einen Schauer: Iskuhi. Dann begannen die Wunden zu brennen. Es waren aber nur Hautrisse, nicht der Rede wert. Unhörbar auf Strümpfen kam Iskuhi die Treppe hinab, ganz nahe. Ihre flehenden Augen suchten Samuel Awakian. Der Student brachte einen Mantel und bedeckte Gabriels schweißbedeckten Körper.

 

Eine günstige Wendung! Der Müdir, der Polizeihauptmann und der größte Teil der Saptiehs verließen noch am selben Tage die Dörfer, um in Suedja und El Eskel bei den dortigen Armeniern amtszuwalten. Es gehörte zu den wohldurchdachten Feinheiten der türkischen Austreibungstaktik, daß sie nicht etwa Tag und Stunde des Abmarschbefehles vorzeitig bekanntgab. Da es sich eingestandenermaßen um einen Staatsakt der Vorsicht und uneingestandenermaßen um eine Vergeltungsstrafe handelte, durfte im doppelten Hinblick »das überraschende Moment« nicht vernachlässigt werden, das ja der Vergeltung eine besondere Würze verlieh. Dennoch hatte Pastor Harutiun Nokhudian es durch kostspielige Bestechungen herausgebracht, daß als Datum für die ersten Transporte der einunddreißigste Juli angesetzt war. Bis dahin würden hundert neue Saptiehs zu den alten stoßen. Der einunddreißigste Juli fiel auf einen Samstag. Den heutigen Donnerstag mit eingerechnet, blieben nur noch zwei Tage. Der Führerrat bestimmte die Nacht des Freitags auf den Samstag zum Auszug des Volkes auf den Damlajik. Das hatte seine guten Gründe. Am Freitag, dem mohammedanischen Ruhetag nämlich, stand es erfahrungsgemäß zu erwarten, daß die in den christlichen Dörfern liegenden Saptiehs diese verlassen und die türkisch-arabischen Ortschaften der Ebene aufsuchen würden, wo es Moscheen gab, Verwandte, Weiber und Lustbarkeit. Mit den Saptiehs aber verschwand dann auch der plünderungsgierige Janhagel für diesen Tag, weil die sauberen Gäste nicht mit Unrecht annehmen durften, daß die Armeniersöhne trotz ihrer Waffenlosigkeit sie mit Sensen, Äxten und Hämmern aufs schnellste und gründlichste verschicken würden. – Die Zeitwahl war demnach durch die Gunst der Umstände genau vorgeschrieben. Der Führerrat rechnete mit folgender Entwicklung: Die rückkehrenden und neueintreffenden Saptiehs werden am Morgen des Samstags anstatt des ganzen Volkes nur mehr Pastor Nokhudian mit seinen fünfhundert Protestanten in Bitias vorfinden. Dieser – die Kriegslist stammte von Gabriel Bagradian – wird dem Müdir lang und breit erklären, daß die verschiedenen Gemeinden sich trotz seiner Bitten und Beschwörungen in der letzten Nacht aufgemacht und freiwillig in die Verbannung begeben hätten. Der Grund sei die Angst vor den Saptiehs und insonderheit vor dem Polizeihauptmann. Die Wege wisse er nicht genau anzugeben, denn die Leute seien in kleineren Gruppen und in allen möglichen Richtungen davongezogen, ein Teil gegen Arsus und Alexandrette, ein Teil in südlicher Richtung, alle aber mit der Absicht, bewohnte Orte zu vermeiden. Die wichtigste Gruppe wolle sich freilich bis nach Aleppo durchschlagen, um in der großen Stadt Schutz zu finden. Pastor Nokhudian, den viele wegen seines sanften Wesens und seiner christlichen Gehorsams-Entscheidung für einen mattherzigen Feigling gehalten hatten, entpuppte sich nun als aufrechte Seele. Das Täuschungsmanöver, das er auf sich nahm, bedeutete für ihn unmittelbare Todesgefahr. In der Minute, da die Türken diese Kriegslist erkannten, konnte er mit dem Leben abschließen. Der Pastor zuckte die Achseln: Was war keine Todesgefahr? Die Kämpfer auf dem Berge mußten Zeit gewinnen. Die Finte schob die Entdeckung um mehrere Tage hinaus und schuf eine hinreichende Frist, die Verteidigungswerke auszubauen.

Der Führerrat tagte bei Ter Haigasun im Pfarrhaus. Das Gesicht des Priesters war von dem Knutenhieb sehr entstellt, das rechte Auge und die Backe noch immer geschwollen; bis zur halben Stirn hinauf zog sich ein violett verfärbter Fleck. Ter Haigasun hatte zwei Backenzähne verloren und man sah ihm an, daß er starke Schmerzen litt. Gabriels Rißwunden hingegen machten sich unter den Pflastern Altounis kaum mehr bemerkbar. Die körperliche Mißhandlung – die erste in seinem gehobenen und behüteten Dasein, ein Erlebnis von ungeahnter Wucht – hatte ihn den anderen noch näher geführt, diese aber ihrerseits auch näher zu ihm.

Im Verlauf der Ratsitzung beschäftigten sich die Führer mit einem besorgniserregenden Übelstand, dem vorzubeugen es leider schon zu spät war. Die Dorfbewohner pflegten sonst in friedlichen Jahren während des Julimonats nach der Getreideernte ihren Bedarf an Brotfrucht bei den türkischen oder arabischen Bauern zu decken, da sie ja selbst fast gar keinen Ackerbau trieben. In diesem Jahre hatten sie, durch das Drohende völlig betäubt, den Einkauf der notwendigen Wintervorräte verabsäumt. Diese Versäumnis rächte sich nun. Man besaß in den Dörfern Mehl, Kartoffeln und Mais nur in sehr bescheidenen Mengen. Wollte man damit eine längere Zeit auskommen, war die größte Sparsamkeit vonnöten. Da der Armenier aber sehr viel Brot und sehr wenig Fleisch zu essen gewohnt ist, entstand aus diesem Mangel für die Führung eine bedenkliche Frage. Dazu kam noch, daß in den ersten Tagen des Damlajik keine Möglichkeit bestand, Brot zu backen, weil die Backtröge erst in die Erde gemauert werden mußten. Pastor Aram Tomasian traf deshalb die Verfügung, daß bis Freitag abends jede Stunde ausgenützt und alle Tonirs der Dörfer unter Feuer gehalten werden sollten, damit soviel Wecken- und Fladenbrot wie nur möglich beförderungsbereit sei. – Am Ende der Tagung kündigte Ter Haigasun für den morgigen Freitag einen feierlichen Bittgottesdienst an. Nach Abschluß der Messe sollten die beiden Glocken aus der Turmstube niedergeholt, in großer Prozession zum Friedhof gebracht und dort bestattet werden. Das Volk werde dann von den Gräbern der Väter betenden Abschied nehmen. Ter Haigasun erklärte ferner, daß er mehrere Tragbutten mit geheiligter Totenerde auf den Damlajik mitzunehmen gedenke. Diejenigen, die dort oben im Kampf oder im Lager stürben, würden dann nicht ganz verlassen in der herzlosen Wildnis liegen, sondern ein Häuflein altgeweiht-ewiger Erde unter den Kopf mitbekommen.

Am Freitagmorgen hatten sich die Saptiehs tatsächlich bis zum letzten Mann auf das mohammedanische Land verflüchtigt. Müdir und Muafin waren nach Antakje heimgeritten. Die Kirche zu den wachsenden Engelmächten aber war lange schon vor der festgesetzten Stunde so überfüllt wie noch nie seit dem Tage ihrer Einweihung. Der Vorraum und das große Viereck, über dem sich die Mittelkuppel erhob, die beiden Seitennischen und selbst die Bühne des Hochaltars konnten die Menschenfülle kaum fassen. Da die Kirche nach uralter Sitte keine Fenster besaß, drangen scharfe bernsteinfarbene Schwerter des Sonnenlichtes durch schießschartenförmige Mauerschlitze, die dem Auge der Dreieinigkeit glichen. Die sich kreuzenden Sonnenklingen erleuchteten aber den Raum nicht, ja sie nahmen den Kerzen alles Licht und warfen über die Menschenmenge ein Netzwerk von seltsamen Schattenschlägen. Es waren heute nicht nur viele Hunderte von Frommen aus den kleineren Orten zum Bittgottesdienst nach Yoghonoluk gekommen, sondern auch die Priester und Kirchensänger allesamt, um bei diesem letzten Hochamt auf »festem Boden« feierlich mitzuwirken. Noch niemals hatte der Chor so volltönend leise den Hymnus gerauscht, der am Fuße des Altars den Ankleidungsritus des Priesters in der Sakristei verkündet:

»Tiefes Geheimnis, unbegreiflich anfangloses!
Du schmücktest die oberen Reiche als Vorhand des unnahbaren Lichts.
Du schmücktest mit ruhmreicher Herrlichkeit
Die Heere der Feuerwesen.«

Niemals noch hatte Ter Haigasun tiefer gebeugt und fröstelnder das große Sündenbekenntnis vor dem Volke abgelegt. Unter seiner goldenen Krone glühte der Schandfleck des Peitschenhiebs. Und niemals noch hatte das Geheimnis des Friedenskusses, die Vereinigung der Gemeinde in Christo die Seelen der Gläubigen heiliger verbunden. Wenn sonst nach dem Aufopferungsgebet der Diakon bei den Worten »Grüßet einander mit dem heiligen Kusse« dem Obersänger (Lehrer Asajan) das Weihrauchfäßchen an die Lippen hielt, wenn dieser den nächsten Sänger küßte und die Umarmung sich vom Chor unter die Gemeinde fortpflanzte, dann war es zumeist in flüchtigen Berührungen nur eine schlaffe Förmlichkeit gewesen. Heute aber drückte einer den andern fest an die Brust und küßte ihn wirklich auf Wange und Mund. Viele weinten dabei. Als aber nach der Kommunion die assistierenden Priester auf einen Wink Ter Haigasuns mit der Abräumung des Altars begannen, da warf ein wilder, unerwarteter Schmerz die ganze Gemeinde auf die Knie. Ein fassungsloses Jammern, Stöhnen, Klagen stieg über das huschende Schattenwerk, über die gekreuzten Erzengelschwerter der Sonne in die verschwebende Kuppel auf. Jedes einzelne der heiligen Geräte wurde hoch emporgehalten, ehe es in einem strohgeflochtenen Korb verschwand, Kelch, Patene, Ziborium und das große Evangelienbuch. Die Weihrauchgefäße, die silbernen Leuchter und Kruzifixe bettete der Sakristan in einen anderen Koffer. Zuletzt lag nur mehr die weiße Spitzendecke auf dem Altar. Ter Haigasun bekreuzigte sich ein letztes Mal, ließ seine Hände, deren Farbe den gelblichen Kirchenkerzen glich, unentschlossen eine Zeitlang über der Decke schweben, um diese dann mit einem plötzlichen Ruck abzuheben. Nackt starrte der Steintisch, den man einst aus dem grauen Kalkfelsen des Musa Dagh gebrochen hatte. In derselben Minute ließen die Bauarbeiter Vater Tomasians an Flaschenzügen die große und die kleine Glocke aus dem Seitenturm herab. Mühsam hoben sie dann das schwere Metall auf je eine Totenbahre, deren jede acht Männer zu Trägern hatte.

Die Prozession eröffneten Ministranten mit dem hohen Stangenkreuz. Dann kamen die schwankenden Totenbahren mit den Glocken. Hinter ihnen schritten Ter Haigasun und die Priesterschaft. Es dauerte übermäßig lange, ehe der Trauerzug den Kirchhof von Yoghonoluk erreichte. Dieses Totengefolge schien wirklich ehrwürdige Leichen zum Grabe zu geleiten. Betäubende Hitze herrschte. Selten nur überkletterte ein Hauch vom Mittelmeer den Musa Dagh, um sich des syrischen Sommers zu erbarmen. An der Spitze der Prozession bildete ein laufender Staubwirbel den gespenstischen Vortänzer, eine beklagenswert dürftige Abart jener erhabenen Rauchsäule, die den Kindern Israel in der Wüste vorangezogen war. Der Friedhof lag weitab auf dem Wege nach Habibli-Holzdorf. Wie die meisten Totenorte im Orient erstreckte er sich auf einer geneigten Hügellehne und war von keiner Mauer umgeben. Dies sowie die gestürzten oder schief im Boden versunkenen Grabplatten, in deren verwitterten Kalkstein Kreuz und Schrift roh gemeißelt waren, gaben ihm beinahe das Ansehen einer türkischen oder jüdischen Begräbnisstätte Kleinasiens. Als der Zug anlangte, flatterte es da und dort von den Grabgehäusen und Platten fledermausgrau auf. Es waren alte Weiber in zerzundernden Gewändern, die nur mehr durch die Substanzen von Staub und Schmutz zusammengehalten wurden. Greisinnen zieht es überall an solche Stätten. Auch im Westen kennt man diese ausdauernden Stammgäste des Todes, diese Beiwohnerinnen und Wächterinnen der Verwesung, die oft nur im Nebenamte betteln. Hier freilich in Yoghonoluk war's eine im Gräberschutt nistende, jedoch geschlossene Berufsklasse von Begräbnisfrauen, Klageweibern und Geburtshelferinnen, die nach dem sozialen Brauchtum der Dörfer am Rande der Volksgemeinschaft leben mußten. Ein paar blinde Bettelgreise mit biblischen Prophetenköpfen gehörten dazu sowie einige Krüppel, phantastisch mißgestalt, wie nur der Orient sie hervorbringt. Die Bevölkerung schützte sich vor ihrem eigenen Rassenabhub dadurch, daß sie ihn, in Ermangelung anderer Anstalten, an diesen Ort verbannte, der zugleich ein heiliger und unreiner Ort war. So kam es auch, daß kein Mensch zusammenschrak, als zwei wahnsinnige Frauen mit herzzerreißenden Kreischtönen den Friedhofshügel hinanflohen, um sich zu verstecken. War demnach der Kirchhof und seine Umgebung das Spittel-, Pfründner- und Irrenhaus von Yoghonoluk, so bedeutete er auch noch etwas anderes, den Verbannungsort der Magie. Die Fackel der Aufklärung in den Händen der Altouni, Krikor, Schatakhian und ihrer Vorgänger hatte die Zauberei aus den Dorfgrenzen vertrieben, aber nicht völlig vernichtet. Die Klageweiber unter der Führung von Nunik, Wartuk, Manuschak waren dem Hasse des Arztes bis hierher gewichen, aber nicht weiter. Hier warteten sie ihrer Aufträge, die sie nicht nur zur Bewachung und Waschung der Toten riefen, sondern weit öfter noch zu verstockten Kranken und Kindesmüttern, die der wissenschaftlichen Heilkunde Altounis weniger vertrauten als den Kräutertränken, Beschwörungssprüchen und Gesundbetungen Nuniks, Wartuks, Manuschaks. Die Sache der Wissenschaft stand in diesem alten Kampf nicht immer zum besten, das ließ sich nicht verkennen, hatte doch der Aberglaube ihr gegenüber, was die Menge der Heilmittel und Heilweisen anbelangt, einen unberechenbaren Vorsprung. Auch lag es im schartigen Wesen des Arztes, war er mit seinem Latein zu Ende, keinen trostreichen Schwulst von sich zu geben. Ein Wesen wie Nunik hingegen konnte gar nicht ans Ende ihrer Kenntnisse gelangen und beugte sich niemals vor dem Tode. Starb ihr ein bäuerlicher Patient, so hatte er es sich selbst zuzuschreiben, weil er in einer schwachen Stunde Bedros Altouni gerufen und damit alle Bemühungen zunichte gemacht hatte. Für ihre Kunst war Nunik ein lebendiges Sinnbild. Es ging unter den Dorffrauen die Sage, daß sie zu Zeiten Awetis Bagradians, des Alten, ebenso siebzigjährig gewesen sei wie heute. Die Männer der Aufklärung hatten die Beschwörerinnen und Kurhexen verfolgt und aus dem Umkreis der Lebenden verjagt. Das hinderte diese aber nicht, außer ihrer offiziellen Klagetätigkeit, die Wohnstätte der Toten bei Nacht zu verlassen und ihren heimlichen Geschäften in allen sieben Dörfern nachzugehen. Zur Stunde jedoch waren sie alle auf dem Friedhof versammelt, um unter den Blinden und Bresthaften ihr Teil an Almosen entgegenzunehmen. Als sich der Trauerzug mit den Glocken dem Totenorte näherte, hatte sich Sato davongemacht und war vorausgelaufen. Sie besaß unter dem Gräbervolk schon längst ihre Freunde. Die am Rande wohnten, lockten die Randseele. Unter ihnen war es ja so leicht. Und im Hause Bagradian war es ja so schwer. Mochte das geschenkte Kleidchen der großen Hanum auch Satos eitlen Stolz entfachen, in Wirklichkeit würgte es sie doch samt Schuhen und Strümpfen und reinlicher Kammer wie ein Dressierhalsband. Mit den Bettlern und Klageweibern und mit den Wahnsinnigen konnte Sato in einer entfesselten Sprache Worte wechseln, die es nicht gab. Ah, die Sprache der Großen abstreifen wie einen drückenden Schuh, mit nackten Füßen reden dürfen, welch ein Glück! Nunik, Wartuk, Manuschak aber wußten von Geheimnissen zu erzählen, die Satos Sinn mit verwandten Schauern erfüllten, als hätte sie dergleichen selbst aus ihrem Ahnenleben mit in diese Welt gebracht. Da konnte sie stillsitzen und stundenlang zuhören, während die blinden Bettler neben ihr mit aufmerksamen Fühlfingern ihren mageren Kinderleib abtasteten. Wäre Iskuhi nicht gewesen, vielleicht hätte Sato die anderen auf den Damlajik ziehen lassen, um bei dem Friedhofsvolk und in der Freiheit zu hausen. Die Glücklichen durften nicht mit ins enge Berglager. Der Führerrat hatte mit allen Stimmen gegen die von Gabriel Bagradian diesen Beschluß gefaßt. Letzterer wollte keinen Teil des Volkes ausgeschlossen wissen, obgleich er, als Oberbefehlshaber, am klarsten einsah, daß jeder überflüssige Fresser die Kampfkraft schwächte. Die Betroffenen schienen aber wegen des Ausschlusses weder unglücklich zu sein, noch auch die Türken besonders zu fürchten. Sie streckten den Volksgenossen ihre Hände und Gebrechen mit denselben Bettellitaneien entgegen wie immer.

Der Himmel war so brennend nackt, daß auch nur die Vorstellung einer Wolkenflocke der Fabelei eines Märchenerzählers geglichen hätte. Dieses unerbittliche Blau schien schon seit den Zeiten der Sintflut keinen Regen mehr gekannt zu haben. Die Menschen drängten sich um das offene Grab, von den Glocken Yoghonoluks Abschied zu nehmen. In friedlichen Tagen hatte kaum einer mehr des gewohnten Läutens geachtet. Jetzt aber war es wie das Verstummen ihres eigenen Lebens. Als die Glockenmutter und die Glockentochter versanken, hörte man keinen Atemzug. Der erstickte Kupferton, den die herabrollenden Erdschollen verursachten, weissagte dem Volk, daß es keine Heimkehr mehr gab und keine Auferstehung für die Bestatteten. Nach einem kurzen Gebet Ter Haigasuns zerstreute sich die Menge schweigsam über den großen Kirchhof, und die einzelnen Familien suchten die Grabstätten ihrer Anverwandten auf. Auch Gabriel und Stephan traten in das Mausoleum der Bagradians ein. Es war ein kleiner niedriger Kuppelbau, einer Türbe ähnelnd, in der die Türken ihre Heiligen und Würdenträger beizusetzen pflegen. Großvater Awetis hatte den Gruftbau für sich und sein Weib errichten lassen. Der Stifter des Glanzes lag, nach altarmenischer Sitte, ohne Sarg, nur in sein Totenhemd gehüllt, unter den Steinplatten, die wie betende Hände schief zueinandergeneigt waren. Außer ihm und der Ahne ruhte nur noch ein Dritter hier, Bruder Awetis, der Getreue Yoghonoluks, ein junger Toter noch. Mehr Platz gibt es auch nicht, dachte Gabriel, dem nicht feierlich, sondern merkwürdig spöttisch zumute war. Stephan aber trat gelangweilt von einem Fuß auf den andern, wie einer, der noch mehrere Ewigkeiten weit vom Tode entfernt ist.

Ter Haigasun stand, von einer kleinen Schar umgeben, auf der Höhe der Hügellehne, dort, wo das Totenland seine letzten Zungen vortrieb. Einige Männer hatten ein großes massengrabartiges Viereck ausgeschaufelt. Mit der aufgehäuften Erde wurden fünf Tragbutten angefüllt. Ter Haigasun ging nach vollbrachtem Werk von einer zur anderen und schlug das Kreuz über sie. Bei der letzten blieb er stehen und beugte sich hinab. Es war keine schwarze, sondern bröcklig arme Erde. Ter Haigasun griff in die Butte und führte eine Handvoll der geweihten Erde an sein Gesicht, wie ein Bauer, der den Humus prüft:

»Möge sie genug sein!« sagte er zu sich selbst. Dann aber blickte er mit erstaunter Versonnenheit den Kirchhof hinab, der schon fast menschenleer war. Die Bewohner der Dörfer hatten sich längst auf den Heimweg gemacht. Es ging auf den Mittag zu. In den größeren Ortschaften, wie Habibli und Bitias, waren ähnliche Feiern angekündigt. Für den großen Aufbruch aber hatte der Führerrat die Stunde nach Sonnenuntergang bestimmt.

Gabriel sorgte für Juliette in der zartesten Weise vor. Sie sollte, in den armenischen Abgrund gezogen, von ihrer Welt so wenig vermissen, wie es unter solchen Umständen möglich war. Diese ihre europäische Welt beschäftigte sich freilich zur selben Zeit mit einem Gemetzel, dagegen alles Ähnliche als stümperhafte Zufälligkeit anmutete, wurde es doch mit allem Komfort der Neuzeit, nach den letzten Ergebnissen des Wissensfortschrittes, nicht mit dem harmlosen Blutdurst der Leidenschaftsbestie, sondern der mathematischen Gründlichkeit der Intelligenzbestie exakt durchgeführt. Lebten wir jetzt in Paris – hätte sich Gabriel Bagradian zum Beispiel sagen können –, so müßten wir uns zwar nicht auf dem steinicht nackten Boden eines syrischen Berges einrichten, wir besäßen WC und Badezimmer, wären aber trotzdem täglich und nächtlich mehrmals gezwungen, uns in einen finsteren Keller vor schweren Fliegerbomben zu verkriechen. Auch in Paris könnte ich somit die Lebensgefahr von Stephan und Juliette nicht abwenden. – Dies alles aber sagte sich Gabriel schon deshalb nicht, weil er seit Monaten keine europäische Zeitung gelesen hatte und von Paris und vom Kriege so gut wie nichts wußte.

Bereits am vorigen Abend hatte er Awakian und Kristaphor mit all seinen Leuten auf den Damlajik geschickt, damit sie in Juliettens neuer Wohnstätte alles Erdenkliche mit größter Umsicht vorbereiteten. Für den Dreizeltplatz mußte eine eigene Küche und Waschküche sowie noch andre Notwendigkeiten errichtet werden. Gabriel bestimmte, daß Juliette über alle drei Zelte zu verfügen habe. Es blieb ihr allein die Wahl derer vorbehalten, die sie in ihre Wohnung aufzunehmen für gut befand. Unter großen Mühen wurden nicht nur Teppiche, Kohlenbecken, Diwans, Tische und Stühle auf den Damlajik geschleppt, sondern auch eine erstaunliche Menge mondäner Gepäckstücke, Schrankkoffer, funkelnde Ledertaschen, Kassetten für Geschirr und Tafelbesteck, eine ganze Sammlung von Toilette- und Arzneimitteln, von Wärm- und Thermosflaschen. Gabriel wünschte, daß der Anblick dieser abendländischen Gegenstände Julietten die Kraft gebe, ihr Los zu ertragen. Sie sollte wie eine Fürstin leben, die aus einer abenteuerlichen Neigung mit einem großen Troß unwirtliche Gegenden bereist. Gerade deshalb aber mußte Gabriels eigenes Leben vor den Augen des Volkes doppelt hart und dürftig sein. Er war fest entschlossen, weder in einem der Zelte zu schlafen, noch auch sich aus der Küche des Dreizeltplatzes zu verköstigen.

Vom Kirchhof heimgekehrt, traten die Leute von Yoghonoluk nochmals in ihre Häuser, die nicht mehr die ihren waren. Auf jeden einzelnen warteten verschnürte Riesenlasten, die seine Kräfte überstiegen. In dumpfer Unentschiedenheit gingen sie, den Abend erwartend, in ihren Stuben hin und her. Da lag noch eine verstoßene Matte, da stand noch ein Leuchter, und hier, Christus Erlöser, das Bett, die teure Bettstelle, zusammengespart in fleißigen Jahren, damit man ein besserer Mensch sei und diese Ehe- und Familienfestung besitze. Und dieses Bett mußte an Ort und Stelle zurückbleiben, dem türkisch-arabischen Dorfgesindel zum Raub. Die Stunden zogen langsam. Und während der endlosen Zeit wurde immer wieder aus- und umgepackt, damit dies oder jenes überflüssige Unding noch Platz in den Bündeln finde. Auch in der baufälligsten Lehmhöhle spielte sich dieser herzzerreißende Abschied vom Gerümpel ab, das der Mensch in seinen Traum und seine Liebe hüllt.

Wie alle anderen wanderte auch Gabriel Bagradian am späten Nachmittag durch die Räume seines Hauses. Sie waren tot und leer. Juliette hatte mit ihren Hausgenossen und Gonzague Maris den Weg auf den Berg schon vor Stunden angetreten. Da es ein unerträglich heißer Tag war, sehnte sie sich nach dem Schattenhauch der Bergeshöhe. Auch wollte sie nicht in das Gedränge der aufbrechenden Dorfbewohner geraten. Gabriel, der sonst das flüchtigst bewohnte Hotelzimmer mit einem leicht sentimentalen Bedauern verließ (denn überall läßt man sich selbst zurück wie einen geliebten Toten), blieb völlig gleichgültig und kalt. Das Haus seiner Väter, die Stätte der Kindheitserlebnisse, der Wohnort dieser letzten entscheidenden Monate sprach nicht zu ihm. Er wunderte sich über seine Gefühlsstumpfheit, aber es war so. Das einzige, worum es ihm ein wenig leid tat, waren seine Antiken, die Sammlerfreude der ersten glücklichen Wochen in Yoghonoluk. Immer wieder ging er von Apoll und Artemis zu dem schönen Mithras, die Götterköpfe mit weicher Hand berührend. Dann aber wandte er sich mit einem scharfen Ruck zur Tür des Selamliks und gab das Haus samt seinen Penaten auf, für immer. Er wollte nichts mehr sehen, sog all seine Sinne ein und trat aus dem Tor.

Auf dem Wirtschaftshof linker Hand vom Hause spielte sich gerade eine ungewöhnliche Szene ab. Der Abschaum Yoghonoluks, der ins Berglager nicht mitziehen durfte, hatte sich hier zusammengerottet. Die Klageweiber, die prophetenhäuptigen Bettler und ein paar verwahrloste Rotznasen, die ihren Eltern durchgegangen waren, bildeten eine erregte Gruppe. Daß sich Sato, die Waise von Zeitun, unter ihnen befand, ist selbstverständlich. Die kleine Gruppe wurde von einer Persönlichkeit überragt, deren eindrucksvoller Macht sich auch Gabriel nicht entziehen konnte. Nunik, die Alte, war's, die Oberste der Heilkünstlerinnen und Beschwörungsfrauen. Das dunkle Gesicht dieses weiblichen Ahasver, dessen Anfänge sich im Grau der Vorzeit verloren, war nicht nur durch eine halbzerfressene Nase gekennzeichnet, sondern auch durch schreckliche Energie, die Nunik zur unwiderstehlichen Herrscherin ihrer Kaste erhob. Die Geschichte mit ihren hundert und mehr Jahren mochte ein platter Schwindel sein, für den sie aus Geschäftsgründen selbst sorgte, dennoch aber schien ihre zeitlose Greisengestalt für den Wert ihrer Kuren und die Heilsamkeit eines entbehrungsvollen Lebens unverwüstlich zu zeugen. Nunik hielt ein kleines schwarzes Lamm zwischen ihren stockdürren Schenkeln und schnitt dem Tier, das sich wohl verlaufen hatte, von unten her mit einem Messer die Kehle durch. Es schien ein besonderer fachgerechter Schnitt zu sein, den sie mit ruhiger Hand führte, während ihre Lippen ein blendend unversehrtes Jugendgebiß unter der greulichen Lupusnase freiließen. Dadurch entstand ein Ausdruck grinsenden Wohlbehagens, der Bagradian so empörte, daß er die Gesellschaft anfuhr:

»Was tut ihr da, ihr niederträchtigen Diebe?«

Einer der Propheten tastete sich vor, um Gabriel voll großer Würde zu belehren:

»Es ist die Blutprobe, Effendi, und sie geschieht für euch.«

Bagradian war nahe daran, sich auf das Gesindel zu stürzen:

»Wem habt ihr das Tier gestohlen? Wißt ihr nicht, daß jeder, der sich am Gut des Volkes vergreift, erschossen oder aufgehängt wird?«

Der Prophet überhörte mit hoheitsvoller Nachsicht diese kränkende Drohung:

»Gib lieber acht, Effendi, wohin das Blut fließen wird, ob zum Berg, ob zum Haus.«

Gabriel Bagradian sah, wie das schwarze Blut des Lämmchens, das pulsend hervorstürzte, sich auf der völlig ebenen Bodenstelle zu einer dicken Pfütze sammelte, die kreisförmig so lange wuchs, bis die letzten großen Tropfen niederfielen. Dann verblieb die Lache bewegungslos, ja unentschlossen, als müsse sie erst eine geheimnisvolle Weisung abwarten. Nun wagten sich zaghaft drei kleine Zungen vor, die aber sogleich wie zurückgerufen erstarrten, bis plötzlich ein nervöses Rinnsal sich eilig schlängelnd auf das Haus zu bewegte. Der Haufen geriet in wilde Erregung:

»Koh jem! Das Blut geht zum Haus!«

Nunik beugte sich tief über die Lache, als könne sie aus Art und Zeitmaß der Blutbewegung mit größter Genauigkeit das Wissenswerte erfahren. Als sie den Kopf wieder hob, erkannte Gabriel, daß ihr entstelltes Gesicht keinen andern Ausdruck besaß als jenen grinsenden, der ihn empört hatte. Sonderbarerweise aber sprach sie mit einer weichen Altstimme, die gar nicht zu ihr gehörte:

»Das Volk des Berges wird gerettet werden, Effendi.«

Im selben Augenblick fielen Bagradian die beiden Münzen ein, die er vom Agha Rifaat Bereket zum Geschenk erhalten und im Hause zurückgelassen hatte. Ich muß sie unbedingt mitnehmen, dachte er, es wäre schade darum. Er ging noch einmal in die Villa zurück, zögerte an der Tür – man soll vor Antritt einer Reise nicht wieder zurückkehren –, lief dann mit langen Schritten über die Treppe in sein Schlafzimmer und holte die goldene und die silberne Münze aus ihrer Kassette. Er hielt die goldene gegen das Licht. In erhabener Arbeit hob sich der Armenierkopf Aschot Bagratunis ab. Auf der silbernen zog die griechische Inschrift fast unentzifferbar ohne Worteinschnitte ihren Kreis:

»Dem Unerklärlichen in uns und über uns.«

Gabriel steckte beide Münzen in die Tasche. Dann verließ er den Garten durch die westliche Tür der Umfassungsmauer, ohne sich nach der Villa umzusehen. Nach einigen Schritten blieb er stehen und zog seine Uhr auf, die eigensinnigerweise noch immer europäische Zeit zeigte. Die Sonne stand bereits über dem Damlajik. Gabriel Bagradian merkte sich genau die Stunde und Minute, in der das neue Leben begann.

Kurz nach Sonnenuntergang war das Volk der sieben Dörfer sippen- und familienweise aufgebrochen, um schwerbeladen auf den verschiedenen, jeweils nächstgelegenen Zuwegen den Berg emporzustreben. Obgleich die Bewohner dieses Tales nicht arm waren, so besaß doch nur der kleinere Teil der Familien einen eigenen Reit- oder Packesel. Oft hielten zwei Familien ein Tier gemeinsam. An Markttagen in Suedja oder Antakje erboten sich die Besitzer eines Packesels, auch die Ware der ärmeren Landsleute aufzuladen. Es war ein alter Brauch, daß einer dem andern in diesen Dingen aushalf. Einsam und abgesondert am Rande des Meers, am Rande des Islams lebend, leichtwiegende Artikel wie Seidengespinst, Holzschnitzerei und Honig ausführend, bedurften die Menschen des Musa Dagh keiner reicheren Verkehrsmittel. Die wenigen Ochsenkarren und die vorhandenen Saumtiere genügten ihnen. So kam es denn, daß in dieser Nacht die Tragesel ihren Herren nur einen geringen Teil der Lasten abnehmen konnten, hatte man doch der armen Gemeinde Pastor Nokhudians aus Brüderlichkeit hundertfünfzig der stärksten Tiere mit Sattel und Kraxen zur Verfügung gestellt. Gabriel Bagradian, der sich auf einer Böschung des Karrenweges, der zum Nordsattel emporführt, niedergelassen hatte, ließ die keuchenden, schwergebeugten Gruppen an sich vorüberziehen. Er nahm, von kurzen Schlummeranfällen manchmal hin und her geworfen, die Parade des Elends ab.

Ein festgeballter, unglaublich metallischer Mond stieg hinter den blaßgrauen Felsschroffen des Amanus im Nordosten auf. Er kam deutlich näher, er klebte nicht flächig am Himmelsgewölbe. Hinter ihm wurde die schwarze Raumferne immer deutlicher. Auch die Erde war für Gabriel nicht mehr der gewohnte starre Aufenthaltsort, sondern das kleine Fahrzeug im Kosmos, das sie wirklich ist. Dieser klare Kosmos dehnte sich nicht nur hinter dem plastischen Mond, sondern drang bis ins Tal herab und füllte kühl die Poren des Ruhenden. Schon hatte der Mond die Mitte des Himmels überschritten und immer noch zogen die keuchenden Sippen an Gabriel vorbei. Es war stets dasselbe Bild: an der Spitze, finster den Stock vor sich einstoßend, der Familienvater mit seinem Pack. Ein barscher Zuruf, eine klagende Antwort! Die Frauen schwankten unter Lasten, die ihre Rücken fast bis zur Erde beugten. Dabei mußten sie noch immer darauf achten, daß sich die Ziegen nicht verliefen. Und doch dann und wann unter Sack und Pack ein muntrer Augenblitz, ein flinkes Mädchengelächter. Gabriel schrak aus einem kleinen Schlummer auf. Ein großes Kinderweinen war unten im Orte aufgegangen. Hunderte von Kindern greinten, als hätten sie in derselben Sekunde allesamt den Auszug ihrer Eltern entdeckt. Dazwischen fuhr schrilles Keifen und knurrender Unmut alter Weiber. Doch es waren nicht verlassene Kinder, sondern die Katzen von Yoghonoluk, Azir und Bitias. Die Katze hat sieben Seelen, und jede Seele besitzt eine eigene Stimme. Deshalb muß man Katzen siebenmal töten, ehe sie sterben. (Sato hatte diese Weisheit längst von Nunik empfangen.) Die Wahrheit jedoch war, daß die Katzen von Yoghonoluk, Azir und Bitias der Auszug ihrer Hausherren gänzlich kalt ließ, denn nur dem Hause dienen sie mit ihren sieben Seelen und nicht dem Menschen. Vielleicht war ihr Weinen ein Freudenchor nicht mehr behinderter Liebesfreiheit. – Die Hunde aber litten wirklich. Selbst der wilde Hund der syrischen Dörfer kommt vom Menschen nicht los. Er kann nicht zurückfinden zu sich selbst, zu Fuchs, Schakal und Wolf. Mag er auch seit unzähligen Generationen schon verwildert sein, er ist und bleibt ein entlassener Angestellter der Zivilisation. Sehnsüchtig umlauert er die menschlichen Behausungen, nicht nur um einen Knochen bettelnd, sondern um Wiederaufnahme in die Sklaverei und Einstellung in den vergessenen Dienst. Die wilden Hunde der Dörfer wußten alles. Sie hatten das Lager auf dem Damlajik schon entdeckt. Und sie wußten auch, daß ihnen dieses Lager, anders als die Dorfstraße, streng verschlossen war. Wirr und verzweifelt besprangen sie den Berg des Verbotes, knackten durchs Unterholz, raschelten im Myrten- und Arbutusgebüsch wie Schlangen. Keinem von ihnen kam der befreiende Einfall, in die moslemische Nachbarschaft auszuwandern und in Chalikhan oder Aïn Jerab seinem Knochenerwerb nachzugehen. Sie blieben an dieses ungetreue Volk gebunden, das die gemeinsame Wohnstatt verlassen hatte. Die Seele verging ihnen vor wildem Leid, und doch wagte keiner sein einsilbiges Bellen hervorzustoßen, dem die kultivierte Schmiegsamkeit der Haushundsprache mit ihrem reichen Wortschatz schon längst verlorengegangen war. Die ganze Angst ihrer Seele stieg in die Augen. Gabriel sah überall im Dunkel das grüne Feuer dieser überschwenglichen Hundeaugen, die den Bannkreis nicht zu überschreiten wagten.

Der Mond war im Rücken des Musa Dagh verschwunden. Ein blasser Wind entkeimte dem Kosmos. Jetzt sind alle schon oben, dachte Gabriel, an dem vor mehr als einer Stunde die letzte Sippe vorübergezogen war. Und doch, er konnte sich aus Müdigkeit oder aus Einsamkeitsbedürfnis von seinem nächtlichen Beobachtungsposten noch immer nicht losreißen. Er wußte ja nicht, ob er in seinem ganzen Leben noch einmal mit sich selbst werde allein sein dürfen. Und hatte er nicht dieses Alleinsein stets als das größte Geschenk des Himmels geachtet? Noch eine halbe Stunde solchen außerweltlichen Friedens gestand er sich zu, dann wollte er schnell zur Nordstellung hinauf, um die Grabenarbeiten zu überwachen und vorwärtszutreiben. Er lehnte sich gegen die Eiche in seinem Rücken und rauchte. Da stieg aus der Finsternis noch ein äußerst verspäteter Nachzügler empor. Gabriel hörte klappernden Huftritt und wegabrauschende Steine. Dann sah er eine Laterne, einen Mann und einen hochbepackten Esel. Das Tier brach bei jedem Schritt unter der Last beinahe zusammen. Doch auch der Mann schleppte einen gewaltigen Sack, den er alle zwei Minuten wildkeuchend auf den Boden setzen mußte. Gabriel erkannte den Apotheker erst, als der Sack zu seinen Füßen niederplumpste. Krikors Gesicht war völlig entstellt, die gleichmütige Mandarinenmaske zu einer barbarischen Götterfratze verzerrt. Der Schweiß rann ihm über die polierten Wangen in den langen Bocksbart, der atemlos auf und nieder wippte. Er schien große Schmerzen zu leiden und krümmte die Schultern vor. Gabriel Bagradian gab sich zu erkennen:

»Sie hätten den Drogensack meinen Leuten mitgeben können, statt Ihre ganze Apotheke selbst zu schleppen.«

Krikor rang noch immer nach Atem. Dennoch vermochte er in seine Worte eine gewisse Verächtlichkeit zu legen:

»Dies hier hat mit der Apotheke nichts zu tun. Die habe ich schon vor vielen Stunden hinaufgeschickt.«

Gabriel Bagradian hatte längst bemerkt, daß sowohl der Esel als auch der Apotheker ausschließlich mit Büchern bepackt waren. Aus einem dunklen Grund erregte diese Tatsache seinen Ärger und zugleich den Wunsch, Krikors ein wenig zu spotten:

»Verzeihen Sie meinen Irrtum, Apotheker! Ist das hier Ihr ganzer Proviant?«

Das Gesicht Krikors hatte sich beruhigt. Seine Augen ruhten wieder gleichmütig auf Gabriel:

»Ja, das ist mein Proviant, Bagradian, leider aber nicht mein ganzer ...«

Ein Hustenkrampf schüttelte ihn. Er ließ sich neben Gabriel nieder und begann mit einem ungeheuren Taschentuch sich den Schweiß abzutrocknen. Die Dämmerung zwinkerte auf. Der Esel stand mit gesenktem Kopf und trübsinnigen X-Beinen auf dem Saumweg. Ein paar Minuten vergingen. Gabriel empfand Unwillen über seine grausame Spottregung von vorhin. Doch Krikors Stimme hatte ihren hohen Überlegenheitston wiedergefunden:

»Gabriel Bagradian! Ihnen sind als Pariser Gelehrtem ganz andre Hilfsmittel zur Verfügung gestanden als mir, dem Apotheker von Yoghonoluk. Und doch werden einige Dinge Ihrem Wissen entgangen sein, die dem meinen bekannt sind. So dürften Sie folgenden Ausspruch des erhabenen Gregor von Nazianz nicht kennen und auch die Antwort des Heiden Tertullianus nicht, die ihm dieser gab ...«

Kein Wunder, daß Gabriel den Ausspruch Gregors von Nazianz nicht kannte, wußte doch einzig und allein der Apotheker von ihm. In seiner unverwirrbaren Art fing er von oben herab zu erzählen an, obgleich die Verwechslung des Kirchenvaters Tertullian mit einem Heiden gleichen Namens eine Entgleisung vorstellte:

»Einmal war der erhabene Gregor von Nazianz bei dem vornehmen Heiden Tertullianus zu Tische geladen. – Fürchten Sie sich nicht, Gabriel Bagradian, es ist eine ebenso kurze wie tiefsinnige Geschichte. – Sie sprachen über die gute Ernte und über das herrliche Weizenbrot, das sie brachen. Ein Sonnenstrahl lag auf dem Tisch. Gregor von Nazianz hob sein Brot in der Hand und sagte zu Tertullian: Gastfreund, wie müssen wir Gott für sein Geheimnis danken, denn siehe dieses wohlschmeckende Brot hier ist nichts anderes als dieser gelbe Sonnenstrahl, der sich auf dem Felde in Weizen verwandelt hat. Tertullianus aber stand auf und nahm ein Werk des Dichters Virgilius aus der Bibliothek und sagte zu Gregor: Gast, wenn wir Gott schon um eines Brotes willen loben, wie erst müssen wir ihn für dieses Buch hier preisen. Denn siehe, dieses Buch ist der verwandelte Lichtstrahl einer weit höheren Sonne als dieser da, deren Strahlen man auf einem Tische sehen kann.«

Nach einer Weile fragte Gabriel Bagradian mit trauriger Teilnahme:

»Und Ihre ganze Bibliothek, Apotheker Krikor? Dies hier kann ja nur ein kleiner Splitter sein? Haben Sie die Bücher vergraben?«

Krikor erhob sich starr wie ein verwundeter Held:

»Ich habe sie nicht begraben. Bücher sterben in der Erde. Ich habe sie gelassen, wo sie sind.«

Gabriel nahm die Laterne auf, die der Apotheker vergessen hatte. Es wurde schon heller, und Krikor konnte es nicht verbergen, daß über seine gelben, gleichmütigen Wangen die Tränen liefen. Bagradian warf sich den Büchersack des Alten über die Schulter:

»Glauben Sie denn, Apotheker Krikor«, sagte er, »daß ich für Mausergewehre, Patronenmagazine und Schützengräben geboren bin?«

Obgleich Krikor immer wieder Einspruch erhob, trug Gabriel Bagradian den mächtigen Sack bis zum Nordsattel.


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