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Zweites Kapitel
Stephans Aufbruch und Heimkehr

Die Abfertigung Haiks und der Schwimmer spielte sich unter Teilnahme des ganzen Volkes ab, das sich bei Anbruch der Dämmerung im Bereich des Nordsattels versammelte. Es galt ja nicht nur Abschied zu nehmen von drei kühnen Armeniersöhnen, die um der Gemeinschaft willen mit großer Wahrscheinlichkeit in den Tod gingen; es galt nicht nur jene Familien, welche diese blühenden Söhne verloren, durch Zuspruch und Trost zu stützen; mehr als diese Gründe vereinte die Belagerten ein sehnsüchtiges Gefühl. Drei Hoffnungstauben flogen aus und sie nahmen von jedem Herzen ein Stück der Gefangenschaft mit. Man hatte von Stund an irgend etwas zu erwarten und mochte es nur das Warten selbst sein. In dieser Stunde milderte sich der Druck, der auf dem Volke des Musa Dagh lag. Auch die grimmigen Matronen gedachten kaum mehr des Hauses Bagradian und seiner Schande, jenes peinlichen Geschehnisses, das knapp vorher zu einem kleinen Aufruhr der Tugendhaften geführt hatte. Vom Hause Bagradian war freilich niemand anwesend, nicht einmal der gute Awakian zeigte sich, diese gründliche und skrupelhafte Seele, die den Patron sonst immer vertrat. Es geschah zum erstenmal, daß Gabriel Bagradian bei einem so denkwürdigen Anlaß unter der Führerschar fehlte. Niemand aber schien den Feldherrn und Sieger der drei großen Türkenschlachten zu vermissen, ihn, dem das Volk der sieben Dörfer es einzig und allein zu verdanken hatte, wenn ihm noch ein paar tausend Atemzüge vergönnt waren. Ter Haigasun aber und der Führerrat begrüßten es stumm, daß der Mann, dem solche öffentliche Schande widerfahren war, ihnen die Verlegenheit ersparte, über das Geschehene hinwegzusehen. Morgen oder übermorgen würde sich alles wieder verändern und der allgemeine Unmut der Gleichgültigkeit gewichen sein. Wenn es sich logisch auch nicht begründen läßt, seit einigen Stunden war durch der Französin Schuld auch Gabriel und alles, was zu ihm gehörte, zum beargwöhnten Fremden und Eindringling geworden.

Am schwersten aber war Stephan getroffen. Welch ein Sturz an einem einzigen Tag! Mit dem Durchfall bei der freiwilligen Meldung hatte es begonnen. Er, der Eroberer der Haubitzen, war nicht als würdig befunden worden, Haik zu begleiten. Doch nicht genug damit! Papa hatte ihn mit höhnischen Worten mißhandelt und angesichts Iskuhis, angesichts der kaum zu ihm bekehrten Kameraden zu einem Weichling erniedrigt. Es ist sehr begreiflich, daß der ehrsüchtige und in seiner Ehre verwundete Junge aus den harten Worten des Vaters nicht die verborgene Angst herausfühlte, sondern nur Mißachtung und Haß. Dieser Vater hatte damit den andern selbst das Signal gegeben, Stephan von seinem hitzig verteidigten Rang hinabzuschleudern, und die Horde war der Aufforderung unverzüglich nachgekommen. Selbst dem einbeinigen Hagop war das boshafte Hohngelächter nicht in der Kehle steckengeblieben, als der Geschlagene den Ort seiner Niederlage verlassen mußte. Und doch, vielleicht wäre noch alles gut geworden, wenn Mama nicht am Nachmittag das grausame Werk des Vaters vollendet hätte. Trotz der gemeinen Worte, deren Bedeutung Stephan nur halb und halb verstand, besaß er keine rechte Vorstellung für jenes folgenschwere Ereignis, oder besser, seine Vorstellungen verwirrten sich zu einem unerträglichen Krampf, wenn sie in die Nähe der Wahrheit kamen. Dann preßte er beide Fäuste wie ein Läufer fest vor die Brust, staunend, daß ein einziger Brustkasten soviel brennenden Jammer umspannen könne. Alle Ehrsucht und Eitelkeit schwieg. Nur dieser Jammer war da. Stephan hatte sich mit dem Vater überworfen. Er hatte die Mutter verloren, auf dunkle Art, quälender als durch den Tod. Im Laufe der Stunden wurde es ihm immer klarer, daß er weder zu dem einen noch zu dem andern zurückkehren dürfe. Sonderbarerweise empfand er seine Eltern bereits getrennt und als Feinde. Deshalb schon durfte er nicht zurückkehren, wenn auch alles Kindliche in ihm sehnsüchtig danach verlangte. Ehe sein großer Entschluß noch zustande gekommen war, hatte er sich vorgenommen, den Dreizeltplatz zu meiden. Es war doch ganz und gar unmöglich, Monsieur Gonzague wieder zu begegnen und mit ihm die Schlafstätte zu teilen. Auch Gonzague bedeutete übrigens einen dicken Faden in dem Geflecht des Schmerzes. Er hatte, Stephan für voll und gleichberechtigt nehmend, seine Freundschaft gewonnen. Und nun war er in den Augen des Knaben als eine Art gemeiner Verbrecher entlarvt. Gegen Abend hatte sich Stephan, um alle Probleme mit einem Schlag zu lösen, in das Scheichzelt geschlichen und hastig das Notwendigste in seinen Schweizer Rucksack gestopft. Was auch geschehen mochte, er war nicht mehr gesonnen, an Mamas Tisch zu essen und in seinem Bett zu schlafen. Er wollte für sich allein leben, abseits von allen Menschen, wie, das wußte er freilich noch nicht. Später stand er dann ein paar Minuten lang vor Juliettens Zelt, dessen Vorhangtür von innen fest verschnürt war. Kein Wort, kein Laut drang aus dem Raum. Nur der schwache Schein der Petroleumlampe schimmerte hindurch. Schon zuckte seine Hand nach dem Schlegel des kleinen Gongs, der über dem Eingang hing. Doch er überwand die Schwäche und trollte sich mit seinem Rucksack davon, das Weinen nicht mehr verbeißend. Auf dem Nordsattel geriet er in das feierliche Treiben, das dem Abschied Haiks und der Schwimmer galt. Niemand sprach mit ihm, dem gestürzten Helden. Die Leute sahen ihn so merkwürdig an und wandten die Köpfe weg. Öfters spürte er hinter sich ein Gelächter, das ihm durch Mark und Bein ging. Als er der Haik-Bande ansichtig wurde, machte er einen großen Umweg. Nun war er der Ausgestoßene. Sato aber, aufgeblasen und dick von ihrem Triumph, schien noch immer inmitten der Horde lüsterne Erfahrungen zum besten zu geben. Stephan legte sich schließlich hinter eine der Verteidigungsfallen, wo er ungeschoren blieb und alles in Ruhe betrachten konnte.

Zuerst wurden die beiden Schwimmer mit Segenswünschen entlassen. Da sie Protestanten waren, hielt Aram Tomasian eine kurze Ansprache, Ter Haigasun aber machte das Kreuzzeichen über die Stirn der Jünglinge. Danach begleiteten der Priester und der Pastor die Schwimmer über den ersten Graben und die Sattelkerbung hinaus bis zu dem Punkt, wo die buschreiche Berglehne gegen Norden ansteigt. Verwehte Wolken des entfernten Waldbrandes schoben hier ihr dünnes Medium vor, das wie sonderbare Lauge das metallische Mondlicht in zittrige Schwaden zerlegte. Es sah wirklich so aus, als schickten sich die Schwimmer und ihre Begleiter in ein lichtgetränktes, aber unwiderrufliches Jenseits. Die Menge wollte nachströmen. Bewaffnete jedoch bildeten eine Kette, die nur die Angehörigen und Verwandten durchließ. Dies hatte Pastor Aram zu dem Zwecke angeordnet, damit der letzte Abschied nicht durch Unberufene gestört werde. Den Anfang machten die entfernteren Sippenglieder und die Taufpaten. Jeder von ihnen gab den jungen Leuten irgendein kleines Geschenk mit auf den Weg, einen Rest Tabak, ein kostbares Stückchen Zucker oder auch nur ein Heiligenbild oder Amulett. Die Geistlichen sorgten dafür, daß dieser Vorgang nicht in die Länge gezogen werde, und kaum hatten die Verwandten ihre Gabe dargebracht, mußten sie sogleich mit Ter Haigasun und Tomasian den Ort verlassen. Nur die Allernächsten blieben dann noch eine Weile bei den Schwimmern zurück. Eine kurze erstickte Umarmung! Einen Kuß auf die Vaterhand gedrückt! Ein schluchzendes Rückenkehren der Mutter. Ein halberfrorener Wink. Dann gingen auch die Eltern.

Dies und auch was jetzt geschah, erfüllte das Herz des vereinsamten Stephan mit bittersüßer Traurigkeit. Noch immer waren die Schwimmer nicht allein. Plötzlich standen zwei Mädchen neben ihnen. Sie glichen den Jünglingen wie Schwestern. Wahrscheinlich aber waren sie ihre Verlobten oder auch nur zarte Bekanntschaften. Der todesträchtige Anlaß hob den strengen Brauch auf, der es einer Braut verbot, mit ihrem Bräutigam allein zu bleiben. Die beiden Paare lösten sich voneinander und begannen, offensichtlich schweigend, die Höhe hinanzuwandern. Die Mädchen bekannten sich damit öffentlich zu ihrer Liebe, die menschlicher Voraussicht nach niemals ihre Erfüllung finden konnte. Auch die Menge schwieg, trotz aller Not durch den Anblick dieser jungen Menschen bewegt, die Hand in Hand in der unbestimmten und lichtdurchwirkten Rauchwehe verschwanden. Es dauerte aber nicht sehr lange und die Mädchen kehrten zurück, langsam die Lehne wieder hinabsteigend, jedes für sich.

Indessen hatte Ter Haigasun auch zu dem Aleppo-Läufer einige mahnende Worte gesprochen und ihn gesegnet und bekreuzigt. Der Abschied von dem Knaben spielte sich viel rascher und kühler ab. Witwe Schuschik, die Zugewanderte, besaß hierzulande weder eine Sippe noch auch hatte sie sich einen einzigen Freund geworben. Die Leute mieden bekanntlich das Häuschen der kaukasischen Riesin, das auf dem Wege zwischen Yoghonoluk und Azir lag. Obgleich ihr niemand etwas Böses nachsagen konnte, hatte sie doch einen unangenehmen Ruf als weiblicher Grobian und überhaupt als eine, die nicht dazugehörte. In dieser Hinsicht bleibt sich die eingeborene Gesellschaft der ganzen Welt gleich. Zugewanderte sind immer verdächtig. Auch hatte Witwe Schuschik bisher keinerlei Annäherungsversuche an die Menschheit des armenischen Tales unternommen, sondern mit ihren großen Arbeiterhänden immer einsam gewirtschaftet. Die Folge war, daß nur Ter Haigasun und Pastor Aram sie begleiteten, als sie ihr ein und alles dahingab, ihren Haik.

In Stellvertretung des Vaters umarmte und segnete Ter Haigasun den Jungen und empfing von ihm den Sohnes-Handkuß. Er und Aram Tomasian beschenkten den Läufer auch mit einer Geldsumme, damit er sich unter Umständen vom Tode loskaufen könne. Dann ließen sie Mutter und Sohn allein. Witwe Schuschik aber streichelte mit ihren schweren Händen nur flüchtig verlegen Haiks Kopf und folgte unverzüglich den Priestern. Stephan aber bemerkte, daß sie sich nicht unter das Volk mischte, das schon in breiten Haufen nach Hause strömte, sondern mit unentschlossenem Schritt auf die Felsbarrikaden zuging.

Es war das erstemal, daß Gabriel Bagradian eine ganze Nacht nicht unter den Verteidigern der Nordstellung verbrachte. Der Führerrat hatte für diese Nacht Tschausch Nurhan Elleon mit dem Oberbefehl betraut. Ein türkischer Angriff lag glücklicherweise so gut wie außerhalb aller Möglichkeiten. Die Truppen hatten zwar das Quartier in den Ortschaften noch nicht verlassen. Da aber der verwundete Jüsbaschi von seinem Krankenbett in der Villa Bagradian keine neuen Befehle erließ, so benützte der Rest der aufgeriebenen Kompanien diese Tage zur müßigen Erholung. Die Beobachter meldeten keinerlei bedrohliche Bewegung, sondern nur friedliches Soldatenleben auf den Dorfwegen zwischen Wakef und Kebussije. Die Zehnerschaften und das Lagervolk waren sicherer denn je. Die brennende Brustseite des Damlajik beschützte sie. Manchmal wetterleuchtete und blitzte es von der großen Lohe taghell herüber. Dann hatte es den Anschein, als wolle sich der Brand bis hierher zum Nordsattel ausbreiten. In Wirklichkeit aber war er schon längst auf einen unüberwindlichen Damm gestoßen, auf die vorspringende Felsnase oberhalb von Bitias mit ihren beiden Geröllbändern. Das Gefühl ungefährdeter Sicherheit beherrschte nicht nur die Besatzung, sondern auch Nurhan, der mit einigen älteren Leuten Karten spielte. Alles ließ sich gehen. Es roch fast nach der Deserteurwirtschaft auf der Südbastion. Jeden Augenblick verließ eine der Wachen den Posten, um sich an der Unterhaltung der Kameraden zu beteiligen. Der Befehlshaber, mit dem sich sonst doch nicht spaßen ließ, duldete es sogar, daß die Kämpfer eines der strengsten Verbote überschritten und mehrere Reisigfeuer anzündeten. Sichtbar fehlte Bagradians Person, jene Mischung aus geistigem Vorrang, Unnahbarkeit und verständnisvoller Milde, die überall Plan und Ordnung schuf. Der Unterschied war eben der, daß man sich in Gabriels Gegenwart nicht gehenließ.

Der Stimmenlärm und die frisch entzündeten Reisigfeuer ermöglichten es Stephan, die jenseitige Berglehne rasch zu erklimmen, ohne gesehen und angerufen zu werden. Er wollte sich beeilen, denn Haik hatte gewiß schon einen weiten Vorsprung gewonnen. Der Bagradiansohn lief, so schnell er konnte. Der Rucksack, den er geschultert hatte, war nicht gerade schwer: fünf Sardinenbüchsen, einige Tafeln Schokolade, ein paar Biskuits, ein wenig Wäsche. Die von Papa im Zelt vergessene Thermosflasche hatte er sich von Kristaphor mit Wein füllen lassen. Dies und noch eine Decke waren die ganze Ausrüstung, wenn man von dem Kodakapparat absieht. Von diesem Weihnachtsgeschenk des letzten Pariser Jahres konnte sich Stephan nicht trennen, obgleich er keine Filmrolle mehr besaß. Es war die reinste Kinderei. Hingegen hatte er die Absicht, ein Gewehr von den Pyramiden zu rauben, wieder aufgegeben, da auch Haik keine Waffe bei sich trug. In wenigen Minuten war die Gegenhöhe des Sattels erreicht. Vor dem Knaben erstreckte sich die lange breite Lichtung, über die – oh, wie lange war jene Nacht schon dahin – die türkischen Haubitzen mit wildem Getümmel und Gerassel auf den Damlajik geschleppt worden waren. Er setzte schon zum Laufen an, um in der langen Rinne Haik einzuholen, ehe dieser im Weglosen verschwunden sein mochte. Angst packte ihn, ob es überhaupt noch möglich sei, den Boten zu erreichen. Doch Stephan hatte den ersten Sprung noch nicht getan, als ihn, keine zehn Schritte entfernt, ein starres Bild bannte und hinter den nächsten Busch zwang.

Steif im abnehmenden Mond, der durch keine Rauchwehe mehr zerlöst war, saß die Witwe Schuschik aufrecht. Die langen Beine der Kaukasierin in den ausgebreiteten Röcken bedeckten mitsamt ihrem mondgroßen Schatten ein gutes Erdstück des Musa Dagh. Haik aber, der Sohn, selbst knochig und groß, hatte sich in die Mutter eingewühlt wie ein Säugling. Er saß ihr halb und halb auf dem Schoß und hielt den Kopf an ihre Brust gepreßt. In dem marmornen Licht hätte man glauben können, die Frau habe ihre Brüste entblößt, um dieses schon erwachsene Kind noch einmal von ihrem Blute trinken zu lassen. Haik, der kalte, höhnische Armenierjunge, schien in der Mutter ganz und gar verschwinden zu wollen. Sein Atem ging kurz und schluchzend. Hier und da entrangen sich auch dem Munde der Riesin gestockte Jammerlaute, wenn sie den Körper dieses hingeopferten Kindes abtastete. Stephan stand ganz umpanzert von Schmerzlichkeit in seinem Versteck. Er schämte sich seiner Zeugenschaft und konnte doch nicht genug davon bekommen. Als Haik aber plötzlich aufsprang und der Mutter hochhalf, da ging es Stephan wie ein Schnitt durch den eigenen Körper. Der Sohn der Witwe Schuschik sagte noch ein paar trocken mahnende Worte und zum Schluß nur mehr: »Jetzt aber geh!«

Die ungeschlachte Schuschik gehorchte sofort, ohne sich und den Jungen noch einmal der Qual der Umarmung zu unterwerfen. Mit unbeholfener Eile schritt sie dahin, um nur rasch ein Ende zu machen. Haik sah ihr regungslos nach. Wenn sie sich umwandte, verzerrte er sein Gesicht, erhob aber die Hand nicht zum Wink. Als Schuschiks großer Schatten verschwunden war, seufzte er glücklich auf und machte sich langsam auf den Weg. Stephan wartete an seinem Ort, um Haik einen kleinen Vorsprung zu lassen. Der Gefährte sollte den Abschied vergessen haben, ehe er zu ihm stieß. Doch der junge Bagradian hatte nicht mit Hagop gerechnet. Der blondhaarige Krüppel, der »Bücherleser«, ein feiner Junge, war den ganzen Tag lang seine Gewissensbisse Stephans wegen nicht losgeworden. Auch er hatte seinen Freund verhöhnt. (Die Niedrigen, die Verfemten, zu denen auch die Krüppel gehören, können sich nur selten des schadenfrohen Triumphes erwehren, wenn ein Wohlgeborener, und sei es auch ihr Freund, zu ihnen hinabgestoßen wird.) Hagop hatte es zwar versucht, seinen Verrat bei der Verfolgung Stephans durch die Horde wiedergutzumachen. Dies aber genügte nicht mehr. Mehr noch als das Schuldgefühl erfüllten Hagop schwere Sorgen. Er ahnte alles voraus. Mit seiner wilden Gelenkigkeit die Stadtmulde und alle Versammlungsplätze der Jugend um und um hüpfend, hatte er Stephan schon seit Stunden gesucht. Nicht einmal vor dem frechen Wagnis war er zurückgeschreckt, durch einen winzigen Vorhangspalt in Juliette Hanums Zelt zu spähen. Nun bekam er auch dieses seltsam erregende Bild nicht aus dem Kopf: die große weiße Frau aufs Bett gestreckt wie eine Tote und der oberste Befehlshaber, sie bestarrend, als träume er im Stehen. Als aber der Einbeinige dann bei der feierlichen Abfertigung der Boten den Bagradiansohn mit dem Rucksack in seinem Versteck aufgespürt hatte, da wurde die Ahnung zur Gewißheit. Nun klammerte er sich, keuchend vor Anstrengung, an Stephan:

»Du darfst das nicht tun! Nein! Du mußt hierbleiben!«

Stephan warf Hagop mit einem rohen Stoß zu Boden:

»Du bist ein schmutziger Hund! Mit dir habe ich nichts zu schaffen.«

Gabriels Sohn gehörte nicht zu jenen, welche schnell verzeihen. Hagop aber packte seine Beine:

»Du gehst nicht! Ich dulde es nicht. Du bleibst hier!«

»Laß mich los, sonst bekommst du einen Tritt ins Gesicht.«

Der Krüppel zog sich an Stephan hinauf und zischte verzweifelt:

»Du mußt ja bleiben! Deine Mutter ist krank. Du weißt es noch nicht ...«

Auch dies verfing nicht. Stephan stutzte zwar einen Augenblick. Dann aber verzog er den Mund:

»Ich kann ihr nicht helfen ...«

Hagop hüpfte zwei Schritte zurück:

»Weißt du, daß du nie mehr hierher zurückkommen wirst, daß du sie nie mehr sehen wirst ...«

Stephan starrte eine Weile auf die Erde, dann aber wandte er sich und begann Haik nachzulaufen.

Hagop ächzte hinter ihm her:

»Ich werde schreien ... Ich werde alle wecken ... Sie sollen dich einsperren ... Ah, ah, ich schreie ...«

Und er fing wirklich zu schreien an. Doch seine dünne Stimme reichte nur so weit, um Haik festzuhalten, der noch keine hundert Meter von der Stelle entfernt war. Der Läufer von Aleppo drehte sich um und blieb stehen. Stephan sprang ihm entgegen, Hagop ihm nach, kaum eine Handbreit hinter dem Gesunden zurückbleibend. Damit ihm Hagops Stimme nicht in die Quere komme, rief Stephan noch im Lauf:

»Haik, ich gehe mit dir ...«

Der Bote des Volkes ließ die beiden erst ganz nahe kommen. Dann maß er Stephan mit seinen ernsten Augen zwischen halbverkniffenen Lidern:

»Warum haltet ihr mich auf? Es ist schade um jede Minute.«

Stephan ballte entschlossen die Fäuste:

»Ich werde mit dir nach Aleppo gehn!«

Haik hatte sich einen Stock zurechtgeschnitten. Den hielt er nun wie eine Waffe ausgestreckt, als wollte er verhindern, daß ihm ein Unbefugter zu nahe komme:

»Der Führerrat hat mich beauftragt, und Ter Haigasun hat mich gesegnet. Du bist nicht beauftragt und gesegnet ...«

Hagop, den die Gegenwart Haiks stets kleinlaut und etwas liebedienerisch machte, wiederholte mit spitzem Eifer:

»Du bist nicht beauftragt und gesegnet. Dir ist es verboten!«

Stephan ergriff das Ende von Haiks Stock und preßte es wie eine Hand:

»Es ist Platz genug für dich und mich.«

»Es geht hier nicht um mich und dich, sondern um den Brief, den ich dem Konsul Jackson überbringen muß.«

Stephan griff triumphierend in die Tasche:

»Ich habe den Brief an den Konsul Jackson abgeschrieben. Zwei sind besser als einer.«

Haik stieß den Stock fest auf die Erde, um dem Gespräch ein Ende zu machen:

»Du willst wieder einmal gescheiter sein als alle.«

Hagop deklamierte auch diesen Satz getreulich nach. Stephan aber wich um keine Haaresbreite:

»Tu, was du willst! Platz ist genug. Du kannst es nicht verhindern, daß ich nach Aleppo gehe.«

»Du aber kannst es dadurch verhindern, daß der Brief in Aleppo ankommt.«

»Ich laufe nicht schlechter als du!«

Haiks Stimme nahm den hochfahrenden Ausdruck an, der Stephan so oft schon aus der Fassung gebracht hatte:

»Also wieder nur Wichtigmacherei?«

Nach all den schrecklichen Wunden, die ihm dieser Tag zugefügt hatte, war das zuviel für Stephan. Er setzte sich auf die Erde und bedeckte sein Gesicht. Haik aber ließ seiner Verachtung freien Lauf:

»Der will bis nach Aleppo kommen und wird jetzt schon schlapp.«

Der Bagradiansohn schluchzte vor sich hin:

»Ich kann nicht zurück ... Jesus Christus ... Ich ... kann ... nicht ... zurück ...«

Vielleicht reimte sich Haik jetzt zusammen, was in Stephan vorging. Vielleicht dachte er an Schuschik, seine Mutter. Vielleicht kam ihm sogar der Wunsch, auf seinem Botenwege nicht ganz allein und verlassen zu sein. Wer kann es wissen? Jedenfalls war seine Art bedeutend umgänglicher geworden, als er auf Stephans eigene Worte hinwies:

»Du hast recht, Platz ist genug. Niemand kann dich hindern ...«

Hagop aber raffte sich zu einem verzweifelten Einspruch auf:

»Was? Ich kann ihn nicht hindern? Christus Erlöser! Ich werde ihn anzeigen!«

Nichts anderes als dieses dumme Wort »anzeigen« brachte die Entscheidung, denn es erregte einen Wutausbruch Haiks. So ernst und groß er auch war, seine Seele beherbergte noch immer die Grundgesetze der Schulbubenmoral, die auf der ganzen Welt gleich sind. Angeberei und Verrat, zu welchem Zweck auch immer verübt, gelten in diesem Gesetz als unsühnbare Verbrechen. Mit der aufrichtigsten Herzlosigkeit fuhr Haik den Krüppel an:

»Anzeigen?! Zeig du nur an! Aber vorher werde ich dir dein einziges Bein hier so auseinanderschlagen, daß du nicht einmal mehr nach Hause kriechen kannst.«

Hagop floh entsetzt ein gutes Stück zurück. Er kannte Haik, der seine Drohungen mit starken Fäusten meist verwirklichte. Der Widerstand des Blonden, den er nicht leiden konnte, hatte Haiks tyrannische Natur gereizt und somit die Wendung für Stephan gebracht. Jetzt kam schon eine ganz sachliche Frage:

»Hast du Proviant für fünf Tage? So lange dauert der Weg, das heißt, wenn es gut geht.«

Stephan klopfte großartig auf seinen Rucksack, als sei er für die längste Expedition überreich ausgerüstet. Haik aber prüfte die Tatsachen weiter nicht nach, sondern befahl kurz:

»Marsch jetzt! Zu viel Zeit habe ich schon durch euch verloren.«

Er hatte weder »Marsch zurück« noch auch »Marsch vorwärts« gesagt. Weit schritt er aus, ohne sich um Stephan zu kümmern, der ihm auf den Fersen blieb. Haik nahm den Bagradiansohn demnach nicht mit, sondern duldete ihn nur, da ja in diesen nächtlich unwegsamen Gebirgen tatsächlich »Platz genug« war.

Unschlüssig sah Hagop, wie der Beauftragte und der Ausreißer hinter der nächsten mondgetränkten Höhenwelle verschwanden. Dann brauchte er fast eine Stunde, um in die Stadtmulde heimzuhüpfen. Stephans unsinnige Flucht drückte ihn wie ein Felsblock nieder. Er dachte an den weit harmloseren Streich wegen Iskuhis Bibel und welch schreckliches Ende er fast genommen hätte. Was sollte er tun? In der Hütte seiner Familie schlief schon fast alles. Mit einigen schlafheiseren Worten rügte der Vater den späten Heimkehrer. Ohne sich auszukleiden, warf sich Hagop auf seine Matte und starrte ins Dachgeäst, das den Mond durchsickern ließ wie ein feines Sieb. Er hatte noch keinen Schlaf gefunden, als lange nach Mitternacht Samuel Awakian die ganze Familie weckte. Der arme Junge sagte sogleich alles und führte Gabriel Bagradian, Kristaphor, Awakian und die andern Männer, die Gabriel zu Hilfe gekommen waren, an die Stelle, wo er Haik und Stephan verlassen hatte. Es wurde sogleich eine Streifung nach dem Flüchtling veranstaltet. Bagradian kehrte mit Kework, dem Tänzer, erst gegen Sonnenaufgang unverrichteterdinge zurück, und wie er, so auch die anderen. Der Vorsprung der Knaben war viel zu groß. Auch hatte Haik den ihm vom Führerrat vorgeschriebenen Weg nicht gewählt, sondern sich auf seine eigene untrügliche Witterung verlassen.

 

Während die Schwimmer, das Kap Ras el Chansir abschneidend, in ruhiger Sicherheit auf den Küstenort Arsus zuwanderten, marschierten die Knaben die ganze Nacht das mühsam unendliche Auf und Nieder des Höhenzuges entlang. Die Aufgabe Haiks lautete, auf dem gefahrlosen Gebirgsrücken so lange zu verbleiben, bis das südliche Ende des Tales von Beilan erreicht sei. Habe er dann bei Kyrk-Chan die Ebene gewonnen, so möge er sich immer in der Nähe der großen Fahrstraße halten, die über Hammam nach Aleppo führt. In den abgeernteten Maisfeldern und auf der verbrannten Steppe werde er während der mondhellen Augustnächte gut vorwärtskommen und im Gefahrfalle Deckung genug finden. Angesichts der großen Stadt aber müsse er sich auf die Heerstraße wagen und auf einen der Bauernwagen springen, die mit Maiskolben oder Süßholz beladen sind. Mit Gottes Hilfe werde er so an den Militärposten der Stadtgrenze vorbeischlüpfen. Was aber auch immer geschehe, der Brief an Mr. Jackson dürfe bei ihm nicht gefunden werden. Haik setzte seinen Weggenossen von dieser Aufgabe genau in Kenntnis und malte grausam die Gefahren und Schwierigkeiten aus, die in der Ebene ihrer warteten. In den menschenlosen Bergen sei alles noch ein Kinderspiel. Nach einstündiger Wanderung etwa senkte sich der Hirtenpfad, den Haik immer unter den Füßen behielt, ohne ihn zu sehen, ins Tal hinab.

Der Beauftragte machte halt und mahnte Stephan:

»So, jetzt hast du noch Zeit, umzukehren. Du kannst dich nicht verirren, überleg es dir! Später wird es nicht mehr möglich sein.«

Stephan machte eine ärgerliche Bewegung. Sein Herz aber war voll von Zweifeln. Die Gründe seines Aufbruchs leuchteten ihm auf einmal nicht mehr ganz ein. Haik wies in die Richtung des Damlajik, wo ein ferner rötlicher Dunst noch immer den Waldbrand bezeichnete:

»Du wirst nicht mehr hinkommen und niemanden wiedersehen ...«

Der Bagradiansohn kam gar nicht dazu, seines wahren Verlangens bewußt zu werden. Er wäre lieber gestorben, ehe er Haik gegenüber sich als schwach gezeigt hätte. In verlegener Scham zog er jene Landkarte aus der Tasche, die früher im Studio seines Onkels Awetis gehangen war. Er tat so, als prüfe er im scharfen Mondlicht ernsthaft den Standort nach. Haik aber, durch diesen »eingebildeten Humbug« erbost, schlug ihm die Karte aus der Hand und verschwendete keinen guten Rat mehr an ihn. Daraufhin beschloß Stephan, dem Hochmütigen zu beweisen, daß er ihm an Marschtüchtigkeit überlegen sei. Er verfiel in eine wild ausgreifende Gangart und spannte alle Muskeln an, um den Gefährten in körperliche Bedrängnis zu bringen. Dieser aber dachte nicht daran, sich von Stephan ein blödsinniges Tempo aufzwingen zu lassen. Gleichmäßig und beinahe gravitätisch schritt er seines Weges. Stephan sah sich zu seinem Schrecken plötzlich allein. Anstatt dem anderen seine Überlegenheit zu beweisen, hatte er den Weg verloren und wäre aus eigener Kraft, so spürte er, dieser Wildnis nicht entkommen. Sein Herz klopfte, doch er wagte es nicht, zu rufen. Als dann nach endlosen Minuten Haiks Gestalt aus einem Buschwall in den Mond tauchte, ohne sich um den Selbständigen zu scheren, da ließ er sich seine beschämende Erfahrung nicht anmerken und schloß sich schweigend dem Stärkeren an. Damit war der Kampf um den Vorrang zwischen diesen beiden für alle Zeiten entschieden. Sie gelangten rasch in das schmale Tal. Rechter Hand von ihnen dehnte sich die große Ortschaft Sanderan. Gott sei Dank, kein Licht brannte dort. Nur eine einsame Menschenstimme näselte eine gepreßte Weise. Es war ein schauriges Gefühl, sich an einer bewohnten Stätte, die den Tod barg, vorbeizudrücken. Die wilden Hunde von Sanderan aber ließen sich nicht täuschen und verfolgten die beiden Armenierjungen weit hinaus über die Bannmeile. Mit unheimlicher Sicherheit fand Haik neuerdings einen Hirtensteig, der nordöstlich ins Gebirge führte. Als sie wieder durch einen dünnen Laubwald gingen, der sich mit dem Mondlicht vollgesogen hatte, überkam Stephan die trunkene Abenteuerfrische der Nacht. Er vergaß alles. Am liebsten hätte er gesungen und gejauchzt. Müdigkeit? Gab es das? Nach Sonnenaufgang hatten sie trotz mehreren Rasten einen Weg von beinahe zehn Meilen zurückgelegt und den Punkt erreicht, wo sich die Gebirge gegen Norden zu in breiten waldigen Terrassen herabsenken. Stephan wäre samt seiner Karte im Leeren gestanden. Haik aber wies scharf in eine bestimmte Richtung:

»Dort müssen wir hin. Beilan!«

Er hatte alles im Gefühl, obgleich er nur ein einziges Mal mit seiner Mutter nach Beilan und Alexandrette gereist, das heißt auf einem Esel geritten war, und zwar auf einem ganz anderen Wege, der Küste entlang. Nun aber meinte er zufrieden, man werde jetzt einen Schlafplatz suchen, eine Mahlzeit halten und sich bis Mittag ausruhen. Der kurze Schlaf müsse ihnen genügen, anders sei es nicht zu machen. Haik brauchte nicht lange herumzuschnuppern, um nicht nur einen schattigen Platz mit gutem Grasboden, sondern auch eine Quelle zu finden. Letzteres war freilich im wasserreichen Umkreis des Musa Dagh keine Zauberei. Für Haik, der mit seiner Haut auf die verborgenen Eigenheiten jedes Bodenflecks, auf die geringsten Wärmeunterschiede, auf Vegetationsunterschiede und Tiernähen unfehlbar reagierte, bedeutete es eine lächerliche Kleinigkeit, Wasser zu entdecken. Die Jungen lagerten sich an dem Quellauf, der hier sogar einen kleinen erwünschten Tümpel bildete. Zuerst stillten sie ihren Durst. Sodann aber zog das Kulturkind zu Haiks Erstaunen ein Stück Seife aus dem Rucksack und begann sich zu reinigen. Haik betrachtete diese überflüssige Tätigkeit mit sarkastischem Ernst. Als Stephan fertig war, steckte er seine Füße wohlig in den kalten Tümpel, denn die Füße waren ja das Wichtigste. Nachher teilten sie mit knabenhafter Lust am Tauschhandel ihre Lebensmittel. Witwe Schuschik hatte ihrem Sohn aus kleingehacktem Hammelfleisch, Fett und Zwiebelstücken drei große Würste zubereitet und ihm überdies ein steinhartes Brot mitgegeben, das sie sich weiß Gott woher verschafft hatte. Das Verbergen von Brot, Teigware und Feldfrucht galt auf dem Damlajik als großes Verbrechen, das mit mehrtägigem Portionsentzug bestraft wurde. Dennoch aber tauchten in den Hütten insgeheim derartige Schätze immer wieder auf, deren Herkunft ein unlösbares Rätsel blieb. Es ist stets die alte Geschichte. Keine gesetzmäßige Rationierung, auch die gewaltsamste nicht, kann den schöpferischen Lebensstrom völlig hemmen, der sich das Unglaubliche aus dem Nichts holt.

Es könnte beinahe für sinnbildlich gelten, daß Stephan als Gegengabe für Hammelwurst und Fladenbrot französische Ölsardinen und Schweizer Schokolade anzubieten hatte, fremdartige Delikatessen also, die Haik kaum dem Namen nach kannte. Die Knaben beherrschten sich nicht, sondern aßen reichlich von den Vorräten, ohne an die nächsten Tage zu denken. Haik aber besann sich plötzlich, packte das Seinige weg und gab Stephan den Rat:

»Trink lieber Wasser und spar das Essen!«

So geschah es auch. Sie tranken aus dem Aluminiumbecher der Thermosflasche das Quellwasser in großen Mengen, dem Stephan seinen Wein beimischte. Er fühlte sich so wohl, als befände er sich auf einer lustigen Ferienwanderung und nicht mit einem anderen Armeniersohn auf diesem todumdrohten Botengang mitten in die erbarmungslose Hauptstadt, zu dem er nicht einmal Recht und Beruf hatte. Alles Schmerzliche schien endgültig auf dem Damlajik zurückgeblieben zu sein. Welch ein innig-zappliges Vergnügen war es doch, nach einer durchwanderten Nacht als Mensch in dieser harmlos guten Morgenwelt zu leben. Stephan schob die zusammengefaltete Decke unter seinen Kopf. Immer wärmer flutete die Frühe. Noch einmal hob er sich auf und lallte kindisch:

»Werden keine wilden Tiere kommen?«

Haik legte gewichtig sein breites Dolchmesser neben sich:

»Du brauchst keine Angst zu haben. Wenn ich auch schlafe, so sehe ich doch alles.«

Stephan hatte keine Angst. Welch ein guter Wächter war Haik, selbst wenn er schlief! Niemals noch hatte er zu einem menschlichen Wesen anschmiegsameres Vertrauen gefühlt als zu diesem groben Burschen, um dessen Bewunderung er immer gebuhlt hatte. Jetzt ergab er sich ihm rückhaltlos als seinem Führer. Aus dem Schlafe schon tastete seine Hand suchend nach dem Freunde.

 

»Wir müssen uns jetzt einen Tarbusch machen«, erklärte Haik, »damit wir nicht auffallen, wenn wir irgendwelchen Leuten begegnen.«

Er faltete seinen Aghil, das zusammengedrehte Gürteltuch, auseinander und wand es kunstgerecht um die Filzmütze. Da Stephan mit seiner Schärpe schlechte Arbeit leistete, half er ihm, den Kopfschmuck des Propheten richtig zu schlingen. Dabei belehrte er den Unerfahrenen:

»Wenn es nötig wird, mußt du mir alles genau nachmachen. Am besten aber, du tust den Mund nicht auf.«

Es war spät am Nachmittag. Zwischen den Buchen- und Eichenwipfeln offenbarte sich ein goldtrunkener Himmel, der von schwebenden Raubvögeln erfüllt war. Die Knaben hatten einen Weg von mehr als sechs Stunden zurückgelegt. Das Wort Weg bedeutete übrigens eine freundliche Übertreibung. Da sich weit und breit kein Hirtensteig mehr zeigte, waren sie einfach in den Wasserrinnen vorwärtsgedrungen, die ja ins Tal führen mußten. Vorwärtsgedrungen ist die richtige Bezeichnung, denn das dichte widerständige Unterholz, Schlingpflanzen und Sträuchermauern, hart und elastisch wie Gummi, doch mit drahtstarren Stacheln bewehrt, hemmten jeden Schritt. Es war kaum zu glauben, wie viele Terrassen und felsige Abhänge überwunden werden mußten. Das Gebirge schien immer eine neue Ausrede zu haben, um sich nicht seinem Ende zu ergeben. Stephan spürte sich selbst nicht mehr. Seine Hände, seine Knie, seine Beine waren mit Wunden und Abschürfungen übersät. Er hatte seit Stunden kein Wort mehr gesprochen, doch auch nicht geklagt. Jetzt saßen die beiden auf einer kahlen Anhöhe, und unter ihnen zog die kalkweiße Paßstraße von Beilan dahin. Sie machte einen funkelnagelneuen Eindruck. Überall wiesen frische Schotterhaufen auf menschliche Arbeit hin. Und wirklich, an dieser Paßstraße, die den Hafen Alexandrette mit der Ebene von Aleppo und dadurch das Mittelmeer mit ganz Asien verbindet, zeigte sich die unbeschränkte Macht und Energie Dschemal Paschas, des Diktators von Syrien. Der unerbittliche General hatte befohlen, daß aus diesem grundlosen, brüchigen Wege binnen einem Monat eine makellos glatte untermauerte Prachtstraße zu entstehen habe; und sie war entstanden, so daß die Türken über die ungehobene Tatkraft, die in ihnen steckte, selbst in Staunen gerieten. An dieser Stelle machte die Straße vor Haiks und Stephans Augen ihren Bogen nach Osten. Sie überblickten nur ein kleines Stück, doch kein Mensch, kein Gefährt, kein Esel, kein Pferd kam in Sicht, hie und da nur flitzte ein Hase oder ein Eichhörnchen über das weiße Band. Sehnsüchtig starrte Stephan auf die gebahnte Möglichkeit hinab. Aber auch Haik schien schwach zu werden und dieser Lockung nicht widerstehen zu können. Ohne sich erst mit Stephan über die verwegene Unvorsichtigkeit zu verständigen, sprang er auf und lief den Abhang hinunter. Als sie die glatte Bahn unter den Füßen spürten, da erfüllte sie eine ähnliche Körperwollust, wie es der gestillte Durst ist. Neuer Ehrgeiz, neue Kraft stieg in Stephan auf. Er hielt mit Haik Schritt. Rechts und links begannen steilere Höhen aufzusteigen. Die Straße wurde zum Hohlweg, zum Engpaß. Dies erhöhte merkwürdigerweise das Sicherheitsgefühl und damit den Leichtsinn. Dann traten die Berge ein wenig auseinander, das Straßengefälle neigte sich stark abwärts. Noch eine Biegung, und die Ebene mußte offen liegen. Von der Strömung des Weges unwiderstehlich mitgerissen, liefen sie jetzt ins Verderben. Denn als sie das Straßenknie überschritten hatten, lag zwar nicht die Ebene vor ihnen, aber ein türkisches Postenhaus, von dem die Halbmondfahne wehte. Vor dem Hause lungerten vier abscheuliche Saptiehs. An den Straßenrändern aber arbeitete mit Spaten, Krampen und Steinhammer eine Abteilung von Inschaat Taburi. Die erschöpften Sinne der Wanderer hatten den Arbeitslärm und die traurig gaumigen Gesänge der Armierungssoldaten nicht gehört. Der Schreck und die Erstarrung waren so groß, daß sich selbst Haik beinahe eine halbe Minute nicht von der Stelle rührte. Dann aber packte er Stephan an der Hand und riß ihn mit sich. Sie stürmten hinter der Biegung in das Gehölz hinein. Unglücklicherweise gab es gerade hier keine Felsblöcke und keine Sträucher, sondern nur schmale junge Buchenstämme, die keine Deckung boten. Sanft stieg der Berg an. Wohin? Vor Haiks innerem Auge beugte sich der eine der Saptiehs vor, legte die Hand über die Augen, spähte scharf, stieß einen Gurgelruf aus und nahm mit der ganzen Mannschaft die Verfolgung auf. Und es war kein Schrecktraum nur. Stimmen! Das Laub raschelte unter den Schritten der Türken. Stephan schloß die Augen und preßte sich eng an Haik. Dieser umfaßte ihn mit dem linken Arm. In der Rechten hielt er das aufgeklappte Dolchmesser. Todesbereitschaft. Doch was so scharf heranflüsterte, das waren keine türkischen Worte:

»Jungens, Jungens! Wo seid ihr? Fürchtet euch nicht!«

Geisterhaft kamen die armenischen Laute. Als Stephan die Augen aufriß, sah er zwischen den Stämmen einen zerlumpten Armierungssoldaten atemlos auftauchen. Ein struppiger Totenkopf mit riesigen Augen. Bis auf diese jammernden Augen glich er beinahe Sarkis Kilikian. Haik faßte sich und steckte das Messer ein. Die Stimme des Straßenarbeiters zitterte vor Aufregung:

»Bist du nicht der Sohn der großen Schuschik, die auf dem Wege nach Yoghonoluk ihr Haus hat? Erkennst du mich nicht?«

Haik ging ungläubig auf das elende Gerippe zu, dem die Fetzen um die Glieder schlotterten, und das zu alldem noch barfuß war. Sein Blick glitt aufmerksam an dem Menschen herab: »Vahan Melikentz aus Azir«, sagte er zögernd, als greife er aufs Geratewohl einen Namen heraus. Der Arbeitssoldat nickte lebhaft, und Tränen rannen ihm in den Stoppelbart, so sehr erschütterte ihn die Begegnung mit den jugendlichen Landsleuten. Haik hatte den Namen nur erraten. Was hatte dieser zerlumpte mit dem eigentlichen Melikentz zu schaffen, dem stattlich prahlerischen Raupenzüchter, dem er täglich begegnet war? Melikentz aber hob verzweifelt die Hände:

»Seid ihr wahnsinnig? Was habt ihr hier zu suchen? Dankt es Christus, dem Erlöser, daß euch der Onbaschi nicht gesehen hat. Gestern haben sie dort unten an der Biegung fünf Armenier erschossen, eine Familie, die nach Alexandrette wollte.«

Haik, wieder völlig Herr seiner selbst, setzte dem ehemaligen Raupenzüchter mit gemessener Würde die Mission auseinander, die er vom Führerrat auf dem Musa Dagh empfangen hatte. Melikentz entsetzte sich:

»Die Straße ist bis Hammam voll Inschaat Taburi. Und in Hammam sind gestern zwei Kompanien angekommen, die gegen den Damlajik geschickt werden sollen. Ihr könnt nur in der Nacht an den Sümpfen von Ak Denis vorbeigehen. Aber da werdet ihr hineinfallen.«

»Wir werden nicht hineinfallen, Melikentz«, erklärte Haik mit lakonischer Zuversicht, und dann forderte er den Landsmann auf, ihm den kürzesten Weg in die Ebene zu zeigen. Vahan Melikentz jammerte:

»Wenn sie mich vermissen, wenn ich zu spät einrücke, bekomme ich die Bastonade dritten Grades. Vielleicht erschießen sie mich auch ... Mögen sie mich erschießen! Ihr wißt nicht, Jungens, wie sehr ich darauf spucke. Oh, wäre ich doch mit den Eurigen auf den Musa Dagh gegangen und nicht mit Nokhudian, dem Pastor! Die Eurigen waren gescheit. Christus helfe ihnen! Uns hat er nicht geholfen.«

Vahan Melikentz riskierte wahrhaftig den Tod, um die Jungen auf den Weg zu bringen. Es war übrigens nur eine kurze und ziemlich bequeme Waldstrecke, die sie zu überwinden hatten. Der arme Raupenzüchter redete unausgesetzt, als wollte er eine ganze Ernte verlorener Worte nachholen oder kurz vor seinem Ende noch verschwenden. Er schien weniger Interesse für die Vorgänge auf dem Musa Dagh zu hegen, als den Drang zu empfinden, sein eigenes Schicksal darzustellen. Haik und Stephan erfuhren auf diese Weise einiges davon, was sich mit der Nokhudiangruppe zugetragen hatte. In Antakje waren alle kräftigen Männer ausgesondert und nach Hammam zum Straßenbau geschickt worden. Die Frauen, Kinder, Alten und Kranken mußten euphratwärts wandern. Pastor Nokhudian konnte beim Kaimakam nicht das geringste erreichen. Mit den armenischen Inschaat Taburi aber hatte es eine ganz besondere Bewandtnis. Jede Abteilung bekam ein bestimmtes Straßenstück zugewiesen, das dann und dann fertig sein mußte. Meldete der Onbaschi die Vollendung dieses Pensums, so wurde die Abteilung zusammengetrommelt, in die nächste Waldung geführt und dort von einer eigenen, in dieser Kunst schon höchst routinierten Truppe mit Schnellfeuer umgelegt.

»Unser Straßenstück«, berechnete Melikentz nüchtern, »reicht bis nach Top Boghazi, das sind noch vierzigtausend Schritt. Alles in allem macht das sechs oder sieben Tage, wenn wir geschickt sind. Dann kommen wir an die Reihe. Wenn sie mich also gleich heute erschießen, verlier ich nur sechs, höchstens sieben Tage.«

Trotz dieser einfachen Bilanz jedoch entfernte sich Vahan Melikentz, als er die Knaben in die Richtung gebracht hatte, mit atemlos großen Sprüngen. Sechs Tage grauenhaften Lebens waren trotz allem sechs Lebenstage. Beim Abschied ließ er einen Klumpen türkischen Honigs in Haiks Hand zurück, den ihm eine mitleidige Muselmanin geschenkt hatte.

Eine rostrote Abenddämmerung war schon eingebrochen, als sie auf der letzten niedrigsten Stufe des Gebirges standen. Vor ihnen dehnte sich die Ebene bis zum Horizont. Sie sahen zu ihren Füßen einen großen See, auf dessen milchig stummer Fläche der schal gefärbte Abend lag. Es war der See von Antiochia, den man auch von gewissen Späherpunkten des Damlajik in der Ferne sehen konnte. Hier aber erschien Ak Denis, das weiße Meer, zum Greifen nah. Die nördliche Küste des Sees war von einer breiten Schilfkrause eingesäumt, in der ein klunkendes und stöhnendes Leben herrschte. Reiher taumelten mit ungeschicktem Flügelschlag aus dem Röhricht, silberne und purpurne; sie kreisten hoch über der Fläche, ihre zierlich abgebogenen Beine gleichsam im Kielwasser des Fluges nachziehend. Dann senkten sie sich wieder langsam zu ihren Brutplätzen hinab. Ein Keil von Wildenten ratterte mit torpedohafter Geschwindigkeit durch die molkige Flut, um auf einer Schilfinsel zu landen. Bis zu den Ohren der Knaben drang der Streit der Rohrspatzen und das menschliche, ja beinahe politische Räsonieren von zehntausend aufgeblähten Riesenfröschen. Der Röhrichtkragen des Ak Denis verlor sich nur allmählich in der Ebene. Weit hinaus waren immer wieder dicke Büschel zu sehen, doch auch Tümpel, blinde Augen, in denen das Weiße zitterte. Im Gegensatz zu der leeren Steppe wirkte das um den See geballte Leben beinahe übertrieben. Er glich einer märchenhaften Tierleiche, an der die buntesten Totenvögel zehrten. Während Stephan nur den See ins Auge faßte, hatte Haiks scharfer Blick sofort die Nomadenzelte entdeckt, die gegen Osten hin verstreut waren, sowie ein paar Pferde, die im rauchigen Nichts kopfhängerisch weideten. Er streckte zielbewußt den Arm aus:

»Dort ist unser Weg. Zwischen der Straße und den Sümpfen. Wenn der Mond herauskommt, gehen wir. Gib deine Flasche her! Ich werde Wasser bringen. Hier ist das Wasser noch gut. Wir müssen viel trinken. Inzwischen kannst du schon schlafen.«

Stephan aber schlief nicht, sondern wartete, bis der Gefährte mit den beiden frischgefüllten Flaschen zurück war. Gehorsam trank er, soviel er nur konnte. Ans Essen dachten sie beide nicht. Haik breitete seine Decke aus, um sich hineinzuwickeln. Stephan aber kroch zu ihm. Die kühle Schlafnachbarschaft des Morgens genügte ihm nicht mehr. Er konnte sein angstvolles Bedürfnis nach Liebe und Freundschaft nicht bezwingen. Und siehe, Haik verstand ihn, Haik war nicht mehr kalt und verschlossen. Haik wies ihn nicht ab. Ja, die trauliche Nähe des Bagradiansohnes schien ihm nicht unwillkommen zu sein. Wie ein älterer Bruder zog er ihn an sich und deckte ihn zu. Die beiden Knaben hielten sich im Schlafe umarmt.

 

Stephan und Haik betraten die Ebene. Wider allen Erwartens zeigte es sich aber, daß der schluchtenreiche, widerborstige Musa Dagh ein weit bequemeres Marschterrain geboten hatte als dieser weite Plan, der sich El Amk, die Einsenkung, nennt. Der heimtückisch schwingende, mit grünbraunem Grind bedeckte Boden war schon sehr feindselige, gar nicht mehr christliche Erde.

Es gehörte Haiks ganze Sinnenschärfe und fast unmenschliche Naturvertrautheit dazu, diesen Weg zu wagen und überdies noch bei Nacht. El Amk war ja nichts andres als ein Göl, ein Sumpf von etwa zehn Kilometer Länge, dessen Rand haargenau eingehalten werden mußte. Nicht viele Hirten, Bauern und Nomaden gab es, die den Mut zu dieser Abkürzung hatten, um das lange Straßenstück bis zur Kara-Su-Brücke zu ersparen. Eine andere Möglichkeit aber gab es für die Knaben nicht, da Vahan Melikentz ja von Militär, Saptiehs und Inschaat Taburi berichtet hatte, die über die ganze Straße verteilt seien. Haik hatte seine Schuhe abgestreift, um den Boden mit nackten Sohlen »besser schmecken« zu können. Stephan folgte seinem Beispiel. Er hatte es bekanntlich schon längst aufgegeben, sich durch eigene Leistungen hervorzutun. Sie liefen wie auf einer sehr dünnen, sehr warmen Brotrinde, unter welcher die Schmolle gärte. Diese Rinde war überall rissig, und aus den Rissen stieg ein dicker schwefelhaftiger Brodem empor. Stephan zeigte sich klug genug, in Haiks Fußstapfen zu bleiben, der mit angespannter Aufmerksamkeit die Beine setzte, einem Tänzer gleich, der genau vorgeschriebene Figuren auszuführen hat. Während dieses Tanzes begannen wirre Gedanken in seinem Kopf zu schaben und zu kratzen:

»Alle Menschen gehen auf der Straße. Warum dürfen wir nicht auf der Straße gehen? ... Warum sind wir überhaupt Armenier?«

Haik fuhr ihm zornig über den Mund:

»Frag nicht so blöd! Paß lieber auf! Wo es grün ist, da tritt nicht hin! Verstanden?«

Da versuchte Stephan wieder in den guten Stumpfsinn zu verfallen, der am besten körperliche Mühsal ertragen hilft. Er tanzte getreulich hinter Haik einher, der auf der gefährlichen Rinde einen Weg voll sonderbarer Kurven beschrieb. So ging es eine Stunde, zwei Stunden, während welcher der Mond bald gutmütig hervorkam, bald bösartig verschwand. Dennoch nahm aber trotz des Riesenweges, den sie hinter sich hatten, Stephans Erschöpfung mit der fortschreitenden Nacht eher ab. Halbes Denken und halbes Fühlen begann sich schmerzhaft wieder zu sammeln wie Grundwasser. Unbezwinglich stieg es in ihm auf. Er mußte sprechen, wie sehr er sich auch vor Haik jetzt fürchtete:

»Also ist das wahr, wir werden unsere Leute« (eine intimere Bezeichnung vermied er) »nie mehr sehen?«

Haik unterbrach seinen figurenhaften Gang nicht. Es dauerte eine Weile, ehe er, wieder auf besseren Boden gelangend, eine Antwort gab. Diese aber glich trotz ihrer christlichen Gewißheit mehr einem Fäusteballen als einem Händefalten:

»Ich werde die Mutter bestimmt wiedersehen!«

Es war das erste innere Bekenntnis, das Stephan aus dem Munde Haiks hörte, seitdem er ihn kannte. Da aber der Schüler Pariser Gymnasien diese Glaubensfestigkeit des groben armenischen Gebirgsburschen nicht besaß, wurde er kleinlaut und verlegen:

»Aber auf den Damlajik können wir doch nicht wieder zurückkommen ...«

Man merkte es dem sprungbereiten Knurren Haiks an, daß ihm dieses Gespräch herzlich widerstand:

»Den Damlajik haben wir hinter uns. Wenn Christus es will, kommen wir lebendig nach Aleppo. Dort versteckt uns Jackson im Konsulat. So steht es im Brief ...« Und mit verletzendem Nachdruck ... »Von dir steht freilich nichts in dem Brief.«

Stephan aber war jetzt ganz und gar nicht mit sich beschäftigt, sondern mit Papa und Mama, die er auf ganz unsinnige Art verlassen hatte; warum, das wußte er jetzt selbst nicht mehr. Seltsam verschob sich das ganze Leben. Der Damlajik wurde zu einer wüsten Phantasie, alles Frühere aber zur eigentlichen, sauberen und wohlbestellten Wirklichkeit. Jackson mußte alles tun, um diesen Unsinn zu korrigieren. Es ging doch wohl nicht an, daß ein Stephan Bagradian in die Lage kam, seine Eltern nicht wieder zu sehen. Er stellte, gewissermaßen schon aus dem Kopf des Konsuls heraus, allerlei Erwägungen an.

»Jackson wird kabeln. Nach Amerika kabelt man nämlich. Glaubst du, werden die Amerikaner Schiffe schicken, um unsere Leute abzuholen?«

»Wie soll ich das wissen, Hammel?«

Haiks beschleunigter Gangart war der Zorn anzumerken. Der eingeschüchterte Stephan mußte seine Seelennot hinabwürgen und sich beeilen, um hinter dem Führer nicht zurückzubleiben. Obgleich kein Wind ging, war es ihm, als brandeten Luftwirbel gegen seine Brust und ließen ihn nicht vorwärtskommen. Er konnte und konnte über diese ganze Geschichte nicht mit sich ins reine kommen. Sein Kopf fing zu schwanken an. Ein starker Atemzug des Mondlichts erfüllte die Welt. Ein smaragdgrüner Strich schwamm auf Stephan zu. Für einen Augenblick verlor er das Bewußtsein der Gefahr aus dem Sinn.

Der gräßliche Schrei bannte Haik fest. Sofort wußte er, was geschehen war. Schattenhaft kämpfte Stephans Gestalt. Bis zu den Knien war der Bagradiansohn schon eingesunken. Haik zischte:

»Ruhe! Schrei doch nicht!«

Doch das unfaßbare Entsetzen zwang diese Schreie immer wieder hervor, deren sich Stephan nicht erwehren konnte. Er glaubte zwischen die walfischartigen Kiefer eines Ungeheuers geraten zu sein, das ihn langsam einsaugte und einschmatzte. Schon schob sich die wulstig zähe Masse über seine Knie. Trotz allem aber war in den Sekunden, in denen er sich wehrte, ein seltsam wohliges Gefühl. Haik kommandierte:

»Einen Fuß zuerst! Rechts! Rechter Fuß!«

Kleine Angstlaute ausstoßend, machte Stephan untaugliche Bewegungen. Seine Beine hatten keine Kraft mehr. Er hörte jetzt einen neuen scharfen Befehl:

»Auf den Bauch legen!«

Gehorsam beugte er sich vornüber, so daß er das trockene Land mit den Fingerspitzen erreichen konnte. Als Haik sah, daß Stephan die Energie fehlte, sich herauszuarbeiten, schob er sich selbst auf dem Bauch zu der Sumpfstelle hin. Der Stock jedoch, den der Eingesunkene ergriff, genügte auch nicht, um ihm Kraft genug zu geben. Da löste Haik das Gürteltuch, das er um den Kopf geschlungen hatte, und warf es Stephan hin, damit er es mit einem Knoten um seine Brust befestige. Eisern hielt er es auf der andern Seite fest. Es diente als eine Art Rettungsseil. Nach endlosen Versuchen konnte Stephan schließlich das rechte Bein, das nicht allzuweit eingesaugt war, freibekommen. Eine gute halbe Stunde war vergangen, als Haik ihn wie einen Ertrunkenen auf die feste Erde zog. Eine weitere halbe Stunde verging, ehe sich Stephan so weit erholt hatte, um, von Haik nunmehr an der Hand geführt, auf dem tückischen Boden weitertaumeln zu können. Er war bis zur Brust hinauf mit Schlamm bedeckt, der an der Luft rasch trocknete und unter seiner festen Kruste die Haut der Arme und Beine zusammenzog. Ein günstiger Umstand war es noch, daß Stephan seine Schuhe in den Rucksack gesteckt und diesen während des Kampfes mit dem Sumpf weit von sich aufs Trockene geschleudert hatte. Mit festem Griff führte Haik den Halbbewußtlosen. Er schalt ihn nicht wegen seiner Unvorsichtigkeit, sondern wiederholte mehrmals wie eine Beschwörung:

»Wir müssen bei der Brücke sein, ehe es hell wird. Vielleicht stehn Saptiehs dort ...«

In dem Bagradiansohn raffte sich noch einmal aller Stolz und Ehrgeiz auf:

»Jetzt kann ich ... schon wieder gut gehn ...«

Als sie sich gegen Norden wandten, wurde der Boden sicherer. Das matratzenartige Schwingen hörte auf. Stephan löste sich von Haik und warf seine Beine in scheinstrammem Takt. Aus der Ferne kam ein Wehen und Glitzern. Haiks Sinne spürten den Karu-Su-Fluß. Bald kletterten sie über den Damm auf die Straße, die wie ein breiter Lichtstreif die Nachtwelt erleuchtete. Das Postenhäuschen an der Brücke war leer. Wie vom Teufel gejagt, rannten die Jungen an dieser allergrößten Gefahr vorbei, die nun zum Glück keine war. Diesmal aber wirkte die glatte Heerstraße ganz anders auf Stephan als am Nachmittag. Der geebnete Boden der Zivilisation raubte seinen Gliedern die letzte Kraft. Hinter der Brücke wurde sein Schritt immer stockender. Er begann im Zickzack zu schwanken und legte sich plötzlich mitten auf die Fahrbahn hin. Haik starrte zu ihm nieder. Zum erstenmal zeigte er Verzweiflung:

»Ich verliere Zeit ...«

 

Etwa eine Stunde jenseits der Brücke läuft die Straße auf einem langen hochgebauten Steindamm über den letzten großen Sumpf von El Amk. Der Damm heißt Dschisir Murad Pascha und eröffnet recht eigentlich das große Steppenland, das viele hundert Meilen über Aleppo und den Euphrat hinaus sich bis nach Mesopotamien erstreckt. Nicht weit aber von diesem Damm erhebt sich an der nördlichen Straßenseite die reizendste Hügellandschaft wie eine letzte grüne Herzlichkeit vor Tod und Erstarrung. Am Fuße dieser Hügelwelt liegt ein großes Turkmenendorf, Ain el beda, klare Quelle. Allein schon lange, bevor sich die Siedlungen zu diesem Dorfe zusammenschließen, begegnet die Straße einzelnen Häusern aus Holz und Stein, auffallend blanken Bauerngehöften. Hier hatte vor fünfzig Jahren die Regierung Abdul Hamids einen der turkmenischen Wanderstämme seßhaft gemacht. Niemand gibt einen besseren und strengeren Bauern ab als solch ein bekehrter Nomade. Dies bewiesen die festgebauten und wohlgedeckten Behausungen dieser sanften Gegend.

Das erste Gehöft lag dicht an der Straße. Eine Stunde nach Sonnenaufgang trat der Besitzer aus der Haustür, prüfte Wind, Wetter, Weltrichtungen und breitete seinen kleinen Teppich aus, um, gen Mekka gewandt, das früheste der fünf täglichen Gebete zu verrichten. Der Fromme bemerkte die beiden Jungen erst, als auch sie, dicht vor dem Haus auf ihren Decken hockend, die vorgeschriebenen Beugungen und Wendungen des Gebetes in der gleichen Vollständigkeit ausführten wie er. Dem Turkmenen gefiel diese frühmorgendliche Inbrunst der Jugend, doch als ruhevoller Moslem dachte er nicht daran, seine langwierige Gottespflicht durch irgendeine profane Frage zu unterbrechen.

Haik war es mittels vieler Rasten gelungen, Stephan über den Damm Dschisir Murad Pascha bis zur Grenze dieses Hügellandes zu schleppen. Angesichts des Bauernhauses hatte er ihm noch einmal eingeschärft, alles, was er tue, genau nachzuahmen und den Mund so wenig wie möglich zu öffnen, da er nur ein paar türkische Worte spreche und dies auf die verräterischste Art. Was aber das moslemische Gebet anbelange, so bedeute es keine Sünde, wenn man dabei mit Aufmerksamkeit ein Vaterunser nach dem anderen flüstere. Letzteres aber vermochte Stephan nicht. Leblos steif wie eine Holzpuppe brachte er nur mit äußerster Kraftanstrengung eine matte Kopie von Haiks religiösen Verrenkungen zustande. Nachher sank er sogleich auf seiner Decke zusammen, den frischen Morgenhimmel mit glasigen Augen bestarrend. Der turkmenische Bauer, ein älterer Mann schon, trat wiegenden Ganges auf das verdächtige Paar zu:

»Ihr Schlingel da! So früh auf der Straße, he? Was gibt es? Was sucht ihr?«

Glücklicherweise redete er selbst irgendein Dialekt-Türkisch, so daß Haiks armenische Aussprache nicht besonders auffiel. In Syrien, diesem großen Mischkrug der Völker, waren übrigens auch alle Sprachen durcheinandergeschüttelt. Der Wort- Klang konnte daher dem Turkmenen kein Mißtrauen einflößen:

»Sabahlar hajr olsun! Guten Morgen, Vater! Wir kommen von Antakje. Haben die Eltern auf dem Wege verloren. Die sind mit ihrem Wagen nach Hammam gefahren. Wir wollten ein bißchen laufen und haben uns verirrt. Dieser da, Hussein, wäre fast ertrunken. In den Sümpfen. Sieh dir ihn nur an! Jetzt ist er krank. Kannst du uns nicht ein Plätzchen geben, damit wir uns ausschlafen?«

Mit der Gebärde der Weisheit griff sich der Turkmene in den grauen Bart. Dann stellte er, die Partei der Knaben nehmend, folgende gerechte Erwägung an:

»Was sind das für Eltern, die ihre Kinder mitten im Sumpf verlieren und weiterfahren? ... Ist der hier dein Bruder?«

»Nein, er ist nur ein Verwandter und auch aus Antakje. Ich heiße Essad ...«

»Nun, dieser dein Hüssein scheint wirklich krank zu sein. Hat er vielleicht Sumpfwasser getrunken?«

Haik wartete zur Entgegnung mit einem frommen Spruch auf, dann senkte er den Kopf:

»... Gib uns zu essen und zu schlafen, Vater!«

All diese Verstellung wäre nicht nötig gewesen, denn das Herz des Türken war voll Güte. Seit Monaten schon zogen die Transporte der Ausgestoßenen an seinem Hause vorüber. Er hatte so manchen armenischen Kranken, so mancher armenischen Schwangeren, die auf der Straße zusammengebrochen war, mit Speis und Trank, mit Kleid und Schuh stille Wohltaten erwiesen, nach seinem Vermögen und ohne allzuoft des jenseitigen Lohnes zu gedenken. Bei diesen guten Werken mußte man aber der Saptiehs wegen äußerst vorsichtig sein. Auf das Verbrechen des Mitleids mit Armeniern stand laut den neuen Gesetzen Bastonade, Gefängnis, und in schweren Fällen der Tod. Hunderte von gutherzigen Türken rings im Land, denen das unmenschliche Elend der Deportierten das Herz zerbrochen hatte, wußten ein Lied davon zu singen. Der Bauer unterzog die beiden Landstreicher einer eingehenden Betrachtung. Die Tausende von Armenieraugen, die dort auf der Straße zu ihm emporgebettelt hatten, erwachten in seiner Erinnerung. Das vergleichende Ergebnis war ziemlich eindeutig, insbesondere was den Kranken anbetraf. Doch gerade dieser sogenannte Hussein weckte das Erbarmen des Turkmenen lebhafter als der sogenannte Essad, der erstens gesund war und zweitens hoffnungsvoll durchtrieben zu sein schien.

Der Hausvater ließ nun einen kurzen Ruf erschallen, und alsbald traten zwei Weiber, eine Alte und eine Junge, aus der Tür, die angesichts der Fremden eilfertig ihren Schleier herabließen. Sie bekamen einige barsche Befehle und verschwanden wieder mit geschäftigen Schritten. Der Turkmene führte Haik und Stephan ins Haus. Neben der raucherfüllten Hauptstube, in der man kaum atmen konnte, lag eine kleine leere Kammer, eine Art Verlies, das nur durch eine Scharte Licht empfing. Die Jungen stolperten über eine Stufe in dieses finstre Loch. Indessen hatten die Weiber die Matten und Decken gebracht. Sie bereiteten auf dem Lehmboden der Kammer zwei Lagerstätten. Als sie aber Stephans Glieder sahen, die noch immer in den erstarrten Schlammkrusten wie in Hülsen staken, holten sie ein Schaff mit heißem Wasser sowie eine unheimliche Bürste und begannen mit mütterlich resoluter Kraft die Arme und Beine des Armenierknaben abzureiben. Bei diesem anstrengenden Werk lüftete die Ältere sogar den Schleier, da es sich hier ja nur um halbwüchsige Kinder handelte. Unter der kräftigen Handhabung der Bäuerinnen geschah es, daß sich nicht nur von Stephans Körper alles Erstarrte löste, sondern auch von seinem Gemüt. Wie kochende Flut wallte in ihm das unterdrückte Heimweh auf. Er preßte die Lippen zusammen, während seine Augen verräterisch zwinkerten. Von diesem kindlichen Schmerz ergriffen, sparten die turkmenischen Weiber nicht mit fremdartig-melodischem Zuspruch. Nachher brachte das alte Bauernweib eine Schüssel mit Graupen in Ziegenmilch, Fladenbrot dazu und zwei hölzerne Löffel. Während die Jungen aßen, kam die ganze vielköpfige Familie des Turkmenen zum Vorschein, um sich teils im Verlies, teils im Türausschnitt mit ermunternden Nötigungen am Werke ihrer eigenen Gastfreundschaft zu erfreuen. Doch trotz der gastfreundlichen Wirte und der warmen Speise konnte Stephan kaum fünf Löffel hinunterwürgen, so eng und geschwollen war seine Gurgel. Haik aber vertilgte die ganze Schüssel mit der ernsten Nachdenklichkeit eines essenden Schwerarbeiters.

Von der neugierigen Familie allein gelassen, schlief Stephan sofort ein, während der besonnene Haik noch rasch den Marschplan für den nächsten Wegabschnitt überlegte. Er hoffte, daß auch Stephan am Abend wieder bei Kräften sein werde, so daß man bei Mondaufgang aufbrechen konnte. In der Nacht ließ sich die Strecke bis Hammam ohne Schwierigkeiten zurücklegen. War die Straße frei, um so besser, war sie nicht frei, so mußte man sich ein wenig abseits am Fuße des Hügelgeländes halten. Diese Hügel boten ohne Zweifel den besten Unterschlupf für den nächsten Tag, wenn man über Hammam hinaus den Punkt erreicht hatte, wo das große Bogenstück der Straße in der Sehne abgeschnitten werden sollte. Trotz allen Zwischenfällen war Haik mit dem bisher Geleisteten zufrieden. Die größten Gefahren lagen noch vor ihnen, aber die größten Strapazen waren überwunden. Leider täuschte sich Haik über Stephans Kräfte. Ein Wimmern und Stöhnen riß ihn aus dem tiefen Ermüdungsschlaf, dem er sich hier in der sicheren Kammer ohne Vorbehalt überlassen hatte. Stephan hockte, unter Schmerzen sich krümmend, auf seiner Matte. Fürchterliche Koliken zerschnitten seinen Leib, die Folgen des Abenteuers in den Sümpfen von El Amk. Auch zeigte es sich erst jetzt, daß seine Haut über und über mit Moskitostichen besät war. Nun konnte man an Ruhe nicht mehr denken. Die Hausleute benahmen sich weiter freundlich mitleidsvoll. Die Weiber hitzten runde Steine, die sie dem Jungen auf den Bauch legten, und bereiteten einen vielleicht heilsamen, doch um so widerlicheren Tee, den Stephan nicht bei sich behalten konnte. Erst gegen Abend ließ das Übel nach, das den Ärmsten unzählige Male gezwungen hatte, hinter das Haus zu wanken. Stephan war zum Schatten geworden, doch auch Haik, um den schwerverdienten Schlaf gekommen, sah grün und hinfällig aus.

Der Bauer hatte »Essad« und »Hüssein« erlaubt, ihr Nachtlager auf dem Hausdach aufzuschlagen. Seit Wochen schon in freier Luft lebend, konnten sie es in dem dumpfigen Loch voll Rauch, Ungeziefer und ranzigem Fettgeruch nicht aushalten. Nun saßen sie auf ihren Matten zwischen Pyramiden von Maiskolben, hochgeschichteten Schilfbündeln und Haufen von Süßholzwurzeln. Stephan blickte, fieberfröstelnd in seine Decke gewickelt, unablässig nach Westen. Zu dieser vorabendlichen Stunde bauten sich die Küstengebirge dort drüben höher auf, als sie waren, in vielen einander überwachsenden Schichten und in den reichsten Tinten, vom tiefen Saphirblau bis zum silberhauchigen Grau. Und so unglaubwürdig nahe waren die Berge. Hatten Haik und Stephan wirklich zwei volle Nächte und einen halben Tag durchwandern müssen, um diesen Katzensprung zurückzulegen? Dort der letzte Berg im Süden, der scharf abbrach, das mußte der Damlajik sein. Wie ein Wild auf der Flucht vor den Jägern war er mitten im gestreckten Lauf erstarrt. Sein langer Rücken senkte sich gegen Norden. Den Kopf duckte er zwischen den vorgelagerten Höhen. Seine Pranken aber schlugen wild nach hinten aus, wo die breite Oronteslücke das Meer ahnen ließ. Stephan sah nur den Damlajik. Er glaubte die Südbastion zu unterscheiden, die Kuppen, die Scharte der Steineichenschlucht, den Nordsattel, wo er vor unendlicher Zeit Abschied genommen hatte, ohne Abschied zu nehmen. Warum eigentlich? Er konnte sich gar nicht mehr erinnern. Der Damlajik schien heftig zu atmen, näher zu schweben, auf die Straße nach Aleppo, auf das Bauernhaus der turkmenischen Hügel, auf Stephan Bagradian zu. Haik wußte alles. In ihm erwachte die Gütigkeit des wahrhaft Starken, die angesichts eines Unterliegenden so gerne schwach wird:

»Hab keine Angst! Wir bleiben so lange, bis du wieder wirst laufen können.«

Der Fiebernde starrte noch immer verklärt küstenwärts:

»Ganz nahe ... ganz nahe sind sie ... ich meine die Berge ...«

Dann aber rappelte er sich auf, erregt, als sei es nun höchste Zeit. Haiks drohende Worte klangen ihm in den Ohren. Er wiederholte mit klappernden Zähnen:

»Es geht nicht um mich und dich, sondern um den Brief an Jackson ...«

Haik nickte bestätigend, doch ohne Vorwurf: »Besser wäre es schon gewesen, wenn dich Hagop angezeigt hätte ...«

Stephans verschrumpftes Gesichtchen begehrte nicht mehr auf, sondern versuchte friedfertig zu lächeln:

»Das macht nichts ... Du wirst durch mich keine Zeit verlieren ... Ich gehe zurück ... morgen ...«

Haik duckte sich plötzlich und winkte Stephan heftig, desgleichen zu tun. Von der nahen Straße, die den ganzen Tag nicht sonderlich belebt gewesen war, drang ein merkwürdiges Gescharre mit lallenden Jammerlauten herauf. Ein paar Saptiehs trieben einen kleinen Armeniertransport gegen Hammam. Transport war freilich eine allzu großartige Bezeichnung für diese Nachfechsung alter Leute und kleiner Kinder, die man in irgendwelchen gottverlassenen Dörfern aufgestöbert hatte. Die Saptiehs, die noch vor Mitternacht in Hammam sein wollten, fluchten und hieben auf den armseligen Spuk ein, so daß er unglaublich rasch hinter der nächsten Straßenbiegung verschwand. Dieser bedeutsame Zwischenfall schien Haiks Meinung endgültig befestigt zu haben:

»Ja! Es ist das allerbeste, wenn du zurückgehst. Aber wie? Durch die Sümpfe kannst du allein nicht kommen ...«

In Stephans Geist, der die Berge so traulich nahe fühlte, verwirrten sich alle Maße:

»Warum denn nicht? Der Weg ist nicht so weit ...«

Haik aber schüttelte entschieden den Kopf:

»Nein, nein, durch den Sumpf kannst du allein nicht kommen. Es ist besser, du gehst an Antakje vorüber. Dort, siehst du!? Das ist viel leichter ... Aber auch dort werden sie dich auf den Wegen erwischen. Du sprichst nicht türkisch, du kannst nicht beten wie sie und siehst überhaupt so aus, daß sie gleich rasend werden ...«

Stephan sank träumerisch auf seine Decke zurück:

»Ich werde ja nur in der Nacht laufen ... Vielleicht erwischen sie mich dann nicht ...«

»Ach, du«, brummte Haik mitleidsvoll verächtlich und überlegte, wie weit er Stephan begleiten könne, ohne mehr als einen Tag für seine große Aufgabe zu verlieren. Der Bagradiansohn aber, dem in fieberfröstelnder Behaglichkeit jetzt alles einfach und leicht vorkam, stammelte vor sich hin:

»Vielleicht wird mir Christus helfen ...«

Diese Hilfe freilich erschien unter den obwaltenden Umständen Haik noch als die einzig praktische. Außer der himmlischen hatte er sehr wenig andere Hoffnung für die glückliche Heimkehr Stephans auf den Musa Dagh. Und wirklich, eine höhere Macht schien jetzt zu Stephans Gunsten eingreifen zu wollen. Der turkmenische Hausvater erkletterte über die angelehnte Leiter sein Dach und begann die Schilfbündel und das Süßholz hinabzuwerfen. Haik sprang sogleich auf und half ihm diensteifrig bei dieser Arbeit. Als sie mit ihr fertig waren, schien der Bauer einen überraschenden Einfall zu haben und blinzelte Stephan an:

»Wollt ihr mit, ihr Burschen? Morgen früh fahre ich nach Antakje zum Markt. Weil ihr aus Antakje seid, will ich euch nach Hause bringen. Noch am Abend werden wir dort sein ...«

Und mit stolzem Selbstbewußtsein wies er auf den großen Stall hinter dem Hause:

»Ich fahre nicht mit dem Ochsenwagen, damit ihr es wißt, sondern mit dem Pferdchen und einem wirklichen Räderwagen.«

Haik schob den falschen Turban ein wenig zur Seite, um sich nachdenklich seinen Kopf zu kratzen, den Witwe Schuschik vor seinem Aufbruch kahlgeschoren hatte:

»Nimm den Vetter Hussein hier nach Antakje mit, Vater! Seine Leute wohnen dort. Die Meinigen sind ja in Hammam. Schade, daß du mit deinem Wagen nicht nach Hammam fährst! Da werd ich halt laufen müssen ...«

Der Turkmene versenkte sich aufmerksam in den Anblick des Pfiffigen:

»Aus Hammam sind deine Eltern. Allah kerim, bir! Gott ist gnädig, Junge! In Hammam kenne ich jeden Menschen. Was für ein Geschäft haben sie?«

Haik begegnete den forschenden Augen des Bauern mit gekränkter Nachsicht:

»Aber, Vater, ich habe dir doch gesagt, daß sie erst seit gestern dort sind. Sie wohnen im Chan Omar Agha ...«

»Janasydsche, mögen sie dort glücklich sein! Aber im Chan Omar Agha ist Einquartierung. Die Soldaten, die gegen die verräterischen Ermeni auf dem Musa Dagh gesandt werden ...«

»Was sagst du? Einquartierung? Davon haben die Meinigen nichts gewußt. Vielleicht aber ist das Militär schon abgezogen. Nun, Hammam ist groß, und es wird auch noch andere Herbergen geben.«

Dagegen ließ sich wirklich nichts sagen. Der Turkmene, dem es nicht gelungen war, Essad zu entlarven, dachte angestrengt nach, bewegte ein paarmal stumm die Lippen und räumte schließlich das Feld.

Lang vor Mitternacht schon rüstete sich Haik zum Aufbruch. Vorher aber sorgte er noch für Stephan, so gut er konnte. Er packte ihm eine seiner Fleischwürste in den Rucksack. Gott weiß, vielleicht verirrte sich der Ungeschickte und der Proviant ging ihm aus. Haik aber traute es sich zu, in der Ebene von Aleppo überall Speis und Trank zu finden. Er füllte ferner Stephans Thermosflasche an der Quelle, die am Haus vorüberfloß; er säuberte seine Kleider von dem trockenen Schmutz. Während er mit geradezu erbitterter Sorge um den Kameraden bemüht war, gab er ihm immer wieder genaue Lehren darüber, wie er sich zu verhalten habe:

»Er bringt dieses Zeug dort zum Wochenmarkt. Du kannst dich sehr gut dazwischen verstecken. Am besten, du sprichst kein Wort. Bist ja krank, nicht?! Sobald du die Stadt siehst, springst du ab, aber ganz leise, verstehst du, und legst dich ins Feld in einen Graben, in ein Loch. Dort wartest du, bis alles finster ist ... Hast du das kapiert?«

Stephan hockte verkrümmt auf seiner Matte. Er fürchtete die Koliken, die sich wieder meldeten. Mehr noch fürchtete er die Verlassenheit. Die Nacht war nicht wolkenbewegt wie gestern, sondern makellos klar. Dicht und weiß stand der ungeheure Torbogen der Milchstraße über dem Dache des Turkmenen. Stephan fühlte einen Augenblick lang Haiks Hand in der seinen. Das war alles. Noch einmal vernahm er des Freundes Stimme, hochmütig und grob wie einst:

»Mach es gut, hörst du, und zerreiß den Brief an Jackson!«

Haik hatte schon den Fuß auf die Leiter gesetzt, als er noch einmal zu Stephan zurückkehrte. Ohne ein Wort zu sagen, bekreuzigte er ihm rasch und scheu die Stirn und die Brust.

In Zeiten der Todesnot soll jeder Armenier für jeden Armenier ein Priester und Vater sein. Dies hatte Ter Haigasun im Religionsunterricht zu Yoghonoluk gelehrt, als noch kein Mensch wußte, daß die Zeit der Todesnot schon angebrochen war.

 

Knapp vor dem Dorfe Ain el beda bog der Karrenweg in die Ebene ein. Der Turkmene ließ sein Pferdchen frisch durch die völlig leere Frühe laufen. Der hochbeladene Leiterwagen holperte grausam über die tiefen, erstarrten Räderspuren. Stephan bemerkte das schmerzhafte Geratter kaum. Er lag auf seiner Decke zwischen den Schilfbündeln und fieberte. Dieses Fieber war eine Gnade Gottes. Es betäubte Zeit und Raum in ihm. Von matten, aber recht angenehmen Bildern umwirrt, dachte er nicht daran, wohin er getragen werde und was seiner warte. Auch half ihm das Fieber, das seine braungebrannte Haut noch tiefer verfärbte, freundschaftlich beim Simulieren. Immer, wenn der Bauer sein Pferd rasten ließ, vom Bock stieg und sich nach seinem Fahrgast umsah, stöhnte dieser laut und schloß die Augen. Somit führte keiner der zahlreichen Unterhaltungsversuche des guten Turkmenen zu einem nennenswerten Erfolg. Er bekam nur einsilbige Wehlaute zu hören und hie und da die flehentliche Bitte, das Gefährt anzuhalten. Für diesen Fall hatte ihm Haik die notwendige Redensart eingeschärft: »Ben bir az hasta im.« – »Ich bin ein wenig krank.« Und Stephan wiederholte diesen treulichen Satz bei jeder Gelegenheit mit Todesverachtung. Auf diese Weise kam er auch um alle Gebete herum, denn die Kranken und Siechen sind im Islam von jenen religiösen Verrichtungen befreit, die den Körper in Anspruch nehmen. Nachdem sie den kleinen Fluß Afrin auf einer Holzbrücke überquert hatten, schickte sich der Bauer an, Mittag zu halten. Er schirrte sein Pferd ab und hängte ihm den Futtersack um. Auch Stephan mußte absteigen und sich mit dem Alten wegabseits auf der verbrannten Steppe lagern. Der Karrenweg war fast überhaupt nicht befahren. Bisher waren ihnen nur zwei Ochsenkarren aus der Gegenrichtung begegnet. Die Bauern der Gegend benützten die große Straße, die von Hammam nach Antakje führt. Der Turkmene packte Fladenbrot und Ziegenkäse aus und schob Stephan einen Anteil zu:

»Iß davon, Junge! Essen schlägt alle Schmerzen tot.«

Stephan wollte seinen Wirt nicht kränken und biß mit matten Zähnen in den Käse. Er kaute und kaute, ohne den ersten Bissen schlucken zu können. Der Freundliche blickte ihn sorgenvoll an:

»Vielleicht wirst du mehr Kraft brauchen, als du hast, Söhnchen ...«

Stephan verstand die gutturalen Worte nicht, durfte es aber nicht zu erkennen geben. Er verneigte sich deshalb, legte die Hand aufs Herz und rezitierte den Universalsatz von seiner Krankheit, mochte er passen oder nicht:

»Ben bir az hasta im.«

Der Turkmene schwieg lange. Dann machte er, während seine mächtigen Backenknochen geruhsam mahlten, eine heftige Bewegung mit seiner messerbewehrten Faust, als wolle er etwas entzweischneiden. Stephan erschrak bis ins Lebensmark. Denn nun hörte er armenische Worte:

»Du heißt gar nicht Hussein. Laß diese Geschichten! Willst du wirklich nach Antakje? Ich glaub es dir nicht.«

Stephan wäre durch diesen Schlag fast um die Besinnung gekommen. Trotz seines Fiebers rannen ihm kalte Schweißtropfen über die Stirn. Die kleinen tiefliegenden Augen des Turkmenen waren sehr traurig geworden:

»Fürchte dich nicht, wie du auch heißt, und glaube an Gott! Solange du bei mir bist, wird dir nichts geschehen.«

Stephan nahm all seine Kenntnisse zusammen und versuchte ein paar türkische Worte zu stammeln. Der alte Bauer winkte ab, noch immer mit dem Messer in der Hand. Er brauchte keine Worte mehr. Der elenden Herden gedachte er, die von den Saptiehs bei Tag und Nacht an seinem Hause vorbeigetrieben wurden:

»Woher stammst du, Junge? Kommst du aus dem Norden? Bist du ihnen durchgebrannt? Fort aus einem Transport, he?«

Stephan faßte notgedrungen Zutrauen. Kein Leugnen mehr hätte geholfen. Er flüsterte ein rasches, abgehacktes Armenisch, damit ihn nur sein Wirt und nicht die feindselig lauschende Welt verstehen könne:

»Ich bin von hier. Vom Musa Dagh. Aus Yoghonoluk. Ich will nach Hause. Zu meinen Eltern.«

»Nach Hause?« Die knollige Bauernhand strähnte weisheitsvoll den grauen Bart: »Da gehörst du ja zu denen, die auf den Berg gezogen sind und dort Krieg gegen unser Militär führen. Schau einmal an ...« Die Stimme des Guten verfinsterte sich. Stephan glaubte schon, jetzt sei alles zu Ende. Er sank zur Seite und preßte schicksalergeben das Gesicht auf den braundürren Pelz dieser Erde. Der Turkmene hielt sein großes Messer in der Hand. Er mußte bloß zustoßen. Wann würde er's tun? Doch nur die schmunzelnde Stimme des Alten schlug an sein Ohr:

»Und wie heißt der andre, dein Vetter, dieser Essad? Das ist eine geriebene Seele. Die bekommt man nicht so leicht wie dich, Junge ...«

Stephan gab keine Antwort. In die letzte Bereitschaft eingewühlt, wartete er. Bald aber fühlte er sich von steinharten, doch sanftmütigen Händen aufgehoben:

»Was kannst du denn für die Alten und ihre Schuld? Gott möge dich hinbringen. Es wird dir und es wird ihnen nichts nützen. Jetzt komm! Wir wollen sehen, was sich machen läßt.«

Stephan mußte sich wieder in den Wagen zwischen die Schilfbündel legen. Der Turkmene aber schien ungeduldig geworden zu sein und hieb auf den Gaul ein, obgleich dieser so viele Meilen schon hinter sich hatte und sein struppiges Fell von Schweiß glänzte. Die Fahrt geriet jetzt oft in scharfen Trab, ja in kurzen Galopp, während der Bauer sonderbare Selbstgespräche führte oder das Pferd mit tadelnden Zurufen bedachte. Wie sehr Stephan auch zusammengeschüttelt wurde, er fühlte sich auf seinem rasselnden Bett immer tiefer in Gottes wohliger Hut. Er versuchte an Mama zu denken. War sie wirklich krank? Ach nein, nichts, gar nichts war geschehen. Was aus Sato, dieser Hündin, kommt, ist Gestank und Lüge. Wenn er, Stephan, zurückkehrt, wenn er vor dem langen Graben des Nordsattels stehen wird, dann rennt Awakian wie ein Toller um Papa, dann stürzen sie beide ihm entgegen, die Eltern, dann werden sie vor Freude über den Geretteten weinen, dann werden sie ihn umarmen und sich umarmen wie in alter Zeit. Trotz dieser mühsamen Gaukeleien gelang es Stephan nur sehr selten, Mamas reines Bild zu gewinnen. Meist war sie auf eine für ihn leidvolle Art mit Iskuhis Gestalt zusammengeschmolzen. Er konnte dagegen nichts tun, obgleich ihn das Zwitterbild eigentümlich peinigte. Dann aber mahnte ihn wieder Haiks Stimme, die Zeit nicht leichtsinnig zu vertrödeln. Jetzt war es Tag, jetzt hieß es schlafen und Kraft sammeln für den nächtlichen Weg. Er preßte, dem Freunde gehorsam, die Lider zu. Doch sein Knabenkörper hatte gegen den Schlaf schon so schwer gesündigt, daß dieser nichts mehr von ihm wissen wollte, sondern nur einen untergeordneten, aus Ohnmacht, Fieberflut und Überwachheit gemischten Wechselbalg schickte, der die Glieder lähmte, anstatt sie zu erquicken. Stephan schlief und erwachte nicht, als das Tageslicht immer goldhaltiger wurde, der abgehetzte Gaul in klapprigem Schritt einherzottelte und der Karrenweg ins Steigen zu kommen schien. Der Bauer hielt und hieß den fiebernden Fahrgast aussteigen. Mit schwerer Mühe entriß sich Stephan seinem Zustand und kroch vom Wagen herab. Er sah in mäßiger Ferne eine nackte Kuppe, von Festungsmauern umgürtet, deren Fuß mit weißen Häuserwürfeln weithin bedeckt war. Der Turkmene stieß seine Peitsche in dieses Bild:

»Habib en Neddschar, die Zitadelle! Antakje! Jetzt mußt du dich besser verstecken, Junge!«

Tatsächlich mündete der holprige Weg ein paar hundert Schritte weiter in die Bezirksstraße von Hammam, die Dschemal Pascha ebenfalls hatte neu schottern lassen. Auf dieser frischen Bahn herrschte unerwartet großes Leben. Der Turkmene schob die Schilfbündel auseinander, wodurch im Wagen eine tiefe Grube entstand:

»Da kriech hinein! Ich führe dich durch die Stadt und noch ein Stück über die Eiserne Brücke hinaus. Weiter aber geht's nicht. So, jetzt bleib still liegen!«

Stephan streckte sich aus. Der Bauer bedeckte ihn sehr geschickt, so daß er Luft bekam und unter der Last nicht allzusehr zu leiden hatte. In diesem Graben wichen alle Gedanken und Bilder von der Seele des Bagradiansohnes. Er lag da, nur mehr ein Stück gleichgültiger Schwere, ohne Furcht und ohne Mut. Der Wagen rollte schon auf der breiten Straße, glatt und angenehm. Stimmen lärmten und lachten von allen Seiten. Gleichgültig vernahm sie Stephan in seiner Tiefe. Dann holperte die Fahrt wieder, wie es schien, über eine gepflasterte Strecke. Plötzlich aber hielt der Wagen mit einem erschrockenen Ruck. Männer näherten sich und umstellten das Gefährt. Ohne Zweifel Saptiehs, Soldaten oder Polizisten. An Stephans Ohr drang das Gespräch dumpf und doch wie durch ein Schallrohr verstärkt:

»Wohin, Bauer?«

»In die Stadt, zum Wochenmarkt! Wohin denn anders?«

»Hast du deine Papiere in Ordnung? Zeig her! Was führst du da?«

»Marktware! Seht selbst nach. Schilf für die Zimmerleute und ein paar Oka Süßholz ...«

»Verbotenes hast du nichts? Kennst du das neue Gesetz? Getreide, Mais, Kartoffeln, Reis, Öl müssen an die Behörde abgeliefert werden.«

»Ich habe meinen Mais schon in Hammam abgeliefert.«

Ein paar Hände begannen die obersten Schichten flüchtig durcheinanderzuwerfen. Stephan fühlte es, ohne Furcht und ohne Mut. Dann zog das matte Pferdchen wieder an. Sie fuhren durch einen Tunnel von schreienden Menschenstimmen im trägsten Schritt. Immer schwächer sickerte das Licht zu Stephan hinab. Es war schon dunkel, als der zweite Anruf erfolgte. Der Turkmene aber hielt jetzt gar nicht an. Eine hohe Stimme keifte hinterdrein: »Was habt ihr da für neue Sitten? Nächstens fährst du am Tag. Verstanden? Wann werden diese Klötze endlich begreifen, daß wir Krieg haben.«

Die Hufe klapperten über die riesigen Steinquadern der Kreuzfahrerbrücke, die aus einer vergessenen Ursache »die Eiserne« genannt wird. Hinter der Brücke befreite der Turkmene den Fiebernden von seinen Lasten. Stephan durfte sich nun wieder, in seine Decke gewickelt, zwischen die Schilfbündel legen. Der Bauer war höchst zufrieden:

»Freu dich, Junge! Nun hast du das Schlimmste hinter dir. Allah meint es mit dir gut. Deshalb werde ich dich auch noch ein Stückchen weiter bis Mengulje bringen, wo ich bei einem Gevatter den Gaul einstellen und übernachten kann.«

Obgleich Stephans Lebensdocht tief herabgeschraubt war, erwies sich die Entspannung jetzt als doch so groß, daß er sogleich in einen schweren Schlaf verfiel. Der Turkmene trieb sein armes Roß noch einmal an, um mit seinem Schützling so schnell wie möglich im Dorf Mengulje zu sein, von wo freilich Stephan noch immer gute zehn Meilen zu laufen hatte, um die Abzweigung ins Dörfertal zu erreichen. Doch die simple Bauernseele hatte die Findigkeit eines armenischen Schicksals bei weitem unterschätzt. Stephan erwachte unter dem scharfen Licht von Karbidlampen und Blendlaternen, die über sein Gesicht hin und her fuhren. Uniformgesichter beugten sich zu ihm herab, Schnurrbarte, Lammfellmützen. Der Wagen war mitten in das Lager einer der Kompanien geraten, die der Wali dem Kaimakam von Antiochia aus der Stadt Killis zu Hilfe gesandt hatte. Die Zelte der Soldaten waren zu beiden Seiten der Straße aufgeschlagen. Nur die Offiziere hatten in Mengulje Quartier genommen. Der Turkmene stand ruhig neben dem Wagen. Vielleicht um seine Bestürzung zu verbergen, begann er das Pferdchen abzuklopfen. Einer der Onbaschis nahm ihn ins Gebet:

»Wohin willst du? Wer ist dieses Bürschlein da? Dein Junge?«

Der Bauer schüttelte versonnen den Kopf:

»Nein, nein! Das ist nicht mein Junge.«

Er suchte Zeit zu gewinnen, um auf einen guten Gedanken zu kommen. Der Onbaschi brüllte ihn an, er möge das Maul auftun. Glücklicherweise kannte der Alte von den verschiedenen Wochenmärkten her die Ortschaften dieser Gegend genau. Nun seufzte er, den Kopf hin und her wiegend:

»Nach Seris fahren wir, nach Seris, das am Fuße der Berge liegt ...«

Er sang diese Worte fast wie ein unschuldiges Lied. Der Onbaschi leuchtete Stephan scharf an. Die Stimme des Turkmenen aber wurde weinerlich:

»Ja, sieh es nur an, das Kind! Nach Hause muß ich es bringen, zu den Seinen, nach Seris ...«

Inzwischen hatte sich eine große Menge von Unteroffizieren und Soldaten um den Wagen versammelt. Der Alte aber schien plötzlich in eine große Erregung zu verfallen:

»O geht nicht zu nahe, geht nicht zu nahe, hütet euch ...«

Der Onbaschi erschrak tatsächlich vor dieser Warnung und starrte den Bauern an, der mit dem Finger auf Stephans Gesicht zeigte:

»Du siehst ja, daß dieses Kind fiebert und nicht bei Sinnen ist. Tretet weg, ihr da, damit die Krankheit euch nicht ergreift. Der Hekim hat den Jungen aus Antakje fortgeschickt ...« Und nun stieß der würdige Turkmene dem Onbaschi das furchtbare Wort geradezu ins Herz: »Fleckfieber!« Nicht einmal die Worte »Pest« und »Cholera« verbreiteten zu dieser Zeit in Syrien ein solches Grauen wie das Wort »Fleckfieber«. Die Soldaten prallten sofort zurück, und selbst der grimmige Onbaschi trat drei Schritte hinter sich. Der treffliche Mann aus Ain el beda hingegen zog nun seine Dokumente aus der Tasche und hielt sie dem Unteroffizier, die Überprüfung heischend, aufdringlich unter die Nase. Dieser verzichtete mit einem Fluch auf sein Amt. Binnen zehn Sekunden lag die Straße frei vor dem Wagen. Der Turkmene, durch den gelungenen Streich außer sich vor Stolz und Vergnügen, überließ das geschundene Rößlein sich selbst und lief kichernd neben Stephan einher:

»Da siehst du, Junge, wie gut Allah es mit dir meint. Hat er es nicht gut mit dir gemeint, daß er dich zu mir geschickt hat? Freu dich, weil du mich gefunden hast! Freu dich! Denn jetzt muß ich mit dir noch eine halbe Stunde weiterfahren, um irgendwo anders zu übernachten ...«

Der große Schreck aber hatte Stephan so gelähmt, daß er von diesen Worten kaum mehr etwas hörte. Als ihn dann später sein Retter aus dem Schlaf rüttelte, konnte er sich nicht rühren. Da nahm ihn der alte Turkmene wie ein kleines Kind in die Arme und stellte ihn auf die Straße, die das Orontesbett entlang nach Suedja führt:

»Hier ist kein Mensch mehr zu sehen, Junge! Wenn du gut läufst, kannst du noch früher als das Licht im Gebirge sein. Allah tut mehr für dich als für andre.«

Der Bauer schenkte Stephan noch ein Stück von seinem Käse, ein Fladenbrot und seine Wasserflasche, die er in Antakje frisch gefüllt hatte. Dann schien er ihm noch einen fromm ermunternden Zuspruch auf den Weg zu geben, der mit dem Friedenswunsch schloß: »Selam alek!« Stephan hörte von alldem nichts, da ein großes Ohrensausen in seinem Kopf umging. Er sah nur, wie der helle Turban und der weißliche Bart sich rhythmisch bewegten und beide, Turban und Bart, mit immer lebhafterem Leuchten die Finsternis durchdrangen. Wie leid tat es dem Bagradiansohn um diese milden Lichtquellen, als der stolpernde Hufschlag sich schon entfernte. Der verschwindende Wagen besaß keine Laterne, und der Mond war noch nicht aus den Schluchten des Amanus gestiegen.

 

Ter Haigasun hatte an das Friedhofvolk der Dörfer Botschaft gesandt, zum erstenmal wohl seit seiner Amtsführung. Er forderte in dieser Botschaft von Nunik und den Ihren, sie möchten sich in der Umgebung des Musa Dagh auf die Suche nach Spuren des verschwundenen Bagradiansohnes machen. Gelänge es ihnen, wichtige Erkundungen oder gar den Flüchtling selbst einzubringen, ward ihnen ein hoher Lohn in Aussicht gestellt. Man würde ihnen abseits von der Stadtmulde einen Lagerplatz anweisen. Ter Haigasun handelte äußerst klug, indem er einen solchen Preis auf die Entdeckung Stephans aussetzte. Gabriel Bagradian war der wichtigste Mann auf dem Damlajik. Von der geistigen und seelischen Verfassung des obersten Kriegsbefehlshabers hing die ganze Zukunft ab. Alles mußte geschehen, damit die innere Kraft Gabriels, die durch Juliette den ersten schweren Stoß erhalten hatte, durch das Geschick Stephans nicht völlig gebrochen werde. Der Preis, der diesem Bodensatz der Bevölkerung winkte, war ungeheuer. Und doch hegte Nunik kaum eine Hoffnung, ihn zu gewinnen. Seit dem letzten großen Siege der Armeniersöhne hatte sich die Lage der im Tal Zurückgebliebenen grausam verschärft. Neue Truppen, neue Saptiehs, neue Freischaren trafen fast täglich in den Dörfern ein. Alle Vorkehrungen zu einer straffen Belagerung des Damlajiks wurden getroffen. In Stellvertretung des Kaimakams hatte der sommersprossige Müdir in der Villa Bagradian seinen Regierungssitz aufgeschlagen. Auch der verwundete Jüsbaschi befand sich seit zwei Tagen bereits auf dem Wege der Besserung. Der Müdir hatte in allen Dörfern der Umgebung einen Befehl anschlagen lassen, laut dessen jeglicher Muselman verpflichtet war, jedes armenische Wesen, das ihm vor Augen komme, kurzerhand zu verhaften, und sei es auch ein Bettler, ein Blinder, ein Siecher, ein Irrer, ein Krüppel, ein Greis oder Kind. Dieser sinnreiche Befehl verfolgte den Zweck, alle Spionentätigkeit zugunsten des Berglagers im Tale unmöglich zu machen. Der Anschlag klebte noch keine zwei Tage an den Kirchenmauern, und schon war das Friedhofvolk, das ursprünglich, alle sieben Dörfer zusammengerechnet, aus ungefähr siebzig Köpfen bestand, auf weniger als vierzig zusammengeschmolzen. Der Rest sah sich demnach gezwungen, wollte er noch einige Zeit das Leben fristen, ein ganz und gar unzugängliches Versteck aufzusuchen. Dieses Versteck war, Christus sei Dank, vorhanden. Nur die Tapfersten und Stärksten wie die ahasverische Nunik verließen es zwischen Mitternacht und Morgen, um auf ihren alten Lebensorten nach dem Rechten zu sehen und für Nahrung zu sorgen, das heißt, unter allerhöchster Lebensgefahr ein paar Lämmer, Zicklein und Hühner zu stehlen. An diesem Versteck aber führte Stephans Heimweg vorbei.

Eine Meile etwa vor dem Dorfe Ain Jerab drängten sich die Ruinen des alten Antiochia zu einer ganzen Stadt zusammen. Alles überragen die Pilaster und gebrochenen Riesenbogen der römischen Wasserleitung. Die bisher recht bequeme Straße verengt sich hier zu einem ungenauen Saumpfad, der entlang des tief in die Felsen geschnittenen Flußbettes mitten durch die Steinwildnis des einstigen Menschenwerkes führt. Stellenweise bedecken Quadern, Säulenfragmente, abgebrochene Kapitale den Weg, so daß er kaum gangbar ist. Stephan strauchelte jeden Augenblick in seiner Fiebertrunkenheit zwischen den gefährlichen Trümmern, verwickelte sich in Schlingwuchs, stürzte, schlug sich die Knie wund, stand auf und taumelte weiter. Rechter Hand, tief im Ruinenfeld verborgen, zuckte manchmal der schwache Schein eines Feuers auf. Wäre Haik bei Stephan gewesen, er hätte auch ohne diesen Feuerschein die Nähe der elenden und doch verwandten Wesen auf Meilen vorausgespürt. Überbewußt würde sein Fuß den richtigen Weg gewählt haben. Doch wo mochte Haik zu dieser Stunde sein? Dreißig Schritt abseits von der Straße wartete Stephans Rettung, die sogar noch durch ein mahnendes Feuer kenntlich gemacht war. Nunik, Wartuk, Manuschak hätten Stephan gut versteckt, einen Tag und eine Nacht lang gepflegt, dann aber auf den sicheren Wegen ihrer Erfahrung auf den Damlajik gebracht, um den großen Lohn einzuheimsen. Der Stadtjunge aber fürchtete sich vor dem Feuer. Gehetzt keuchte er den ansteigenden Weg empor. Auf der Höhe blieb er stehen und trank in einem Zuge die Flasche mit dem schalen warmen Wasser aus. Der Musa Dagh lag vor ihm. Deutlich war im Mond die dicke schwarze Brandwolke zu bemerken, die noch immer aus der Brust des Berges emporqualmte. Der Flammenherd jedoch schien klein geworden zu sein, da ihm kein Wind Leben gab. Dann und wann glomm ein geheimnisvolles Glutherz auf und verschwand wieder.

Da wurde dem Bagradiansohn noch eine Chance gegeben. Nunik hatte etwas gewittert. Vom Feuer wegtretend, nahm sie einen Schatten wahr, der nicht der Schatten eines Mannes sein konnte. Unter dem elenden Volke gab es auch ein paar »herrenlose Kinder«. Eines dieser Kinder, freilich ein achtjähriger Junge nur, wurde ausgeschickt, um den Schatten zu erkunden. Als aber Stephan es hinter sich bröckeln und rascheln hörte, drehte er sich nicht um, sondern begann wie ein Wahnsinniger weiterzulaufen. Sein ganzes Wesen straffte sich in diesem Lauf wie in einem Verzweiflungsakt. Es brauste in seinen Ohren. Waren es Papas Zurufe? War es Haiks zischendes »Vorwärts«? Er rannte, als verfolge ihn nicht ein kleines Kind, sondern jene ganze Kompanie, der er am Abend entkommen war. Die Ruinen des Aquädukts brachen hier gänzlich ab, der Weg weitete sich. Schwarze Vorberge rückten auf die Straße zu. Stephan lief um sein Leben. Ein grausamer Wahn verführte ihn in das erste Seitental, das er schon für das heimatliche der sieben Dörfer hielt. Der schwerelose Geist der Flucht hob ihn über sich selbst hinweg, so daß er wie ein Flügelwesen über die steinübersäte Halde zu schweben vermeinte. Stephan bog in das Tal ein, ohne zu wissen, daß er aus Leibeskräften schrie. Doch er kam nicht weit, über das erste große Hindernis, einen querliegenden Baumstamm stürzend, blieb er liegen.

 

Als er halb und halb zu sich kam, war der Tag schon da, im nebligen Frühlicht. Stephan aber glaubte fest, es sei vorgestern, die nämliche Stunde, da er auf der Straße jenseits des Sumpfes von El Amk mit Haik in das gütige Hügelland zum Haus des Turkmenen gekommen war. Alles Spätere hatte er vergessen oder nur als matte Traumempfindung behalten. Diese zeitkranke Vorstellung, es sei jetzt vorgestern, wurde noch durch den Umstand genährt, daß er ein Haus vor sich sah, keines freilich aus weißem Kalkstein, sondern eins aus runzligem Lehm und ein fensterlos-abstoßendes dazu. Und aus diesem Haus trat ebenfalls ein Mann mit Turban und grauem Bart, nicht der bäurische Schutzengel von Turkmenen, aber dennoch ein alter Mann. Und siehe, auch dieser Mann prüfte Wind, Wetter, Weltrichtungen, warf einen kleinen Teppich auf die Erde, hockte sich hin und begann die Beugungen und Wendungen des Morgengebetes zu verrichten.

Blitzschnell ging Haiks Weisung durch Stephans Kopf: Alles nachmachen! Und auf derselben Stelle, wo er in der Nacht hingestürzt war, fing er nun mit seiner Kopie an. Es kam aber dabei nichts andres heraus als nur ein mattes Schwanken und Stöhnen. Auch dieser Mann wurde sofort aufmerksam. Doch, wie es schien, weit weniger fromm als jener turkmenische Bauer, unterbrach er sein Gebet, stand auf und näherte sich Stephan:

»Wer bist du? Woher kommst du? Was willst du?«

Stephan zwang seinen Körper in die Knielage, verneigte sich und legte die Hand aufs Herz:

»Ben bir az hasta im, Effendi.«

Nach diesen wohlgeübten Worten machte er das Zeichen des Durstverlangens. Der Graubärtige zögerte zuerst. Dann aber ging er zum Brunnen, schöpfte einen Krug voll und brachte ihn dem Knaben. Stephan trank unersättlich, obwohl ihm das Wasser sogleich Schmerzen verursachte. Indessen war noch jemand aus dem Hause getreten, nicht hilfsbereite Frauen, wie Stephan erwartete, sondern ein andrer Mann, ein mißgelaunter, schwarzbärtiger. Er wiederholte genau die Fragen des Grauen:

»Wer bist du? Woher kommst du? Was willst du?«

Der Verlorene machte zwei Bewegungen in unbestimmter Richtung. Sie konnten sowohl Antakje wie auch Suedja bedeuten. Der Schwarze wurde ärgerlich:

»Kannst du nicht reden? Bist du stumm?«

Stephan lächelte ihn aus seinen riesengroßen Augen an, hilflos wie ein dreijähriges Kind. Er kniete noch immer vor den beiden Männern. Der Graue ging zweimal um ihn herum, als betrachte er mit Kennerernst eine geleistete Arbeit. Dann nahm er den Knaben beim Kinn und drehte seinen Kopf ins Licht. Auch der Schwarze beteiligte sich eingehend an dieser Prüfung. Nachher gingen sie ein paar Schritte zur Seite und redeten streitbar miteinander, ohne jedoch Stephan aus den Augen zu lassen. Als sie mit ihrer Auseinandersetzung fertig waren, hatten sie die Gesichter von Menschen bekommen, denen ein schweres öffentliches Amt übertragen ist. Der Schwarzbart eröffnete das Verhör:

»Bist du beschnitten oder unbeschnitten, Junge?«

Stephan verstand nicht. Jetzt erst schmolz sein zutrauliches Lächeln zu einem angstvollen Frageblick. Sein Schweigen erregte den Zorn der beiden Moslems. Harte eifernde Laute hagelten auf ihn nieder. Er wußte trotz ihrer Ausrufe und Gebärden immer weniger, was sie von ihm wollten. Da riß dem Schwarzbart die Geduld. Er packte den Knienden unter den Armen und zog ihn hoch. Der Graue aber entblößte ihn und untersuchte genau, was zu untersuchen war. Nun hatten sie die Bestätigung. Der verschlagene Armenierjunge, der sich stumm und taub stellte, war ein frecher Spion, den die Bergkämpfer ausgesandt hatten. Da war keine Zeit zu verlieren. Sie stießen den taumelnden Stephan vor sich her, den schmalen Talweg von Ain Jerab hinab bis zur großen Straße. Dort hielten sie ihn fest, bis der erste leere Ochsenkarren aus der Umgebung von Antakje des Weges nach Suedja kam. Der Fuhrmann mußte sofort im Namen des öffentlichen Dienstes sein Ziel ändern. Die Schergen hoben ihren Gefangenen in das Gefährt. Der Schwarze hockte sich an seine Seite, während der Graue nebenherschritt und in erregten Worten den Inhaber des Karrens über die Gefahr aufklärte, die er soeben abzuwehren im Begriff sei.

Nun aber, da Stephans Schicksal besiegelt war, nahm eine milde Himmelsmacht ihm die Gegenwart völlig von der Seele. Sein Kopf fiel in den Schoß des Schwarzbärtigen, seines tödlichen Feindes. Und sonderbar! Der Grimmige stieß sein Opfer nicht von sich. Er saß starr und rührte sich nicht, als wolle er dem Jungen nicht weh tun. Das glühende Gesicht in seinem Schoß, die offenen Augen, die ihn anschauten und doch nicht sahen, der fiebrische Atem, der die blutroten Lippen blähte, diese ganze kindlich hingegebene Nähe wühlte in dem winzigen Gemütsraum des Schwarzen eine wilde Bitterkeit auf. Die Welt war so und nicht anders. Man mußte in ihr zuschlagen!

Stephan aber wußte nichts mehr vom Musa Dagh. Er wußte nichts mehr von den Haubitzen, die er erobert, nichts mehr von den fünf schlaftrunkenen Menschen, die er durch fünf Meisterschüsse hingestreckt hatte. Haik war kaum ein Name mehr und Iskuhi nur ein Windhauch. Er aber trug wieder sein gewohntes Collegegewand und Schnürstiefel, die wunderbar fest an den unverwundeten und wohlgebadeten Füßen saßen. Er spazierte über herrliche Großstadtstraßen, die prachtvollen Kais der Seeufer entlang. Er wohnte mit Mama im Palace-Hotel von Montreux. Er saß an heilig weißgedeckten Tischen, er spielte auf Kieswegen, er saß in weißgetünchten Schulzimmern unter anderen Jungen, gehegt wie er. Bald war er kleiner, bald war er größer, doch immer in Obhut und Frieden. Mama aber trug einen roten Sonnenschirm, unter dem ihr Gesicht so tief erglühte, daß er sie manchmal kaum erkannte.

Dies alles war nicht ereignisreich, doch so ruhig schön, daß Stephan den Saptiehposten gar nicht bemerkte, der vor Wakef auftauchte. Einer der beiden Gendarmen setzte sich als Verstärkung zu dem Schwarzbart auf den Karren und hielt die Füße des Gefangenen fest. In Wakef aber schloß sich eine größere Abteilung von Saptiehs an. Je weiter man im Dörfertal vorwärtskam, um so größeres Aufsehen erregte die Eskorte. Eine beträchtliche Menge der neuen Haus- und Grundbesitzer folgte ihr, Männer, Weiber, Kinder.

Lange vor Mittag noch erreichte der Zug den Kirchplatz von Yoghonoluk. Eine tausendköpfige Menschenmenge hatte sich zusammengerottet, darunter auch die vielen alten und neuen Soldaten, die jetzt in den Dörfern garnisonierten. Schnell wurde der rothaarige Müdir aus der Villa Bagradian zur Stelle geholt. Die Saptiehs stießen Stephan vom Karren. Er mußte sich auf Befehl des Beamten völlig entkleiden, denn vielleicht verbarg er auf dem nackten Körper irgendeine Schrift. Der Bagradiansohn gehorchte lautlos und voll ruhiger Gelassenheit, was die Menge, als ein Zeichen tiefer Verstocktheit, heftig aufbrachte. Ehe er noch ganz nackt dastand, erhielt er von irgend jemand einen Hieb über den Hinterkopf. Doch auch in diesem Hieb lag Gnade. Er betäubte Stephan nicht ganz, sondern warf ihn noch tiefer in jene schöne Welt zurück, in der er sich nun gesittet bewegte.

Die Saptiehs hatten inzwischen aus dem Rucksack den Kodak und das Schreiben an Jackson hervorgeholt. Der Müdir hielt den photographischen Apparat hoch und schwenkte dieses harmlose Weihnachtsgeschenk, das den meisten fremd und unheimlich war:

»Das ist ein Werkzeug, an dem man alle Spione erkennt!«

Dann aber entzifferte und übersetzte er vor den Ohren des ganzen Volkes mit lautschallender Triumphstimme den hochverräterischen Brief an den amerikanischen Konsul. Ein aufrauschender Haßschrei folgte der Verlesung. Der Müdir trat ganz nahe an Stephan heran und griff ihm mit seiner prachtvoll manikürten Rechten unters Kinn, als wollte er ihn ermuntern:

»Nun aber sag uns, wie du heißt, Junge!«

Stephan lächelte und schwieg. Das Meer der Wirklichkeit umspülte ihn in unendlicher Ferne. Vor den Augen des Rothaarigen aber tauchte eine Knabenphotographie im Selamlik der Villa auf. Er wandte sich feierlich an die Menge:

»Wenn er es nicht sagen will, so werde ich's euch sagen. Es ist der Sohn des Bagradian ...«

Da traf Stephan der erste Messerstich in den Rücken. Er fühlte ihn nicht. Denn sie holten eben Papa vom Bahnhof ab, der aus Paris in der Schweiz eintraf. Mama trug noch immer den roten Sonnenschirm. Der Vater trat aus einem sehr hohen Tor, ganz allein. Er hatte einen schneeweißen Anzug an und keinen Hut auf dem Kopfe. Mama winkte. Als aber Gabriel Bagradian seinen kleinen Sohn erblickte, öffnete er die Arme voll unermeßlicher Liebe. Und da Stephan ja wirklich noch so klein war, hob er ihn an sein Herz, an sein strahlend nahes Gesicht, und hob ihn über seinen Kopf und höher und immer höher ...

 

Die erste, die den verstümmelten Leichnam nach Einbruch der Nacht entdeckte, war Nunik. Die Saptiehs hatten ihn, nackt wie er war, gleich nach der Massakrierung auf den Friedhof von Yoghonoluk geworfen. Nunik kam gerade zurecht, um ihn vor den wilden Hunden zu retten. Sie sandte eines der verwahrlosten Kinder sogleich in das Ruinenlager, um den Aufbruch der ganzen Schar zu verfügen. Etwas Gewaltiges war geschehen, und die Furcht durfte heute nicht regieren. Das Geschlecht Awetis Bagradians, des Stifters, versank für immer. Doch nun war auch die Stunde gekommen, dem Willen Ter Haigasuns zu entsprechen und den Bagradiansohn auf den Berg zu bringen. Der Lohn konnte nicht verweigert werden, und ein gesichertes Leben winkte.

In kleinen Gruppen traf die scheue Gesellschaft auf dem Friedhof ein. Die Totenweiber gingen sofort an die Arbeit. Sie reinigten den zerfetzten Körper des schönen Knaben von Blut und Schmutz. Die großmütige Nunik tat für die Familie Bagradian ein übriges. Sie holte aus ihrem unaussprechlichen Vorratssack ein langes weißes Hemd hervor, in das sie Stephans Körper hüllte. Während dieser letzten Dienste sang einer der prophetenhäuptigen Blinden vor sich hin:

»Das Blut des Lammes ist zu ihrem Haus geflossen.«

Nach vollendetem Werke aber banden sich Nunik, Wartuk, Manuschak und die andern Klageweiber ihre schweren Säcke auf den Rücken. Tiefgebeugt gingen sie unter der Last. In der zweiten Stunde des neuen Tages bewegte sich der lautlose und trotz des Halbmonds fast unsichtbare Zug gegen den Damlajik, um auf einem der heimlichen Wege, die der Waldbrand verschont hatte, die Stadtmulde zu erreichen. Nunik schritt an ihrem langen Stock als Führerin voran. Als sie im Walde und in Sicherheit waren, wurden zwei Fackeln entzündet und zu beiden Seiten der Bahre getragen, damit der Tote nicht ohne Licht und Ehre bleibe.


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