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Ein Teil der allgemeinen Unzulänglichkeit von Bobbys Wesen bestand darin, daß er in größtem Maße von den meteorologischen Bedingungen abhängig war. Der späte ‹indische› Sommer war vorüber, und Himmel und Erde und die Luft dazwischen fingen an, einen zu stoßen, zu schütteln, zu durchnässen, zu durchfrieren, zu verfinstern, zu ärgern und einzuschüchtern. Graue Wolkenmassen zogen eilig von Dungeness und dem Atlantischen Ozean her über Dymchurch hin, zerfetzte, eckige, langgezogene Wolken mit heimtückischen Grimassen wie Hexen und Hexenmeister, die prasselnde Regenschauer herabsandten. Unter ihnen kamen die Wogen in langen rollenden Regimentern daher, von weitem schon drohend, sich vorzeitig in Schaumkronen auflösend, zuletzt noch ihre ganze Kraft sammelnd, bäumten sie sich endlich zu einem betäubenden dumpfen Dröhnen gegen den Deich auf und spritzten in weißem Gischt von schlammigem Wasser himmelwärts.
‹Nur Mut, Mensch›, sagte Bobby. ‹Nur Mut. Es ist ja bloß die Natur. Frisch drauf los. Denk an dieses arme Mädel.›
Er zwang sich dazu, einen Morgenspaziergang draußen am Rande des Deichs zu machen, während seine nassen Hosen gegen seine Beine klatschten, wie Fahnen gegen ihre Stangen.
»Herrlicher Wind!« erzählte er Sargon, als er eintrat, um nach ihm zu sehen. »Doch ich wünschte, wir bekämen einen Strahl Sonne.«
»Haben Sie irgendwelche Nachrichten von Christina Alberta?« fragte Sargon.
»Eine Antwort auf mein Telegramm kann wohl kaum noch hier sein. Doch wird sie sicherlich kommen«, sagte Bobby und ging hinunter, um sich am Feuer die Beine zu trocknen.
Er erwartete die Aufforderung, nach Hythe zu kommen und die junge Dame abzuholen, auf keinen Fall vor halb eins. Inzwischen ging er in den Schuppen hinaus, um sich zu vergewissern, daß sich das Motorrad und der Seitensitz für eine hastige Reise vollkommen in Ordnung befänden. Es wurde halb eins, eins, halb zwei. Er aß eine Kleinigkeit zu Mittag. Er wurde recht unruhig, stand immer wieder auf und schaute aus dem Fenster, um zu sehen, ob das kleine Mädchen von der Post mit Christina Albertas Telegramm nicht käme. Gegen zwei erschien draußen ein großer, lautloser, luxuriöser, gemieteter Daimlerwagen, und blieb vor Frau Plumers Gartentüre stehen. Ein Bubikopf ohne Hut zeigte sich am Fenster und wechselte einige Bemerkungen mit dem Chauffeur, welcher abstieg und die Wagentür öffnete. Aus dem Auto stieg eine hübsche und entschlossene junge Frau von fortschrittlichem Aussehen, ohne Hut, mit kurzem Rock, und ein hagerer, dunkler, wohlhabend aussehender Mann von achtunddreißig oder vierzig Jahren in blauer Serge und einem grauen Filzhut. Der Mann öffnete dem Mädchen die Gartentüre, und sie musterte das Haus, während sie vorwärtsschritt.
Bobby bemerkte, daß Christina Alberta ihr Versprechen, blauäugig und zart zu sein, nicht gehalten hatte. Sie hatte ihn betrogen. Doch verließ ihn trotz all ihrer Verräterei das Gefühl einer persönlichen Beziehung zu ihr, das er in sich aufgebaut hatte, noch immer nicht. Er beobachtete ihr Herankommen mit einer Erregung, die er nur schwer beherrschte. Er wunderte sich, wer zum Teufel der dunkle Mann sein könne. Ein Vetter vielleicht. Sie entdeckte Bobby, wie er sie vom Fenster aus beobachtete, und ihre Blicke begegneten einander.
Bobby nahm, mit einem Instinkt, der jungen Leuten bei solchen Gelegenheiten eigen ist, wahr, daß ihn Christina Alberta äußerst interessant fand. Er empfing sie und Devizes in Frau Plumers kleinem Wohnzimmer im Erdgeschoß. Er sprach hauptsächlich zu ihr. Devizes behandelte er als Nebenfigur, als einen stillen Berater Christina Albertas. »Er hat sich eine schlimme Erkältung zugezogen«, sagte er. »Er hat immer wieder nach Fräulein Preemby –«
»Christina Alberta«, sagte Christina Alberta.
»Christina Alberta gefragt. Doch erst gestern abend war es mir möglich, die Adresse aus ihm herauszubekommen. Er hatte sie vorher vergessen. Wir sind schon über einen Tag hier. Er holte sich die Erkältung bei der Herfahrt.«
»Wie sind Sie denn hergekommen?« warf Devizes ein.
»Per Motorrad«, sagte Bobby. »Doch mußten wir lange Zeit herumwarten, bevor wir fortkommen konnten, es war ein kalter, rauher Morgen, und er hatte bloß sein Nachthemd, einen Schlafrock und Hausschuhe an. Es ist schwierig, alles vorauszusehen.«
»Doch wie kamen Sie dazu, ihn zu befreien?«
Bobby lächelte Devizes an. »Jemand mußte ihn doch befreien.«
Er wandte sich wieder Christina Alberta zu. »Ich konnte den Gedanken, daß er hinter Schloß und Riegel saß, nicht ertragen. Er hatte – müssen Sie wissen, dort wo ich logierte, ein Zimmer gemietet, und es war etwas so Unschuldiges, etwas – so Anmutiges an ihm. Ich habe eine gewisse Schwäche für wunderliche Leute ... Sie sollten zu ihm hinaufgehen.«
»Ja, ja, wir wollen ihn uns ansehn«, sagte Devizes.
(Wer, zum Teufel, war dieser Kerl?)
Bobby brachte seine Ansicht zur Geltung. »Christina Alberta zuerst, denke ich.«
Er führte Christina Alberta zu ihrem Vater hinauf und schloß die Tür, als sie einander eben umarmten. ‹Und Sie, Herr de Vezes, oder wie Sie heißen,› sagte er auf der Treppe zu sich selbst, ‹was haben Sie mit der Sache zu tun?› Er stieg hinunter und fand Devizes auf seinem Ofenteppich vor seinem Feuer stehen. Wie er da so stand, war eine entfernte Ähnlichkeit mit Christina Alberta bemerkbar. Bobby überkam ein unbestimmtes Gefühl, als ob Devizes in irgend einer mystischen Weise für die Tatsache verantwortlich sei, daß Christina Alberta keine blauen Augen hatte. Er konnte nicht rasch genug hervorbringen, was er zu sagen beabsichtigte, und so konnte Devizes die Initiative ergreifen. »Entschuldigen Sie meine Unverschämtheit,« sagte er, »aber darf ich fragen, wer Sie sind?«
»Ich bin Schriftsteller«, sagte Bobby und vermied krampfhaft jeden Seitenblick nach dem Haufen Material für ‹Tante Susanna› auf dem Schreibpult.
»Sind Sie denn mit dem Mittagbrot fertig?« fragte Devizes in einer unbeachteten Parenthese.
»Darf ich Ihnen dieselbe Frage stellen?« sagte Bobby. »Und was verbindet Sie mit den Preembys?«
»Ich bin ein Verwandter Christina Albertas«, sagte Devizes überlegend. »Mütterlicherseits. Eine Art Vetter. Und es trifft sich gerade, daß ich Spezialist für Nerven- und Geisteskrankheiten bin. Deshalb hat sie mich mitgebracht.«
»So, so«, sagte Bobby. »Sie haben doch nicht die Absicht – ihn zurückzubringen?«
»Nicht im geringsten. Wir sind keine Gegner, Herr –«
»Roothing.«
»Es besteht keine Meinungsverschiedenheit zwischen uns. Sie taten gut daran, ihn herauszuholen. Wir versuchten dasselbe zu tun, mit weniger originellen Mitteln. Wir sind Ihnen sehr dankbar. Die Irrengesetze sind ein ziemlich unbeholfenes, unverantwortliches Machwerk. Doch, wie Sie wahrscheinlich wissen, muß er, wenn er sich ihnen vierzehn Tage lang entziehen kann, von neuem beobachtet werden. Er erlangt seine geistige Gesundheit wieder. Was diese Frage betrifft, sind wir also Verbündete. Wir sollten einander besser kennenlernen. Ihr Eingreifen kommt mir sonderbarerweise exzentrisch und mutig zugleich vor. Ich wünschte, Sie würden mir mehr darüber erzählen, wie Sie ihn trafen, wie man seiner habhaft wurde, und was Sie dazu brachte, an eine Flucht zu denken.«
»Hm«, sagte Bobby, trat herzu und machte seine Rechte auf den halben Ofenteppich geltend. Er hatte sich zurechtgelegt, wie er diese Geschichte erzählen wollte – und zwar Christina Alberta – der ursprünglichen Christina Alberta mit den blauen Augen. Er fühlte, daß diese Fassung für den augenblicklichen Hörer einer wohlüberlegten Revision, ja vielleicht einer vollständigen Umarbeitung bedürfe. Er war nicht einmal so ganz sicher, ob er sie dem gegenwärtigen Hörer überhaupt erzählen sollte. Der Mann war Arzt, Nervenspezialist und ein entfernter Verwandter, er war dafür, Sargon dem Asyl fernzuhalten; das sprach alles zu seinen Gunsten, aber Bobby empfand ihn trotzdem als einen Eindringling. Nichtsdestoweniger machte er Bobby ganz freundschaftlich auf dem Ofenteppich Platz und benahm sich voll Aufmerksamkeit und Achtung. Bobby ließ sich auf eine Beschreibung von Sargons erstem Erscheinen in der Midgardstraße ein.
Devizes zeigte sich aufmerksam und verständnisvoll. Er erfaßte die Bedeutung von Sargons beabsichtigtem Besuch der Kuppel der St. Pauls-Kirche sofort. »Ich zweifle nicht daran, daß er diesen Plan ausgeführt hat«, sagte er. »Auch ich nicht,« sagte Bobby, »obzwar ich ihn seither noch nicht danach gefragt habe.« Sie stückelten sich die wahrscheinliche Geschichte der Berufung der Jünger, bevor Willy und Bobby auf die Prozession gestoßen waren, zusammen. »Es ist ergreifend«, sagte Devizes, »und ungeheuerlich.« Bobby ließ diese Worte gelten.
»Sie sehen also, auf welche Weise er mich gewann«, sagte Bobby.
Eine entschiedene Zuneigung schlich sich leise und unvermerkt in Bobbys Herz. Schwierigkeiten, die seine Erklärungen zu bedrohen geschienen hatten, verschwanden; dieser Mensch da konnte, soviel merkte er, alles verstehen, was einer nur zu verstehen vermochte. Devizes behandelte die Entführung Sargons aus Cummerdown durch einen vollkommen fremden Menschen als die einfachste und natürlichste Sache der Welt. Bobby erwärmte sich für seine Erzählung; sein Sinn für Humor wagte sich wieder hervor, und er ließ sich ganz offen und unterhaltend über die Schwierigkeiten am Besuchstage aus. Als er gerade von der fuchsgesichtigen Taubstummen erzählte, kam Christina Alberta wieder in die Wohnstube zurück.
»Er hat mein Erscheinen als etwas ganz Selbstverständliches hingenommen«, sagte sie. »Er scheint schwach und schläfrig zu sein, und die Brust schmerzt ihn.« Sie wandte sich an Devizes. »Ich denke, du solltest ihn gründlich untersuchen.«
»Ist er in ärztlicher Behandlung?« fragte dieser Bobby.
Bobby erklärte. Devizes überlegte. Schlief Sargon jetzt? Ja. Dann lassen wir ihn ein bißchen schlafen. Bobby, der jetzt etwas bewußter auf Effekt hinarbeitete, fuhr mit seiner Erzählung fort. Christina Alberta betrachtete ihn mit beifälligen Blicken.
Um die Teezeit hatte sich Bobby bereits an das Vorhandensein Devizes' und das unerwartete Aussehen Christina Albertas gewöhnt. Alles was von der Fülle seiner Erwartungen übrig blieb, war der Gedanke, daß seine Beziehung zu Christina Alberta eine tiefe und innige werden müsse. Er glaubte noch immer daran, daß es irgendwo in ihr verborgen ein blauäugiges, nachgiebiges, wahrhaft weibliches Geschöpf gebe; allerdings war es recht sehr verborgen. Mittlerweile fiel ihm die äußere Verkleidung als angenehm, aufgeweckt, fröhlich und freundlich auf. Auch Devizes sah er immer mehr als starke, fähige, verständnisvolle Persönlichkeit. Er hatte zugesehen, wie Devizes Sargon untersuchte, und das hatte einen vernünftigen, vertrauenerweckenden Eindruck auf ihn gemacht. Sargons Lunge, so sagte Devizes, zeige eine starke Kongestion, besonders auf der linken Seite; er stehe hart vor einer Lungenentzündung und habe nicht viel Lebenskraft, sich dagegen zu wehren. Er müsse in einem wärmeren, nicht so zugigen Zimmer liegen und von einer Pflegerin betreut werden. Frau Plumer hatte keinen Raum mehr für eine Pflegerin, und kaum eine Stunde Autofahrt entfernt lag Paul Lambones äußerst wohleingerichtetes Wochenend-Landhaus zu Udimore. Ein kurzes, musterhaftes Hin- und Hertelephonieren und -telegraphieren, und das Landhaus stand ihnen offen, ein Feuer brannte im besten Schlafzimmer, eine Pflegerin war auf dem Wege dahin, und alles war für Sargon, der warm eingepackt und mit Wärmenaschen verbarrikadiert wurde, vorbereitet, um dorthin zu fahren. Bobby fand sich in dieser neuen Ordnung der Dinge nur mehr als Nebenfigur; er sollte am nächsten Tage auf seinem Motorrad nach Udimore nachkommen, denn in Paul Lambones Landhaus würde genug Platz für sie alle sein. Augenscheinlich gehörten nach Paul Lambones Auffassung zu einem einfachen Landhause in der Wildnis auch eine Haushälterin, mehrere Bediente und vier oder fünf Fremdenzimmer.
Dieser Kerl von einem Devizes führte alle seine Anordnungen mit einer eleganten Sicherheit durch, die Bobby nicht dazukommen ließ, sich geltend zu machen. Sargon, Christina Alberta und Devizes sollten um fünf Uhr wegfahren und gegen sechs in Udimore sein, zu welcher Zeit die Pflegerin bereits eingetroffen sein würde. Devizes würde dann nach London zurückfahren und dort noch rechtzeitig eintreffen, um sich für ein Diner, an dem er teilzunehmen hatte, umzukleiden. Am Samstag morgen würde er in London zu tun haben, dann aber wieder nach Udimore kommen und sehen, ob sich Sargon schon so weit erholt habe, daß eine psychische Behandlung beginnen könne. Vielleicht würde der unbekannte Paul Lambone auch mitkommen. Der mußte ein etwas bequemer Herr sein, soviel Bobby erfuhr; Devizes würde ihn mitbringen müssen. Bobby sollte mehrere Tage in Udimore bleiben. Er erhob bescheidene Einwände. »Nein, Sie gehören jetzt dazu«, sagte Devizes fröhlich und warf einen Seitenblick zu Christina Alberta hinüber. »Sie gehören jetzt so wie wir übrigen zu Sargon. Bringen Sie Ihre Arbeit mit.«
»Ja, bitte kommen Sie«, sagte Christina Alberta.
Der einzige Grund, weshalb Bobby Bedenken gegen die Einladung vorbrachte, war, daß sie ihn sehr lockte.
Dieses ‹Landhaus› zu Udimore, das auf Bobby den Eindruck eines wirklich sehr hübschen und bequemen modernen Hauses machte, und diese drei Leute, Christina Alberta, Devizes und Paul Lambone, die sich jetzt um Sargon gruppierten, beschäftigten seinen Geist in ganz außergewöhnlicher Weise. Sie schienen ihm in einem Grade modern und fertig zu sein, wie er das vorher noch bei niemandem erlebt hatte, und selbst das Haus war in seiner breiten, weißen Grazie so frisch und vollkommen wie kein Haus, das je zuvor seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Die meisten anderen Häuser, die er bisher gesehen hatte, schienen daneben bloß zufällig, zusammengestoppelt, antiquarisch und ohne bewußten Zweck zu sein. Aber dieses Haus war das Werk eines tüchtigen jungen Architekten, der Paul Lambone mit Einsicht studiert hatte, und seine weißen, grobgetünchten Mauern saßen behaglich am Abhang des Hügels und schauten mit aufrichtiger, vollkommen ungestörter Bewunderung auf Rye, über die Marsch nach Winchelsea und auf die ferne blaue See hinaus; es hatte Gartenbänke und Lauben und ein Zelt, worin man sitzen konnte, und den Hügel hinauf erstreckte sich der ummauerte Garten mit breiten Pfaden, auf die man aus dem hinteren Teil des Hauses durch Bleiglasfenster hinaussehen konnte. Man konnte den Sonnenuntergang von einer ganzen Anzahl herrlicher Aussichtspunkte aus betrachten, doch wurde man in keinem Zimmer durch seinen Schein gestört oder gar geblendet. Eine freundliche Mauer bot Malven und Rittersporn vor dem Südwestwinde Schutz, und ermöglichte es, einen oder zwei Pflaumenbäume, einen Birnbaum und einen Feigenbaum zu ziehen. Das Erdgeschoß bestand hauptsächlich aus einem großen Räume, der verschiedenen Zwecken diente; in einer Ecke war eine Eßnische eingebaut, er konnte in eine Loggia hinaus geöffnet werden, und je nach der Jahreszeit, luden mehrere offene Kamine oder Fenster zu gemütlicher Unterhaltung auf bequemen Stühlen ein; dazu gab es im Hause etliche kleine Arbeitszimmer, in die man sich zurückziehen konnte. Bücherregale waren in geeigneten Ecken angebracht, und das ganze Haus wurde in mystischer Weise von unsichtbaren und kaum vermuteten Heizkörpern erwärmt. Das Haus war Paul Lambone so ähnlich, und Paul Lambone so sehr ein Teil seines Hauses, daß er wirklich nicht mehr als dessen Stimme und dessen Augen zu sein schien.
Paul Lambone war der erste erfolgreiche Schriftsteller, dem Bobby jemals begegnet war. Bobby kannte verschiedene bedürftige junge Schriftsteller, Kaulquappenschriftsteller mit unsicherer Existenz – aber das war der erste vollkommen ausgewachsene, erfolgreiche und sozusagen bis zum Platzen reife Schriftsteller, der ihm unterkam. Der Mann schien Bobby unheimlich in sich gefestigt, frei und wohlhabend. Und das Bemerkenswerte dabei war, daß er sich in keiner Weise mit den großen Schriftstellern messen konnte, nicht mit Dickens, nicht mit Scott, nicht mit Hardy; sein Werk stand schließlich und endlich, nach Bobbys Meinung, nicht gar so hoch über Bobbys eigenen Leistungen. Eine gewisse Knappheit im Ausdruck war ihm wohl eigen, eine gewisse Eindringlichkeit: das waren die Hauptunterschiede. In Bobbys Vorstellung hatte das literarische und künstlerische Leben bisher einen unvermeidlichen Anstrich zufälliger Abenteuer, glorreicher Errungenschaften, wahnsinniger Schwierigkeiten, wilder Entzückungen und tragischen Unglücks gehabt. Swift, Savage, Goldsmith, die Carlyle, Balzac, Dumas, Edgar Allan Poe, das waren seine Muster gewesen. Doch dieses neue, helle Haus war so wohleingerichtet und bequem wie nur irgend ein Landhaus, und Lambone saß darin mit einer so sicheren Würde, als wäre er ein Provinz-Bankier oder ein Kohlengrubenbesitzer oder das Seniorenmitglied irgend einer weitverbreiteten Sippe von Rechtsanwälten. Keine Angst davor, seine ‹Arbeit› zu verlieren oder ‹sich auszuschreiben›, bedrückte ihn. Er sagte und tat genau das, was er für richtig hielt, und der Polizeimann salutierte ihm, wenn er vorüberging.
Wenn das ‹Buch der Alltagsweisheit› und Pauls liebenswürdige Romane dergleichen schaffen konnten, welche bisher ungeahnten Möglichkeiten, Geld anzuhäufen, bequem und sicher zu leben und andern zu helfen, mochten da nicht in ‹Tante Susannas› freundlichen Antworten liegen? Bobby hätte es niemals zuvor für denkbar gehalten, daß ein Tag kommen könnte, da er ein gesichertes und uneingeschränktes Dasein zu führen und anderen das Leben zu erleichtern imstande sein würde. Bisher war Bobby stets von anderen Menschen oder von der zwingenden Notwendigkeit beherrscht worden. Man hatte ihn in die Schule und in das College geschickt. Am Vorabend des Tages, da er den Posten eines Verwalters über einen freundlichen Landsitz antreten sollte – einen Posten, den Verwandte für ihn ausfindig gemacht hatten – war der große Krieg über ihn und seine Altersgenossen hereingebrochen, hatte ihn gedrillt und nach Mesopotamien geführt. Und nach dem Krieg mußte er irgend etwas tun, um seine verminderte Erbschaft ein wenig zu ergänzen. Das Leben war für ihn auf jeder Stufe so eindeutig vorgezeichnet, seiner Eltern Existenz so vollständig von einer Klassenüberlieferung bestimmt gewesen, daß Bobbys Geist sich besonders dazu eignete, von Paul Lambones Freiheit einen tiefen Eindruck zu erhalten.
Es war interessant zu bemerken, wie sehr Paul Lambone ein Produkt der heutigen Welt war, und wie wenig er doch dazugehörte. Er genoß alle ihre Vorteile und war doch aller Verpflichtungen ledig, die sie normalerweise auferlegte. Er hatte ihre Gaben hingenommen und sich damit aus dem Staube gemacht. Er ging nicht zu Hofe, machte keine Saison mit, stattete keine Besuche ab und übte keinerlei Funktionen aus. Bildete er in alldem eine Ausnahme, oder gab es viele solcher Leute, die, wie er, mit großem Glück dem alten, verfallenden sozialen System entrannen? Eine komische Art neuer Menschen, die nicht hörig waren?
Bobby saß auf der Terrasse und blickte über die Lehne seines Sessels hinweg auf dieses äußerst neue, aber sehr stattliche und bequem eingerichtete Landhaus Lambones, während diese eben in ihm aufgetauchte Idee einer neuen Art von Menschen, die sich von der Welt loslösten, ohne Zusammenhang mit der alten Ordnung der Dinge lebten und neue Lebensformen schufen, seinen Geist aufs lebhafteste beschäftigte. Dieses Haus schien diese Idee zu verkörpern: es war neu und modern, konnte sich aber durchaus mit andern messen, auch sah es nicht im geringsten nach Rebellion aus. Es war einfach entstanden, wie eine neue Mode entsteht. Es war aufgetaucht wie ein neues Jahrhundert. Er war der Meinung gewesen, daß Revolutionen von unten herauf kämen, durch die Erbitterung der Ausgeschlossenen und Enterbten angefacht. Er hätte gedacht, daß dies jedermann für eine ausgemachte Sache halte. Aber angenommen, Revolutionen wären bloß vernichtende Schläge, die mit wirklichem Fortschritt nach keiner Seite hin gerade viel zu tun hätten, angenommen, das neue Zeitalter dämmerte überall in der sozialen Ordnung herauf, wo Menschen die Muße fanden, neue Ideen auszuarbeiten?
Neue Ideen!
Sargon war neu, Paul Lambone war neu, Devizes neu: vor dem Kriege hätte es keine solchen Menschen geben können. Sie alle waren aus ihrem früheren Selbst herausgewachsen; sie waren den Menschen der Vorkriegszeit so unähnlich, wie Menschen des neunzehnten Jahrhunderts denen des achtzehnten. Am neuesten von allen war diese Christina Alberta, die ihre blauäugige Vorgängerin verdrängt hatte. Sie war in ihren Gedanken und ihren Reden so offen und frei, daß sich Bobby neben ihr vorkam, als trüge sein Geist noch Häubchen und Rüschen. Er hatte zwei Spaziergänge mit ihr gemacht, einen nach Brede und einen nach Rye, und sie gefiel ihm über alle Maßen. Ob er sie liebte, wußte er noch nicht. Sich in sie zu verlieben, zog offensichtlich für jedermann eine ganz ungewöhnliche, noch nicht dagewesene und schwierige Reihe von Anstrengungen nach sich. Es war ohne Zweifel etwas ganz anderes, als jene nicht zustandegekommene Affaire mit dem nicht existierenden blauäugigen Mädchen.
Sie schien Gefallen an ihm zu finden, besonders an der Art und Weise, wie sein Haar ihm auf dem Kopfe wuchs. Sie hatte schon zweimal davon gesprochen und ihn einmal daran gezaust.
Das Rätsel, wie sie, Sargon und er selbst dazukamen, Paul Lambones Gäste zu sein (samt Devizes, der zur Behandlung da war), bildete eine besondere Seite der ganzen Situation. Daß Paul Lambone es zuwege brachte, Sargon eine Freistätte zu gewähren und diese sonderbare, ganz unkonventionelle Wochenendgesellschaft um sich zu versammeln, zeigte so recht, wie unabhängig er sich von allem Hergebrachten gemacht hatte. Doch hatte Bobby ein unbestimmtes Gefühl von heimlichen Zusammenhängen und unsichtbaren Fäden. Devizes war zweifellos ein höchst natürlicher Besucher: er war offenkundig Lambones Freund. Doch ihr Interesse an Sargon war stärker, als es Bobbys Meinung nach naturgemäß sein konnte. Das verwunderte ihn: er überprüfte alle vorhandenen Möglichkeiten aufs sorgfältigste. Irgend ein Antrieb wie sein eigener, doch nicht ganz derselbe, lag, ohne Zweifel, diesem ganzen – diesem ganzen Sargonismus zugrunde.
Bobbys Gefühle gegen Devizes waren anfänglich sehr feindselig gewesen: er hatte ihn als einen unerwarteten Eindringling in ein System von Beziehungen empfunden, das auch ohne ihn schon interessant genug war. Bobby war froh, als Devizes am Freitag nach London fahren mußte, und über seine Rückkehr am Sonnabend nicht gerade erfreut; dann entdeckte er, daß sich seine Gefühle in eine merkwürdige Achtung verwandelten: sie mischte sich mit einem Element der Abwehr, das beinahe an Furcht grenzte.
Devizes beschäftigte sich mehr mit einem als Lambone. Er schaute einen an, und sein Geist kam einem entgegen. Es war ihm zur Gewohnheit geworden, den Leuten entgegenzukommen. Er schenkte Menschen und Dingen eine viel lebendigere Aufmerksamkeit, rückte ihnen zuleibe, ging ganz in ihnen auf. Lambone beobachtete gerade so weit, daß er treffende Bemerkungen machen konnte; Devizes jedoch beobachtete mit durchdringender Schärfe. Bobby stand oft sich selbst im Wege; die meisten Menschen standen seiner Meinung nach sich selbst im Wege, doch Devizes tat es erstaunlich wenig. Er war ein Mann der Wissenschaft; ein Mann mit den Gewohnheiten der Wissenschaftler. Bobby hatte wohl schon den einen oder andern Wissenschaftler kennen gelernt, Menschen, die sich von den gewöhnlichen Dingen ziemlich abgekehrt hatten; doch das Interesse, das sie gefangennahm, entfernte sie von ihren Mitmenschen: einer beschäftigte sich mit Druckwirkungen auf Glas, ein anderer mit den Eiern der Echinodermen. Man hatte ihnen gegenüber stets ein Gefühl, als ob sie einen gar nicht sähen, und mußte ob ihrer Voreingenommenheit lächeln. Doch dieser Mann da, Devizes, wurde von den Beweggründen und Gedanken der Menschen angezogen; er pflegte nicht von einem wegzuschauen; er schaute in einen hinein. Das wurde Bobby immer klarer. Devizes' Augen mangelte es an Zartgefühl.
Er war über den Sonntag hauptsächlich hergekommen, um sich mit Sargon zu beschäftigen. Er ging zu ihm hinauf und führte lange Gespräche mit ihm. Er ‹behandelte› Sargon. Er sprach nicht mit ihm, wie sonst ein Mensch mit einem andern spricht. Er führte vielmehr eine Art geistigen Jiu-Jitsus mit Sargon auf, das dem Geist des Patienten Bewegung verschaffen, ihn umhertreiben und zu einer neuen Stellungnahme zwingen sollte. Devizes war schon an und für sich schrecklich genug, aber noch viel schrecklicher, wenn man sich vorstellte, wozu sich der neue Menschentyp, den er darstellte, noch entwickeln werde. Er sah ganz wie ein Vorläufer aus, ein äußerst kühner Vorläufer – Vorläufer waren sie ja alle! – einer neuen Art menschlicher Beziehungen ohne zarte Zurückhaltung, ohne reiche Aufspeicherung von Gefühlen hinter unterdrückten Gemütsbewegungen und ungesagt gebliebenen Worten. So wenigstens schien es Bobby, der nicht ahnte, wieviel diese Leute unterdrückten und ungesagt ließen. Christina Albertas Gedanken und Reden schienen ihm ganz splitternackt herumzugehen, wie die Leute in irgend einer abscheulichen Utopie von Wells. Er verglich damit das ungeheuer zarte, ausgebreitete Gewebe von ‹gegenseitigem Verstehen›, das er und Tessy miteinander gesponnen hatten.
‹Neue Menschen›, flüsterte er, und schaute Paul Lambones neuem Haus ins Gesicht. Für ihn waren sie ganz unglaublich neu, eine fabelhafte Entdeckung. Der Krieg hatte ihn, bemerkte er jetzt, überanstrengt, und er war eine Zeitlang zu müde gewesen, um sich nach der neuen Welt umzusehen. Er war einer aus der ungeheuren Menge jener gewesen, die, als sie aus dem Kriege heimkehrten, nichts anderes als das abgedroschene, wohlbekannte, altmodische Millenium anzutreffen erwarteten und die ihrer Enttäuschung dadurch Ausdruck gaben, daß sie verkündeten, außer Verwüstung und Verarmung sei nichts Neues auf der Welt zu verzeichnen. Sie waren im Anfang zu heruntergekommen, um irgend etwas anderes zu bemerken. Jetzt aber nahm Bobby wahr, daß die europäische Welt seit dem Bruch des bewaffneten Friedens im Jahre 1914 immer rascher und rascher vorwärtsgeschritten war; und hier gab es nun neue Typen, neue Gedankenrichtungen, neue Ideen, neue Gefühle, neue Moralgesetze, neue Lebensgewohnheiten. Er sah sich plötzlich mitten im Anbruch eines neuen Zeitalters, eines neuen Zeitalters, das so schnell heraufkam, daß nicht einmal Zeit gewesen war, die Formen und Einrichtungen des alten wegzuräumen. Diese wurden weder rückgängig gemacht, noch abgeschafft, noch wurden sie umgestoßen, sondern sie wurden einfach nicht beachtet. Und gerade deshalb konnte man ein oder zwei Jahre leben, ohne die ungeheuren Veränderungen zu bemerken, die sich ringsum vollzogen.
‹Neue Menschen!› Galt das auch für Sargon? Dies dort war Sargons Zimmer: die beiden breiten Fenster zwischen den Strebepfeilern. Stellte auch Sargon einen Ausweg aus der bestehenden Form der Beziehungen zu etwas Neuem dar? Was bedeutete dieser absonderliche kleine Mann mit der dummen Weltkarte und der noch dümmeren Himmelskarte, dieser Mann, der der ‹Herr der Erde› sein wollte?
Als Bobby mit Sargon darüber sprach, schien es ihm, als habe Devizes den kleinen Mann vollständig in Stücke zerlegt und ihm mit den ausgerenkten Teilen seines Selbst aufgewartet. Devizes fuhr am Montag nach London zurück; er nahm Christina Alberta in seinem Mietauto mit sich. Lambone drang in Bobby, noch einen oder zwei Tage zu bleiben, um den Patienten aufzuheitern. Lambone gedachte – soweit er seine Absichten verriet – eine Woche oder noch länger in Udimore zu bleiben und zu arbeiten. Bobby sah Christina Alberta davonfahren, grübelte eine Stunde lang über sie nach, widmete dann den Rest des Vormittags seiner ‹Tante Susanna› und den Nachmittag Sargon; und Sargon, dem es entschieden besser ging, saß von zwei Kissen gestützt aufrecht im Bett und sprach mit ihm über die sezierte Struktur seines Ichs.
»Nicht im geringsten müde«, sagte Sargon. »Ich nehme jetzt ein Tonikum. Alle drei Stunden.«
Er überlegte die nächste Bemerkung einige Augenblicke, bevor er sie vorbrachte. »Wer ist nur dieser Herr Paul Lambone?« fragte er. »Es ist sehr gastfreundlich von ihm, daß er uns hier aufgenommen hat. Sehr. (H'rrmp) ... Ist er ein Freund von Ihnen?«
»Er ist ein ganz bekannter Schriftsteller. Und ein Freund Christina Albertas.«
»Sie hat so viele Bekannte. Die jungen Leute heutzutage überhaupt. Und was ist dieser Doktor Devizes?«
»Er ist Nervenspezialist und wurde um Rat gefragt – um Rat über die Möglichkeiten, Sie von jenem – ‹Ort› wegzubekommen.«
»Nervenspezialist. Er ist ein ausgezeichneter Sprecher – sehr intelligent und (h'rrmp) verständnisvoll. Ich habe so ein merkwürdiges Gefühl, als hätte ich ihn irgendwo, irgendwann, irgendwie schon einmal getroffen. In diesem Leben – oder in einem anderen. Alles ist ganz verschwommen, und er scheint keine entsprechenden Erinnerungen zu haben. Nein. Wahrscheinlich irgend ein zufälliger Zusammenhang.«
Bobby sah gar keinen Zusammenhang.
Sargon schloß einen Augenblick lang die Augen.
»Wir sprachen von meinen jüngsten Erlebnissen«, hub er wieder an.
»Natürlich«, sagte Bobby nachhelfend.
»Bezüglich meiner Persönlichkeit hat es eine arge Konfusion gegeben. Das kommt heutzutage häufiger vor, als es früher zu geschehen pflegte. Die längste Zeit meines Lebens dachte ich, ich sei eine Person namens Albert Eduard Preemby, eine beschränkte Person, allerdings, eine sehr beschränkte Person. Dann ging mir plötzlich ein Licht auf. Ich fing an, mir darüber klar zu werden, daß es so etwas wie diesen Albert Eduard Preemby gar nicht wirklich geben könne. Ich begann nach mir zu suchen. Ich hatte Grund dazu anzunehmen, – es ist zu langwierig, alles zu erklären – daß ich Sargon der Erste sei, der große Sumerier, Gründer des ersten Weltreiches. Dann – dann kam das Unglück. Sie bekamen ja etwas davon zu sehen. Ich griff – eines Nachmittags – in Holborn – nach dem Szepter – voreilig. Höchst peinliche Geschichte. Ich wurde nach jenem ‹Ort› gebracht. Jawohl. Das versetzte mir einen Schlag. Erniedrigungen. Ungemach. Richtige – Unsauberkeit. Ich zweifelte, ob ich nicht schließlich und endlich doch nichts als dieser kleine Preemby sei. Ein menschliches Kaninchen. Mein Glaube wankte. Ich gebe zu, er wankte.«
Er brütete einige peinliche Augenblicke lang vor sich hin.
Dann legte er seine Hand beruhigend auf Bobbys Handgelenk.
»Ich bin Sargon«, sagte er. »Das Gespräch mit Ihrem Freund Devizes hat meinen Geist in vieler Hinsicht geklärt. Ich bin Sargon, doch in einem etwas anderen Sinne, als ich es mir vorgestellt hatte. Preemby war, so wie ich vermutet hatte, eine bloß zufällige Hülle. Doch –«
Das kleine Gesicht runzelte sich zu einer intellektuellen Anstrengung zusammen. »Ich bin nicht ausschließlich Sargon. Sie – Sie sind vielleicht noch nicht erwacht, aber auch Sie sind Sargon. Sein Blut fließt in unseren Adern. Wir sind Miterben. Es ist ganz leicht zu verstehen. Sargon, königliche Position. Natürlich viele Frauen. Politische – biologische Notwendigkeit. Nachkommen zahlreich. Diese wieder – bevorzugte Stellung – viele Kinder. Nächste Generation, noch mehr. Wie ein ungeheurer, sich ausbreitender Strahl geistiger und moralischer Kraft. Man kann es beweisen. Dr. Devizes und ich – wir rechneten es auf einem Blatt Papier aus. Wir stammen alle von Sargon ab, ebenso wie wir alle von Cäsar abstammen – genau so wie fast alle Engländer und Amerikaner von Wilhelm dem Eroberer abstammen. Wenige Leute werden sich darüber klar. Ein bißchen Rechnen – und alles ist ganz einfach. Lange vor der christlichen Zeitrechnung verbreitete sich Sargons Blut in der ganzen Menschheit. Noch mehr seine Tradition. Wir alle erben. Nicht nur von ihm – von all den großen Königen, von all den hochherzigen Eroberern. Von all den tapferen und schönen Frauen. All den Staatsmännern und Erfindern und Schöpfern. Und wenn nicht direkt von ihnen, so von ihren Vätern und Müttern. All dieser edle Wein der Vergangenheit in meinen Adern! Und ich dachte, ich sei Albert Eduard Preemby! Und in Woodford Wells machte ich beinahe jeden Nachmittag einen dummen kleinen Spaziergang – Sixpence in der Tasche und nichts in der Welt zu tun. Zwanzig Jahre lang. Es scheint unglaublich.«
Die blauen Augen suchten bei Bobby nach Bekräftigung. Dieser nickte.
»Da ging ich also im Eppinger Wald spazieren, in einem Anzug, den ich niemals recht leiden konnte – ein etwas übertriebener Golfanzug mit bauschigen Kniehosen, die meine Frau für mich ausgesucht hatte – sie schienen jedes Jahr bauschiger zu werden – und ich wußte überhaupt nicht, daß ich der Erbe all dieser Jahrhunderte war, und daß die ganze Erde vom Mittelpunkt bis hinauf an den Himmel mir gehörte. Und Ihnen. Uns, mit einem Wort. Ich hatte keine Ahnung davon, daß ich ihr gegenüber Pflichten hatte; ich war noch nicht zum Selbstbewußtsein erwacht. Ich war nicht nur Sargon, sondern auch alle Männer und Frauen, die auf der Erde jemals von Bedeutung gewesen sind. Ich war Gottes ewiger Diener. Anstatt dessen fürchtete ich mich vor Pferden und fremden Hunden, und oft, wenn ich Leute herankommen sah und dachte, daß sie mich beobachteten und über mich sprachen, wußte ich nicht, was ich mit meinen Armen und Beinen anfangen sollte, und geriet in größte Verwirrung.«
Er hielt inne, und lächelte bei dem Gedanken daran.
»Es war interessant, mit Ihrem Doktor Devizes über die Albernheit jener beschränkten, blinden Kleinlichkeit zu reden, in der ich so lange lebte. Wir sprachen von dem ‹großen Mann›, der ich in Wirklichkeit bin, von den ‹großen Männern›, die wir alle in Wirklichkeit sind. Von allen den ‹zusammengehörigen großen Männern›. Sie und ich, in gleicher Weise. Denn in der Vergangenheit waren Sie und ich und er eins, und in der Zukunft können wir wieder zusammenkommen. Wir haben uns bloß getrennt, um von den Dingen Besitz zu ergreifen, wie sich die Hand in Daumen und Finger teilt. Wir sprachen von den Zeiten, da der Geist, der in uns lebt, die erste Hütte baute, das erste Schiff ins Wasser stieß, das erste Pferd bestieg. Wir konnten uns an diese großen Augenblicke nicht so wie an ein bestimmtes Ereignis erinnern, aber wir riefen sie uns – so im allgemeinen – ins Gedächtnis zurück. Wir gedachten jenes glühend heißen Tages, als eine Schar von Männern zum ersten Male durch eine Sandwüste zog, und als ein Mann zum erstenmal auf dem Eis eines Gletschers stand. Es war – glitschig. Dann erinnerte ich mich, wie ich meinen Leuten zuschaute, die die Erdmauern meiner ersten Stadt aufwarfen. Wir zogen gegen die ersten Herdenräuber aus. Dann standen Devizes und ich auf einer Art Achterdeck und sahen zu, wie unsere Männer die großen Ruder der Galeere schlugen, die uns nach Island und Vinland trug. Wir sahen es beide. Wir planten die große chinesische Mauer; ich zählte die aufgespannten Segel auf unserem großen Kanal. Wissen Sie, ich habe Millionen herrlicher Tempel gebaut und eine unendliche Anzahl schöner Skulpturen, Gemälde, Juwelen und Dekorationen verfertigt. Ich hatte es vergessen, aber es ist so. Und ich habe Milliarden von Frauen geliebt – wirklich! – ehe mein jetziges Dasein anhob. Wir alle haben das getan. Wir haben das besprochen, Ihr Doktor Devizes und ich. Ich hatte mir ja nicht den millionsten Teil von dem träumen lassen, was ich bin. Als ich voll und ganz davon überzeugt war, Sargon zu sein, war ich mir doch noch nicht über mein großes Erbe und meine ungeheure Bestimmung klar. Selbst jetzt fange ich erst an, das zu begreifen ... Es ist ja lächerlich, sich vorzustellen, daß ich, der ich diese ganze Vergangenheit von Anstrengungen und Abenteuern hinter mir habe, damit zufrieden gewesen sein soll, in der Umgebung von Woodford Wells herumzulaufen, in einem lächerlichen Anzug aus Tweed mit Pumphosen, die äußerst schwer und unbequem waren – sie kratzten mich, wissen Sie – an heißen Tagen. Und doch war es so. Ich lief herum ... Ohne zu ahnen ... Ich pflegte so lange weiterzugehen, bis ich es nicht mehr aushalten konnte, und dann mußte ich irgendwo stehen bleiben und mich in den Kniekehlen kratzen ...
Natürlich, wenn ich mich Sargon, den König der Könige, nannte und die Welt zu regieren vorgab, so meinte ich das – wie Doktor Devizes sagt – symbolisch. Natürlich, denn jedermann ist in Wirklichkeit Sargon, der König der Könige, und jedermann sollte von der ganzen Welt Besitz ergreifen, sie retten und regieren, ganz so, wie ich das zu tun habe.«
Er hatte seine Ausführungen beendet. Er hatte die einzelnen Teile seines Ich genau so vor Bobby ausgebreitet, wie Devizes sie ihm vorgelegt hatte.
»Doch was gedenken Sie nun zu tun?« fragte Bobby.
»Ich habe darüber nachgedacht.«
Er dachte eine Zeitlang weiter nach.
»Es wird alles anders,« sagte er, »wenn man erkennt, daß man nicht der einzige Sargon ist. Ich dachte, ich sei ein großer König, ein großer Führer, und die übrige Welt mir untertan. Ich bezweifle, daß ich mich einer Aufgabe dieser Art jemals völlig gewachsen fühlte, doch ich sah keine andere Möglichkeit, Sargon und ein König zu sein. Jetzt sehe ich eine. Ich tat, was ich konnte, doch schon als ich zum Buckhingham-Palast ging, spürte ich, daß mir die Sache über den Kopf wachsen würde. Ich habe Doktor Devizes gesagt – ich sagte ihm, daß doch, da er geradeso wie ich Sargon und König sei, und beinahe jedermann Sargon und König werden könne, die ganze Sache gar nichts mehr mit Palästen und Thronen zu tun habe, oder mit Proklamationen und Krönungen. Diese Dinge seien ebenso unzeitgemäß wie Geräte aus der Steinzeit; und das Eigentliche an der ganzen Sache sei, ein königlicher Mensch zu sein und mit allen anderen königlichen Menschen in der Welt gemeinsam darauf hinzuarbeiten, die Welt unserer hohen Abkunft würdig zu machen. Jeder, der sich darüber klar wird, wird ein königlicher Mensch. Es ist ganz gut möglich, daß wir wie Könige handeln, selbst wenn wir als Könige inkognito bleiben. Man kann entweder ein Wäschereibesitzer sein, wie ich, als ich bloß Preemby war, und an nichts denken, als an seinen Profit und die eitlen Nichtigkeiten und die Nöte und Ängste eines Wäschereibesitzers – und wie dumm das war! – oder man kann ein König sein, der Abkomme von zehntausend Königen, der Miterbe der großen menschlichen Erbschaft, der Herr aller noch ungeborenen Generationen – der zufällig als Wäschereibesitzer im Exile lebt.«
Er machte eine Pause.
»Ich glaube, Sie haben ganz recht«, meinte Bobby. »Was Sie sagen, hat viel für sich.«
»So weit ist es ja vollkommen klar. Aber hier beginnen die Schwierigkeiten. Es genügt nicht, einfach zu sagen, daß man ein König ist. Man muß ein König sein. Man muß handeln. Man kann nicht ein König sein und nicht als König handeln. Und gerade hierin waren Doktor Devizes und ich uns nicht so recht klar. Da muß eine Menge durchgedacht werden. Was ist meine königliche Aufgabe? In diesem gebrechlichen Körper. Und was bin ich? Ich bin mir nicht klar darüber. Doch die bloße Tatsache, daß ich mir nicht klar bin, zeigt deutlich, wo ich anzufangen habe. Ich muß mir klar werden. Ich muß Wissen erlangen, mein Königtum studieren. Das ist nur vernünftig. Ich muß mehr von meiner, von unserer großen Erbschaft erfahren, von ihrer Geschichte, ihren Möglichkeiten, in welcher Art und Weise sie die Menschen mißbrauchen. Ich muß das Geschäfts- und Geldwesen, muß Ökonomie studieren; und wenn ich dann alles klar vor mir sehe, dann muß ich hervortreten und mitreden und arbeiten; ich muß herausfinden, welche besonderen Gaben ich habe und wie ich sie am besten für unser Königreich verwenden könnte. Jeder König muß seine Regierung durch seine besonderen Gaben glorreich auszeichnen. Darin stimmten wir überein.
Bis jetzt kenne ich meine besondere Begabung noch nicht. Doktor Devizes sagt, daß er für sein Teil die Aufgabe hat, die menschlichen Beweggründe und inneren Beziehungen herauszuarbeiten; er hat für Psychologie Begabung und natürliches Interesse. Ihm ist seine Aufgabe zugemessen, seine königliche Aufgabe. Doch bei mir herrscht vorläufig noch nicht soviel Selbsterkenntnis. Ich muß tiefer unten und auf einer breiteren Grundlage anfangen. Ich muß das Weltall und die Geschichte jenes Weltreiches von Sargon studieren, und alle jene Dinge, die ich in meiner Verträumtheit und meiner Kleinlichkeit vernachlässigt habe. Ich muß wieder in die Schule gehen. Muß lernen, schärfer zu denken. Die Mühe schreckt mich nicht. Aber ich bin ungeduldig. Wenn ich an alles das denke, was noch vor mir liegt, all das Lesen, die Nachforschungen, die Besuche in Museen und dergleichen Anstalten, dann möchte ich gleich aufstehen und mich an die Arbeit machen. Ich habe ein so gedankenloses und verantwortungsloses Leben geführt, daß ich gar nicht weiß, wie ich die Jahre, die ich vergeudet habe, einbringen soll. Ich habe sie so verbummelt. Doch bin ich froh, daß ich noch zu meiner Königswürde erwacht bin, bevor es zu spät ist.
Ich bin eigentlich noch ein ganz junger Mann. Ich bin etwas über vierzig, aber das ist gar nicht viel. Die Hälfte davon war Kindheit und Jugendzeit, der Rest wurde zumeist in Gedankenlosigkeit verbracht. Soviel ich weiß, kann ich noch vierzig Jahre weiterleben. Ich stehe in der Mitte meines Lebens. Und es können die besten Jahre sein, die fetten Jahre. Drei oder vier kann ich damit verbringen zu lernen – die Welt und was drum und dran ist, kennenzulernen. Ich werde damit anfangen, Politik zu studieren und zu ergründen, warum Männer und Frauen unterwürfig und niedrig gesinnt sind. Es wird mir langsam klar werden, wie ich diesen großzügigen Geist der Freiheit, der über mich gekommen ist, auch auf die anderen übertragen kann. Ich werde anfangen, ein politisches Leben zu führen. Ein Mann ohne politisches Leben gleicht mehr einer Ratte, die in einem Schiffe lebt, als dem Manne, der es steuert. Innerhalb dieses Kreises werde ich dann allmählich mein eigentliches Leben finden, meine besondere Aufgabe. Es ist vielleicht etwas voreilig, aber ich glaube, daß mich das Rätsel des Wahnsinns und der Heilanstalten ganz besonders fesselt. Ich verstehe nicht, wie es Wahnsinn geben kann. Das macht mich ganz irre und quält mich; und Doktor Devizes stimmt mit mir darin überein; das einzige, was man tun kann, wenn einem etwas den Geist verwirrt und quält, ist, sich alles Wissen und alle Gedanken, die es darüber gibt, zu eigen zu machen – wissenschaftlich. Sogleich hört es auf, einen zu quälen; es interessiert und beschäftigt einen. Und als ich an jenem – ‹Ort› war, sprach ich mit einigen jener armen Kreaturen. Sie taten mir sehr leid. Ich versprach, ihnen zu helfen, wenn mein Königreich käme. Und jetzt fange ich an zu sehen, was mein Königreich ist, und in welcher Weise ich vorgehen muß, um es zu besitzen. Vielleicht werde ich mir in nicht allzulanger Zeit über Irrenanstalten Wissen aneignen und es weiterverbreiten und die Zustände in ihnen bessern, sodaß man nicht die Leute einfach einsperrt, sondern ihnen hilft und sie heilt.
Doktor Devizes, glaube ich, hatte den Gedanken – oder wir mögen auch miteinander draufgekommen sein – daß Wahnsinn einen wirklichen und wichtigen Zweck hat. Er ist eine Art Vereinfachung; Zwang und Hemmungen hören auf, die Natur macht gleichsam ein Experiment. Die Geheimnisse des Geistes kommen zutage. Aber wenn die armen Seelen schon diese Art von Prüfung zu tragen haben, um anderen als Wissensquelle zu dienen, dann müßten sie auch anständig behandelt werden: sie müßten besonders gehegt und gepflegt werden, damit man möglichst viel Nutzen von ihnen hat, und sie dürften nicht solchen brutalen Kerlen ausgeliefert werden, wie wir sie hatten ... Ich kann es Ihnen nicht sagen. Noch nicht. Bestien waren es ... Und in ihren lichten Augenblicken – sie haben auch lichte Augenblicke, diese Irrsinnigen – da müßten sie getröstet werden und über ihre Bestimmung unterrichtet.«
Das komische, kleine, runde Gesicht mit dem struppigen Schnurrbart und den blaßblauen Augen starrte Bobby an.
»Als ich Sie zum ersten Male sah,« sagte Sargon, »war ich mir nicht im geringsten darüber klar, wie sich die Sachen zwischen uns in Wirklichkeit verhielten. Ich war noch ganz von meiner Aufgeblasenheit eingenommen; ich dachte, ich sei ein großer Prophet und Lehrer und König, und daß mir die ganze Welt zu gehorchen habe. Ich dachte, Sie würden der erste, vertrauteste und beste meiner Jünger werden. Aber jetzt weiß ich besser über mich Bescheid. Und auch über die anderen Leute. Sie sind nicht mehr hier, um meine Nachfolger und Jünger zu sein, sondern meine Mitkönige. Wir haben mit allen anderen Auferweckten zusammen für unser Königreich und den großen Fortschritt der Menschheit zu arbeiten.«
Er fuhr fort zu sprechen, mehr zu sich selbst als zu Bobby.
»Ich habe immer ein Bedürfnis gehabt, alles zu wissen, aber jetzt werde ich den Willen haben, wirklich zu lernen. Ich werde jetzt ganz anders sein. Es scheint unglaublich, daß ich mir vor gar nicht langer Zeit noch Sorgen darum machte, was ich mit meiner Zeit anfangen sollte. Jetzt bin ich nur mehr darauf begierig, an die Dinge heranzukommen, und, wie lang meine Zeit auch bemessen sein mag, ich weiß, daß sie voll ausgefüllt sein wird. Es erscheint mir verwunderlich, daß man in meinem Königreich nun schon über zehn Jahre lang fliegt und ich noch niemals in einem Aeroplan gewesen bin. Ich muß mir die Welt vom Aeroplan aus ansehen. Und vielleicht werde ich es notwendig finden, nach Indien und China und in dergleichen fremdartige und wunderbare Länder zu reisen, denn auch sie sind Teile meiner Erbschaft. Ich muß doch auch von ihnen etwas wissen. Und Dschungeln und Wildnisse, die wir uns zu unterwerfen haben, ich muß sie sehen. Die wilden Tiere stehen unter uns; wir müssen sie pflegen oder sie barmherzig ausrotten, wie es die Erfordernisse unseres Königreiches verlangen. Es ist eine schwere Aufgabe, auch nur Herr über ein Tier zu sein. Alle Tiere, wild oder zahm, stehen unter unserer Herrschaft. Und dann die Wissenschaft. All die wunderbare Arbeit, die in Laboratorien geleistet wird, und all die großartigen Erfindungen stehen uns zu Gebote. Wenn ich das alles nicht verstehe, so bin ich nur ein Hindernis. Wie blind war ich doch für die Herrlichkeiten meines Lebens! Wenn ich an alle diese Dinge denke, kann ich es kaum hier im Bett aushalten; ich bin schon so begierig, mit dem Studium anzufangen. Aber ich glaube, ich muß mit meiner dummen keuchenden Lunge Geduld haben.
Geduld«, wiederholte er.
Er schaute auf seine Armbanduhr, sie war stehengeblieben. »Können Sie mir sagen, wie spät es ist? Um sieben Uhr soll ich wieder von diesem ausgezeichneten Tonikum nehmen. Es wirkt Wunder an mir. Doch nein! bemühen Sie sich nicht; die Pflegerin wird schon daran denken ... Es gibt mir neues Leben.«
Doch Sargon lebte keine vierzig Jahre mehr, auch keine dreißig, nicht einmal zwanzig. Er lebte nach dieser Unterredung noch sieben Wochen – einen Tag weniger als sieben Wochen. Er blieb noch zwei Tage im Bett, nachdem Bobby nach London zurückgekehrt war; dann fuhr auch Lambone fort, und er war nicht mehr zu halten. Als seine Kräfte wiederkehrten, quälte er seine Pflegerin immer mehr um Bücher, deren Namen er nicht nennen und deren Inhalt er nicht beschreiben konnte, und um Bände der ‹Encyclopaedia Britannica›; und als sie erklärte, daß sieben Bände dieser monumentalen Veröffentlichung für einen Kranken auf einmal sicherlich genug seien, stand er auf, nahm seinen groben, kleinen Schlafrock um und kam die Treppe herunter an die Bücherregale gewackelt, immer wieder kräftig h'rrmpend. Danach stand er drei Tage hintereinander auf. Man machte in der zum Lesen behaglichsten Ecke des unteren Zimmers ein Feuer an und stellte Wandschirme auf, um ihn warm zu halten. Aber sein Tonikum ließ ihn nicht stillesitzen, vielleicht war es zu stark, und er blieb nicht in seiner geschützten Ecke.
Die Pflegerin scheint eine nachgiebige, unselbständige Person gewesen zu sein, die nicht imstande war, aus freiem Antrieb zu handeln. Sie telephonierte Devizes in London an, aber es schien ihr nicht zu glücken, ihm den Ernst und die Gefahr von Sargons Unfolgsamkeit klarzumachen. Das Ärgernis erreichte seinen Höhepunkt, als er eines Abends nicht um sieben Uhr zu Bett gehen wollte, sondern anstatt dessen, zwar in Mantel und Shawl gehüllt, jedoch in Hausschuhen, auf die Terrasse vor dem Hause entschlüpfte. Seine bloßen Knöchel und Beine waren dem kalten Winde ausgesetzt. Die sich langsam, periodisch wiederholenden Lichtkegel des Leuchtturmes an der Küste, die über die geisterhaften Hügel unter dem klaren Sternenlichte fegten, hatten ihn hinausgezogen, diese feierlichen Lichter, und der Sirius mit seinem weißen Glanz, und die ruhig strahlende Pracht des Orion. Es war eine klare Novembernacht und die Luft frostig. Die Pflegerin hörte ihn husten und stürzte hinaus. Er schaute durch Lambones Fernstecher auf den Sirius, und sie mußte ihn einfach mit Gewalt hineinziehen. Sie geriet aus der Fassung; es kam zu einem häßlichen Streit.
Am nächsten Tage war er völlig außerstande, das Bett zu verlassen. Doch blieb er nicht ruhig, warf sich herum und setzte bei vergeblichen Versuchen, zu lesen, seine entzündete Brust neuerlich der Erkältung aus. »Ich weiß nichts«, beklagte er sich. Danach ging es ihm eine Weile wieder besser. Dann dürfte er höchstwahrscheinlich einmal in der Nacht an das offene Fenster gegangen sein und lange Zeit dagesessen haben, um die Sterne zu betrachten. Darauf kam ein Rückschlag; eine Woche lang etwa kämpfte er; nach einer Phase des Deliriums trat große Schwäche ein, und dann, eines Nachts, der Tod. Er war ganz allein, als er starb.
Bobby hatte durchaus nicht gedacht, daß Preemby sterben würde. Die Nachricht – durch Christina Alberta übermittelt – traf ihn völlig unerwartet. Er hatte nichts davon erfahren, daß es Sargon schlechter gegangen war, noch, daß er sich so eigenwillig benommen hatte; er hatte sich vielmehr vorgestellt, daß er in beneidenswerter Weise ständig stärker und gesünder würde und sich einer Tag um Tag zunehmenden, glücklichen Wißbegier erfreue. Er hatte sich schon auf ein nächstes Gespräch und ein neues Stadium dieser merkwürdigen, verspäteten Entwicklung gefreut. Es war nicht anders, als ob eine fesselnde Geschichte plötzlich in der Mitte abbräche, als ob die letzten Kapitel roh und unvernünftig aus einem Buche herausgerissen worden wären.
Diese Stimmung einer zerstörten Zuneigung verließ ihn auch während der Einäscherung Sargons zu Golders Green nicht. Bobby nahm an dieser sonderbaren Zeremonie teil. Er kam, etwas verspätet, mit Willy; der Sarg, in dem der kleine Körper lag, stand schon da, bereit in den Verbrennungsofen zu gleiten, und der anglikanische Trauergottesdienst hatte bereits begonnen. Es waren nur sehr wenige Leute in der Kapelle anwesend. Christina Alberta saß in dem Trauerkleide, das sie nach ihrer Mutter Tod getragen hatte, in der ersten Reihe, als Hauptleidtragende, zwischen Paul Lambone und Devizes. Hinter ihr saßen, tiefes Beileid auf den Gesichtern, Harold und Fee Crumb, erstaunlicherweise ganz in tiefer Trauer; sie folgten den Zeremonien ängstlich in zwei Gebetbüchern. Ein unangenehm aussehender Mann mit einem langen, pockennarbigen Schafsgesicht und kleinen Augen, in ziemlich abgetragenem, schwarzem Anzug, drehte sich um und gaffte Bobby an, als er hereinkam. Ihm zur Seite saß eine sehr breite, blonde Dame, die in ihren Trauerkleidern unter einem Bett geschlafen zu haben schien. Verwandte des Dahingeschiedenen? Das Aussehen nach Verwandtschaft war unverkennbar. Dahinter schienen eine junge Frau und zwei einzelne alte Damen einer harmlosen Vorliebe für Trauergottesdienste im allgemeinen zu frönen. Mit ihnen war die Gemeinde vollzählig.
Christina Alberta sah neben ihren beiden wunderlichen Freunden ungewöhnlich klein und eingeschüchtert aus. Draußen war ein grauer Tag, und die Versammlung machte einen spärlichen, schütteren, düsteren und frostigen Eindruck. Als Bobby eintrat, spielte eben die Orgel, und ihm war, als habe er niemals eine so verstimmte Orgel gehört. Je weiter der Gottesdienst fortschritt, desto flacher, theologischer und verlogener hörte er sich an. Was für ein alter, antiquarischer, muffiger Überzieher doch die anglikanische Kirche für die im Weltall umherirrende Seele ist, die ihn tragen muß, dachte Bobby. Aber was kann schließlich irgend eine Religion in der Welt angesichts des normalen Todes tun? Von der theologischen Seite aus gesehen, sollte man sich freuen, wenn ein guter Mensch stirbt, aber keine dieser Religionen hatte den Mut gehabt, die Sache in dieser Richtung hin durchzudenken. Bei keiner wird man den Eindruck los, daß sie vor einem erschreckenden Fragezeichen stehe. Gab es in diesem Sarge noch irgend etwas, das diese düsteren Mummereien mitanhörte oder sich auch nur ein Jota darum kümmerte?
Bobbys Gedanken beschäftigten sich mit dem leblosen Ding im Sarge. Das kleine Gesicht mochte wohl eine wächserne, ungewohnte Würde tragen; die runden, unbeschreiblich unschuldigen blauen Augen würden geschlossen und ein wenig eingesunken sein. Wo waren jetzt alle die Gedanken und Hoffnungen, denen Bobby vor einigen Wochen noch gelauscht hatte? Sargon hatte vom Fliegen gesprochen, von einer Reise nach Indien und China, von edlem Schaffen in der Welt. Er hatte gesagt, daß noch das halbe Leben vor ihm liege. Es hatte so ausgesehen, als blühe er wie eine Blume am ersten sonnigen Morgen eines verspäteten Frühlings auf. Und alles war Täuschung gewesen; das Tor des Todes, das nun hinter ihm zugefallen war, hatte schon damals sich zu schließen begonnen.
Sicherlich waren jene Hoffnungen lebendig gewesen. Wenn irgendwo, so war in ihnen etwas von dem Leben, das lebt und nicht sterben kann. Doch war es dort drüben? Nein. Das in dem Sarge dort war nicht mehr als ein photographischer Abdruck, ein abgelegtes Kleid, Schnitzel von einem Fingernagel. In Bobbys Gehirn war jetzt mehr von Sargon als in diesem Sarge. Doch wo war Sargon? Wo waren jene Träume und Wünsche?
Bobby wurde auf die Stimme des amtierenden Priesters aufmerksam, die sich wie ein fliegender Vogel über das Durcheinander seiner Gedanken erhob: ‹Möchte aber jemand sagen: Wie werden die Toten auferstehen? Und mit welchem Leibe werden sie kommen? Du Narr, das du säest, wird nicht lebendig, es sterbe denn. Und das du säest, ist ja nicht der Leib, der werden soll; sondern ein bloß Korn, nämlich Weizen, oder der anderen eins. Gott aber gibt ihnen einen Leib, wie er will, und einem jeglichen von den Samen seinen eigenen Leib ...›
‹Komischer, gewundener, geschickter Kerl, dieser Paulus›, dachte Bobby bei sich. Worauf wollte er damit eigentlich hinaus? Komischer Kerl! Grob war er überdies auch noch – nannte einen ‹Du Narr›. Eine ziemlich bei den Haaren herbeigezogene Analogie, das mit dem Samen ‹gesäet verweslich›. Schließlich und endlich war ein Same doch das reinste, lebenskräftigste Stück Pflanzenstoff, das es gab; er mußte in reine Gartenerde gesät werden. Wachsende Pflanzen düngte man vielleicht, aber nicht Saatkästen. Doch diese Predigt betonte mit allem Nachdruck, daß das neue Leben ‹anders› sein werde, losgelöst vom irdischen Dasein. Was komme, werde von dem, was gesät worden sei, vollkommen verschieden sein. Bobby hatte nie zuvor bemerkt, wie eindeutig der Apostel darauf bestand, daß kein Körper, kein Erdenkörper, keine Persönlichkeit jemals wiederkehre.
‹Und es sind himmlische Körper, und irdische Körper. Aber eine andere Herrlichkeit haben die himmlischen, und eine andere die irdischen. Eine andere Klarheit hat die Sonne, eine andere Klarheit hat der Mond, eine andere Klarheit haben die Sterne; denn ein Stern übertrifft den andern nach der Klarheit.›
Was war damit wieder gemeint? War es richtig übersetzt? Wogegen hatte sich Paulus in Korinth eigentlich gewandt? Warum sprach die Kirche nicht von dem, was einem zunächst und am dringendsten am Herzen lag, anstatt diese levantinische Streitfrage wieder auszugraben? Und dieser Vergleich mit der Saat – war er am Ende doch gut? Was immer aus einem Samen kommt, muß wieder sterben; es ist nicht unsterblicher als die Pflanze, aus der der Same kam. Der Priester sprach übrigens auch viel zu schnell, als daß man ihm aufmerksam hätte folgen können. Besser, man nimmt nachher zu Hause ein Gebetbuch und liest alles durch.
‹Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg? Aber der Stachel des Todes ist die Sünde, die Kraft aber der Sünde ist das Gesetz.›
Nein. Dem konnte man nicht folgen. Es hörte sich wie lauter Unsinn an. Es fehlte einfach jeder Zusammenhang. Es war nicht anders, als wenn man jemandem lauschte, der zu weit weg war, um genau gehört werden zu können, und sich durch ausdrucksvolle Gebärden und Geräusche verständlich zu machen suchte.
Im Gottesdienst trat eine verlegene Pause ein. Jedermann saß starr, bewegungslos da.
‹ Der Mensch, vom Weibe geboren, lebt kurze Zeit ... Gehet auf wie eine Blume, und fällt ab, fliehet wie ein Schatten ...›
Von unsichtbaren Händen in Bewegung gesetzt, glitt der Sarg gegen die Türen des Verbrennungsofens, die sich öffneten, um ihn aufzunehmen. Ein tiefes Brausen entstand, das wie ein mächtig rauschender Wind klang, ein elementares, chaotisches Brausen ...
Das Leben ist ein schwacher, dünner Nebelschleier auf einem kleinen Planeten, doch Flammen brausen so und starke Winde rauschen und wirbeln bis zu dem entferntesten Stern in der unergründlichen Tiefe des Raumes. Dieses tiefe, chaotische Dröhnen ist die wahre Stimme der leblosen Materie, nicht der toten Materie, denn was niemals lebendig war, kann auch nicht tot sein, der leblosen Materie also, die außerhalb und unter- und oberhalb des Lebens steht.
Jedermann in der Kirche blieb still, beugte sich, duckte sich und machte sich winzig klein, bis sich die Türen des Ofens über diesem seelenlos verzehrenden Getöse wieder geschlossen hatten.