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Ein Mann mag ein Nervenspezialist sein und doch darin versagen, die deutlichsten Fingerzeige in einer Detektivuntersuchung zu bemerken. Der leitende Arzt in Cummerdownhill hatte einen Augenblick lang gezweifelt, ob Sargons Besucher Widgery geheißen habe. Er hatte gemeint, der Name habe eher wie Goodchild geklungen. Doch da in der Welt Christina Albertas kein Goodchild bekannt war, hatten weder sie noch Devizes es der Mühe wert gefunden, diese augenblickliche Ungewißheit näher zu untersuchen. Weder sie noch Devizes hatten sich gefragt, aus welchem Grunde Widgery seinem Vetter einen zweiten Besuch abgestattet haben sollte. Er hatte das auch gar nicht getan. Es war ein viel jüngerer Mann gewesen, der Sargon an jenem Dienstag besucht hatte; er hatte sich als Sargons Neffe namens ‹Robin Goodchild› ausgegeben. Sein richtiger Name war Robert Roothing, und er war eigens zu dem Zwecke gekommen, Sargon sobald wie möglich aus der Anstalt zu befreien, da er den Gedanken an seinen Aufenthalt dort nicht ertragen konnte.
Die Umstände hatten sich, im Bunde mit einer natürlichen Veranlagung, verschworen, Bobby einen großen Abscheu vor jedem Zwang einzuflößen. Seine Mutter, ein sanftes, dunkelhaariges Geschöpf, die Frau eines behäbigen, blonden, nachlässigen Grundbesitzers, war gestorben, als Bobby zwölf Jahre zählte; und er war der Obhut einer strengen, altmodischen Tante anvertraut worden – der ein erzwungener Aufenthalt in der Speisekammer als vortreffliches Erziehungsmittel galt. Als sie entdeckte, daß es ihm wirklich Qual bereite, suchte sie seine ‹Feigheit› zu brechen, indem sie es ihm in ganz gehörigen Dosen verabfolgte – selbst wenn er nichts angestellt hatte. Er besuchte eine Schule, in der die Disziplin durch ‹Einsperren› aufrecht erhalten wurde. Der Krieg ließ ihn seinen Vater verlieren, der infolge allzu großer Aufregung plötzlich starb, als er während eines Flugangriffes ein Fliegerabwehrgeschütz kommandierte; und Bobby selbst geriet nach einem öden Feldzug in Mesopotamien und der Belagerung von Kut in ein äußerst unsympathisches türkisches Gefangenenlager. Wahrscheinlich wäre er auf jeden Fall eine freiheitsliebende Kreatur gewesen, jetzt aber empfand er eine so leidenschaftliche Abneigung gegen Käfige, daß er sogar Kanarienvögel zu befreien wünschte. Er haßte die Eisengitter um die öffentlichen Parks und Plätze mit propagandistischer Leidenschaft, er schrieb darüber in ‹Wilkins' Weekly› und in anderen Zeitschriften Artikel, in denen er für ihre ‹Befreiung› eintrat, und er fuhr so selten wie möglich mit der Eisenbahn, wegen der Klaustrophobie, die ihn im Abteil befiel. Er pflegte mit einem Fahrrad zu fahren; für längere Strecken pflegte er sich Willys Motorrad auszuborgen. Er tat, was er konnte, um sein Verlangen nach Luft und Freiheit soweit zu verbergen, daß es nicht zu auffällig wurde oder andere Leute belästigte; doch Tessy und Willy hatten Verständnis dafür und taten ihrerseits, was sie konnten, um ihm das Leben leicht zu machen.
Nicht nur gegen Klaustrophobie hatte Bobby zu kämpfen. Er stand in einem geheimen, innerlichen Konflikt mit seiner Abneigung, bei den meisten Gelegenheiten überhaupt zu handeln; diese Abneigung hatte sich, wie er glaubte, als Ergebnis der Erfahrungen im Kriege in ihm entwickelt. Manchmal schien es ihm bloße Trägheit zu sein, manchmal Faxerei, manchmal reine Angst und Feigheit. Er wußte es nicht recht. Er litt unter der Erinnerung an einen Fall von Grausamkeit, den er im Gefangenenlager mitansehen hatte müssen: er war danebengestanden und hatte nichts getan. Mitunter erwachte er um drei Uhr morgens und sprach laut mit sich selbst: »Ich stand daneben und tat nichts. O Gott! O Gott! O Gott!« Und zu Zeiten ging er in seiner Stube auf und nieder und wiederholte: » Tu' etwas! Du Nichtsnutz! Du fauler Hund! Hinaus mit dir und tu' etwas!« Inzwischen gehorchte er dem gewohnten Trott des Tages und tat, was ihm eben unter die Hand kam. Als ‹Tante Susanna› war er ausgezeichnet: unermüdlich auf alles bedacht, klar verständlich, wirklich hilfreich. ‹Wilkins' Weekly› war stolz auf ihn. Er war das Rückgrat des Blattes.
Und jetzt hatte ihm diese Geschichte mit Sargon gänzlich das Herz zerrissen: gegen seinen Wunsch, den kleinen Mann, der in ganz außergewöhnlicher Weise von seiner Phantasie und Sympathie Besitz ergriffen hatte, zu befreien, stand der Gedanke an die ungeheuren Mächte, gegen die er anzukämpfen haben würde, wenn er versuchte, ihm irgendwie zu helfen. Erst nach einem heftigen Kampf mit sich selbst hatte er es zuwege gebracht, auf die Polizei und nach dem Spital in der Giffordstraße zu gehen. Er hatte Angst vor unangenehmen Fragen, Angst, man könnte ihn längere Zeit aufhalten. Das Armenhausspital war ein abscheulicher Ort mit hohen Mauern und einem gepflasterten Hof und gewährte im allgemeinen den Eindruck finsterer Absperrung von der schmutzigen Straße draußen. Fast den ganzen Tag nach seinem Besuch in der Giffordstraße war er im Zweifel, ob er überhaupt noch weiter etwas unternehmen solle.
»Bobby is' verdrießlich«, klagte Suschen Tessy. »Ganz dämlich is' er. Sitz' da und sag', er muß über was nachdenken. Wozu denk' er denn nach? Er hat gesagt, ich soll wieder hinuntergehn und ein braves Mädel sein ... Im Ernst hat er's gesagt ... Und schob mich fort ... Ich werd' aber Bobby nie-ie-ie, nie-ie-mehr gern ha-a-a-aben.«
Große Verzweiflung. Ein Strom von Tränen. Tessy war voll Mitleid.
Doch nach dem Tee war Bobby wieder lustiger; er zeichnete Suschen ihr ‹Gute-Nacht-Bildchen›, kam dann herunter, setzte sich an ihr Bettchen und erzählte sie ganz wie sonst in Schlaf. Tessy merkte, daß er das Schlimmste überstanden hatte.
Beim Abendbrot eröffnete Bobby seine Pläne.
»Ich werde morgen nach Cummerdownhill fahren«, sagte er kurz und bündig.
»Um Sargon zu besuchen?« fragte Tessy verständnisvoll.
»Wenn ich kann. Aber morgen ist nicht Besuchstag. Der ist Dienstag. Ich will mich nur da draußen umschaun.«
Willy zog die Augenbrauen hoch und bediente sich mit Butter.
»Aber –« sagte Tessy und brach ab.
»Ja?« sagte Bobby.
»Du wirst ihn nicht sehen können. Du weißt ja nicht, unter welchem Namen er dort ist.«
»Sie werden ihn dort ‹Herr Sargon› nennen«, sagte Willy.
»Sein Name ist Preemby. Er ist ein Wäschereibesitzer. Man sagte mir das im Armenhausspital. Seine Leute wollen, daß er im Irrenhaus bleibt!«
»Ich kann den Gedanken daran nicht ertragen«, sagte Bobby nach einem kurzen Stillschweigen.
»Das begreife ich nicht«, sagte Willy.
»Diesen lieben kleinen Kerl als Irrsinnigen einsperren! Wie ein kleiner blauäugiger Vogel war er. Hohe Mauern. Große rohe Wärter. Sargon, der König der Könige ... Ich muß etwas für ihn tun oder ich zerspringe.«
Er sah schlapp und verzweifelt zugleich aus. Tessy dachte nach. »Dann ist es schon besser, du fährst hinaus«, sagte sie.
»Aber wozu soll das gut sein?« sagte Willy und wurde durch einen Blick von Tessy zurechtgewiesen.
»Wenn du mir das alte Motorrad und den Seitensitz leihen könntest. Du brauchst es doch diesen Sonntag nicht.«
»Du kannst den Seitensitz herunternehmen«, sagte Willy.
»Vielleicht werd' ich ihn brauchen«, sagte Bobby.
»Du denkst doch nicht daran –!« sagte Willy.
Bobby war einer Explosion so nahe wie noch nie.
»O, kümmere dich doch nicht darum, was ich denke. Ich sage dir, ich fahre nach Cummerdown hinaus, um mir den Ort anzuschau'n. Ohne Zweifel bin ich ein unnützer Esel, Willy, aber ich kann nicht anders. Der arme kleine Schlucker hat keinen Freund. Seine eigene Familie will ihn los sein. Familien sind schon so. Es ist eine höllische Welt. Ich muß etwas tun. Wenn es auch nur ist, um sie aufzurütteln. Wenn ich noch einen Tag länger zaudre, werde ich anfangen, Suschen zu hauen.«
»Jemand muß das doch tun«, sagte Willy.
»Wenn er nur vierzehn Tage lang wegbleiben kann –«
»Ist er dann frei?« fragte Tessy.
»Er muß jedenfalls wieder vollkommen neu attestiert werden«, sagte Bobby.
Bobby entdeckte, daß die Ortschaft Cummerdown nahezu drei Kilometer von der Irrenanstalt entfernt liegt und sich erfolgreich bemüht, mit dieser so wenig wie möglich zu schaffen zu haben. Sie versteckt sich unter Bäumen abseits von der großen Hauptstraße nach Ashford und Hastings und hat ein winkeliges, altes Wirtshaus, das ihm ein kahles Schlafzimmer bot; sein Motorrad mit dem Seitensitz konnte er in einem offenen Nebengebäude unterbringen, das mit zwei Frachtkarren und einem Fordwagen vollgepfropft und von zahlreichen Hühnern bevölkert war. Es war noch früh am Tage, und nachdem er sein aus einem ältlichen Rucksack bestehendes ‹Gepäck› in seinem Zimmer abgelegt hatte, machte er sich mit einem Spazierstock und der Miene oberflächlichen Interesses auf, um das Asyl auszukundschaften und seine Pläne für die Befreiung Sargons zu schmieden. Der goldene Herbst hielt noch immer an; der liebliche Heckenweg, den er nach der Hauptstraße zu nahm, war mit grünen und gelben Kastanienblättern übersät, über den Bäumen lag Sonnenschein. Das Wetter hatte etwas Beruhigendes. Es ermutigte ihn. Ein froher Ernst bemächtigte sich seiner, und er fühlte, daß Leute aus Irrenanstalten zu befreien eine Art Tätigkeit war, die die Sonne bescheinen, die Natur gutheißen konnte.
Es hatte viel Überwindung gekostet, um von London hierherzugelangen. Er war sich dabei wie eine Mücke vorgekommen, die auszieht, um ein in Schlachtordnung aufgestelltes Universum anzugreifen. Mitten im Croydoner Verkehr hatte er schon halb die Absicht gehabt, umzukehren, aber er fühlte, daß er Tessy nicht wieder vor die Augen treten dürfe, ehe er nicht wenigstens endgültig geschlagen sei. Er war glücklich, eine zunehmende Sicherheit in sich zu verspüren, je näher er seinem Unternehmen rückte. Er fühlte sich den Kräften, die er angriff, immer mehr gewachsen. Was waren denn schließlich und endlich Gesetze und Verordnungen anderes, als von Menschen gleich ihm zusammengestümperter Kram? Was waren Gefängnismauern anderes, als das langsame Werk arbeitsunlustiger Maurer und hinterlistiger Bauunternehmer? Die Wärter und Wächter, die Leiter und so fort, die zu hintergehen er ausgezogen war, konnten sich alle ebensoleicht irren wie er. Und diese Sache war unerhört und eine Schmach, diese Gefangennahme eines harmlosen kleinen Phantastikers, diese entsetzliche Einkerkerung. Dagegen mußte man ankämpfen. Die Welt würde unerträglich sein, wenn man nicht gegen solche Dinge ankämpfte.
Eine komische Welt war es! Wie schön war die Glut des Sonnenlichtes auf den Baumstämmen, welche Freude, mit den Füßen durch die Blätter zu rascheln! Doch das alles war Beiwerk; die Hauptaufgabe des Lebens bestand darin, gegen das Böse anzukämpfen.
Er kam unter den Bäumen hervor und sah das weite Hügelland vor sich ausgebreitet und die klotzigen Massen des Asyls mit seinen weiten, kahlen Gründen und Mauern, eine Beleidigung für das Auge. Hier lag sein Ziel. Irgendwo in diesem Gebäude war Sargon, und er mußte befreit werden.
Er setzte sich auf einen günstig gelegenen Zauntritt, musterte das plumpe Bauwerk und versuchte, einen Plan zu entwerfen. Jenes weiße Gebäude in der Mitte sah wie ein hoch aufragendes Privathaus aus der georgischen Zeit aus. Wahrscheinlich war es der Kern des Ganzen. Zwei Männer konnte man davor sehen, die Gras mähten – vielleicht Patienten. Die Mauer und die Gitter entlang der Straße sahen unübersteiglich aus. Zwei Pförtnerhäuser, in denen ohne Zweifel ein gewaltiger Torwart lauerte, standen drohend da, und dort waren eiserne Tore – eines offen. Ein Fuhrwerk kam gerade heraus, der Wagen eines Möbelhändlers. Eine Zeitlang beschäftigten sich Bobbys Gedanken mit der Möglichkeit, ein Händler mit Paketen oder einer abzuliefernden Kiste zu werden ... Aber dieser Plan bot viele Schwierigkeiten ...
‹Doch, warum denn einen Frontangriff wagen?› fragte sich Bobby, als ob ihm eine plötzliche Erleuchtung käme. Der Platz fiel nach hinten hin ab, den Hügel hinunter. Er wollte die Rückseite auskundschaften. Wenn er über den freien Hügel gegen rechts herumzukommen suchte, würde er wahrscheinlich auf einen Abhang gelangen, von dem aus er die Lage des Asyls überblicken konnte.
Eine Stunde später saß Bobby auf einem Haufen von Flintsteinen am Rande einer Seitenstraße, die über den Abhang hinter dem Asyl führte. Er fand die Rückseite des Platzes viel hoffnungsvoller und viel interessanter als die Vorderseite. Hier gab es Felder, auf denen eine Anzahl Männer arbeitete, und an einer Stelle in der Nähe der Gebäude schien eine Reihe von Männern unter der Aufsicht eines Wärters einen Graben zu graben. Näher an den Gebäuden war es sogar ziemlich rege, ein halbes Dutzend Leute schien sich dort unter einer Art offenen Schuppens durch Auf- und Abgehen Bewegung zu schaffen. Der Gedanke, daß irgend eine dieser Gestalten sein Sargon sein könnte, quälte Bobby. Wenn er doch nur daran gedacht hätte, einen Fernstecher mitzubringen, warf er sich vor, so wäre er imstande gewesen, die Züge seines kleinen Freundes zu erkennen. ‹Keine Gedankenklarheit›, flüsterte er. ‹Keine Entschiedenheit.› Viele dieser Leute schienen ganz frei umherzugehen, wobei sie Gartengeräte und dergleichen trugen. Einen sah er umhergehen und gestikulieren, als ob er zu sich selber spräche; es war offenkundig ein Patient, und auch er war ganz ohne Aufsicht.
Die Mauer, die das Asyl auf dieser Seite umgab, hatte nichts von dem strengen Aussehen der Frontmauer. Es schien eine alte Gutsmauer zu sein; an mehreren Stellen war sie mit Efeu bedeckt und hier und dort von Bäumen überhangen. Der Boden fiel zur Rechten hin ab; ein kleiner Bach kam an der untersten Ecke aus dem Anstaltgrunde heraus; dieser Winkel war von Bäumen überschattet und schien gänzlich den Bäumen und dem Unterholz überlassen; der Bach floß durch eine niedrige Wölbung in der Mauer und schlängelte sich dann durch ein breiter werdendes Tal gegen London hin. Die schattige Abgeschlossenheit dieses Winkels sagte Bobby äußerst zu. Es schien ihm eben die Stelle zu sein, an der man Sargon aus dem Gebäude herauskriegen mußte. Er beschloß, sogleich hinunter zu spazieren und die Möglichkeiten so genau wie möglich zu studieren. Wenn man Sargon dazu bringen könnte, hier herunter zu kommen –
Er fand die Details schwierig. Er hatte die Absicht, einen Plan bis ins kleinste Detail auszuarbeiten und ihn dann Sargon am nächsten Besuchstage mitzuteilen, aber es war nicht leicht, diesen Plan zusammenzustücken. Er wußte nicht, wann sich für Sargon die beste Gelegenheit zu einem Entrinnungsversuch bot, ob bei Tag oder bei Nacht. Er sah eine lange Reihe von Untersuchungen, die gemacht, von mißtrauischen Leuten, denen die Stirn geboten werden müßte, vor sich. ‹Verdammt!› sagte Bobby und war eine Zeitlang wieder dafür, seinen Versuch aufzugeben.
Warum konnte man nicht kühn bei diesen Toren hineingehen und sagen: ‹Es ist ein gesunder Mann hier, und ich bin gekommen, ihn zu befreien›? Ein Übermensch hätte das tun können, oder ein Erzengel. Wie herrlich es doch wäre, so etwas wie ein Erzengel oder ein Gralsritter zu sein, ein wunderbares, strahlendes und machtvolles Wesen, das Unrecht wieder gut macht, Bedrücker straft, alle gefangene Kreatur befreit. Da könnte einer Taten vollbringen! Bobby verfiel in einen kindlichen Wachtraum.
Bald raffte er sich wieder zusammen, stand auf und ging hinunter zu der Stelle, wo der Bach herausfloß. Die Mauer dünkte ihn ganz leicht erklimmbar – sogar für einen kleinen alten Herrn. Der Bach kam in Windungen zwischen Kieseln unter einem kurzen Tunnel hervor. Man hätte ganz leicht mit Hilfe des Efeus über die Mauer oder durch die Wölbung in die Anlagen des Asyls hinein oder herausgelangen können. Er beschloß, in der Dämmerung wiederzukommen und – bloß um sich unter anderem seiner eigenen Schneid zu versichern – in die Anlagen des Asyls zu steigen und darin ein wenig umherzugehen.
Ja. Das würde er tun.
Er versuchte sich vorzustellen, wie er Sargon über die Mauer helfen würde. Man konnte auf die Mauer steigen und von oben jemandem die Hand reichen. Jeder Krüppel konnte das. Das Motorrad würde dort oben in dem Heckenweg warten müssen. Und dann? Wohin sollte er ihn bringen?
Das bedurfte einer neuen Überlegung. Eine Zeitlang waren Bobbys Gedanken durch die Kompliziertheit seines Unternehmens vollständig paralysiert. Er hatte noch gar nicht daran gedacht, daß er Sargon irgendwohin bringen müsse.
Die Tage, die dem Besuchstage vorausgingen, schienen zugleich endlos und entsetzlich kurz. Im Sommer war er mit den Malmesburys in Dymchurch gewesen; die Frau, bei der er dort gewohnt hatte, war besonders nett gewesen; er drahtete ihr: ‹Möchte mit einem Verwandten, nicht krank, aber überarbeitet, auf zirka eine Woche zu Ihnen kommen. Sie werden sich meiner vom letzten Sommer her erinnern, Roothing Zu den Federn Cummerdown›; die Antwort lautete: ‹Jederzeit gerne aufgenommen.› Also das war in Ordnung. Doch der Rest des Planes war noch recht weit von der Verwirklichung entfernt. Er unternahm seinen nächtlichen Besuch der Asylanlagen ohne Zwischenfall.
Als der Morgen des Besuchstages anbrach, hatte er ein halbes Dutzend Pläne bereit, doch waren alle mangelhaft; keiner schien viel besser oder schlechter als die andern zu sein. Er war in verschiedenen, wohlüberlegten Entfernungen um die Anstalt herumgegangen, bei Nacht und bei Tage, im ganzen gerade dreiundzwanzigmal, die Schleifen, Kehren und Besuche besonders interessanter Punkte nicht mitgerechnet. Glücklicherweise sind Irrenanstalten mit ihren eigenen internen Angelegenheiten ziemlich beschäftigt und halten keine Ausspäher auf ihren Festungsmauern. Sie rechnen nicht mit Befreiern von außen her.
Bobby traf über seinem Frühstücksspeck seine endgültige Entscheidung unter den sechs widerstreitenden Projekten. Mit resoluter Kaltblütigkeit und zitternden Nerven machte er sich nach der Irrenanstalt auf, um Sargon zu besuchen und mit dem Rettungswerk, das er sich ausgedacht, den Anfang zu machen. Zuerst mußte er herausbekommen, wieviel Bewegungsfreiheit Sargon gegönnt war, und wann es ihm möglich sein würde, nach jener Ecke bei der Ausflußwölbung zu kommen; der Zeitpunkt des Zusammentreffens mußte dementsprechend eingerichtet werden. Es mußten sogar mehrere Zeitpunkte vorgesehen werden, falls es Sargon nicht gelang, sein erstes Versprechen zu halten. Bobby würde unter der Mauer warten, das Motorrad mit dem Seitensitz würde unter den Büschen oben an der Straße versteckt sein. Im Nu würde Sargon über der Mauer sein. Und dann konnten sie über jede Verfolgung lachen. Sie würden nach Dymchurch fahren, und dort würde sich Sargon sicher und unauffindbar hinter Türen halten, bis die vierzehn Tage um waren, deren es bedurfte, um ihn gesetzlich wieder zu einem vernünftigen Menschen zu machen. Und dann konnte Bobby auch seine Verwandten ausfindig machen, mit ihnen über die Angelegenheit sprechen und vielleicht alles in Ordnung bringen. Das war Bobbys Plan.
Erst an den Eingangstoren entschied er sich für einen angenommenen Namen. Es war ihm nicht ganz klar, warum er nicht seinen richtigen Namen angab, doch ein angenommener Name schien ihm mehr im Geiste des Abenteuers zu sein.
Als Sargon davon unterrichtet wurde, daß ihn Herr Robin Goodchild besuchen wolle, befand er sich in niedergeschlagener Stimmung. Er verriet keinerlei Verwunderung über den Namen. Er schien ihm ebensogut wie jeder andere Name. Es konnte ja der Name irgend eines einsichtigen Oberbeamten der Anstalt sein, oder vielleicht sogar der eines Vorläufers der Befreiung, auf die er noch immer hoffte. Seine Lebensgeister stiegen. Fröhlich ließ er sich eine Musterung seiner äußeren Erscheinung gefallen und nickte ergeben zu der Warnung, nicht über ‹ jeden Quark› zu sprechen, den er zu sehen bekommen habe.
Seine Lebensgeister stiegen noch mehr, als er Bobbys freundliches, dunkles Gesicht erblickte. Das war der eine Jünger, der stets zu glauben geschienen hatte. In einem kleinen Sturm von Erregung hielt er ihm beide Hände hin. Für was für einen Patzer Bobby selbst sich auch halten mochte, für Sargon bedeutete er in diesem Augenblick wenigstens Stärke und Hoffnung.
Die Zusammenkunft fand unten in dem Besuchszimmer statt, denn niemand aus der Außenwelt darf jemals bis zu den Krankensälen und der kahlen Nüchternheit des Alltagslebens im Asyl vordringen. Im Besuchszimmer stand ein grünüberzogener Tisch in der Mitte, ferner ein schwarzes Roßhaarsofa und zahlreiche Stühle; auf dem Tisch lagen ein A-B-C-Fahrplan und eine oder zwei illustrierte Zeitschriften, an den Wänden hingen braungefleckte Stahlstiche, den Prinzen Albert, die Königin Viktoria im Hochland und das Schloß Windsor von der Themse aus darstellend. Drei oder vier Gruppen waren da, jede aus zwei oder drei Leuten bestehend, die die Köpfe zusammensteckten und sich taktvoll in gedämpftem Tone unterhielten; mehrere Frauen und ein kleines Mädchen waren darunter; eine Dame in tiefer Trauer saß, Tränen in den Augen, abseits an dem kalten Ofen und wartete ohne Zweifel auf einen Patienten; zwei Wärter machten alle Anstrengung, nicht merken zu lassen, daß sie den Unterhaltungen, die ringsum geführt wurden, so scharf wie möglich lauschten. Die Patienten, die da waren, befanden sich alle in ihrem gesündesten Zustande, ‹in der Verfassung, Besuch zu empfangen›. Keinerlei Wahnsinn war zu merken, höchstens etwa kleine, nervöse Eigentümlichkeiten. Bobby hatte, während er wartete, die anderen Gruppen beobachtet, und es war ihm eine gewisse eigenartige Verstohlenheit in ihrem Benehmen aufgefallen. Er brachte diese Verstohlenheit mit der Wachsamkeit der Wärter in Zusammenhang. Der eine tat so, als ob er zum Fenster hinaussehe, der andere saß halb auf dem Tisch und hielt eine alte Nummer des ‹Graphic› in der Hand, und immer wieder wurde ein rascher Seitenblick auf diesen oder jenen Patienten geworfen. Es war Bobby nicht in den Sinn gekommen, daß sein Gespräch mit Sargon halb-öffentlich stattfinden werde; dieser Umstand kam ihm höchst unerwünscht in die Quere.
Bobby sah sofort, daß Sargon viel, viel dünner war als damals, da er sein Zimmer in der Midgardstraße gemietet hatte. Er sah schlecht und abgehärmt aus, welcher Eindruck noch durch die Tatsache verstärkt wurde, daß er unrasiert war und schlecht sitzende Kleider anhatte. Seine Augen schienen größer und unter die Brauen eingesunken und seine Stirne schärfer gefurcht. Doch wenn auch unglücklicher, sah er doch intelligenter aus. Er schien sich der Dinge ringsum bewußter zu sein – schien nicht mehr so verträumt wie früher.
»Ich bin gekommen, um zu sehen, ob ich Ihnen von Diensten sein kann«, sagte Bobby, während er ihm beide Hände reichte. »Ihre Freunde und Jünger sind um Ihre Wohlfahrt besorgt.«
»Sie sind gekommen, um mich zu besuchen,« sagte der andere, tat einen Seitenblick nach dem lauschenden Wärter und senkte die Stimme, »mich – Sargon?«
Bobby verstand den Zweifel, der in diesen Worten lag, und war betrübt. »Sie, Sargon, den König aus der Vergangenheit.«
»Sie verlangen hier, daß ich das ableugne«, flüsterte Sargon.
Bobby zog die Augenbrauen hoch und nickte mit dem Kopf, als ob er sagen wollte: ‹Die sind zu allem fähig.›
Das Benehmen des kleinen Mannes änderte sich. »Wie soll man Gewißheit erlangen?« fragte er. »Wie soll man Gewißheit erlangen?«
Er seufzte. »Nichts scheint mehr sicher.«
»Können wir uns niedersetzen und miteinander sprechen?« sagte Bobby. »Wir haben vieles miteinander zu besprechen.«
Sargon blickte umher. In einer Ecke standen zwei Stühle, und dort mochten sie ein bißchen außerhalb des Horchers Reichweite sein. »Ich kann diesen Wahnsinn nicht verstehen«, sagte Sargon, als sie sich niedersetzten. »Ich kann dieses Rätsel nicht lösen, das mir aufgegeben worden ist. Warum erlaubt die ‹Macht›, warum erlaubt Gott, daß Menschen wahnsinnig sind? Wenn sie wahnsinnig sind, sind sie jenseits von Gut und Böse. Was sind sie? Noch Menschen? Was wird aus der Gerechtigkeit, was aus der Rechtschaffenheit, wenn Menschen wahnsinnig werden?« Seine Stimme wurde noch leiser. Seine Augen blickten verstohlen nach dem Wärter. »Schreckliche Dinge geschehen hier«, flüsterte er. »Schreckliche Dinge. Ganz schreckliche Dinge.«
Er brach ab. Eine kurze Weile sprachen weder er noch Bobby ein Wort.
»Ich möchte, daß Sie aus all dem herauskommen«, sagte Bobby.
»Tun meine Freunde irgend etwas?« fragte Sargon. »Was macht Christina Alberta? Geht es ihr gut?«
»Es geht ihr ausgezeichnet«, sagte Bobby aufs Geratewohl. Ohne Zweifel war sie eine aus der unmenschlichen Familie Sargons, die sich damit zufrieden gab, ihn hier eingesperrt zu lassen. »Ich möchte, daß Sie mir zuhören«, sagte er.
Doch Sargon hatte viel zu erzählen. »Jedermann hier denkt immer daran, was seine Freunde draußen wohl für ihn tun. Die armen Seelen kommen und sprechen mit mir. Sie wissen, daß ich anders bin als sie. Sie schreiben Briefe, Gesuche. Ich sage ihnen, daß ich, wenn Gott mich erlöst, an sie alle denken werde. Einige äffen mich nach. Sie haben Wahnvorstellungen. Sie glauben, daß sie Könige oder Kaiser oder reiche Männer oder große Erfinder sind, und daß sich die Welt gegen sie verschworen hat ... Einige sind mißtrauisch und grausam ... Verdunkelte Seelen ... Einige haben schreckliche Gewohnheiten. Man kann nicht anders, man muß das alles mitansehen ... Einige sind tief gesunken – entartet – unbeschreiblich ... Es ist sehr qualvoll, sehr qualvoll.«
Die blauen Augen starrten mutlos auf unangenehme Erinnerungen zurück.
»Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß ich Sargon bin«, sagte er unvermittelt und sah Bobby scharf an.
»Ich nenne Sie mit keinem anderen Namen«, sagte Bobby.
Die augenblickliche Schärfe verschwand wieder. »Jener Mann Preemby war nicht erwacht. Er schlief – und träumte kaum vom Leben. Doch ich habe klar gesehen! Ich habe mir die Welt von hochgelegenen Orten aus angeschaut. Und von dunklen Orten aus auch ... Sargon. Sargon ist ein andrer Mensch ... Doch es ist schwierig.« Er schwieg.
Bobby sah, daß sie so nicht zum Ziele gelangen würden. In der Vorstellung, die er sich von diesem Gespräch zurechtgelegt hatte, hatte er gesprochen und Sargon hatte zugehört. Und es hatte keinen Horcher dabei gegeben. Nun war alles ganz anders. Doch auf jeden Fall mußte der Plan mitgeteilt, Sargon über seine Rolle belehrt werden. Er blinzelte vorsichtig nach den Leuten, die ihnen zunächst saßen. »Einige unter uns«, sagte er leise und rasch, »wollen Sie befreien. Ich möchte Ihnen sagen –« Im Drang des Augenblicks versuchte er es mit einer symbolischen Sprache. »Wenn ich von einer Stadt in Zentralasien spreche, so bedeutet das soviel wie dieses Haus hier, die Irrenanstalt. Verstehen Sie?«
»Dieses Haus – Zentralasien. Wenn ich Sargon bin ... Alles ist möglicherweise etwas anderes. Doch nichtsdestoweniger sind wir noch immer in England.«
»In Wirklichkeit. Doch ich muß Ihnen etwas erklären.«
»Ja. Ja. Erklären.«
»Ich werde von großen Entdeckungen in Zentralasien sprechen. Das wird folgendes bedeuten.«
» Rettung!« flüsterte Bobby Sargon ins Ohr und sah nach dem Wärter hin, traf seinen Blick und geriet außer Fassung.
»Erzählen Sie mir von den Entdeckungen«, sagte Sargon nach einer kleinen Weile, als ob er das geflüsterte Wort nicht gehört hätte.
»Es ist ein Symbol für diesen Ort hier«, sagte Bobby.
Sargon schaute verwirrt drein. Der Wärter beobachtete jetzt ihre Gesichter. Vielleicht hatte er bereits Verdacht geschöpft. Bobby wurde feuerrot und stürzte sich unvermittelt in eine Erzählung von den Entdeckungen eines wunderlichen Russen, den er Bobinsky nannte. Bobinsky habe eine ummauerte Stadt ohne Ausgang gefunden. »So?« sagte Sargon anteilnehmend. Der Wärter schaute jetzt weg. »Ganz wie hier«, sagte Bobby, und etwas verständlicher: »Ich meine diesen Ort hier.« Ein Fluß fließe durch die Stadt, die Stadt der Eingesperrten, und an der tiefstliegenden Stelle aus ihr hinaus. Dort warte der Helfer. Die Retter. Das sei die Stelle, wo sie warteten. Er verstehe doch? An jenem Punkt, wo die Bäume ständen und der Fluß durch die Mauer hinausfließe. Dort warteten sie. Dort würden sie warten, bis der gefangene König zu ihnen komme.
»Eine merkwürdige Geschichte«, sagte Sargon. »Welchen gefangenen König meinen Sie?«
» Sie sind gemeint.«
»Der Fluß, von dem Sie sprechen, mag der Euphrat sein«, sagte Sargon. »Ich träume zuweilen vom Euphrat.«
Er hatte alles mißverstanden. Was spann er sich da nur wieder selbst zurecht? Der Euphrat! Was hatte der Euphrat mit Zentralasien zu tun? Oder mit der Irrenanstalt?
»Verwünscht!« sagte Bobby. »Ich meine – es ist ein kleiner Fluß, den ich meine, ein Bach – in den Anlagen hier. Verstehen Sie denn nicht?«
Eine große Frau mit scharfem Profil und einem steifen, schwarzen Strohhut kam und setzte sich nahe von ihnen hin. Während Bobby sprach, beobachtete er sie aus den Augenwinkeln. War sie die Bekannte eines Patienten, oder was tat sie hier? »Ich spreche in Symbolen«, sagte Bobby, während er die Frau noch immer beobachtete und über sie nachdachte. »Die Stadt ist Ihr Gefängnis.« Er ertappte die Frau, wie sie mit dem Wärter, der jetzt ein paar Meter weiter von ihnen weggerückt war, einen Blick des Verständnisses austauschte. Sie kannten einander. Dann mußte sie auch ein Aufpasser sein. »Ich brauche kein andres Gefängnis als dieses«, sagte Sargon, in einem offenkundigen Mißverständnis befangen. » Ein Gefängnis ist genug.«
»Das meine ich ja nicht«, sagte Bobby. »Können Sie hier ziemlich frei herumgehen?«
»Nicht frei«, sagte Sargon. »Nein.«
»Wenn Sie in die Anlagen hinauskommen könnten. Morgen!«
Die Frau wandte ihm ihre lange, scharfe, fuchsrote Nase zu und starrte ihn mit ziemlich blöden, grünblauen Augen an.
Bobbys Nerven drohten zu versagen. Er hatte stets mehr Angst vor Frauen als vor Männern. Daß ihm aber jetzt diese freche, scharfnasige Person so offenkundig zuhörte, ihm mit einer heimlichen Feindseligkeit gegen alles, was er sagte, zuhörte, das verwirrte ihn über alle Maßen. Er versuchte, eine Geschichte von verlorenen und wiederentdeckten Städten zu improvisieren, die kristallklar für Sargon, doch unverständlich für jeden anderen Zuhörer sein sollte. Doch seine Erfindungsgabe scheiterte an der schwierigen Aufgabe. Wo der Fluß aus der Stadt herausfließe, wiederholte er; immer wieder kam er darauf zurück; es war schon langweilig; dort, wo Bäume seien und Efeu, dort warteten die Gläubigen. Welche Stunde für den Meister günstig sei, sich zu ihnen wegzustehlen? Alles sei vorbereitet. Wann es sein könne? Wann? Bruchstückweise und mit vielem Belanglosen untermischt, versuchte Bobby seinem Zuhörer die Wichtigkeit dieser Mitteilungen klar zu machen. Bald sprach er deutlich; bald wieder, wenn ihn die Furcht vor der Zuhörerin aufs neue übermannte, unbestimmt und irreführend. Er vermittelte Sargon ein Gefühl des Geheimnisvollen, der Spannung, das war klar; doch er merkte, daß das auch alles war. Die Zeit verstrich. Bobby hätte jenes infernalische Weib erwürgen können. Immer näher rückte sie, um seinen letzten, kläglichen Bemühungen zuzuhören. Ohne rechten Zusammenhang kam er wieder auf seinen Ausgangspunkt zurück. »Es hat diesen Bobinsky nie gegeben«, flocht er in seine Rede ein.
»Wie konnte er dann Städte entdecken?« fragte Sargon, offensichtlich über Bobbys Geschwätz immer mehr erstaunt.
»Er ist tot«, sagte Bobby. »Er war bloß eine Maske.«
»Manche Menschen sind das.«
»Kümmern Sie sich nicht um diesen Bobinsky. Könnten Sie sich nach jener Ecke fortschleichen? Nein, nein. Sie schaut her. Antworten Sie nicht ...
Jetzt antworten Sie.«
»Ich verstehe nicht«, sagte Sargon.
Bobby fühlte, daß er Sargon nur verwirrte. Aber was sollte er sonst tun? Er hätte sich dafür boxen können, daß er nicht eine kurze Darstellung seines Planes mitgebracht hatte, klar und einfach auf ein kleines Stück Papier geschrieben, das er in Sargons Hand hätte gleiten lassen können – oder in seine Tasche. Das wäre so einfach gewesen. Er hätte eine Kartenskizze und eine Zeichnung machen können. Doch nun war es zu spät, das zu tun.
Verzweiflung überkam Bobby. Alles war schief gegangen. Er stand auf, um zu gehen, und dann setzte er sich wieder hin, um noch einen Versuch zu machen. Er fühlte geradezu Mordlust gegen jenes Weib, gegen sich selbst, ja sogar gegen den kleinen Sargon, der so schwer von Begriffen war.
»Es war sehr nett von Ihnen, mich zu besuchen«, sagte Sargon. » Weshalb sind Sie gekommen? ...
Glauben Sie, daß irgend etwas für mich geschehen wird? ...
Sie werden Christina Alberta sehn? Als Sie kamen, dachte ich, Sie würden mir etwas mitzuteilen haben – etwas Wichtiges. Man lebt hier von solchen Hoffnungen. Hier – wenn es keine Besucher gibt – geschieht garnichts, nichts Angenehmes. Und man ist unglücklich ...
Es interessiert mich natürlich, von diesen Städten in Zentralasien zu hören, aber es ist ein wenig verwirrend. Kamen Sie eigens deswegen? Oder bloß, um mich zu besuchen?
Sie werden wiederkommen. Schon in dieses Wohnzimmer hier herunterzukommen, ist ein Ereignis ...«
Dann in eiligem Flüsterton: »Das Essen ist fürchterlich. So schlecht gekocht. Ich kann es nicht vertragen ...«
»Diese Frau!« sagte Bobby, als er ging. »Sie hat alles verdorben. Ich kann sie nicht ausstehen.«
»Diese Frau?« fragte Sargon, der Richtung von Bobbys Augen folgend. »Arme Seele«, sagte er. »Es ist eine Taubstumme. Sie kommt her, um ihren Bruder zu besuchen. Die ganze Familie hat entweder ein Gebrechen oder ist geisteskrank.«
Wütend kehrte Bobby in sein kleines Gasthaus zurück. Sollte er die ganze Sache sein lassen? Unerträglicher Gedanke! Er mußte neue Pläne machen – vollkommen neue Pläne. Er mußte von vorne anfangen. Der kleine Mann war offensichtlich sehr unglücklich. Doch es schien schwieriger, sich seiner zu bemächtigen, als Bobby gedacht hatte.
Bobby konnte diese Nacht kein Auge schließen.
In der Nacht, kurz vor Tagesanbruch, wachte Sargon plötzlich auf und verstand. Er verstand ganz klar, was der junge Mann zu ihm gesagt hatte. Er hatte ‹Rettung!› gesagt. Natürlich hatte er ‹Flucht› gemeint. Diese Stadt in Zentralasien war nur ein Gleichnis; soviel hatte er durchblicken lassen. Er hatte einen Winkel der Anstaltsanlagen beschrieben, jenen Winkel hinter den Baufeldern und dem Buschwerk, wo der Bach hinausfloß und wohin zu gehen den Patienten nicht erlaubt war. Er hatte von Freunden gesprochen, die draußen warten würden. Er hatte versucht, eine Stunde festzusetzen, zu der diese Freunde dorthin kommen sollten. Und Sargon hatte leider nicht verstanden. Er setzte sich ganz leise im Bett auf.
Es war vollkommen klar, doch infolge einer Art Dummheit, die ihn zu Zeiten überkam, hatte er den Kern der Sache nicht zur rechten Zeit erfaßt. Der junge Mann war, natürlich genug, etwas verwirrt geworden. Was würde er jetzt tun? Würde er es noch einmal versuchen? Warteten etwa die Freunde noch immer?
Wer war dieser junge Mann? Sein Name war unbekannt oder vergessen. Doch er glaubte. Er hatte gesagt: ‹Ich nenne Sie mit keinem anderen Namen.› Sargon! Und dann waren da diese Freunde, von denen er gesprochen hatte, die draußen auf den König warteten. Sie mußten etwas wissen. Wie konnten sie etwas wissen, wenn es nichts zu wissen gab? Vielleicht war es doch kein Traum. Vielleicht erwachte die Welt wirklich ... Doch er hatte die Gelegenheit versäumt. Er hatte nicht verstanden ... Sie warteten draußen ...
Wie still alles war! Eine fremde, ungewohnte Stille. Es war selten, daß hier so jeder Lärm verstummte. Es war dunkel, doch nicht gänzlich finster. Der Saal wurde durch ein blaubeschattetes Licht schwach erleuchtet. Die drei nächsten Betten waren leer, und drüben der Mann, der sich beinahe unaufhörlich hin- und herwarf und murmelte, lag eine Weile in Frieden. Der Mann, der wild phantasiert hatte, war vor drei Tagen gestorben; jener andere, der plötzlich laute Schreie ausstieß, war in einen anderen Saal gebracht worden. Durch die offene Tür konnte man über den Flur in den kleinen, gelberleuchteten Raum blicken, wo Brand, der Saalwärter, mit verschränkten Armen, das Kinn auf der Brust, saß und schlief, während seine Patience-Karten vor ihm ausgebreitet lagen. Er schien allein zu sein und konnte trotzdem schlafen! Wo mochte der andere Mann sein – der neue Wärter, dessen Namen Sargon nicht kannte? Er fühlte – jemand war soeben weggegangen!
Durch die vorhanglosen Fenster schaute die Nacht draußen herein, eine Finsternis, die transparent wurde, ein Streifen einer tiefschwarzen Wolke und fünf bleiche Sterne. Am unteren Rande dieses langgezogenen Bildes konnte man undeutlich das Maßwerk von Baumzweigen sehen und die zerzauste Krone einer jungen Eiche, die noch ihre Blätter trug: die Bäume längs der ersten Hecke. Diese Umrisse wurden deutlicher, je länger er sie betrachtete. Es war wie die langsame Entwicklung einer photographischen Platte in der Dunkelkammer. Die Sterne erloschen. Waren es fünf gewesen? Nun waren es drei: die beiden anderen hatte das bleiche, um sich greifende Licht des Morgens verblassen gemacht.
Durfte man sich auf den Flur wagen? Falls Brand erwachte, konnte er eine natürliche Entschuldigung vorbringen. Er stand gut mit Brand. Aber der andre Wärter –?
Nicht die geringste Spur von ihm. Wohin war er gegangen? ...
Rasch schlüpfte Sargon aus dem Bett, zog seinen Schlafrock und seine Hausschuhe an. Pst! Was war das? ... Bloß jemand, der schnarchte. Nichts weiter. Er ging hinaus und stand auf dem Flur. Brand schlief weiter wie ein Klotz.
Die steinerne Treppe war beleuchtet und leer, und aus der offenen Tür zur Linken unten drang das rauhe Atmen eines Schläfers. Die ganze Welt schien auf einmal zu schlafen, außer Sargon und jenem freundlichen Helfer draußen vor der Mauer. In weiter Ferne hörte man Lärm und Geschrei, doch diese Geräusche wurden durch die Entfernung und eine dazwischenliegende Tür gedämpft. Sie machten bloß die Stille in der Nähe fühlbarer.
Etwas regte sich – ein kleiner, surrender Laut, der Sargons Herz rascher pochen machte. Dann ein widerhallender Schlag. Ein zweiter. Es war nichts; es war die Uhr unten, die sechs schlug.
Ganz leise, doch entschlossen stieg er hinab. Eine Eingebung, ein Instinkt trieb ihn. Er betastete das Tor und siehe da, es war offen! Nicht verriegelt! Nicht versperrt! Brands Kollege hatte sich aus irgend einem Grunde fortgestohlen. Die kalte Luft der Freiheit blies Sargon ins Gesicht.
Das Tor öffnete und schloß sich leise, und Sargon stand auf der Haustorschwelle des linken Flügels des Asyls, der trüben Welt einer Novemberdämmerung gegenüber.
Es war dunkel, aber klar, eine Welt von Schattenrissen und farblosen Gestalten. Alles sah aus, als sei es eben erst mit einem feuchten Tuch abgewischt worden. Es war kalt, doch ohne die Schärfe und Bitterkeit des Windes.
Er ging über den kiesbestreuten Fahrweg hinüber, machte halt und sah sich um. Das schwere Gebäude des linken Flügels ragte über ihm empor, ein ungeheurer Koloß, der sich in der bleicheren Dunkelheit des Himmels verlor. Es wich perspektivisch zurück, und der Mitteltrakt drüben sah nur wie das Gespenst eines Hauses aus. Hie und da war ein Fenster orangegelb erleuchtet, und andere waren von einem entfernten, reflektierten Lichtschein blasser erhellt. In dem Wohnhaus links von den Eingangspforten brannte ebenfalls Licht. Denn wo es Wahnsinn gibt, herrscht nie vollkommener Schlaf.
Doch die Anstalt lag an diesem Morgen so still da, wie ein Irrenhaus nur sein kann.
Er schaute und lauschte. Nicht ein Fußtritt. Er durfte sich nicht von dem anderen Wärter hier finden lassen ...
Doch der Mann war nicht da, war gewiß an einem behaglichen Ort. Niemand würde hier in der frostigen Luft herumstehen.
Woran hatte sich Sargon zu erinnern?
Die Freunde und Gläubigen warteten auf ihn. Sie warteten jetzt. Wo der Fluß aus der Stadtmauer floß; das hieß soviel wie: wo der kleine Bach aus den Anlagen floß. Das mußte hier sein – zur Linken, wo die Felder bergab fielen. Er trat auf den Rasen, denn der Kies knirschte unter seinen Fußtritten. Das Gras knisterte. Es war schwer von weißem Reif, und seine Füße hinterließen schwarze Stapfen in dem nassen, silbernen Grau.
Er schritt an der gewichtigen, dunklen Masse des Asyls vorbei und weiter in die offene, kältere Luft der Freiheit hinaus. Er klinkte das kleine Gatter in dem Eisengitter, das die sauber gehaltenen Grasflächen der Front von dem Kohlfeld trennte, auf und ging hindurch. Es quietschte ein wenig in den Angeln, er öffnete und schloß es daher sehr vorsichtig. Er stapfte über das Feld. Der Pfad lief vor ihm in den Nebel. Er kam aus dem Nebel heraus bis zu seinen Füßen und verschwand hinter ihm. Es war, als ob er an Sargon vorbeiliefe, während er dazu mit den Füßen Takt schlug. Er konnte sich nicht erinnern, wohin der Pfad führte, noch wie er zu dem Winkel, den er suchte, lag. Doch jeden Augenblick wurde es heller.
Jeden Augenblick wurde es heller. Etwas Dunkles, Schwarzes hatte brütend über ihm am Himmel gehangen und ihn zu beobachten geschienen. Er hatte sich bemüht, dieses Unbestimmbare zu ignorieren, weil er vor seiner eigenen Phantasie Angst hatte. Doch plötzlich sah er deutlich, daß es nichts anderes war, als die Gipfel von Bäumen, die über den Nebel emporragten. Das mußte die Baumreihe sein, die der Hecke entlang parallel zur Asylfront lief. Er mußte durch sie hindurch, wenn er hügelabwärts gehen wollte. Er verließ den Pfad und schritt langsam einen gefrorenen Haufen ausgegrabener Erde entlang. Er streifte lange Reihen hochaufgeschossener Kohlköpfe, schwarz und zusammengeschrumpft und zerfetzt, sie sahen wie Kosakenposten zu Fuß aus. Sie neigten sich alle gegen ihn, als ob sie dem Lärm, den er machte, lauschten.
Als er der Hecke und den Bäumen näherkam, hörte er ein Geräusch wie das Trippeln einer Armee von Mücken. Es war das Tropf-Tropf der Nässe von den Bäumen.
Weit weg hinter ihm und ihm gänzlich unsichtbar surrte ein Automobil auf der Landstraße dahin.
Es bereitete ihm einige Schwierigkeiten, sich einen Weg durch die Hecke zu bahnen, und ein Brombeerstrauch ritzte ihn am Knöchel. Er sagte sich, daß er keine Eile habe; die Freunde warteten. Hinter der Hecke fiel der Boden abwärts, und der Nebel wurde dichter und weißer. Das Tageslicht war jetzt hell genug, um den Nebel totenblaß erscheinen zu lassen. Er verschleierte den Bach gänzlich.
Er ging langsam. Er hatte nicht das Gefühl, verfolgt zu werden. Brand würde erst in einer Stunde wieder in den Krankensaal kommen; er mochte ihn noch lange Zeit nicht vermissen ...
Wie wundervoll, dachte Sargon, ist doch der Anbruch des Tages, und wie selten sieht man ihn! Jeder Tag beginnt mit diesem zauberhaften Schauspiel, und wir verschlafen es, als ob es uns nichts anginge, und stehen erst dem öden Tag zuliebe auf. Kurze Zeit vorher hatte die Welt in tintiger Einfarbigkeit dagelegen, und jetzt trug alles den Hauch der Farbe. Der Himmel war blau. Alle Sterne waren fort – doch nein! nicht alle. Einer schien noch, ein großer, bleicher Stern, der Stern Sargons. Und der Himmel rund um ihn her war von einem schwachen, zunehmenden rötlichen Schein erhellt. Das mußte Osten sein, und der Stern, der da über den Schornsteinen der Nebengebäude hing, war der Morgenstern. Diese Schornsteine konnte man sehr deutlich sehen. Der hintere Teil des Hauptgebäudes, der noch vor einer kleinen Weile wie ein schwarzes, formloses Ungeheuer dagelegen hatte, war nun dunkelviolett und zeigte, mit ausgezeichneter Deutlichkeit umrissen, Dachrinnen, Dachfirste, Schornsteine, Verzierungen und Fensterrahmen. Vier Fenster leuchteten in blassem Orangegelb, zwei davon blinkten plötzlich auf und erloschen.
Würde irgend jemand aus einem dieser Fenster herausschauen und ihn sehen?
Es machte nichts. Er würde weiter gegen den Bach hinuntergehen. Der freundliche Nebel würde ihn verbergen.
Es war wunderbar, in diesem weißen Nebel zu sein, und doch auch wieder nicht darin zu sein. Er war stets ein wenig von ihm entfernt. Und trotzdem machte er ihn naß. Wie knusprig der gefrorene Boden war, doch wenn man durch die Oberfläche stapfte, war er weich.
Zu Häupten nahm die Bläue zu, und man sah jetzt gekräuselte Flocken rötlicher Wolken.
Er geriet immer tiefer in den weichen Nebel. Bald ging er über langes, nasses, verdorrtes Gras. Als er sich kurz darauf umwandte, um nach dem Asyl zurückzuschauen, war es gänzlich verschwunden.
Was war das? Sprach jemand, oder war es das pochende Getriebe einer geschäftigen Elfenschar? Lausche! Schaue! Denke!
Es war der Bach.
Jetzt war alles leicht und einfach.
Er ging neben dem Bache her. In nächster Nähe wurden Bäume sichtbar, steife Bäume, Nebel um die Hüften, in Reif gekleidete Wachtpostenbäume. Das trockene Gras stand hier üppiger. Und was war dieser dichtere, niedrigere Nebelschwaden im Nebel? Das war die Mauer. Jenseits dieser Mauer, nunmehr beinahe schon in Rufweite, warteten die Freunde und Gläubigen. Wie schweigsam sie waren! Nicht ein Laut, nicht ein Fußtritt.
Bewegungslos stand Sargon lange Zeit neben dem Ausflußgewölbe unter der Mauer. Zuletzt raffte er sich zusammen und kletterte mühsam und mit Hilfe des Efeus auf die Mauer.
Niemand wartete. Irgend ein dunkles, vierfüßiges Ding lief aus dem reifbedeckten Unkraut unten davon, und dann herrschte tiefes Schweigen. Keine Spur von Wächtern oder Helfern war zu sehen.
Macht nichts. Wenn es Gottes Wille war, würden sie schon kommen.
Er saß ganz still. Er fühlte sich nicht verlassen oder allein. Er war nicht im geringsten unruhig. Er fühlte die ‹Macht›, die ihn ins Sein gerufen hatte, um sich.
Langsam, stetig wurde es heller. Eine kleine Wolke, einer schwimmenden Feder ähnlich, fing urplötzlich Feuer, und dann eine andere. Ein großer Lichtschein, wie von einem Scheinwerfer, nur viel, viel breiter, erschien, schräg gegen Norden weisend. Dann stieg über dem entfernten Hügelland, das wie der Rücken eines Walfisches dalag, eine Messerschneide blendenden Lichtes empor, ein strahlendes Etwas, das einer gekrümmten Klinge, einer Kappe, einem Dom glich, eine flackernde, lodernde Feuergeburt. Und dann war, losgerissen vom Hügel, rund und rot, die Novembersonne aufgegangen.
Es war heller Tag, und der Nebel hatte sich aufgelöst. Die Dächer der Anstaltsgebäude waren über den Wipfeln sichtbar, alles Geheimnisvollen entkleidet, kahl und gemein. Irgendwoher aus dieser Richtung bellte ein Hund.
Es war sonderbar, daß niemand hier sein sollte. Dieser junge Mann, dessen Namen er nicht kannte, hatte doch mit allem Nachdruck erklärt, daß Freunde hier warten würden. Vielleicht waren sie fortgegangen und würden bald wiederkommen.
Immerhin, es lag nun nicht mehr sehr viel daran. Jedenfalls hatte er einen Sonnenaufgang von fast unglaublicher Schönheit erlebt. Wie wunderbar war doch die Sonne! Dasjenige von allen sichtbaren Dingen, das Gott am ähnlichsten war.
Vielleicht waren überhaupt keine Helfer da. Vielleicht hatte er falsch verstanden. Er war dumm, das wußte er. Er mißverstand die Leute immer häufiger. Vielleicht würden bald Aufseher kommen, um ihn zu suchen, und ihn in das Asyl zurückbringen. Möglich, daß alles vorausbestimmt war. Er würde sich das nichts anhaben lassen. Das Leben war voller Prüfungen und Enttäuschungen. Er fühlte sich nun kalt bis in die Knochen und ermüdet, sodaß er alle Energie verloren hatte. Mit einem Ruck wurde er gewahr, daß ein Mann oben am Abhang stand, der nach den Anlagen der Irrenanstalt hinüberschaute. Neue Lebenskraft durchströmte ihn. Dieser Mann stand ganz still und sah auf die Anstalt hinunter. Es konnte einer der Angestellten sein, der nach ihm suchte. Oder einer der verheißenen Helfer. Einer der verheißenen Helfer?
Sargon war nicht so ruhig und apathisch, wie er geglaubt hatte. Er zitterte von Kopf bis zu Füßen. Er zitterte nicht vor Kälte, sondern vor Aufregung. Er fühlte, daß er diesem Zweifel auf die eine oder andere Art ein Ende machen müsse. Konnte er den Blick dieses Mannes auf sich ziehen? Er winkte mit der Hand. Dann zog er ein schmutziges kleines Taschentuch aus seiner Schlafrocktasche und begann damit zu winken. Jetzt! Jetzt schien es, als schaute der Mann gerade zu ihm herunter.
Er bewegte sich langsam, wie ungläubig, gegen Sargon. Dann gab er Zeichen und rannte.
Sargon saß ganz still. Er wußte ja seit langem, daß man ihn holen kommen würde.
Es war Bobby, schon ganz nahe jetzt, und »Sargon!« rief er aus. »Sind Sie es! Sargon!« Sargon wartete nicht auf ihn. Er drehte sich herum und kletterte und purzelte die Mauer herunter. Sie drückten einander die Hände. »Sie sind gekommen, mich zu holen?«
»Ich war verzweifelt. Ich ließ mir nicht träumen, daß Sie mich verstanden hätten. Ich bin ganz erstaunt ... Lassen Sie mich überlegen. Was haben wir zu tun? Es ist herrlich. Mein Motorrad ist im Gasthaus. Das ist dumm. Ja, kommen Sie. Ich muß Sie irgendwo verstecken und es holen. Dann wollen wir uns davonmachen. Ich dachte nicht daran, daß Sie keine Kleider haben würden. Kleider? Werden uns nicht viel zeigen. Kalt? Mag es kalt sein. Ich werde eine Decke bringen. Es ist eine Decke im Seitensitz.«
Er führte Sargon den Abhang hinauf, indem er immer und immer wieder nach den Asylfeldern hinüberschaute. Sargon trottete neben ihm einher, ruhig auf Gott und Bobby vertrauend, mit der grenzenlosen Fügsamkeit eines Mannes, der sich auf seinen Diener verlassen kann.
Bobbys Sinn war heiter und fröhlich an jenem Morgen. Er war nach der Irrenanstalt hinausgewandert, einfach weil er nicht länger in fieberhaftem Bedauern im Bett liegen konnte. Der unglaubliche Glücksfall, daß er dabei mit Sargon zusammengetroffen war, hatte sein ganzes Vertrauen auf sich selbst und auf die Gunst der Umstände wieder hergestellt. Er machte rasch und entschieden seine Pläne. Es war unmöglich, Sargon in das Gasthaus mitzunehmen und ihm ein Frühstück zu verabreichen. Sobald er vermißt wurde, würden sie sicherlich in die Ortschaft gehen. Und jedermann würde seine komische kleine Gestalt mit dem Schlafrock, den Hausschuhen und den aufgeritzten Knöcheln auffallen. Er mußte den kleinen Mann irgendwo in der Nähe verstecken. In jenem kleinen Buchenwäldchen hinter dem nächsten Hügelrücken. (Dumm, daß er so dürftig bekleidet war!) Dann mußte das Motorrad so rasch wie möglich geholt werden.
Sargon war absolutes Vertrauen und Gehorchen. »Ich weiß, es ist kalt,« sagte Bobby, »das ist aber nicht zu ändern. Ich wollte, es wären hier nicht so viele nasse, verfaulte Blätter.«
»Seien Sie nur geschwind und bringen Sie Hilfe«, sagte Sargon.
»Rühren Sie sich nicht von hier weg«, sagte Bobby.
Es war nicht gerade der beste Versteckplatz in der Welt, ein Graben, ein Stechpalmenbusch am Rand eines schütteren Buchenwäldchens, doch mehr konnte man von dem Hügelland wohl kaum erwarten. »Auf Wiedersehn«, sagte Bobby, und machte sich in gelindem Trab nach dem Gasthaus und dem Motorrad auf. Gerötet, mit zerzausten Haaren und atemlos kam er an und fand das Gasthaus mißtrauisch und zögernd, als er verkündete, daß er sofort seine Rechnung haben wolle, jedes Frühstück außer einer Tasse Tee und einem Butterbrot zurückwies und sich darübermachte, seinen kleinen Ranzen zu packen. Unendlich viele langwierige Dinge schienen erst noch erledigt werden zu müssen. Um einer Unzahl widriger Verzögerungen die Krone aufzusetzen, hatte das Gasthaus kein Kleingeld, und es mußte nach dem Krämerladen des Ortes geschickt werden. Willys Motorrad, das schon immer eine sehr launische Kreatur gewesen, machte mit seinem Tretanlasser große Schwierigkeiten. Und inzwischen saß Sargon fröstelnd zwischen Kot und vergilbten Blättern unter tropfenden Bäumen oder noch schlimmer, wurde eben wieder eingefangen und hinter Schloß und Riegel gebracht.
Es war beinahe acht, ehe Bobby auf dem Feldweg wieder in Sicht des kleinen Buchenwäldchens kam, und sein Herz erstarrte, als er zwei schwerfällige Männer auf sich zuschreiten sah. Er wußte sofort, daß es Leute aus dem Asyl waren; sie waren von der untrüglichen Atmosphäre subalterner Autorität umgeben, welche Gefängniswärter, ausgediente Polizeimänner, Kontrollorgane und die Aufseher in den Irrenanstalten auszeichnet. Als er ihnen näherratterte, traten sie in die Mitte der Straße und machten ihm Zeichen, stehen zu bleiben.
»Teufel!« sagte Bobby und zog die Bremse an.
Sie traten ohne ersichtliche Feindseligkeit an seine Seite.
»Entschuldigen Sie, Herr«, sagte der eine – und Bobby fühlte sich erleichtert.
»Dieses große Ding da, das Sie sehen, mein Herr, ist das Cummerdown-Asyl. Vielleicht kennen Sie es, Herr?«
»Nein. Welches ist das Asyl? Das ganze?« Bobby empfand diese Antwort als wirklich gescheit, und seine Lebensgeister stiegen.
»Ja, Herr.«
»Verdammt großes Ding!« sagte Bobby.
»Einer unserer Insassen hat sich heute früh verlaufen. Es ist ein harmloser kleiner Mann, und wir waren so frei, Sie aufzuhalten, um Sie zu fragen, ob Sie ihn vielleicht gesehen haben.«
Bobby kam ein Einfall. »Ich glaube, ich hab' ihn gesehen. Hat er so eine Art braunen Mantel angehabt und Hausschuhe und nichts auf dem Kopf?«
»Das war er, Herr. Wo haben Sie ihn gesehen?«
Bobby drehte sich um und zeigte in die Richtung, aus welcher er gekommen war. »Er bog gerade ab und machte sich einen Feldrain entlang«, sagte er. »Ich sah ihn – nicht – o! nicht fünf Minuten sind's her. Eine Meile weit, oder etwas mehr von hier. Er lief, was er konnte. Entlang der Hecke zur Rechten – Linken meine ich – in der Nähe von Kastanienbäumen.«
»Das war er ganz bestimmt, Jim. Wo sagten Sie, Herr?«
Bobbys Feuer nahm zu. »Wenn sich einer von euch hinter mich setzen und der andere in dieses Nest da schlüpfen will – eine schöne Ladung, aber wir werden schon damit fertig werden – so will ich euch genau an die richtige Stelle zurückfahren. Sofort.« Und ohne die Antwort der beiden abzuwarten, drehte er sein Rad um. »Wir sind sehr dankbar für Ihre Hilfe«, sagte Jim. »Is' ja nicht der Rede wert«, sagte Bobby.
Bobby war jetzt in bester Laune. Er lud sie unter ermunternden Worten auf –, selbst der dünnere von den beiden mußte sich in den Seitensitz hineinzwängen, und der andere lag wie ein Sack auf dem Gepäckträger – er führte sie zwei Kilometer weit zurück, bis er die passende Hecke bei den Kastanienbäumen fand. Er lud sie sorgfältig aus, nahm ihren herzlichen, aber hastigen Dank großmütig entgegen und schickte sie in gelindem Trab über die Felder hin. »Er kann höchstens eine Meile Vorsprung haben«, sagte er. »Und er ging nicht gerade sonderlich schnell. Er humpelte eher.«
»Das war er«, sagte Jim.
Bobby warf ihnen hinter ihrem Rücken eine Kußhand zu. ‹Ihr wäret also erledigt›, sagte er. ‹Gott helfe euch beiden und mache euch reinen Herzens. Und jetzt auf zu Sargon.›
Er ratterte zu der Stelle zurück, wo er Sargon gelassen hatte, drehte seinen Motor wieder um und schaute dann nach der Waldecke zu dem Stechpalmenbusch, wo der kleine Mann hätte warten sollen. Aber dort war keine Spur von einem Kopf zu erblicken. ‹Komisch!› sagte Bobby und rannte zu der Stelle hinauf, wo er Sargon im Graben kauernd gelassen hatte. Doch auch hier war nicht die geringste Spur von ihm zu sehen. Bestürzt und erschrocken schaute sich Bobby um. Sollte die Sache zuguterletzt noch schief gehen?
‹Sargon›, rief er, und dann lauter: ‹Sargon!›
Kein Laut, nicht ein Rascheln kam als Antwort.
‹Er hat sich versteckt! Kann er fortgekrabbelt und ohnmächtig geworden sein? Vor Erschöpfung vielleicht?›
Furcht rührte Bobby mit eisigem Finger. Hatte er sich vielleicht in der Stelle geirrt? War Sargon wider sein Versprechen durchgebrannt oder hatte er sich, erstarrt und elend, nach der Wärme und dem Schutze des Asyles zurückgeschlichen? Bobby verfolgte den Graben hinunter bis an die Ecke des Waldes und hinter der Ecke, rechts im Graben, sah er plötzlich ein kleines altes Weib, ein kleines altes Weib, das in ein Knäuel zusammengekauert auf einem Bündel trockenen Strohs saß und fest schlief. Sie trug einen schäbigen schwarzen Strohhut, der mit einer abgebrochenen schwarzen Feder geschmückt war, und ein kleines schwarzes Schnürleibchen; ein Sack war über ihre Füße gezogen und ein zweiter als Shawl über ihre Schultern geworfen. Sie saß so zusammengekauert da, daß ihr Gesicht bis auf ein glänzendes rotes Ohr verborgen war, und hinter ihr auf dem Straßendamm lagen zwei große kreuzförmig zusammengebundene Stöcke. Bobby war ob dieser Erscheinung aufs äußerste verwundert. Es war schon verdrießlich genug zu entdecken, daß Sargon fort war. Ihn durch eine so seltsame Gestalt ersetzt zu sehen, war noch befremdender.
Zögernd stand Bobby eine gute Minute lang da. Sollte er die Alte aufwecken und über Sargon befragen, oder sollte er sich wegschleichen. Eine Frage, entschied er, könne nicht schaden.
Er trat nahe an sie heran und hustete. »Entschuldigen Sie«, sagte er.
Die Schläferin wachte nicht auf.
Bobby raschelte im dürren Laub, hustete lauter, und bat noch einmal um Entschuldigung. Die Schläferin ließ einen erstickten Schnarcher hören, erwachte mit einem Ruck, schaute auf und enthüllte das Gesicht Sargons. Er starrte Bobby einen Augenblick lang an, ohne ihn zu erkennen, und tat dann einen ungeheuren Gähner. Während er gähnte, erwachten in seinen blauen Augen Bewußtsein und Verständnis. »Mir war so kalt«, sagte er. »Ich habe mir diese Sachen von einer Vogelscheuche genommen. Und das Stroh war so schön trocken zum Draufsitzen. Sollen wir alles wieder zurückbringen?«
»Ah, eine glänzende Idee!« rief Bobby, dem alle Lebensgeister wiedergekehrt waren. »Sie sehen in dem Zeug wie eine Frau aus. Können Sie in dem Sack gehen? Nein, wir haben keine Zeit, ihn zurückzugeben. Schütteln sie ihn von Ihren Beinen und nehmen Sie ihn mit. Das Motorrad ist keine zweihundert Meter weit weg. Sie können ihn dann wieder anziehen. Das ist großartig! Das ist wundervoll! Auf keinen Fall wollen wir ihn zurückgeben. Wir wollen uns fortmachen, und wenn wir gute fünfzehn Kilometer zwischen uns und dem Asyl haben, wollen wir halt machen und schauen, daß wir heißen Kaffee und etwas zu essen bekommen.«
»Heißen Kaffee!« sagte Sargon sichtlich entzückt. »Und Eier mit Speck?«
»Heißen Kaffee und Speck und Eier«, sagte Bobby.
»Der Kaffee dort ist – scheußlich«, sagte Sargon.
Bobby half Sargon in den Seitensitz, spannte das Dach über ihm auf, richtete ihm den Windschirm zurecht und packte ihn ein. Flüchtig gesehen, gab er eine ganz passable Tante ab. Und in der nächsten Minute hatte Bobby seine Maschine mit dem Fuße zu einem ungeduldigen Rattern gebracht und saß im Sattel.
Er fühlte sich nun als den tüchtigsten Burschen, der nur je einen Irrsinnigen gestohlen hatte. Es war auch die leichteste Sache von der Welt, einen Irrsinnigen fort zu bekommen. Wenn man wußte, wie ... Sie schüttelten und rüttelten die kleine Seitenstraße entlang und gelangten auf die glatte Haupt- und Reichsstraße nach Ashford und Folkestone. Der Akzelerator mußte sein Bestes tun. »Lebe wohl, Cummerdown«, sang Bobby. »Cummerdownhill, leb' wohl!«
Das kleine alte Motorrad lief wunderschön.
Sie frühstückten in einem Wirtshaus in der Nähe eines Postamtes etwa eine Meile hinter Offham. Bobby ließ Sargon im Seitensitz weiterdösen und ging ein Telegramm nach Dymchurch aufgeben, das seine Ankunft ankündigen sollte. In dem Postamt gab es einige Verzögerung, da das Postfräulein ihre Brillen verlegt hatte. Als Bobby zurückkam, fand er das Frühstück beinahe fertig, half Sargon aus seinem Sack heraus und in die kleine Wirtsstube hinein. Der Wirt war ein kurzer, dicker Mann mit einem ernsten, beobachtenden Gesicht. Er sah mit stiller Verwunderung zu, wie Sargon aus seiner Umhüllung auftauchte und auf einen Sessel hinter dem kleinen weißen Tischtuch zuging. Darauf verschwand er eine Zeitlang. Dann kehrte er wieder in die kleine Stube zurück, wo der Tisch gedeckt war. Einige Augenblicke lang stand er da und betrachtete Sargon. »Hm«, sagte er schließlich, drehte sich um und ging langsam in seine Küche, wo vermutlich irgend eine Frau kochte. »Das ist ein wunderlicher Kauz«, hörte ihn Bobby bemerken, und bereitete sich also auf ein Zwiegespräch vor.
Schinken, Eier und Kaffee wurden aufgetragen und freudig begrüßt. Der Wirt stand neben ihnen und verfolgte gespannt die Aufnahme des von ihm Dargebotenen. »So haben Sie also noch nicht gefrühstückt?« sagte er.
»Nein, wir frühstücken erst jetzt«, sagte Bobby, während er sich Senf nahm.
»Kommen Sie von weither?« fragte der Wirt nach einer gedankenvollen Pause.
»Ziemlich«, sagte Bobby überlegend.
»Fahren Sie noch weit?« versuchte der Wirt.
»Ja«, sagte Bobby.
Der Wirt sammelte seine Kräfte zu einem neuen Angriff. »Manchmal kommen ganz wunderliche Gäste hier zu uns«, sagte er.
»Sie müssen wohl eine besondere Anziehungskraft auf sie ausüben«, meinte Bobby.
Der Wirt wußte nicht, was er mit diesem Satze anfangen sollte. Er drehte sich um und sagte »Hm« – bedeutungsvoll.
»Hm«, sagte Bobby mit ebenso bedeutungsvoller Betonung.
Der Wirt machte einen schlauen Versuch, als sie weggingen. »Ich hoffe, das Frühstück hat Ihnen geschmeckt«, sagte er. »Ich weiß wirklich nicht, ob es eine Dame oder ein Herr ist, den Sie da mit sich haben – doch –«
Bobbys Laune war sehr übermütig. »Es ist ein Hermaphrodit«, sagte er in vertraulichem Flüsterton, und damit ließ er den Wirt stehen.
Doch als sie ein paar Meilen weit waren, teilte er Sargon mit, daß er sich entschlossen habe, ihm im nächsten Geschäft, an dem sie vorbeikämen, ein Paar Socken, eine Jacke und Hosen zu kaufen. »In diesem Aufzug«, sagte er, »sehen Sie zweideutig aus. Und dann wollen wir diesen Hut, diese Jacke und den Sack irgendwo am Straßenrand liegen lassen. Da mag das Zeug nehmen, wer will. Und ich muß ein zweites Telegramm abschicken. Ich habe einen Fehler gemacht.«
Bobby wurde immer erregter, je weiter der Tag fortschritt. Er ersann eine wundervolle, umständliche Lüge über ein Landhäuschen und eine Feuersbrunst, und wie sein Freund mit nur ein paar Kleidungsstücken, die er hastig angezogen, dem Brand entronnen sei. ‹Alles andere›, sagte Bobby, ‹vollständig eingeäschert.› Sie fuhren jetzt zu Verwandten, abwechselnd zu einem Bruder, einem Onkel, einer unverheirateten Tante, um dort Zuflucht zu suchen. Je weiter der Tag vorrückte, desto ausführlicher und bedeutsamer wurden die Umstände des Feuers, desto ausgemacht schauriger die Einzelheiten der Rettung. Bobby erzählte solche Lügen mit ernster Treuherzigkeit; waren sie doch auch eine Form der Freiheit – sie befreien von der Wirklichkeit.
Sargon hingegen sprach sehr wenig. Für ihn war dieses Abenteuer eine schwerere Kraftprobe, als Bobby damals annahm. Entweder war er unter Dach und Windschirm zusammengekrümmt und eingepfercht und wurde auf der harten Landstraße hin und her geschleudert, oder er zog sich hastig am Straßenrand um, oder er saß still im Seitensitz, nahm Erfrischungen zu sich, während Bobby nachdrückliche, aber verblüffende und meist ganz überflüssige Erklärungen über ihn abgab. ´
Frau Plumer, im Maresetthaus in Dymchurch, war eine ängstliche Witwe. Sie hatte ein gütiges, hilfsbereites Herz, das sich aber über vieles Sorgen machte. Sie sparte und knauserte beinahe zuviel. Sie vermietete im Sommer die meisten ihrer Zimmer, einige sogar auch im Winter, litt aber beständig unter dem Gedanken, daß ein achtloser Mieter ihre Möbel beschädigen könnte. Sie hielt auf Ordnung und war stolz, wenn ihre Mieter besser aussahen und sich besser benahmen, als die der Frau Pringle oder der Frau Mackinder. Sie hatte Bobby ins Herz geschlossen, weil er ihr so gelegen gekommen war, als sie nur mehr ein einziges Zimmer freigehabt hatte, und weil er sich mit kaltem Wasser rasierte, anstatt wie jeder andere männliche Mieter um heißes herunterzurufen – in jenem Zimmer gab es nämlich keine Klingel. Außerdem sagte er auch immer etwas Nettes, wenn er kam oder ging, und verlangte bei den Mahlzeiten nie eine zweite Portion.
Sie war sehr erfreut, als er schrieb, er wolle das untere Wohnzimmer und zwei Schlafzimmer für sich und einen Freund auf zwei Wochen nehmen. Wenige Leute in Dymchurch bekamen im November noch Einquartierung. Sie könnten ab Dienstag ‹jederzeit› eintreffen, hieß es in dem Briefe.
Sie erzählte Frau Pringle und Frau Mackinder, daß sie zwei junge Herren erwarte, und überließ es ihnen zu vermuten, wie unendlich lange ihre Gäste zu bleiben gedachten.
Am Mittwoch wurde sie durch eine Reihe von Telegrammen von Bobby in Aufregung und Verwirrung versetzt. Das erste lautete einfach und entschieden: ‹ Ankomme mit Tante gegen vier Roothing.› Das war für sie eine Enttäuschung. Zwei Herren wären ihr beiweitem lieber gewesen.
Doch innerhalb einer Stunde kam ein zweites Telegramm, und das besagte: ‹ Irrtum im vorigen Telegramm nicht Tante sondern Onkel bedaure Roothing.›
Was sollte man sich dabei denken?
Bald erschien der Junge vom Postamt aufs neue. ‹ Onkel Erkältung Feuer Wärmeflasche Whisky.›
Das nächste Telegramm kündigte eine Verspätung an: ‹ Panne eintreffen später Roothing.›
Dann kam: ‹ Ankommen voraussichtlich gegen sechs bitte gut heizen Roothing.›
‹Es ist ja nett von ihm,› sagte Frau Plumer, ‹mich auf diese Weise auf dem laufenden zu halten. Aber ich hoffe bloß, der alte Herr wird nicht faxig sein.›
Das Feuer brannte um sechs Uhr lustig in dem Wohnzimmer unten, der Teekessel stand auf dem Kamineinsatz, und es war nicht nur Teegeschirr da, sondern auch Whisky, Zucker, Gläser und eine Zitrone auf dem Tisch und eine Wärmeflasche in jedem der beiden Betten oben, als die Flüchtigen anlangten. Das erste Gefühl, das Frau Plumer beim Anblick Sargons überkam, war das der Enttäuschung. Sie hatte sich einen freundlichen, behäbigen Onkel vorgestellt, dessen Erkältung wohl durch ein Glas Whisky zu beheben sein werde, einen Onkel, der, wenn schon nicht ganz aus Gold, so doch wenigstens vergoldet sein würde. Auch hatte sie Herrn Roothings freundliches Wesen in ihrer Erinnerung übertrieben. Sobald sie auf das Geratter und Getute des Motorrades hin ihr Tor geöffnet hatte, sah sie, daß sie ihre Erwartungen von neuem abändern müsse. In dem hereinbrechenden Zwielicht war zwar alles nur undeutlich zu erkennen, doch konnte sie sehen, daß Bobby nicht die volle und gehörige Lederausrüstung, mit Stulphandschuhen und Autobrillen, trug, die ein richtiger junger Gentleman bei einer derartigen Gelegenheit getragen und die bei Frau Pringle und bei Frau Mackinder Aufsehen erregt haben würde, und daß die Gestalt, die er aus dem Seitensitz herauszog, nicht die eines gehörig behäbigen Onkels war. Sie sah vielmehr wie eine große Henne aus, die man am Markttag aus einem kleinen Korbe herausholt.
Als Sargon in das Licht des Wohnzimmers trat, wurde Frau Plumers Enttäuschung noch größer. Kaum jemals hatte sie einen so seltsamen, windzerzausten Menschen gesehen. Seine blauen Augen starrten hilfesuchend aus dem bleichen Antlitz; seine Haare, von einem schwarzen Filzhut, der ihm nicht paßte, bedeckt, waren in größter Unordnung. Seine Kleidung bestand hauptsächlich aus einer Hose, die ihm zu groß war und die er daher ängstlich festhielt; sie war von den Schlafrockschößen ganz aufgebauscht; seine zu weiten weißen Socken fielen wie Gamaschen über seine alten Filzpantoffel herab und ließen seine jämmerlichen Knöchel zum Vorschein kommen. Er sah furchtsam aus. Er starrte sie an, als ob er einen unfreundlichen Empfang voraussehe. Auch Bobby, der neben ihm stand, sah recht wild, von der Reise hergenommen und abenteuerlich aus, und gar nicht wie der anspruchslose junge Mann, den sie im Gedächtnis hatte.
Als Bobby das rasche Mienenspiel Frau Plumers bemerkte, begriff er, daß ihnen das Obdach dieses angenehmen, stillen, vom Feuer erwärmten Hauses verloren zu gehen drohte. Glücklicherweise kam ihm eine Reservelüge, die er sich ausgedacht, aber bisher noch nicht verwendet hatte, zu Hilfe.
»Ist es nicht eine Schande!« sagte er. »Sie machten sich mit seinen Kleidern davon. Sogar seine Socken nahmen sie ihm.«
»So scheint es ja wohl«, sagte Frau Plumer. »Wer denn aber?«
»Ein Überfall. Zwischen Ashford und hier. Meine große Tasche ist auch weg.«
»Und woher hat der Herr die Kleider, die er anhat?« fragte sie. Ihr Ton war unangenehm skeptisch.
»Sie haben getauscht. Ich war auf der Straße zurückgegangen, um nachzuschauen, ob ich nicht irgendwo die Luftpumpe sehen könne, die ich verloren hatte; ich dachte nicht, daß so etwas möglich sei, auf einer englischen Hauptstraße. (Komm und setz' dich ans Feuer, Onkel.) Und wie ich zurückkomme, waren sie fort, und er saß da, so wie Sie ihn jetzt sehen. Stellen Sie sich mein Entsetzen vor!«
»Und das haben Sie mir nicht telegraphiert!« sagte Frau Plumer.
»Es war nicht weit. Wir wären doch früher dagewesen als das Telegramm. Ja, ja, wir haben heut genug Abenteuer gehabt, das muß man sagen. Ich habe noch nie eine solche Fahrt erlebt. Gott sei Dank haben wir wenigstens Tee getrunken. Ich denke, das beste für den Onkel ist das Bett – bis wir einige Kleider für ihn auftreiben können. Was denken Sie, Frau Plumer?«
»Nachdem er sich gut gewaschen hat«, sagte Frau Plumer. Sie war immer noch unschlüssig, doch gewann ihr gutes Herz allmählich die Oberhand. »Hatten Sie denn keine Angst, als die Kerle auf Sie lossprangen, Herr?« Sie richtete diese Frage direkt an Sargon. Seine blauen Augen suchten in denen Bobbys um Rat.
»Es war ein großer Schock für ihn,« sagte Bobby, »ein großer Schock. Er hat ihn noch kaum überwunden.«
»Noch kaum überwunden«, bekräftigte Sargon.
»Ihnen die Kleider auszuziehen. Es ist schändlich«, sagte Frau Plumer. »Wo Sie noch dazu erkältet sind!«
»Wir wollen ihn zu Bett bringen. Falls Sie irgend was für uns zu essen haben, könnten wir's zuerst hier einnehmen. Vielleicht bloß ein Stück gerösteten Käse oder ein Welsh Rarebit, oder etwas dergleichen, und einen guten heißen Grog. Was, Onkel?«
»Ich möchte nicht viel essen«, sagte Sargon. »Nein.«
»Ich habe das Welsh Rarebit nicht vergessen, das Sie für mich machten, Frau Plumer, damals, als mich der Regen auf dem Weg von Hythe her erwischt hatte.«
»Na, ein Welsh Rarebit könnte ich Ihnen schon machen«, sagte Frau Plumer zusehends milder werdend.
»Famos«, sagte Bobby. »Machen Sie einen neuen Menschen aus ihm. In der Zwischenzeit will ich das alte Rad im Schuppen unterbringen. Ich darf es doch in den Schuppen stellen? Fühlst du dich wohl hier, Onkel?«
»Ist man hier sicher?«
»Jedermann ist sicher bei Frau Plumer«, sagte Bobby und hielt ihr die Türe auf, damit sie vor ihm aus dem Zimmer gehe.
»Ich will Ihnen morgen früh mehr von ihm erzählen«, sagte er vertraulich auf dem Gang zu ihr. »Er ist ein wunderbarer Mensch.«
»Ist auch alles ganz richtig bei ihm?« fragte Frau Plumer.
»Richtig wie nur etwas.«
»Er schaut so verstört aus!«
»Er ist ein Dichter,« sagte Bobby, »und spielt nebenbei Violine«, womit er sie vollständig zufriedenstellte.
Doch das Gefühl, diesen wunderbaren Tag zu einem erfolgreichen Abschluß gebracht zu haben, überkam ihn erst, als er Sargon gewaschen und gebürstet in Frau Plumers hellem, kleinem, bestem Schlafzimmer mollig eingewickelt wußte. ‹Jetzt sind wir in Sicherheit›, sagte er sich. Er ging in sein eigenes Zimmer und setzte sich eine Zeitlang hin, um Geschichten über seinen Onkel zu erfinden, im Falle Frau Plumer noch genauere Auskünfte verlangen sollte, wenn er hinunterkam. Er nahm sich vor, zu sagen: ‹Er ist exzentrisch›, und zwar in eindrucksvoller, bedeutsamer Weise. ‹Und sehr schüchtern.› Sein Onkel sei überarbeitet, wollte er erklären; er schreibe ein Heldenepos über die Weltreise des Prinzen von Wales. Er bedürfe vollständiger Ruhe. Und der Seeluft. Je mehr er im Bett und zu Hause bleibe, desto besser. Er legte sich etliche nützliche Details für seine Ausführungen zurecht, saß eine kleine Weile da, indem er seine Schuhe auf den Spitzen hin- und herdrehte, stand schließlich auf und ging hinunter. Er war überzeugt, daß mit Frau Plumer alles günstig verlaufen werde. Als er eintrat, saß sie da und wartete auf ihn. Die Hauptschwierigkeit, auf die er stieß, war ihre feste Überzeugung, daß man den Straßenraub sofort der Polizei melden müsse.
»Hm«, sagte Bobby und wußte einen Augenblick lang nicht, was er tun sollte. Dann ermannte er sich. »Ich hab' das bereits getan«, sagte er.
»Wann denn?«
»Ich telephonierte von einer Zelle der Automobile Association. An die Polizei in Ashford. Es war in ihrem Distrikt, wissen Sie. Nicht in Romney Marsh. Scharfe Kerle, diese Ashforder Polizei. Ich mußte die verlorenen Kleidungsstücke und alles einzeln beschreiben. Die lassen nichts durchgehen.«
Sie war zufrieden. Und danach war alles übrige leicht.
Am nächsten Morgen erwachte Sargon mit einem beginnenden argen Kehlkopf- und Lungenkatarrh. Es schmerzte ihn auf der Brust, er war fiebrig, seine Wangen glühten, seine Augen glänzten, und er holte nur schwer Atem. Bobby wagte nicht, einen Arzt kommen zu lassen. Er war des Glaubens, daß alle Ärzte eine Liga zur Wiedereinkerkerung entsprungener Irrsinniger darstellten. Er bildete sich ein, daß geheime Nachrichten über Entronnene in der ganzen Profession zirkulierten. Er fuhr mit seinem Motorrad nach Hythe und besorgte Chinin, verschiedene Arten von Brustbeeren und Hustenbonbons, zwei Jodpräparate für die Lunge und ähnliche Mittelchen, die der Apotheker empfahl. Als er gegen Mittag heimkehrte, sah der Patient etwas besser aus, und die Schmerzen schienen nachgelassen zu haben. Nachdem Bobby Chinin verordnet, ihm die Brust eingerieben und sonst allerlei heilsamen Unsinn getrieben hatte, war Sargon fähig und auch aufgelegt, zu plaudern.
»Ist das Kissen so recht?« fragte Bobby.
»Vollkommen.«
»Sie sollten jetzt ein bißchen dösen.«
»Ja.«
Sargon dachte nach. »Ich werde nicht mehr nach jenem ‹Ort› zurück müssen?«
»Ich hoffe nicht.«
Das glühende Gesicht wurde tiefernst. »Versprechen Sie es mir. Versprechen Sie es mir. Ich könnte es nicht ertragen.«
»Haben Sie keine Angst«, sagte Bobby. »Hier sind Sie völlig sicher.«
»Und ich werde auch nicht mehr in diesen Seitensitz hinein müssen?«
»Nein.«
»Niemals?«
»Nein.«
»Es rüttelte – schrecklich ... Wo ist Christina Alberta?«
Bobby antwortete einige Augenblicke lang nicht.
»Vielleicht ist es besser, wenn ich Ihnen alles erkläre. Ich weiß nicht, wer Christina Alberta ist. Ich holte Sie aus dem Asyl heraus, weil ich nicht daran glaube, daß Sie verrückt sind. Aber ich weiß nichts von Ihrer Familie. Ich weiß überhaupt nichts über Ihre Verhältnisse. Ich konnte bloß den Gedanken, daß Sie sich in dem Asyl befanden, nicht ertragen.«
Sargon lag eine Weile schweigend da, während seine blauen Augen auf Bobbys Antlitz ruhten. »Ich tat Ihnen leid?«
»Ich liebte Sie vom ersten Augenblicke an, als ich Sie in der Midgardstraße sah.«
»Sie liebten mich? Aber Sie glaubten doch, ich sei Sargon, der König der Könige?«
»Allerdings«, sagte Bobby.
»Das ist nicht wahr. Und wahrscheinlich glaubte auch ich es nicht.«
Unsicher wandten sich die matten blauen Augen von Bobbys Gesicht und starrten aus dem Fenster auf den Himmel. »Mein Geist ist in großer Verwirrung gewesen«, sagte Sargon. »Selbst jetzt bin ich mir noch nicht klar. Doch sehe ich wenigstens ein, daß ich verwirrt bin. Christina Alberta ist meine Tochter. Ich nannte sie die ‹Königliche Tochter› – in Sumerien. Sie ist ein sehr liebes, mutiges Mädel. Sie ist alles, was ich habe. Ich verließ sie, ging von ihr weg, und muß sie recht unglücklich gemacht haben.«
»Dann weiß sie vielleicht gar nicht, wo Sie gewesen sind?«
»Sie wird wahrscheinlich auf der Suche nach mir sein.«
» Wo ist sie?«
»Ich habe versucht, mich zu erinnern. Es war irgendwo in einem Atelier – mit komischen Bildern. Ich habe diese Bilder nie leiden mögen. Ein Atelier in einer Stallung. Diese hatte einen Namen, aber ich kann mich nicht daran erinnern. Dumm von mir. Wahrscheinlich ist Christina Alberta mit ihren Freunden dort – und wundert sich noch immer, was aus mir geworden sein mag.«
»In dem – in dem ‹Ort›, da erzählte man mir, Ihr Name sei Preemby.«
»Albert Eduard Preemby ... Merkwürdig.«
Er lag eine Zeitlang nachdenklich da. »Ich erinnere mich, daß ich lange Zeit hindurch dachte, ich sei Albert Eduard Preemby, ein niedriges Geschöpf, ein kleiner Mann, der ein gemeines Leben in einer Wäscherei führte. Einer Wäscherei mit großen blauen Kundenwagen. Das Hakenkreuz. Sie können sich nicht vorstellen, was für ein niedriges, unbedeutendes Leben es war, das dieser Preemby führte. Dann plötzlich dachte ich, ich könnte unmöglich Preemby sein und gleichzeitig eine unsterbliche Seele. Entweder, so dachte ich, gab es keinen Preemby oder es gab keinen Gott. Unmöglich, daß beide existierten. Das verwirrte und beunruhigte mich sehr. Denn da war ich – Preemby. Ich tauge nichts im Denken – all mein Denken geht in eine Art Träumen über. Aber als dann Beweise kamen, die überzeugend schienen – vielleicht stürzte ich mich zu voreilig auf das, was mir gesagt wurde. Sargon muß freilich ein großer König gewesen sein, ein sehr großer König, und ich bin klein und schwach und gar nicht sehr gescheit. Wenn mich die Aufseher und Wärter anschrien und mißhandelten, benahm ich mich nicht, wie sich ein großer König benommen haben würde, und wenn ich sie anderen – anderen Patienten Böses antun sah, trat ich nicht dazwischen. Trotzdem denke ich immer wieder, daß ich etwas anderes bin als dieser Albert Eduard Preemby, der ich früher war, etwas Größeres, etwas Besseres. Aber ich kann mir nicht darüber klar werden, wer ich bin, und ich bin sehr müde vom Nachdenken. Wenn ich vielleicht einen oder zwei Tage ausgeruht habe, werde ich besser imstande sein, über diese Dinge nachzudenken.«
Die schwache Stimme erstarb. Die blauen Augen starrten weiter ruhig den Himmel an.
Bobby sagte eine Zeitlang nichts. Dann bemerkte er: »Ich habe auch mit angesehen, wie Menschen mißhandelt wurden.«
Und darauf: »Und ich bin nicht so schwach wie Sie.«
Weiter sagte er nichts. Es schien, als habe ihn Sargon nicht mehr gehört. Bobby stand auf.
»Sie müssen sich ausruhen. Sie sind hier ganz sicher. Wenn wir hier zwei Wochen unbemerkt bleiben können, dann wird es für immer unmöglich sein, Sie an jenen Ort zurückzubringen. Haben Sie's bequem?«
»Ein herrliches Bett«, sagte Sargon.
Doch so herrlich das Bett auch war, es vermochte die Ursache der Schmerzen in Sargons Brust nicht zu beseitigen. Am Abend schien er äußerst erschöpft. In der Nacht fing er zu husten an; er hustete so gräßlich, daß Bobby zu ihm hineinging. Am Morgen war er völlig entkräftet und wollte nichts essen. Bobby saß im Zimmer unten und arbeitete an dem Stoß von Briefen an ‹Tante Susanne›, die ihm Willy nachgesendet hatte. Er hatte halb die Absicht, bei Tessy anzufragen, ob sie nicht herkommen und bei der Pflege mithelfen wolle, aber es war kein Schlafzimmer für sie da. Frau Plumer drängte, man solle einen Arzt rufen, doch er suchte sie hinzuhalten. Schließlich brachte sie auf eigene Verantwortung einen jungen Mann, der gerade seine Praxis in dem Orte eröffnet hatte, mit. Bobby überstand eine angstvolle Unterredung mit ihm, doch der junge Arzt zeigte keinerlei Argwohn. Im großen und ganzen war er zuversichtlich. Es sei eine Lungenkongestion, aber nichts Schlimmeres. Sargon solle sich warm halten und dieses und jenes einnehmen. Keine dringende Notwendigkeit, eine Pflegerin zu nehmen. Ihn warm halten und ihm seine Medizin geben.
Spät am Abend ging Bobby hinauf, um ‹Gute Nacht› zu sagen, und fand Sargon wohler und gesprächiger.
»Ich habe über Christina Alberta nachgedacht, und ich würde sie sehr gerne sehen. Ich würde sie gerne sehen und ihr alles erzählen, was ich mir über sie gedacht habe. Ich habe mir alle möglichen kuriosen Sachen ausgedacht. Vielleicht bin ich ihr gar nicht so viel, wie sie wohl denken mag. Aber hauptsächlich möchte ich mit ihr über einen jungen Mann sprechen, den ich nicht mag. Wie hieß er nur? Als ich zuletzt in den Lonsdale-Stallungen war, tanzte sie mit ihm.«
»Lonsdale-Stallungen!«
»Ja, ja, natürlich. Das hatte ich vergessen. Lonsdale-Stallungen acht, Lonsdalestraße, Chelsea. Aber in meinem Geist geht es recht kunterbunt zu, und ich weiß nicht, was ich zu ihr sagen sollte, selbst wenn sie käme.«
Bobby schrieb unverzüglich die Adresse nieder.
»Und diese Christina Alberta ist alles, was Sie haben?« fragte er.
»Alles, was ich habe.
Zwanzig. Ein ganzes Kind noch, wirklich. Ich hätte sie nicht verlassen sollen. Aber da kam etwas Wunderbares über mich – als ob die Welt sich öffnete. Und alles andere schien gleichgültig.«
» Da kam etwas Wunderbares über mich, als ob die Welt sich öffnete.«
Bobby schrieb auch das nieder. Und er saß noch spät vor dem Feuer im Erdgeschoß unten, dachte über diesen Satz nach, und auch über die Nachricht, die er am Morgen an Christina Alberta zu senden haben würde. Morgen würde er über sich und sein außergewöhnliches Eingreifen in die Angelegenheiten Preembys Erklärungen abzugeben haben. Es war ihm zwar selbst bis jetzt noch in keiner Weise klar, was er morgen einer wahrscheinlich äußerst ungehaltenen jungen Dame würde klar zu machen haben, warum er nämlich für ihren Vater solche Sympathie gefaßt und was seine Einbildungskraft so erregt hatte, daß er eine derartige Entführung wagte. Es blieb ihm nichts übrig, als sich selbst zu analysieren. Er mußte seine Motive und das Lebensgebäude, das er sich gebaut, genau überprüfen.
Er kannte jenes Gefühl ‹als ob die Welt sich öffnete›, und verstand es nur zu wohl. Noch besser war ihm das Gefühl tödlicher Leere im Leben bekannt, aus welchem jenes entsprang. Im eigenen Falle hatte er gedacht, an dieser gewohnheitsmäßigen Unzufriedenheit mit dem täglichen Einerlei, an diesem Drang nach etwas Neuartigem und Grandiosem sei die Verrückung aller seiner Erwartungen im Leben durch den großen Krieg schuld; es sei ein subjektiver Zustand, der von Nervosität herrühre; aber im Falle dieses kleinen Wäschereibesitzers konnte es doch nicht der Krieg gewesen sein, der ihn gleich einem Auswanderer aus dem eigenen Ich hinausgesandt hatte, um ein phantastisches, universales Königreich zu finden. Es mußte doch etwas Tieferliegendes sein als das Ereignis des Krieges. Es mußte dies eine ganz normale Veranlagung im Menschen sein, die ihn danach streben ließ, der Sicherheit und Bequemlichkeit zu entfliehen.
Er warf einen Seitenblick auf den Stoß von Briefen an ‹Tante Susanna› auf dem Tisch und auf den nächsten ‹Abzug›-Bogen für ‹Wilkins' Weekly›, den er daraus ausgesiebt hatte. Er erhob sich aus seinem Lehnsessel und machte sich mit der neuerworbenen Weisheit wieder an die Arbeit. Er schrieb: ‹Sobald des Menschen elementare Bedürfnisse befriedigt sind und er seiner Nahrung, Kleidung und Wohnung sicher ist, gerät er unter die Macht eines größeren, gebietenderen Einflusses: er zieht aus, um Kämpfe zu suchen. Aus diesem Grunde würde ich ‹Croydons› Wunsch, Missionar in Westafrika zu werden, trotz seiner religiösen Zweifel und seiner merkwürdigen Gedanken über Schwarze, nicht entmutigen. Ein derartiges Gebiet wie die Sherborough-Insel dürfte ihn wahrscheinlich mit einer Fülle dauernder, unterhaltender und ihm zur Ehre gereichender Kämpfe versorgen. Einem Weißen, der einmal die Feindseligkeit einer geheimen westafrikanischen Gesellschaft herausgefordert hat, dürfte wenig Muße zu krankhafter Selbstbetrachtung bleiben. Für ihn wird es kaum einen Augenblick der Langeweile geben ...›
Er hielt im Schreiben inne. ‹Das liest sich ein wenig ironisch›, sagte er. ‹Nicht genug ‹Tante Susanna›.›
Er dachte nach. ‹Meine Gedanken gehen mir manchmal durch. Ich bin heute wohl nicht in rechter Stimmung.›
Das einzige, was man niemals bei ‹Tante Susanna› fühlen durfte, war, daß sie ironisch sein könne. Nein! Das würde nicht angehn. Er strich die sechs Sätze, die er eben geschrieben hatte, durch und legte den Bogen weit von sich weg. Er nahm einen anderen Bogen zur Hand, auf welchem er mit großer Schwierigkeit ein Telegramm aufgesetzt hatte, das er am nächsten Morgen an ‹Preemby Lonsdalestallungen acht Chelsea› senden wollte. Er las verschiedene Entwürfe durch. Die letzte Fassung lautete: ‹ Ihr Vater in Sicherheit aber an ernstem Lungenkatarrh erkrankt per Adresse Roothing Maresetthaus Dymchurch wünscht Sie zu sehen Verschwiegenheit dringend geboten Rückkehr Asyl verhängnisvolle Folgen beste Station Hythe dann Droschke könnte Sie Hythe abholen falls rechtzeitig drahten kenne Sie aber nicht persönlich bin länglich schlank dunkel Roothing.›
Genau genommen war das alles in Ordnung.
Er versuchte, sich vorzustellen, was für eine Art Mädchen diese Christina Alberta Preemby sein würde. Selbstverständlich würde sie blauäugig sein und wahrscheinlich sehr blond; etwas größer und runder als ihr Vater, mit sanfter Stimme und ziemlich verträumt. Sie würde schüchtern und herzlich sein, sehr gütig und sanft und nicht gerade sehr tüchtig. Vielleicht würde es gut sein, sie in Hythe abzuholen, sobald er nur wußte, mit welchem Zuge sie käme. Die Beschaffung der Droschke könnte für sie zu schwierig sein. Er würde ihr wohl sagen müssen, was zu tun sei. Bis zu einem gewissen Grade hatte er sich nun für das Schicksal dieser beiden Leute verantwortlich gemacht. Und dieser Gedanke gefiel ihm. Es gefiel ihm zu denken, daß sie vielleicht zu seinen eigenen Leuten werden könnten, mehr, als es die Malmesburys waren. Denn, um darüber gegen sich selbst offen zu sein, er war ein klein wenig von einem Eindringling im Haushalte der Malmesburys. Sie hatten ihn gern; sie liebten ihn geradezu; aber sie konnten auch ohne ihn auskommen. Selbst dieses kleine Teufelchen, das Suschen, half sich ohne ihn durch; sie hatte ihn gern und tyrannisierte ihn, doch er wußte, daß er für sie nicht unentbehrlich war. Hier endlich aber mochten zwei Leute sein, die ohne ihn nicht auskommen, ja, die bis zu einem außergewöhnlichen Grade die Seinen werden konnten.
Natürlich würde er etwas mehr Kraft und Entschlossenheit zur Schau tragen müssen, als tatsächlich in ihm steckte. Er schuldete es ihnen, ihr Vertrauen in ihn aufrechtzuerhalten, damit er sie durch ihre Schwierigkeiten leiten konnte.
Er würde ihr sagen – was würde er ihr sagen? ‹Ich bin voreilig gewesen, ich weiß, aber ich weiß etwas davon zu erzählen, wie gefährlich der Druck, der einem vernünftigen Patienten in einer Irrenanstalt auferlegt wird, werden kann. Ich war der Ansicht, daß man Ihren Vater vor allem befreien müsse. Es kam mir nicht in den Sinn, daß ihm Ihre Adresse nicht einfallen würde. Vielleicht hätte ich zu Ihnen kommen sollen, bevor ich handelte. Doch wie sollte ich damals wissen, daß Sie existierten? Bevor er mir von Ihrem Dasein erzählt hatte? In so manchen Fällen widersetzen sich die Verwandten einer Befreiung aus diesen Anstalten. Es ist schrecklich, sich das einzugestehen, doch es ist so.›
Darauf würde er ihr ziemlich humorvoll und ganz bescheidentlich die Flucht beschreiben. Er war bereits daran, die Mißverständnisse bei der Unterhaltung am Besuchstag und die Zufälligkeit des Zusammentreffens an der Gartenmauer zu vergessen. Doch jede Weltgeschichte hat das Privileg, unnötige Einzelheiten wegzulassen.
So würde er seinen Bericht erstatten. Es kam ihm nicht in den Sinn, daß Christina Alberta zu jener Art Leute gehören könnte, die Reden gerne mit wißbegierigen Fragen unterbrechen.
Er zündete sich eine Zigarette an, spazierte in seinem Zimmer umher, machte schließlich vor dem Feuer halt und sah auf die glühenden Kohlen hinunter. Er war jetzt sicher, daß Christina Alberta blaue Augen hatte, zart und schüchtern war – und daß tief in ihr eine süße Ader humorvoller Phantasie verborgen lag. Höchstwahrscheinlich verbarg sich in ihr eine schriftstellerische Begabung. Vielleicht würde es seine Sache sein, diese zu entdecken, zu entwickeln und an den Tag zu bringen. Miteinander würden sie Sargon beschützen, der sich ja bereits mehr denn halb von dem Rausche seines Traumes erholt hatte. Sie würden die Demütigung, die ihm sein vollkommenes Erwachen bringen mußte, zu lindern haben. Wie sollte er seinem Glück, wie der göttlichen Vorsehung danken, die ihn angetrieben hatte, den kleinen Mann zu befreien! – Denn sonst würde er niemals Christina Alberta kennengelernt, niemals den schüchternen Reichtum ihrer Liebe gewonnen haben ...
»Hel«
»Aber das ist ja alles verdammter Unsinn!« rief Bobby heftig aus und warf seine Zigarette ins Feuer. »Das sind Hirngespinste! Ich habe das Mädel ja noch nicht einmal gesehen!«
Er zündete seine Kerze an, blies Frau Plumers Öllampe allen Vorschriften gemäß und mit der für dieses gefahrvolle Überbleibsel aus dem Mittelalter gehörigen Vorsicht aus und ging hinauf, um sich schlafen zu legen. An Sargons Tür blieb er stehen und horchte. Der Patient schlief und atmete dabei ziemlich geräuschvoll - indem er sich immer wieder hüstelnd räusperte.
»Ich wollte, das Wetter wäre wärmer geblieben«, sagte Bobby.
Als er seine eigene Schlafzimmertür öffnete, flackerte die Flamme seiner Kerze auf und brannte ganz wagrecht, die Vorhänge wehten in das Zimmer, und ein Blatt Papier raschelte auf dem Spiegeltisch. Er stellte die Kerze nieder und ging, das Fenster zu schließen. Der Wind war stärker geworden, und Regentropfen klopften leise an die Scheibe.