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Christina Alberta und Paul Lambone waren seit beinahe einem Jahre gute Freunde. Er schätzte sie und bewunderte sie und, wie es nun schon einmal die literarische Richtung seiner Arbeit erforderte, studierte sie. Und sie mochte ihn leiden und vertraute ihm und zeigte sich von ihrer besten Seite, wenn sie mit ihm beisammen war.
Paul Lambone schrieb Romane, kurze Erzählungen und Bücher voll guter Ratschläge, und war ganz besonders wegen der seine Romane durchdringenden Weisheit und der Vortrefflichkeit seiner guten Ratschläge berühmt. Diese Weisheit hatte ihn über die allgemeine Armut der Schriftsteller hinausgehoben und in eine Stellung von verhältnismäßiger Wohlhabenheit versetzt. Nicht daß er in der Führung seiner Angelegenheiten besonders tüchtig gewesen wäre, doch die Art seiner Weisheit machte seine Bücher außerordentlich gangbar. Manche Schriftsteller kommen infolge einer besonderen Leidenschaft hoch, andere infolge ihres Ernstes und ihrer Wahrhaftigkeit, manche wieder durch ihre ausgezeichnete Erfindungsgabe und manche sogar einfach durch ihren guten Stil; doch Paul Lambone war wegen seiner Güte und Weisheit hochgekommen. Wenn man seine Geschichten las, fühlte man immer, daß er über das Unglück und die schlechte Aufführung seiner Charaktere wirklich betrübt und darum besorgt war, ihnen soviel zu helfen, wie er nur konnte. Und wenn sie eine Dummheit machten oder eine Sünde begingen, dann erzählte er einem so oft, daß es schon nicht mehr schön war, wie sie sich hätten besser aufführen können. Sein ‹Buch der guten Ratschläge› und besonders sein ‹Buch der Alltagsweisheit› sowie seine Schrift ‹Was bei hundert und einer Gelegenheit zu tun ist› fanden ständig starken Absatz.
Doch wie jener König Jakob von England, dem die Bibel gewidmet wurde, war Paul Lambone in seinen Gedanken und Ratschlägen bei weitem weiser als in seinen Handlungen. In kleinen Dingen und für den größten Teil des Tages war sein Vorgehen närrisch oder egoistisch oder unentschieden oder alles das zugleich. Seine Weisheit reichte nicht weiter als bis zur Höhe seiner Augen, sodaß sein Gesicht, sein Körper, seine Arme und Beine den unglücklichsten Bestrebungen preisgegeben waren, die wieder mehr durch seine allgemeine Trägheit als durch eine wirkliche Selbstbeherrschung im Zaume gehalten wurden. Es ging ihm also sehr gut, hauptsächlich weil er faul war; er verlangte für alles, was er schrieb, die höchstmöglichen Preise, denn das war genau so einfach, wie die niedrigsten zu verlangen, und dabei war immer ein wenig Aussicht vorhanden, daß der Handel nicht zustande kommen werde, was ihm dann die Mühe ersparte, seine Korrekturbogen zu verbessern. Er häufte Geld an, bloß weil er nicht unternehmend genug war, sich Dinge zu kaufen oder die Verantwortlichkeit des Besitzes auf sich zu nehmen: er ließ sein Vermögen von einem Trust anlegen. Sein literarisches Ansehen war groß, weil ein literarisches Ansehen in England und Amerika fast ausschließlich von einem offenbaren Widerwillen gegen Produktivität abhängt. An der gefeilten Schönheit seines Stils war hauptsächlich seine geflissentliche Abneigung schuld, zwei Worte zu schreiben, wo eines genügte. Und in der Bequemlichkeit und Muße, die ihm seine Trägheit verschaffte, saß er herum und schwatzte, war freundlich weise und wurde fetter, als ihm zuträglich war. Er versuchte weniger zu essen, ein vorzüglicher Ausweg, um keine Bewegung machen zu müssen, jedoch in Gegenwart von Trank und Speise verließ ihn seine Gleichgültigkeit. Er kam ziemlich viel herum und hatte Interesse für alles Neue, was ihn vor Langeweile schützte, diesem unheilvollen Urheber vieler nutzloser Betätigung. Er besaß eine kostspielige kleine Villa in der Nähe von Rye in Kent, wohin er ohne viel Umstände mit seinem Auto fahren konnte, sooft ihn London langweilte; und sowie ihn seine Villa langweilte, pflegte er nach London zurückzukehren. Und er besuchte viele Leute, weil es ihm zu umständlich war, Einladungen abzusagen.
Es gab jedoch, das muß man einräumen, auch für die Weisheit Paul Lambones Grenzen. Es ist oft schwieriger, das zu sehen, was uns nahe ist, als das, was weit in der Ferne liegt; manch kecker Bursche, der mit klarem, scharfem Auge das Weltall überblickt, sieht wenig von seiner eigenen Person und läßt die dazwischenliegenden Schwierigkeiten außer acht; so weigerte sich auch in Paul Lambones Geist irgendetwas hartnäckig, die Mangelhaftigkeit vieler seiner persönlichen Handlungen zu erkennen. Er wußte, daß er träge war, aber er hätte es sich nie eingestanden, daß seine Trägheit ein eingewurzeltes Laster war. Er bildete sich ein, es gebe da noch einen Paul Lambone von sehr großer Energie in Reserve. Er liebte es, sich im Grunde für einen Mann rascher und richtiger Entschlüsse zu halten, der, einmal aufgerüttelt, zu dämonischen Kraftäußerungen fähig ist. Er hatte manche Stunde in Lehnstühlen, auf Gartenbänken und Rasenhügeln damit verbracht, sich vorzustellen, was er wohl bei den verschiedensten Gelegenheiten im Krieg, in geschäftlichen Angelegenheiten, bei einem Räuberüberfall oder bei häuslichen Krisen tun würde. Seine Lieblingshelden im wirklichen Leben waren Napoleon, Julius Cäsar, Lord Kitchener, Lord Northcliffe, Herr Ford und dergleichen heroische Ameisen.
Er liebte Christina Alberta wegen ihrer erstaunlichen Beweglichkeit. Sie hatte immer etwas vor; sie stand lieber, als sie saß, und schlenkerte mit den Beinen, während sie mit einem sprach. Er idealisierte ihre Beweglichkeit; er dichtete ihr viel mehr Beweglichkeit an, als sie wirklich besaß. Im geheimen war er überzeugt, daß ihr Blut wie das eines Vogels sein müsse, ein oder zwei Grad über normal. Er fühlte, daß sie an Einbildungskraft viel mit ihm gemeinsam habe. Er nannte sie ‹das neue Geschöpf›, ‹die Vorhut›, ‹das allermodernste Mädchen› und ‹die Lebenskraft›. Er gestand offen sein Mitleid mit dem hilflosen, alleinstehenden Mann ein, der sie gemäß unseren sozialen Gesetzen bald heiraten, mit ihr im Schritt gehen und sie in Ordnung zu halten versuchen mußte.
Sie war ein- oder zweimal bei ihm zum Tee gewesen. Sie spürte seine Bewunderung und vermutete eine gewisse Zuneigung, und sie sonnte sich gerne in Bewunderung und Zuneigung. Sie liebte seine Bücher und hielt ihn für den Mann, der er selbst zu sein glaubte. Sie erzählte ihm alles mögliche über sich selbst, bloß damit er die Augen aufreiße.
Und er überschüttete sie mit Weisheit, mit seiner erstaunlichen Weisheit.
Es war ganz interessant, von Christina Alberta angerufen und gefragt zu werden, ob sie zum Tee und um einen guten Rat kommen dürfe. ‹Komm am besten gleich›, sagte er. ‹Ich bin wahrscheinlich ganz allein zum Tee.›
Und als er den Hörer weglegte, sagte er: ‹Nun bin ich aber neugierig, was dieses Mädel wieder angestellt hat. Und was ich für sie tun soll.›
Er ging in sein Wohnzimmer zurück, machte sich auf seinem herrlichen Perserteppich vor dem Kamin breit und betrachtete den kunstvollen Silberkessel, der über der Spiritusflamme hin- und herschwankte. ‹Geld wird es nicht sein›, überlegte er. ‹Sie ist nicht von der Sorte, die auf Geld aus ist ...
Sie hat sich die Finger irgendwo verbrannt ...
Die Mädels von heutzutage sind viel zu tollkühn – sie sind alle miteinander viel zu tollkühn ... Hoffentlich ist es nichts Ernsthaftes ... Sie ist ja noch ein Kind.›
Christina Alberta erschien bald. Aufrecht wie immer, sah sie doch nichtsdestoweniger etwas gedrückt und niedergeschlagen aus. »Onkel,« sagte sie – denn das war ihre Auffassung von der gegenseitigen Beziehung – »ich hab' schwere Sorgen. Du mußt mir alle möglichen guten Ratschläge geben.«
»Leg erst diesen Räubermantel ab,« sagte er, »setz' dich hier nieder und mach' mir Tee. Ich beobachte deine Liebesgeschichte nun schon seit einiger Zeit. Ich bin nicht überrascht.«
Christina Alberta blieb mit ihrem Mantel in der Hand stehen und schaute ihn verwundert an. »Das ist gar nichts«, sagte sie. »Mit dieser kleinen Affäre werde ich ganz gut allein fertig. Mach' dir keine Sorgen um mich, in dieser Hinsicht. Mach' dir keine falschen Vorstellungen. Nein, es ist da etwas – etwas ganz andres.« Sie warf den Mantel über eine Stuhllehne und stellte sich neben das silberne Teebrett.
»Du kennst meinen Vati«, sagte sie, die Arme in die Seiten gestemmt.
»Ich hab' niemals einen seinem Kinde so unähnlichen Vater gesehn.«
»Gut –.« Sie überlegte, wie sie es sagen sollte. »Er benimmt sich merkwürdig. So, daß die Leute denken könnten – Leute, die ihn nicht kennen – daß er den Verstand verliert.«
Herr Lambone dachte nach: »Hatte er denn je einen sehr ernstzunehmenden Verstand?«
»Ach! mach' keine Witze. Sein Verstand war gut genug, um ihn vor Unheil zu bewahren, und jetzt ist er das nicht mehr. Die Leute werden denken – einige tun es bereits – daß er verrückt ist. Sie könnten ihn einsperren. Und er hat doch nur mich auf der Welt. Es ist ernst, Onkel. Und ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich bin nicht gescheit genug, um es zu wissen. Ich bin wirklich in Angst. Ich hab' keine Freunde, mit denen ich darüber sprechen könnte. Keinen einzigen. Du denkst vielleicht, ich hätte Freundinnen. Ich hab' keine. Ich kann mich mit älteren Frauen nicht vertragen. Sie wollen mich immer bemuttern. Oder ich bilde mir ein, daß sie das wollen. Und ich reize sie. Sie wissen, sie fühlen – die wohlanständigen wenigstens –, daß ich – na! ihre Sittengesetze nicht respektiere. Und die anderen hassen mich einfach. Weil ich jung bin. Die Mädel, die ich kenne – die können mir in dieser Sache nicht helfen.«
»Aber ist da nicht ein Mann,« fragte Lambone, »der dir nahe steht?«
»Du weißt, wer es ist, wie?«
Er war aufrichtig. »Es ist nicht gar so schwer zu erraten.«
»Wenn du ihn kennst –« Sie ließ den Satz unvollendet.
»Ich kenne den jungen Mann nur ganz flüchtig«, sagte er.
»Ich besuche Teddy fast täglich«, sagte Christina Alberta ohne weitere Zurückhaltung. »Ich ging natürlich zu ihm, bevor ich dir telephonierte. Er hörte kaum auf das, was ich zu sagen hatte. Er machte sich keine Gedanken darüber.« Es zuckte in ihrem Gesicht. Plötzlich standen ihr Tränen in den Augen. »Er lümmelte in seinem Atelier herum. Er küßte mich und versuchte mich zu erregen. Er wollte kaum auf das hören, was ich ihm zu sagen hatte ... Wahrscheinlich ist ein Liebhaber eben so und nicht anders.«
‹So steht es also›, dachte Paul Lambone mit heimlicher Bestürzung und bemerkte dann etwas verspätet:
»Nicht jeder Liebhaber.«
»Meiner – auf jeden Fall.«
»Und du bist weggegangen?«
»Ja. Was denkst nun du?«
»H'm«, sagte Lambone. »Du hast dir die Finger verbrannt, Christina Alberta! Mehr als ich dachte.«
»O! Der Teufel hol' Teddy!« sagte Christina Alberta. Sie suchte sich durch heftige Worte zu helfen. »Was macht denn das jetzt? Ich bin fertig mit Teddy. Ich war ein Narr. Aber das ist gleichgültig. Die Hauptsache ist mein Vati. Was soll ich mit meinem Vati machen?«
»Vor allem mußt du mir die ganze Geschichte erzählen«, sagte Lambone. »Denn bis jetzt, weißt du, hab' ich den Zusammenhang kaum erfaßt. Und bevor du das tust, setz dich in diesen bequemen Sessel da, und ich mache den Tee. Nein, nicht du. Deine Nerven sind überreizt, du würdest gewiß etwas umwerfen. Du hast deine erste Dosis von den Sorgen der Erwachsenen zu kosten bekommen. Setz dich da nieder und sag' eine Minute lang gar nichts. Ich bin froh, daß du damit zu mir gekommen bist. Wirklich froh ... Dein Vati hat mir gut gefallen. Der kleine Mann mit den unschuldigen blauen Augen. Und er redete – was für einen Unsinn hat er nur geredet? Über die verlorene Atlantis. Aber es war ein ganz netter Unsinn ... Nein, unterbrich mich nicht. Ich will mir den Eindruck, den er auf mich gemacht hat, ins Gedächtnis zurückrufen. Sobald du Tee getrunken hast, reden wir weiter.«
Nachdem der Tee fertig war und Christina Alberta eine Tasse getrunken hatte und nun etwas beruhigter aussah, sagte Lambone, der fand, daß er die Angelegenheit wunderbar meistere, sie könne beginnen.
»Es geht in seinem Kopfe komisch zu, aber du weißt, daß er nicht wirklich verrückt ist«, sagte Lambone. »So steht die Sache, nicht?«
»Ganz richtig«, sagte Christina Alberta. »Siehst du –« Sie unterbrach sich.
Lambone setzte sich in einen Lehnsessel und schlürfte in lässiger Weise seinen Tee. »Es ist offenbar etwas schwierig«, sagte er.
»Siehst du,« sagte Christina Alberta und zog, ins Feuer schauend, die Augenbrauen zusammen, »er ist ein Mensch mit einem besonderen Vorstellungsleben. Das ist er immer gewesen. Immer. Immer hat er halb im Traume gelebt. Wir sind sehr viel zusammen gewesen, fast von meiner Geburt an, und aus den frühesten Zeiten erinnere ich mich seiner Erzählungen, weitschweifiger Erzählungen über die ‹verlorene Atlantis›, über die Geheimnisse der Pyramiden und über die Yogis und die Lamas von Tibet. Und über Astrologie. Über lauter wunderbare, unmögliche und fernabliegende Dinge. Je weiter weg, desto besser. Und beinahe hätte er auch mich in Träume eingesponnen. Ich war eine Prinzessin aus der ‹fernen Atlantis›, die verloren in der Welt lebte. In meinen Spielen griff ich diesen Gedanken auf, und manchmal kam das Spiel dem Glauben sehr nahe. Oft bildete ich mir einen ganzen Nachmittag lang ein, ich sei wirklich eine Prinzessin. Viele Kinder haben solche Wachträume.«
»Ich hatte sie auch«, sagte Lambone. »Tagelang pflegte ich ein großer Indianerhäuptling zu sein, der immer und immer wieder zum Tod verurteilt wurde – und zwar als kleiner Schulbub verkleidet. Diese Ungereimtheit störte mich nicht im geringsten. Jeder tut das eine Zeitlang mehr oder weniger.«
»Aber er hat sein ganzes Leben lang nicht aufgehört, es zu tun. Und tut es jetzt mehr denn je. Er hat die letzte Spur des Gefühls dafür verloren, daß es ein Traum ist. Und in Tunbridge Wells hat ihm jemand einen Streich gespielt. Ohne zu ahnen, was es für ihn bedeuten könne. Sie scheinen da an den Abenden, wo ich in London war, mit Spiritismus dummes Zeug getrieben zu haben, Tischrücken und so weiter, und ein Mann, der nichts Besseres zu tun hatte, gab vor, in Trance zu sein. Er erzählte Vati, daß er, Vati nämlich, Sargon der Erste wäre; Sargon, den König der Könige, nannte er ihn, der Herr von Akkadien und Sumerien war – weißt du – vor unendlichen Zeiten, bevor noch Babylon gegründet war. Der Mensch, der das tat, konnte bei Vati kaum eine unglücklichere Stelle treffen. Weißt du, er war gerade dafür empfänglich; als er Woodford Wells, wo er sein halbes Leben in einem ewigen Einerlei zugebracht hat, verließ, wurde er gänzlich von der Wirklichkeit abgeschnitten, noch mehr, als er es ohnehin schon war. Er war bereits entwurzelt, bevor diese Idee über ihn kam. Und jetzt reißt sie ihn einfach mit fort. Sie paßt ihm wie angemessen. Sie – nagelte ihn fest. Früher konnte man ihn immer wieder aus seinen Hirngespinsten reißen – indem man von meiner Mutter sprach oder von den Wäschereiwagen oder von irgendeiner ihm wohlbekannten Alltagsangelegenheit. Aber jetzt kann ich ihn nicht mehr zur Wirklichkeit zurückführen. Ich nicht. Er ist Sargon inkognito, wiedergekommen als ‹Herr der Welt›, und das glaubt er ebenso fest, wie ich glaub', daß ich seine Tochter Christina Alberta Preemby bin, die hier sitzt und mit dir spricht. Es ist keine Träumerei mehr. Er hat seine Beweise und glaubt jetzt daran.«
»Und was will er denn damit anfangen?«
»Alles mögliche. Er will sich als ‹Herrn der Welt› ausrufen lassen. Er sagt, die Welt befände sich in schlimmem Zustand; und er will sie daraus erretten.«
»Die Welt befindet sich wirklich in einem schlimmen Zustand«, sagte Lambone. »Die Leute fangen noch nicht einmal an zu wissen, wie schlimm sie dran sind. Doch – ich glaube, sich einer Täuschung darüber hinzugeben, wer man ist, ist noch nicht Wahnsinn. Hat er die Absicht, irgendwelche Verrücktheiten zu begehen?«
»Leider ja.«
»Bald?«
»Das bedrückt mich ja gerade!«
»Siehst du,« fuhr sie fort, »ich habe Angst, daß er den meisten Leuten komisch vorkommen wird. Er ist jetzt wieder in den Lonsdale-Stallungen. Wir mußten Tunbridge Wells gestern verlassen. Knall und Fall. Das ist es, was mich in solche Bestürzung versetzt hat. Ein paar Tage lang ging alles gut. Dann wurden wir aus der Pension sozusagen hinausgeschmissen. Es war da ein ekelhafter Mensch, ein Herr Hockleby, der eine heftige Abneigung gegen Vati zu haben schien. Du kennst diese unbegründete Abneigung, die die Leute manchmal fassen?«
»Eine sehr unangenehme Seite der menschlichen Natur. Ob ich sie kenne! Was! Haben doch viele Leute gegen mich eine unbegründete Abneigung! ... Aber erzähl' weiter.«
»Er und seine Tochter entsetzten sich über Vatis Wunderlichkeit. Sie jagten den Fräulein Rewsters Schrecken ein; das sind die Schwestern, die das Haus führen. Sie sagten, er könne jeden Moment losbrechen, und entweder müßte er gehen oder sie. Sämtliche Hausbewohner standen flüsternd auf den Treppen herum und sprachen davon, einen Polizeimann zu holen und ihn wegführen zu lassen. Was konnte ich tun? Wir mußten abfahren. Weißt du, Vati bildet sich ein, daß Herr Hockleby damals, als er selbst Sargon war, auch gelebt habe und wegen aufrührerischer Umtriebe gepfählt werden mußte; und anstatt Vergangenes vergangen sein zu lassen, wie man es doch in solchen Fällen tun sollte, hat er etwas darüber zu ihm gesagt, und Herr Hockleby faßte es als Drohung auf. Es ist alles sehr schwierig, weißt du.«
»Er versuchte nicht, ihn noch einmal zu pfählen, oder dergleichen etwas?«
»Nein. So etwas tut er nicht. Es ist bloß seine Phantasie, die Ungeheuerliches tut. Nicht er.«
»Und jetzt ist er in London?«
»Er hat die Idee, er sei Oberherr des Königs, und will nun zum König in den Buckingham-Palast gehen und ihm davon Mitteilung machen. Der König ist ein durchaus guter Mann, sagt er, und sobald er hören wird, wie die Dinge liegen, wird er Vati als seinen feudalen Oberherrn anerkennen und auf den Thron setzen. Wenn er irgendetwas Derartiges versucht, wird er ganz gewiß eingesperrt. Er hat auch Briefe an den Prime Minister, den Lord Chancellor, den Präsidenten der Vereinigten Staaten und an Lenin und so weiter geschrieben, in denen er sie anweist, auf seine weiteren Instruktionen zu warten. Ich hab' ihn aber überredet, die Briefe erst wegzuschicken, bis er sich ein eigenes Siegel hat machen lassen.«
»Das erinnert geradezu an Mohammeds Botschaft an die Potentaten«, sagte Lambone.
»Er denkt auch noch an ein Banner oder etwas Derartiges, doch das ist alles ganz unbestimmt. Er gebraucht bloß die Phrase: ‹Erhebet mein Banner›. Ich glaub' nicht, daß das viel schadet. Aber diese Buckingham-Palast-Idee – die kann noch Folgen haben.«
»Das ist ja alles unendlich interessant«, sagte Lambone, schritt durch sein Zimmer und wieder zurück und setzte sich dann auf die Armlehne seines Lehnstuhles, beide Hände tief in den Hosentaschen. »Sag' mir: sieht er wahnsinnig aus?«
»Nicht ein bißchen.«
»Unordentlich in seiner Kleidung?«
»Nett und sauber wie immer.«
»Ich erinnere mich, wie sorgfältig er gekleidet war, als ich ihn sah. Spricht er verworren? Oder sind seine Äußerungen logisch und zusammenhängend?«
»Unbedingt. Vollkommen logisch und zusammenhängend. Er spricht, glaube ich, eher besser und klarer als gewöhnlich.«
»Es ist bloß dieser eine Wahn? Er hat keine Illusionen, wie etwa große, physische Kraft zu besitzen oder Schönheit oder irgendetwas Derartiges?«
»Keine. Er ist gar nicht närrisch. Er ist nur von dieser einen grandiosen, unmöglichen Idee besessen.«
»Er ist nicht plötzlich verschwenderisch oder sonst etwas dergleichen?«
»Nicht im geringsten. Er ist mit Geld stets vorsichtig gewesen.«
»Und ist es noch?«
»Ja.«
»Hoffen wir, daß das so bleibt. Ich kann nicht einsehn, daß ein Mann verrückt sein soll, weil er glaubt, er sei ein König oder ein Kaiser – wenn ihm jemand erzählt, daß er es ist. Schließlich und endlich hat Georg V. keine anderen Gründe sich einzubilden, daß er ein König sei. Der einzige Unterschied ist, daß es ihm mehr Leute erzählt haben. Sich einzubilden, man sei ein König, ist nicht Irrsinn, und sich dieser Vorstellung gemäß zu benehmen, ist ebenfalls nicht Irrsinn. Vielleicht wird es dereinst als Irrsinn gelten, heute jedoch ...«
»Aber ich hab' Angst, daß die Leute es für Irrsinn halten werden ... Siehst du, erst in diesen letzten paar Tagen, hab' ich bemerkt, wie ich an meinem Vater hänge und wie schrecklich es für mich wäre, wenn irgendjemand den Versuch machen sollte, ihn von mir fortzunehmen. Ich habe Angst vor den Irrenanstalten. Zwang für die, die Zwang am wenigsten verstehen können. Er besonders würde in einer Woche wahnsinnig werden, wirklich wahnsinnig, wenn er in eine käme. Dieser Herr Hockleby hat mich erschreckt. Er war so schadenfroh und grausam. Er war schlecht gegen Vati – boshaft. Ein böser Mensch.«
»Ja, ich verstehe«, sagte Lambone. »Haß.«
»Ja«, sagte sie. »Haß.«
Sie sprang auf. Mit ihrem Bubikopf, dem kurzen Rock, der männlichen Pose und dem ernsten Gesicht war sie die lächerlichste und zugleich anziehendste Mischung frischer Jugend und gereifter Verantwortung, die man sich nur vorstellen kann.
»Siehst du, ich weiß nicht, was geschehen kann – ob man ihn von mir fortnehmen kann. Früher hab' ich niemals vor dem, was geschehen könnte, Angst gehabt, jetzt aber hab' ich Angst. Ich weiß nicht, wie ich das alles anpacken soll. Ich hielt das Leben für einen Spaß und die Leute, die Angst davor haben, für Narren. Jetzt aber sehe ich, daß das Leben gefährlich ist. Ich machte mir niemals Sorgen. Nun aber ... Er geht in einem Ruhmestraum herum – und ihm droht ein schreckliches Unheil. Denk nur! Die Leute können ihn einsperren! Vielleicht ihm Gewalt antun! Eine Irrenanstalt!«
»Über das Gesetz auf diesem Gebiete weiß ich nur sehr wenig«, versetzte Lambone. »Ich bezweifle, daß man ihm ohne deine Zustimmung sehr viel antun kann. Aber was Irrenanstalten anbelangt, da stimme ich dir vollkommen bei. Ihrer ganzen Natur nach schon müssen es schreckliche Orte sein, verhexte Orte. Die meisten Wärter – hart geworden. Sogar wenn sie anfangs gut waren. Jeden Tag ... das ist zuviel für einen Menschen ... Ich weiß nicht, wie einer zum Irrsinnigen gestempelt wird, zum gesetzlichen Irrsinnigen meine ich, oder wer ein Recht hat, ihn einzusperren. Irgendwer – ich glaube zwei Doktoren – haben ihn zu begutachten oder so etwas ähnliches. Auf jeden Fall aber glaube ich nicht, daß dein Vater irrsinnig ist.«
»Ich auch nicht. Aber das wird ihn nicht retten.«
»Etwas anderes vielleicht. Wie du sagst, ist er ein Mann mit lebhafter Einbildungskraft – überlebhafter Einbildungskraft, der von einer phantastischen Idee besessen ist. Schön, ist das nicht vielleicht ein Fall für einen Psycho-Analytiker?«
»Möglicherweise. Der ihm zureden und ihn wieder zu dem machen würde, was er früher war.«
»Ja. Wenn zum Beispiel so ein Mann wie Wilfred Devizes mit ihm sprechen könnte –«
»Ich weiß nicht viel über diese Leute. Ich hab' natürlich etwas Freud gelesen – und ein wenig Jung.«
»Ich kenne Devizes. Wir trafen einander öfter in Gesellschaft. Seine verstorbene Frau gefiel mir gut. Und wenn du vielleicht deinen Vater in eine Villa auf dem Land bringen könntest. Übrigens – hast du Geld?«
»Er hat das Scheckbuch, gibt mir aber ein Taschengeld. Bisher hat es keine Geldverlegenheit gegeben. Er zeichnet seine Schecks ganz richtig.«
»Aber vielleicht nicht mehr lange.«
»O! Natürlich kann es ihm jederzeit einfallen, ein Hakenkreuz oder einen königlichen Namenszug anstelle seiner Unterschrift zu setzen, und dann wäre das Unheil fertig. Ich wüßte dann nicht, wohin ich mich wenden sollte. Daran hab' ich noch gar nicht gedacht.«
Einige Sekunden lang – Christina Alberta schien es eine Ewigkeit – sagte er nichts mehr. Er saß lässig auf der Armlehne seines Stuhles und schaute an ihr vorbei ins Feuer. Sie hatte gesagt, was sie zu sagen gehabt hatte, und stand nun da, wartend, was er sagen werde. Seine Weisheit versicherte ihm, daß man in dieser Angelegenheit sehr rasch handeln müsse; sein Temperament neigte dazu, vorläufig einmal in diesem gefälligen Zimmer zu bleiben und zu reden. Inzwischen schaute sie sich im Zimmer um und wunderte sich, wie bequem es doch ein weiser Mann haben könne. Es war das bestmöblierte Zimmer, in dem sie sich je befunden hatte. Die Stühle waren einfach herrlich; im Bücherschrank standen schöngebundene Bücher, und obendrauf ein prächtiges altes chinesisches Pferd; das Teegerät war aus Silber und feinem Porzellan; dort stand ein großer Schreibtisch mit silbernen Kerzenleuchtern; die Fenster, die auf die Half-Moon-Straße hinausgingen, hatten Vorhänge aus einem reichen, weich fallenden Stoff, der dem Auge äußerst wohl tat. Ihr Blick wanderte zurück zu seinem großen, fetten Gesicht, seinem launischen Mund und seinen feinen, nachdenklichen Augen.
»Etwas«, sagte er und seufzte, »muß sofort getan werden. Das ist keine Sache, die man aufschieben kann. Er könnte irgendeine Unbesonnenheit begehen. Und sich in Unannehmlichkeiten stürzen.«
»Das fürchte ich.«
»Sehr richtig. Ist er sicher – wo du ihn gelassen hast?«
»Es ist jemand bei ihm.«
»Der aufpaßt?«
»Schön.«
»Aber was soll ich tun?«
»Ja, was sollst du tun?« gab er zurück und sagte einige Sekunden lang nichts weiter.
»Nun?« fragte sie.
»Was vielmehr sollen wir tun? Ich müßte ihn sehen. Entschieden. Ja, ich muß ihn sehen.«
»Dann komm und schau dir ihn an.«
»Ja, ich will ihn mir anschaun. Jetzt gleich.«
»Also gehen wir.«
Er nickte. Er schien eine heftige innere Anstrengung zu machen. »Warum nicht?« fragte er.
»Nun?«
»Und dann – dann können wir mit dem Besuch bei Wilfred Devizes herausrücken. Überhaupt, das fix abmachen. Was wir später tun, wird dann davon abhängen, was Wilfred Devizes sagt. Je eher er zu Devizes geht, desto besser. Es ist noch die Frage, ob es nicht gescheiter wäre, wenn du oder wir beide zuerst Devizes aufsuchten. Nein, erst den Vater! Dann, wenn ich mich gehörig instruiert habe – wie der Jurist sagen würde –, Devizes.«
Unbeweglichkeit überkam ihn.
Sie konnte einen schwachen Ausruf der Ungeduld nicht unterdrücken.
Er sah auf, als ob er aus tiefem Nachdenken erwache. »Ich werde jetzt«, sagte er, »in die Lonsdale-Stallungen mitkommen. Ich werde mit deinem Vater sprechen und dann versuchen, Devizes zu erreichen und irgendwie eine Zusammenkunft zwischen den beiden zu arrangieren. Ja, so müssen wir es machen. Ich werde jetzt mit dir gehn – sofort.«
»Gut also,« sagte Christina Alberta, »dann komm.« Sie zog ihren Mantel über, setzte hastig ihren Hut auf den Kopf und stand nach zehn Sekunden wartend da.
»Ich bin fertig«, sagte sie.
»Ich will nur einen andern Rock anziehen«, sagte Lambone; und ließ sie volle zehn Minuten warten.
Das Taxi setzte sie am Eingang zu den Stallungen ab.
»Es wird doch nichts machen, wenn wir miteinander kommen?« sagte Lambone. »Er wird nicht etwa erraten, daß mich eine bestimmte Absicht herführt.«
»Er pflegt keinen derartigen Argwohn zu hegen.«
Doch als sie in das Atelier kamen, erwartete sie eine kleine Überraschung. Fee Crumb öffnete ihnen die Tür, und ihre Augen sahen blasser, ihr Hals länger und ihr Gesicht viel geistesabwesender aus denn je.
»Ich bin so froh, daß du endlich da bist«, sagte sie mit schwacher, verstörter Stimme. »Weißt du – er ist fort!«
»Fort!«
»Ja. Seit drei Uhr ist er fort. Er ist allein weggegangen.
»Aber Fee, du hast mir doch versprochen!«
»Ich weiß. Ich konnte ja sehn, daß er unruhig war, und erzählte ihm immer wieder, daß du bald zurück sein würdest. Es war nicht so einfach, ihn zu halten. Er ging auf und ab und redete. ‹Ich muß fortgehn, hinaus zu meinen Leuten›, sagte er. ‹Ich fühle, daß sie mich brauchen. Ich muß meinem eigentlichen Beruf nachgehn.› Ich wußte nicht, was ich tun sollte. So versteckte ich seinen Hut. Ich hab' mir nicht träumen lassen, daß er ohne seinen Hut ausgehn würde – elegant, wie er ist. Ich ging bloß für einen Augenblick nach oben, um was zu holen – ich hab' jetzt vergessen, was – jedenfalls fand ich es nicht, und ich mag vielleicht fünf Minuten gebraucht haben, um es zu suchen – und inzwischen schlich er davon. Er ließ die Tür offen, und ich hörte ihn nicht einmal hinausgehen. Sobald ich mich überzeugt hatte, daß er fort war, lief ich die Stallungen hinunter bis in die Lonsdale-Straße und stand dort herum ... Er war verschwunden. Ich hab' seither jeden Augenblick gehofft, er werde zurückkommen. Bevor du wiederkommst. Aber! Er ist nicht zurückgekommen.«
Nur allzudeutlich merkte man ihre Überzeugung, daß er nie wieder zurückkommen werde.
Christina Alberta und Paul Lambone sahen einander an.
»Das setzt dem Ganzen die Krone auf«, sagte Christina Alberta. »Was sollen wir jetzt tun?«
Lambone folgte Christina Alberta in das Atelier und setzte sich sogleich auf das Sofa nieder, aus dem nachts Herrn Preembys Bett wurde. Das Sofa quietschte und gab nach. Er starrte auf den Fußboden und überlegte. »Ich habe für heut' abend keine Verabredung«, sagte er. »Keine.«
»Es hat nicht viel Sinn, hier auf ihn zu warten«, sagte Christina Alberta.
»Ich bin überzeugt, daß er stundenlang nicht hierher zurückkehren wird«, sagte er.
»Und inzwischen kann er alles mögliche anstellen!« sagte Christina Alberta.
»Jeden Blödsinn«, sagte Lambone.
»Alles mögliche«, sagte Christina Alberta.
»Drei«, sagte Lambone und befragte seine Uhr. »Jetzt ist es beinahe fünf. Wo sollten wir ihn wohl vor allem suchen, Christina Alberta? Wohin kann er gegangen sein?«
»Willst du ihn denn mit mir suchen?«
»Ich stehe dir zu Diensten.«
»Das war ja gar nicht abgemacht.«
»Ich muß dir doch helfen. Wenn du mir nur nicht zu schnell gehst.«
Christina Alberta stand, die Arme in die Seiten gestemmt, vor ihm. »Ich würde fünf zu eins wetten,« sagte sie langsam, »daß er auf den Buckingham-Palast lossteuert und um eine Audienz bittet – nein, so nennt er es nicht – sich bereit erklärt, seinem Vasallen, dem König, eine Audienz zu erteilen. Davon war er heut' morgen ganz voll. Und dann – dann werden sie ihn wohl einsperren und auf seinen Geisteszustand hin untersuchen.«
»Hm«, sagte Lambone; und dann, indem er sich einen Ruck gab: »Gehn wir also zum Buckingham-Palast. Wir wollen sofort dahin«, sagte er und schritt langsam nach der Tür. »Wir wollen ein Taxi nehmen.«
Sie fanden ein Taxi in der Kingsstraße. Christina Alberta gehörte nicht zu der Taxi-fahrenden Klasse, und es machte Eindruck auf sie, plötzlich zu sehen, wie all die tausend Autotaxis auf den Straßen Lambone bereitwilligst zur Verfügung standen. Das Taxi setzte sie dem Auftrag gemäß am Fuße des Viktoriadenkmals vor dem Buckingham-Palast ab, und sie standen nun nebeneinander vor diesem Bauwerke. »Sieht ganz so aus wie gewöhnlich«, sagte Lambone. »Du hast doch nicht etwa erwartet, daß er es auf den Kopf stellen werde?« sagte Christina Alberta. »Wenn er einen Wirbel gemacht hat, so ist davon jedenfalls nichts mehr zu merken. Die Fahne da bedeutet wohl, daß S. M. zuhause ist ... Was tun wir nun aber?«
Er war in ziemlicher Verlegenheit. Die Gefühlsatmosphäre dieses weiten, offenen Platzes war von jener seiner Wohnung oder der der Lonsdale-Stallungen ganz verschieden. In der Wohnung und in den Stallungen hatte er sich bemüßigt gefühlt zu handeln; hier aber fühlte er sich bemüßigt, nicht aufzufallen. Er war ein Mann mit Schicklichkeitsinstinkten. Ein Auto, ein wunderschöner, großer, glänzender Napier fuhr vorüber, und er glaubte zu sehen, wie die Insassen nach ihm schauten, als ob sie ihn erkennten. Viele Leute kannten ihn heutzutage schon und konnten ihn erkennen. In seiner Wohnung, in dem Atelier in den Lonsdale-Stallungen konnte er getrost mit Christina Alberta verkehren; aber auf diesem so auffälligen Platze nun, auf diesem höchst auffälligen Platze kam es ihm plötzlich zum Bewußtsein, daß er und sie vielleicht nicht ganz zusammenpaßten: er mit seinem abgeschlossenen Wirkungskreis als Mann der Stadt, als großer, hervorragender, reifer Mann der Stadt, und sie mit ihrem ungewöhnlich jugendlichen Aussehen, ihren äußerst kurzen Röcken und ihrem Hut, der wie die Haube eines schwarzen Pilzes über ihren Bubikopf gezogen war. Die Leute mochten sie für ein schlecht zusammenpassendes Paar halten. Sie mochten sich wundern, was sie zusammengeführt und was er mit ihr vorhabe.
»Ich meine, wir sollten jemanden fragen«, sagte sie.
»Wen?«
»Ach! – eine von diesen Schildwachen da.«
»Darf man denn zu den Schildwachen am Tor sprechen? Offen gesagt habe ich Angst vor diesen ungeheuren Burschen in ihren Kalpaks.«
»Doch was sollen wir tun?«
»Nur nichts Übereiltes.«
»Wir müssen jemanden fragen.«
»Dort drüben links von der Viktoria, dort scheint mir der eigentliche Eingang zu sein. Dort sind zwei Polizisten. Vor Polizisten hab' ich keine Angst. Nein. Und der Mann dort an der Ecke ist bestimmt ein Geheimpolizist.«
»Dann wollen wir also den fragen!«
Lambone rührte sich nicht von der Stelle. »Angenommen, er ist gar nicht hier gewesen!«
»Ich weiß, daß er im Sinn hatte, hieher zu kommen.«
»Wenn er noch nicht da war,« sagte Lambone, »müssen wir hier irgendwo warten, ob er nicht vielleicht noch kommt.« Insgeheim dachte er an Flucht. »Hier sollte es doch wirklich Bänke geben.«
»Komm,« sagte er, indem er sich plötzlich zu männlicher Entschlossenheit aufraffte, »fragen wir einen der Polizisten an dem Tor dort drüben.«
Der Polizist am Tor, an den sie sich wandten, hörte ihrer Anfrage aufmerksam zu, ohne sogleich Antwort zu geben.
»Ja«, sagte er schließlich. »Ja. Es war ein kleiner Herr da, ohne Hut. Ja. Blaue Augen. Einen Schnurrbart? Ja. Er hat wohl einen Schnurrbart gehabt. Einen ziemlich starken Schnurrbart sogar. Und er sagte, er möchte König Georg in einer ziemlich dringenden Angelegenheit sprechen. Es ist immer eine ziemlich dringende Angelegenheit. Aber niemals eine sehr dringende. Wir antworteten gemäß unserer Order, er müßte ein schriftliches Gesuch einreichen. ‹Wahrscheinlich›, sagte er darauf, ‹wissen Sie nicht, wer ich bin?› Alle sagen das. ‹Jemand besonderer, das kann ich mir denken,› sagte ich, ‹aber Gott der Allmächtige nicht.› Der war nämlich vorige Woche hier und wollte nicht fortgehn, man hat ihn in einem Taxi wegführen müssen. Vorigen Donnerstag oder Freitag war es. Ein Kerl mit einem langen weißen Bart und weißen Haaren den halben Rücken hinunter – er hat wirklich wie der liebe Gott ausgesehen. Meine Antwort schien Ihren Herrn einzuschüchtern. Er murmelte einen Namen.«
»Vielleicht Sargon?« fragte Christina Alberta.
»Kann sein. Jedenfalls sagte ich: ‹Es gibt keine Ausnahmen. Nicht einmal, wenn Sie zur nächsten Verwandtschaft gehören. Wir dürfen keinen bevorzugen. Wir sind nur Maschinen.› Er stand eine Zeitlang verdutzt da. ‹Das muß alles geändert werden›, sagte er mit tiefer, ernster Stimme. ‹Es ist die Pflicht jedes Königs, jedermann Audienz zu geben, zu jeder Zeit.› ‹Da haben Sie gewiß recht, Herr›, sagte ich. ‹Aber wir Polizisten können da nichts machen.› Darauf ist er gegangen. Ich gab dem Detektiv dort an der Ecke verstohlen ein Zeichen, und er beobachtete ihn, wie er das ganze Gebäude entlang und dann hinüber zum Denkmal ging. Dort blieb er stehen und schaute zu den Fenstern hinauf. Dann zuckte er die Achseln und verschwand.«
Lambone stellte eine naheliegende Frage.
»Kann sein gegen Piccadilly,« sagte der Polizist, »kann sein, daß es gegen den Trafalgarplatz war. Wahrhaftig, Herr. Ich hab' nicht aufgepaßt.«
Es war klar, daß sich die Unterhaltung ihrem Ende näherte.
»Soviel also hätten wir erfahren«, sagte Lambone. »Er läuft offenbar noch frei umher.«
Er drückte dem Polizisten seinen Dank aus.
»Und jetzt«, sagte er mit einer Miene, als ob er endlich die glänzende Lösung eines schwierigen Problems gefunden hätte, »müssen wir ihn suchen.«
»Das ist der Kernpunkt des Problems.«
Er lenkte die Schritte zum Viktoriadenkmal zurück und stand dann neben Christina Alberta unter jenem vollkommenen Symbol des britischen Weltreiches, der Statue der Königin Viktoria. Sie starrten die Mall bis zum Admiralitätsbogen hinunter, und eine Weile sprach keiner von ihnen ein Wort. Es war ein warmer, heiterer Oktobernachmittag; die Kuppeln von Whitehall, Westminsters zwei Türme und ein brauner Häuserblock waren gerade noch über den Bäumen zur Rechten sichtbar, durch die Nachmittagsglut zu Schönheit verklärt; die beiden schlanken Säulen des Herzogs von York und Nelsons stiegen über den Bäumen und Gebäuden zur Linken empor; es war in der Pause, bevor der Abend- und Theaterverkehr beginnt, und nur wenige Autotaxis und das eine oder andere Privatauto hoben die Breite des Prozessionsfahrweges hervor. Im Admirality-Palast hatten bereits die ersten Fenster von der untergehenden Sonne Feuer gefangen.
»Vermutlich«, sagte Lambone, »ist er da hinunter gegangen.«
Christina Alberta hatte die Arme in die Seiten gestemmt und stand breitspurig da. »Vermutlich.«
Die weite Straße lief schnurgerade bis zu dem entfernten Admiralitätsbogen. Und hinter diesem fernen kleinen Durchgang lag der Trafalgarplatz, Charing Cross und ein Strahlenbündel von Straßen und Gassen, die sich ausbreiteten und immer weiter in das blaue Zwielicht hineinliefen.
»Wohin wird er jetzt wohl wandern?«
»Weiß der Himmel. Ich hab' keine Ahnung.«
Eine kurze Zeit lang sprach keiner.
»Er ist fort«, sagte sie, und dieser einfache und trostlose Gedanke erfüllte ihre Seele.
Doch Paul Lambones Gedanken waren etwas komplizierter.
Er begriff, daß er sich in ein ernstliches Abenteuer verwickelt hatte und seine Kräfte anspannen mußte. Er war plötzlich von seinem Tee und seinen heißen Teekuchen weggerufen worden, um einem etwas schwachsinnigen, verhältnismäßig fremden Menschen quer durch London nachzujagen. Er hatte die Absicht, das zu tun, es in gehöriger Weise zu tun, so, daß es auf Christina Alberta Eindruck mache. Seine Intelligenz sagte ihm, daß es am besten sei, das Wild auf dessen wahrscheinlicher Fährte zu verfolgen und es zu stellen, bevor es in sein Verderben renne; oder während es gerade in sein Verderben rannte, dazwischenzutreten und es wegzuführen. Seine niedrigere Natur hingegen, die besser ausgebildet war, ermahnte ihn, Christina Alberta die Verfolgung allein zu überlassen und so rasch wie möglich zu seinem weiten Lehnsessel zurückzukehren, sich niederzusetzen und die Lage zu überdenken. Und dann in seinen besten Klub zum Abendessen zu gehen. Mit einem Wort, sich in Ruhe und Ordnung gänzlich von dieser unerwarteten und unangenehmen Angelegenheit loszulösen.
Dann aber schaute er Christina Alberta an und sah ein, daß er etwas Derartiges nicht tun konnte. Er konnte sie nicht verlassen. Er sah ihr Profil, das Profil eines tiefernsten Kindes, und eine beinahe mütterliche Regung erwachte in ihm. Sie schaute mit ängstlichen und kummervollen Augen nach der blauen, unbegrenzten Stadt, die ihren Vati verschluckt hatte. Die Szenerie war noch immer von der Abendsonnenglut erwärmt, doch sammelte sich schon am tieferen östlichen Himmel das blaue Zwielicht. Hier und dort zeigte ein gelbes Pünktchen, daß London sich zu beleuchten begann. Sie konnte unmöglich allein weitergehen. In einer sonderbaren und unnatürlichen Weise waren sie miteinander verkettet. Der Antrieb sich zurückzuziehen entsprang jener selbstsüchtigen Vorsicht, die unaufhaltsam alles Glück aus seinem Leben riß und ihm dafür Sicherheit und Luxus zurückließ. Hier erging ein Ruf an jenen latenten Paul Lambone zu handeln. Selbst wenn sie von niedriger Herkunft und ein sonderbares kleines Nestküken war, das seine Phantasie zu einer Freundin und Heldin gemacht hatte, konnte das als Grund dafür gelten, daß er ihr in dem Unglück, das über sie gekommen war, nicht beistehen sollte?
Er traf seine Entscheidung.
»Er wird Stunden lang nicht zurückkehren«, sagte er, indem er das Problem weiter verfolgte. »Niemand mag an einem solchen Abend heimgehen.«
»Nein«, sagte sie. »Doch gibt mir das keinen Fingerzeig dafür, was ich zunächst tun soll.«
»Wir können ja zusammenbleiben und gegen den Trafalgarplatz hinuntergehn. Dann könnten wir am Kai Umschau halten. Wenn wir müde sind, können wir irgendwo zu Abend essen. Man kann fast überall so etwas wie ein Abendbrot bekommen. Wir werden unser Abendbrot nötig haben ... Vielleicht ist es gar kein so hoffnungsloses Unternehmen, wie's zuerst aussieht. Ein schwieriges Unternehmen, aber kein hoffnungsloses. Für das, was er wahrscheinlich tun wird, gibt es Grenzen. Grenzen, die in ihm selbst liegen, meine ich. Ich kann mir nicht vorstellen, daß er uninteressante Straßen aufsuchen wird. Sein Gefühl geht nach – Schaustellung. Es ist viel wahrscheinlicher, daß er sich an offene Plätze hält und in der Nähe auffälliger Gebäude bleibt. Das scheidet schon eine große Menge von Straßen aus. Und er wird nicht weit nach dem Osten gehn. In einer Stunde wird die City zusperren, die Lichter auslöschen und nachhause gehn. Da wird er sich westwärts wenden.«
»Hast du denn Zeit?«
»Ich hab' für heute abend keine Verabredungen. Es hätte ein ‹freier› Abend sein sollen. Und diese Geschichte reizt mich. Es interessiert mich zu sehen, wieweit wir sein Vorgehen berechnen und erraten können. Das ist eine merkwürdige Intelligenzprüfung ... Weißt du, ich glaube, wir werden ihn noch finden!«
Sie stand ein paar Momente lang ganz still.
»Es ist lieb von dir, mit mir zu gehen«, sagte sie.
»Ich komme unter einer Bedingung mit ... Daß du nicht zu schnell gehst. Wir sind noch nicht viel miteinander gegangen, Christina Alberta, aber ich kenne dich gut genug, um zu wissen, daß du abscheulich schnell gehst.«
Jedermann kennt das Café Neptun in der Nähe des Piccadilly-Platzes und die zusammengewürfelte Gesellschaft, die sich dort trifft. Dort sieht man Bildhauer und Maler, die kaum Künstler sind, Dichter und Schriftsteller, Modelle, Morphinisten, Kunstjünger und junge Mediziner, die um nichts besser sind, als man erwartet, Verleger und stutzerhaft gekleidete Advokaten, Bolschewiken und weiße Flüchtlinge, amerikanische Besucher, die hinkommen, um sich lustig zu machen, und als Beute auf dem Schauplatz bleiben, verirrte Studenten aus dem fernen Osten und Juden, Juden und wieder Juden – und Jüdinnen. Dorthin kam an jenem Abend um ungefähr halb zehn ein kräftiger, großer und müde-distinguiert aussehender Mann in Begleitung einer anziehenden jungen Dame in kurzem Röckchen und mit Bubikopf, die ihre große, ebenmäßige Nase hoch und ernst in die Luft hob; die beiden wanden sich mühsam zwischen den Tischen durch die rauchige Atmosphäre durch, indem sie einen passenden Platz suchten. Da hob sich aus der geschwätzigen, sinnverwirrenden Trübe ein junger Mann mit rotem Schopf empor, schob sein wildes Gesicht vor und fragte in breitem Flüsterton: » Habt ihr ihn gefunden?«
»Keine Spur«, sagte Paul Lambone.
Fee Crumbs Gesicht blickte durch einen dicken Nebel von Zigarettenrauch von einem Tische auf.
»Wir auch nicht. Auch wir haben gesucht.«
»Man kann überall suchen«, sagte der kräftige Mann. »Wo habt ihr gesucht?«
»Hier,« sagte Harold, »und hier herum. Es schien uns ein geeigneter Zufluchtsort.«
»Wir sind weit und breit umhergewandert«, sagte Lambone. »Wir haben Meilen zurückgelegt – oh! endlose Meilen. Und Christina Alberta hat jede Nahrung abgelehnt – für mich sowohl als für sich selber. Zuletzt sagte ich, entweder setze ich mich nieder und esse, oder ich falle um und sterbe. Sind diese Stühle frei? Du setz dich daher, Christina Alberta. Kellner! Ein Fall äußerster Ermüdung. Nein – weder Münchner noch Pilsner. Ich muß Champagner haben. Bollinger 1914 wär' gut, aber er muß eisgekühlt sein – recht kalt; und dazu: belegte Brötchen – eine stattliche Anzahl belegter Brötchen mit geräuchertem Salm. Ja – ein Dutzend. Ah!«
Er ließ die Handgelenke auf den Tisch fallen. »Wenn ich was getrunken habe, werde ich sprechen«, keuchte er und verstummte.
»Wann seid ihr aus den Stallungen weggegangen?« fragte Christina Alberta Fee.
»Um halb neun ... Keine Spur von ihm.«
»Seid ihr weit gewesen?« fragte Harold Lambone.
» Weit!« sagte Lambone und war eine Zeitlang unfähig, mehr zu sagen.
Seine Stimme schien perspektivisch abzunehmen. »Über riesige Gebiete Londons hin fragten wir jeden Polizisten nach einem kleinen Mann ohne Hut. Immer weiter ging's – von einem Polizisten zum andern ... Sie ist eine recht entschiedene junge Dame. Gott gnade dem Mann, der ihre Liebe gewinnt! Keine Seele hat ihn gesehn. Aber ich kann ja noch nicht sprechen ...«
Harold kratzte sich mit seinen langen Künstlerfingern leise das Kinn. »Es ist wohl auch möglich,« sagte er langsam, »daß er sich irgendwo einen Hut gekauft hat.«
»Sicher hat er sich einen Hut gekauft«, sagte Fee.
»Keinem von uns beiden ist es eingefallen, daß er etwas so Vernünftiges getan haben könnte.«
»Wir haben gar nicht daran gedacht, in den Hutmacherläden nachzufragen«, sagte Christina Alberta.
»Gott sei Dank!« sagte Lambone und wandte sich, um seinen Imbiß zu bewillkommnen. »Das hätte gerade noch gefehlt.«
»Lange Zeit waren wir einem anderen hutlosen Manne auf der Spur«, sagte Christina Alberta. »Wir holten ihn in der Essexstraße ein, nachdem wir ihn durch ganz Pentonville verfolgt hatten. Aber es war bloß ein Vegetarier mit Bart und in Sandalen. Und dann hörten wir in der Nähe der Britannia von noch einem hutlosen Mann. Doch der war offenbar hastig auf die Straße gelaufen, um an einem Karren in der Camden-Town-Hauptstraße gebackenen Fisch zu kaufen.«
»Höchst merkwürdig, wie sich eine Menge ansammelt, wenn man die einfachsten Fragen stellt«, sagte Lambone, den Mund voll Sandwich. »Und wie zudringlich hilfreich sie sein kann. Man zwang uns geradezu, die Treppe zu dem Mann mit den gebackenen Fischen hinaufzusteigen, der mir den Eindruck eines äußerst streitsüchtigen, verdächtig aussehenden Kerls machte. Die Menge wollte durchaus, daß er der sei, den wir suchten, und er schien nicht im geringsten zu wünschen, daß man ihn suche. Wenn mir nicht zufällig ein guter Gedanke gekommen wäre, hätte die Sache unangenehm werden können. Ich sagte einfach: ‹Nein, es ist nicht dieser Herr, es ist ein anderer mit demselben Namen.›«
»Aber was sagte denn er?«
»‹Scheren Sie sich zum ...›, sagte er. Na, auf jeden Fall genügte das der Menge, und wir bestiegen einen Omnibus, der uns zur Station Portlandstraße brachte.«
Der Champagner im Eiskübel kam. »Kaum noch kalt, Herr«, sagte der Kellner, indem er die Flasche anfühlte.
»Es ist jetzt nicht Zeit, wählerisch zu sein«, sagte Lambone und nahm einen dritten Sandwich. »Du ißt ja gar nicht, Christina Alberta. Ich bestehe darauf, daß du zum mindesten ein Glas Champagner trinkst.«
Christina Alberta trank ein wenig und aß mechanisch.
»Ich bin neugierig, ob wir ihn jemals wiedersehen werden«, sagte Harold. »London ist so groß, so ungeheuer groß! Das fühle ich immer, wenn ich jemanden irgendwo herauskommen sehe. Zum Ausgehen gehört ein enormer Mut. Zahllose Menschen müssen sich in London verirren. Ich pflegte immer Angst vor London zu haben, bis ich die Untergrund entdeckte. Ich hatte das Gefühl, von Seitenstraßen Gott weiß wohin aufgesogen zu werden; und ewig weitergehen zu müssen, um Ecken in immer längere und längere Straßen. Oft träumte ich von der allerletzten aller Straßen – endlos. Aber wenn ich jetzt nervös werde, frage ich bloß nach der nächsten Untergrundbahnstation, und dort bin ich sicher.«
»Er könnte jetzt wieder im Atelier sein«, sagte Fee.
Paul Lambone hatte mit großer Behendigkeit nach seinem vierten Sandwich und seinem dritten Glas Champagner gegriffen. Nun gönnte er sich bei seinem Erfrischungswerk etwas mehr Muße.
»Es ist ganz unsinnig,« sagte er, »ich habe an die Möglichkeit, daß er sich einen Hut kaufen könnte, einfach nicht gedacht. Das hat einen Strich durch alle meine Berechnungen gemacht. Ich hatte mich so auf die Frage konzentriert, was im Innern seines Kopfes vorgehe, daß ich mich um das, was außen damit geschehen mochte, gar nicht kümmerte. Doch ein Mann wie er, an Nettigkeit und Anstand – die er sich durch ein Menschenalter geordneter Lebensweise erworben hat – gewöhnt, wird sich sozusagen mechanisch einen Hut kaufen ... Wir können ganz nahe an seinem neuen Hut vorbeigelaufen sein.«
»Ich würde ihn erkannt haben«, sagte Christina Alberta.
»Doch bin ich überzeugt, daß wir ihm dicht auf den Fersen waren, bevor uns dieser Mann in Pentonville mit seinem roten Hering die Spur verwischte. Ihr müßt wissen, Christina Alberta bestand darauf, daß ich jeden Polizisten, den wir sahen, befrage – auch solche, die überarbeitet, reizbar und bissig aussahen, rohe Kerle, die gerade den Verkehr regelten – doch bestimmte jedenfalls ich die Route – das heißt, ich berechnete die Route. Weißt du, mein lieber Watson,« – müdes Eigenlob lag in dem schwachen Lächeln, mit dem er Crumb anblickte – »das Wesentliche in einem solchen Falle ist, daß man sich selbst an die Stelle des andern setzt, seine Gedanken zu denken sich bemüht. Das war's, was ich – soweit es mir meine Atemlosigkeit erlaubte – Christina Alberta klar zu machen versuchte. Es ist eine ziemlich geradlinige Folgerung: hier hast du einen Mann, den die beglückende Überzeugung erfüllt, daß er der höchste Herr der Welt ist, zwar noch ohne daß sie es weiß, und unerkannt, doch am Vorabend seiner Proklamation. Wird ein solcher Mann jede beliebige Straße gehen? Keineswegs! Er wird in gehobener, überströmender Stimmung sein. Sehr gut! Er wird also bergauf gehen und nicht bergab. Er wird breite Hauptstraßen wählen, nicht enge Seitengassen, und sich in der Mitte der Straße halten –« »Er wird doch nicht überfahren worden sein!« schrie Christina Alberta heftig.
»Nein, nein. Er wird starken Verkehr vermieden haben, weil ihn der zur Hast gezwungen und seine Würde beeinträchtigt hätte. Gewiß haben ihn offene Plätze angezogen. Hohe Gebäude, helle Lichter, der Anschein eines Zusammenlaufs müssen ihn mächtig angelockt haben. So überquerte er den Trafalgarplatz ganz bestimmt vom Admiralitätsbogen her in diagonaler Richtung, und zwar gegen das Kolosseum hin, das so auffällig dort steht ... Verstehst du meine Methode?«
Ohne Crumbs Antwort abzuwarten, fuhr er fort:
»Doch je mehr ich über unseren vermißten Freund nachdenke, desto mehr bewundere und beneide ich ihn. Was sind wir doch für kriechende Geschöpfe! – Damit zufrieden, Untertanen zu sein, Einer, Punkte, Nullen, Wassertropfen und Sandkörner in dem vielgestaltigen, sinnlosen, wüsten Chaos des menschlichen Geschehens. Er schwingt sich auf, er schwingt sich hoch darüber hinaus. Er wirft seine Gemeinheit und Niedrigkeit mit einer großartigen Geste ab. Seine Welt! Ihre Grandiosität! Wo er auch heute nacht sein mag, welches Geschick ihn ereilen mag, er ist ein glücklicher Mann. Und wir sitzen hier, wir sitzen hier und trinken – ich bestell' noch eine Flasche von diesem Wein, Harold, und hoffe, daß du und Frau Crumb dieses warme, dicke Bier aufgeben und mit mir halten werdet – Kellner! Ja – noch eine, bitte – wir sitzen hier inmitten dieser dichtgedrängten, rauchenden Menschenmenge ( schau sie dir nur an!), während er die Erlösung der Welt plant, die wir ihrer Wege gehen lassen – und seinen königlichen Willen zu Gott erhebt. Herrliche Begeisterung! Stell' dir vor, wenn jeder von uns davon etwas abbekommen könnte –«
Christina Alberta unterbrach ihn. »Ich denke, wir sollten die Krankenhäuser anrufen. Bis jetzt hab' ich gar nicht an die Möglichkeit gedacht, daß er überfahren worden sein könnte. Er war immer ein wenig unachtsam bei Übergängen.«
Paul Lambone machte eine abweisende Handbewegung und suchte nach irgendeinem Vorwand, der ihm noch ein wenig Ruhe sichern würde.
»Etwas später«, sagte er nach einer kurzen Pause, »wird das Personal der Krankenhäuser nicht so viel zu tun haben. Jetzt ist gerade die Stunde des stärksten Andrangs – von zehn bis elf. Ja, die Stunde des stärksten Andrangs ...«
Teddy Winterton erschien, sich durch die Menge, die ihm den Weg versperrte, drängend. Sein Blick war auf Christina Alberta geheftet.
»Halloh!« sagte Lambone in nicht allzuherzlichem Tone, warf einen Blick auf Christina Alberta und heftete die Augen dann wieder auf den Neuankömmling.
Teddy bemühte sich um einen unbesetzten Stuhl, über den eine Dame ihren Sealmantel geworfen hatte, eroberte ihn unter reichlichen Entschuldigungen gegen die Besitzerin des Mantels und zwängte ihn am Ende des Tisches zwischen Harold und Fee hinein, die ihm den Weg zu Christina Alberta verlegte. »Habt Mitleid mit einem verlassenen Mann«, sagte er humorvoll und suchte Christina Albertas Blick zu erhaschen.
»Sie sollen ein Glas Champagner haben«, sagte Lambone in etwas gezwungenem Willkommenston.
»Wie geht's, Christina Alberta!« sagte Teddy, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
Christina Alberta wandte sich zu Fee. »Würdest du jetzt mit mir nachhause gehen«, sagte sie zu ihr. »Ich muß jetzt an die Spitäler telephonieren, sonst geschieht es ja doch nicht.«
Fee sah sie erstaunt an. »Ich meine es ernst«, sagten Christina Albertas Augen. Fee stand auf und bemühte sich in ihren Mantel zu schlüpfen. Teddy sprang auf, um ihr zu helfen. Christina Alberta hatte ihren Mantel gar nicht abgelegt und war bereit. »Du, Christina Alberta«, sagte Teddy. »Ich möchte ein Wort mit dir sprechen.«
»Gehn wir, Fee«, sagte Christina Alberta, indem sie ihrer Freundin einen leisen Stoß in den Rücken gab und so tat, als hätte sie nicht gehört.
Teddy folgte ihnen auf das Pflaster von Piccadilly hinaus. »Nur ein Wort«, sagte er. Fee wollte ein bißchen abseits warten, doch Christina Alberta ließ dies nicht zu.
»Ich will kein Gespräch mit dir«, sagte sie.
»Aber ich könnte dir helfen.«
»Das hättest du können. Jetzt ist's zu spät. Ich will dich niemehr wieder sehen.«
»Du könntest doch wenigstens den äußeren Schein wahren«, sagte Teddy.
»Ich pfeife auf den äußeren Schein!« sagte Christina Alberta. » O! Komm, Fee.«
Sie ergriff ihrer Freundin Arm.
Teddy blieb zaudernd stehen. Er zögerte eine Weile und ging dann in das Café zurück, um sich wieder zu Crumb und Lambone zu gesellen.
Die beiden jungen Frauen schritten eine Zeitlang schweigend nebeneinander her.
»Was ist denn los?« wagte Fee endlich zu fragen.
»Nichts mehr ist los. Er ist für mich erledigt«, sagte Christina Alberta. »Ich möchte wissen, ob auch nur der Schatten einer Möglichkeit vorhanden ist, daß wir Vati im Atelier finden.«
Den ganzen Weg nach Chelsea sprachen sie nicht mehr viel miteinander. Fee hatte Christina Alberta niemals zuvor ermüdet gesehen.
Als Fee die Tür öffnete, drängte sich Christina Alberta an ihr vorbei hinein. »Vati!« schrie sie im dunklen Vorzimmer. »Vati!«
Fee knipste das Licht an. »Nein«, sagte Christina Alberta. »Er ist nicht hier. Er ist fort, Fee! Was soll ich jetzt tun?«
Fees blaßblaue Augen weiteten sich. Christina Alberta, die tapfere, die moderne, weinte.
»Wir wollen die Spitäler anrufen«, sagte Fee, indem sie einen zuversichtlich heiteren Ton anzuschlagen versuchte.