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Ich hätte das Kind sehen können. Ich merkte sehr gut, daß man von mir erwartete, ich würde darnach verlangen. Vielleicht hielt man mich für den Vater. Ich war es nicht.
Ich hatte vor der Abreise meinen armen Perikles nicht mehr aufsuchen können. Man hatte mir berichtet, daß er an Grippe erkrankt sei, an einer heftigen Lungenentzündung und zu allem Überfluß noch an einer Mittelohreiterung. Das hatte ich nicht gewollt. Es war zuviel! Denn es war mir nur daran gelegen gewesen, ihn nach meinem Tode nicht von aller Welt (und von Geld) verlassen hier zurückzulassen. Ich machte mir auch jetzt, wo ich weiterleben mußte, keine großen Gedanken über ihn. Ich war so unselig, so dem Erdboden gleichgemacht, daß ich nichts empfand, was einer Trauer, einem edlen Schmerz ähnlich sah. Ich hätte am liebsten mich selbst in Stücke zerrissen, mich auf die einfachste Weise aus der Welt geschafft, in der ich damals nichts Lebenswertes mehr fand.
Da dies aber unmöglich war, nachdem ich einmal aus unnützer Teilnahme oder sträflicher Neugierde die Hiobspost meiner Familie erfahren hatte, mußte ich mein Augenmerk auf solche Dinge lenken, die im Augenblick wichtig waren, zum Beispiel, daß ich meinen Zug nicht versäumte. Aber es war noch soviel Zeit, daß ich einige Besorgungen machen konnte. Ich sah in der Nähe des Bahnhofes ein Geschäft mit Herren- und Damenwäsche, Handschuhen, Reiseartikeln. Ich brauchte nichts. Ich mußte sparen. Mein Wintermantel war nicht mehr der beste, die Hemden begannen sich an den Ärmeln auszufransen, aber das alles erfüllte noch seinen Zweck. Als ich mich wieder dem Bahnhof zuwandte, fiel mir ein, ich brauche doch etwas, einen Trauerflor um den linken Arm, oder eigentlich zwei, einen für den Mantel, einen für den Rock. Ich ließ es bei einem bewenden. Die Verkäuferin hatte solche Flore in allen möglichen Breiten vorrätig. Wir suchten also einen passenden aus.
Nach einer Fahrt, die kein Ende nehmen wollte – jetzt erst sollte ich erfahren, was ich bei meinem Knieschuß nicht erfahren hatte, nämlich welche Höllenqualen einem Mann sein grausames, klares, unvertilgbares Gedächtnis verursachen kann –, nach dieser Fahrt, die sich in ihrer Unvergeßlichkeit all dem anderen Unvergeßlichen zugesellte, kam ich in der Stadt meines Vaters an. Vally stand am Bahnsteig neben einer herrlich gekleideten, schlanken, mit kostbarem Schmuck behängten jungen Dame, welche mir um den Hals fiel, duftend nach allen Herrlichkeiten Arabiens – meine Schwester Judith. Vally, eine ältere Dame von vollen Formen, stand bescheiden beiseite. Beide Frauen bemerkten sofort den Trauerflor. Er konnte ihnen gar nicht entgehen. Aber sie nahmen keine Notiz davon, wenigstens war das ihre Absicht. Wenn sich Judith bei meinem Erscheinen so stürmisch gefreut hatte, so war die Freude meiner Frau scheuer, zurückhaltender, aber ich sah sie doch.
Judith hängte sich an meinen rechten, Vally an meinen linken Arm, und so zog ich in meinem Vaterhause ein. Auf dem Wege hatte mir Vally, von Judith des öfteren unterbrochen und verbessert, in großen Zügen mitgeteilt, wie es daheim stand: mein Vater lag noch zu Bett, gelähmt, zusammengebrochen, sie konnten es mir nicht klar machen – die Patienten kamen, aber er empfing sie nicht –, die Briefe von der Bank ließen sich nicht aufhalten, er öffnete sie nicht. Die Verwalter seiner fünf Häuser – ich hatte nur von zweien gewußt und dann von unserer kleinen Villa in Puschberg – baten ihn dringend ans Telephon, er ließ sie bitten. Aber er wollte nicht, daß ein anderer diese Botschaften in Empfang nähme. Alles wartete auf mich. Nie war ich mit solcher Zärtlichkeit empfangen worden, nicht einmal zur Zeit der Untersuchung wegen künstlichen Trachoms. Nun schlachtete man das fette Kalb. Ich bekam das schönste Zimmer, man setzte mir später am Abend die feinsten Leckerbissen vor, und mein Vater zeigte mir schon jetzt sein liebstes Lächeln. Diesmal war es keineswegs zweideutig. Er war aufrichtig, von tiefstem Herzen, froh, daß ich gekommen war. Ich hatte mich entschuldigen wollen, daß ich erst nach drei Tagen diese Reise angetreten hatte. Er wollte mir fast die Hand küssen dafür, daß ich schon nach drei Tagen gekommen war.
Ich hatte den Mantel mit dem Flor im Entrée gelassen. Er ahnte also nichts davon. Er fand mein Aussehen blendend, mein Wesen männlich, ›zum Manne geschmiedet die unbarmherzige Zeit‹, zitierte er, nicht ganz richtig, den ›alten Goethe‹. Er lag, noch etwas blaß, aber keineswegs schwerkrank aussehend, auf dem Sofa im Sprechzimmer, von dem der übliche weiße Leinenüberzug entfernt war. – ›Wünschest du es, so stehe ich auf. Hast du schon zu Abend gegessen?‹ ›Nein, ich danke, das hat Zeit, wir wollen zuerst das Wichtigste besprechen‹, sagte ich. Ich hatte beim Vorbeigehen an der wunderbar gedeckten, mit Blumen geschmückten Tafel im Speisezimmer gemerkt, daß mir ein ehrenvoller Empfang sicher war. › Ich muß dir danken‹, setzte ich fort, mich an sein Bett setzend und unter einem gequälten Lächeln seinen Puls an der schönen, marmorweißen, kühlen Hand ertastend, ›vielleicht hast du mir das Leben gerettet.‹ ›Du willst sagen, daß du das meine retten willst. Seitdem du da bist, fühle ich mich viel wohler. Aber was nützt euch allen mein Leben?‹ ›Aber Vater!‹ Ich umarmte ihn. Trotz allem liebte ich ihn immer noch. Ich weinte. Ich weinte um Eveline, um ihn, um Vally, um mich. Aber auch jetzt mißverstand er mich. ›Ja, du beweinst unser schönes Vermögen. Ich hätte deinen Ratschlägen besser folgen sollen. Jetzt ist es zu spät. Ich bin zu nichts nütze. Wie immer, hast du jetzt Recht behalten. Du hast mich vor Devisenspekulationen gewarnt. Aber unsere Valuta war so schwach. Wer konnte ahnen, daß sie noch einmal steigen würde, natürlich! Du wirst es mir nie verzeihen, daß ich dein Erbe an der Börse verspielt habe.‹ ›Nein, Vater‹, sagte ich, ›ich habe nichts von dir zu verlangen. Ich habe bei meiner Heirat auf mein Erbteil verzichtet.‹ ›Welch ein Charakter! Welch ein goldenes Herz!‹ sagte der alte Mann, aber nicht zu mir, sondern zu meiner Mutter, die uns beide anblickte und so erregt war, daß ihre schlaff gewordenen Wangen zitterten und bebten. Sie gab mir durch Augenzwinkern ein kleines Zeichen, ich solle gehen. Jetzt war sie auf meiner Seite, es war das gleiche etwas schelmische Zwinkern, das sie vor vielen Jahren gehabt hatte, als sie meinen Vater in meiner Gegenwart beschuldigt hatte, daß er mir häßliche Dinge wie die Existenz von lästigen ›Pilgerim‹ beibrachte. Sie und Vally zogen mich beiseite, mein Vater atmete jetzt erleichtert auf und streckte sich auf seinem Schmerzenslager aus, es war offenbar eine große Beruhigung für ihn, zu wissen, daß ich da blieb. ›Morgen stehe ich auf‹, sagte er, mir sehr freundlich zum Abschied zuwinkend, ›heute entschuldigt ihr mich noch. Komm noch einmal her, mein Sohn, umarme mich! Du bist besser, als ich dachte, du bist ein wahrer Mannescharakter!‹ Und nachdem ich meinen Kuß bekommen und wiedergegeben hatte und nachdem er mich aus seiner festen und diesmal vielleicht ehrlichen Umarmung entlassen hatte, sagte er: ›Vor allem, das bitte ich mir aus, unser teurer Gast hat um zehn Uhr im Bett zu sein. Nicht länger aufbleiben! Verstanden? Und du, Judith‹, sagte er zu dem Kind, das nur Augen für mich hatte, ›ich bekomme keinen Kuß von dir?‹ ›Ach so‹, sagte Judith kalt und beugte sich in ihrer ganzen Jugendschönheit zu ihm nieder und küßte ihn leicht auf die Stirn. Er wollte ihre Hände festhalten, er hätte sie gern bis zum Abendessen bei sich behalten, während Vally und meine Mutter schon begonnen hatten, mich in das Labyrinth der Finanztransaktionen einzuführen. Aber sie ließ sich nicht halten, kam uns nach, und während der langen Unterredungen, die bis zwei Uhr nachts dauerten – ohne daß mir alles klargeworden wäre –, blieb sie geduldig auf ihrem Platz und folgte unserem Gespräch. Sie verließ uns, auf den Zehenspitzen gehend, nur auf einen kurzen Augenblick, um sich zu überzeugen, ob ihr Viktor zu Bett gegangen sei, und ob er sich zuvor die Zähne geputzt und sein Nachtgebet gesprochen und die Schulbücher für den morgigen Schultag gepackt habe, denn sie vertrat gleichsam die Mutter bei dem jüngeren Bruder, der sich dies alles gefallen ließ, ohne sich zu wehren. Er war ein stiller, gutartiger, aber jähzorniger Junge. Alle sagten, er hätte die größte Ähnlichkeit mit mir als Kind.
Ich als Kind! Auch jetzt meldete sich mein grausames Gedächtnis, und ich, in meinem verbissenen Schmerz, sehnte mich in die Zeit zurück, in der ich noch keine Eveline gekannt hatte.
Meine Mutter bemühte sich, mir den Stand unserer Vermögensverhältnisse düsterer darzustellen, als er vielleicht war. Aber sie beherrschte die Materie nicht besonders gut. Meine Schwester Judith, so jung sie war und so oberflächlich sie schien, wußte vieles besser. Ich sah es an ihren Blicken. Alle drei Frauen hatten es nur darauf abgesehen, mich wieder in den Ring meiner Familie zurückzuziehen, sie rechneten mit meinem Widerstand. Sie hatten nicht gesehen, daß ich als ganz anderer, verstörter Mensch unter ihnen saß. Gegen zehn Uhr ließ uns meine Mutter auf kurze Zeit allein. Sie wollte meinen Vater zu Bett bringen. Er hätte den kurzen Weg von seinem Sprechzimmer in das Schlafzimmer, soweit ich es beurteilen konnte, ohne Hilfe zurücklegen können. Aber man wollte ihn eben als bemitleidenswerten, zur Ordnung seiner Angelegenheiten nicht mehr fähigen alten Mann hinstellen. Dabei hatte er seine unzerstörbare Willenskraft bewahrt. – Unter den vielen Angelegenheiten war eine, die mir besonders peinlich erschien. Er, der damals noch ungeheuer reiche Mann, hatte vor Jahr und Tag von den Portiers und von den Verwaltern seiner Häuser Kautionen angenommen und diese in fremde Währungen umgewandelt. Dies hatten die Leute irgendwie erfahren. Sie verlangten ihre Kautionen in Goldwährung zurück. Mein Vater verweigerte es. Auf ihre Posten wollten sie nicht verzichten, mein Vater wußte das, zog die Sache in die Länge, der Buchstabe des Gesetzes war für ihn, ihre Kautionen wurden von Tag zu Tag wertloser, und er hatte sich an diesen armen Leuten bereichert. Für ihn war es kein großer Gewinn, für die Leute aber ein großer Verlust. Ich hatte jetzt meine Mutter gebeten, ihm die Einwilligung abzuschmeicheln, die Hälfte dieser Beträge sofort in fremder Währung, die andere in unserer verfallenen zurückzuerstatten. Als aber meine Mutter ihn zu Bett gebracht und bei dieser Gelegenheit dies besprochen hatte, konnte sie uns nur seine Absage bringen und den guten Rat, den er uns erteilte, nicht mit fremdem Hab und Gut großmütige Geschenke zu machen. Er betrachtete sich also nach wie vor als das Haupt der Familie, als den Alleinbesitzer der Häuser, der Papiere und so weiter. Ich sah, wie sich Vallys Gesicht verdüsterte. Sie fürchtete, ich würde vom Tisch aufspringen, mich empört zurückziehen und am nächsten Tage wieder auf immer in meine alte Arbeitsstätte in B. zurückkehren. Als wir gegen zwei Uhr morgens aufstanden und sie mir mein Bett anwies, blieb sie noch bei mir, und ich verstand, was ihre demütigen und doch finsteren Blicke bedeuteten. ›Ich weiß sehr gut, mein lieber guter Mann‹, sagte sie, ›daß es zwischen uns nicht mehr so werden kann wie früher. Aber ich wäre glücklich und überglücklich, wenn wir nur wie Bruder und Schwester hier nebeneinander leben und altwerden könnten in Frieden.‹ ›Überglücklich? Du übertreibst‹, sagte ich hart, da mir diese salbungsvolle Redensart mißfiel. ›Verlange, was du nur willst, du wirst sehen, daß ich mich geändert habe.‹ ›Ich will dich nicht auf die Probe stellen.‹ ›Willst du, daß ich schwöre?‹ ›Schwöre nicht!‹ sagte ich. ›Ich erkenne dich nicht wieder. Weshalb glaubst du mir auf einmal nicht? Heute abend hast du kaum den Mund aufgetan!‹ ›Ihr drei habt gesprochen, ich habe zugehört.‹ ›Von dir weiß ich nie nichts‹, sagte sie und streichelte den Ärmel meines Hemdes und sah die ausgefransten Stellen, ›wo bist du und wo bin ich? Du brauchst aber Pflege, es muß sich jemand um dich kümmern. Komm zu uns, ich werde versuchen, dich – wenn nicht glücklich, so doch zufrieden zu machen. Stoße mich nicht zurück! Ich habe es einmal bei dir getan, in Puschberg, erinnerst du dich, ich habe es bitter bereut, teuer bezahlt.‹ ›Ach, bezahlt, bereut, das sind Worte, nichts als Redensarten.! ›Nein, ich schwöre es dir beim Leben unseres Kindes, ich will alles tun, damit du bei uns leben kannst.‹ ›Beim Leben unseres Kindes?‹ fragte ich nachdenklich. Ihr Gesicht zeigte plötzlich Angst. ›Du wirst doch nicht verlangen, daß wir das Kind aus Bludenz zurücknehmen? Du weißt es selbst, wie schwer sich ein junger Mensch jedesmal eingewöhnt, man darf ihn nicht wieder herausreißen, wie dich damals aus dem Knabenheim in A.‹ ›Nun, wir werden sehen‹, sagte ich. ›Ich fahre morgen abend zu Mohrauer zurück. Morgen vormittag kommst du mit mir zur Bank. Die Kautionen werden zurückgezahlt. Die Hälfte nach heutigem Kurs. Weigert er sich, sieht er mich nicht wieder. Und weiter! Wir müssen sehen, wie wir die Posten ausgleichen. Ist die Versicherungspolice verpfändet?‹ ›Nein, das ist das einzige, woran dein Vater nicht rütteln läßt.‹ ›Ist sie auf Dollars umgestellt?‹ Sie begann mir die Einzelheiten zu erläutern, und wir sprachen bis drei Uhr weiter. Am nächsten Tage ordnete ich alles, so gut ich konnte. Die Verhältnisse kamen mir zuhilfe, einige der Wertpapiere waren in den letzten Tagen stark gestiegen, und unsere Währung war gefallen. Mein Vater blühte auf, als er dies hörte. Am Nachmittag nahm er die ärztliche Tätigkeit wieder auf, und ich hätte friedlich und glücklich abreisen können, wenn ich nicht gefürchtet hätte, daß mich im ersten freien Augenblick die Erinnerung an Eveline überfallen würde. So kam es auch. Der Schmerz war um so wütender, als ich meine Familie sorgenfrei und beruhigt zurückgelassen hatte. Mein Unglück hatte mich nicht gütiger gemacht.
In der Anstalt gab es nichts Neues. Oder doch! Der Assistent erzählte mir, daß mein Freund nach seiner Lungenentzündung auf dem Wege der Heilung sei. Die Ohren waren noch nicht gut, man nahm an, daß das mäßige Fieber, das er dauernd hatte, daher komme. Ich war im Herzensgrund sehr froh, daß mir mein Plan mißlungen war. Ich wollte nicht mehr Gottes Rolle und seine Verantwortung übernehmen. Auch Imperatoren sollen leben! Er erkannte mich diesmal und streckte mir die Hand entgegen und nannte meinen Namen! Seine alte Tante war gekommen, ein verhutzeltes, in schwarze, brüchige Seide gekleidetes Weiblein mit schlohweißem Haar. ›Ich habe gar viele Messen lesen lassen, mein lieber Herr Doktor‹, sagte sie zu mir, die haben geholfen. Er wird gesund. Ich habe eine gute Fürbitterin droben. Messen sind gut! Messen sind ja viel besser als Messer!‹ Ich wollte sie nicht hindern, ihn durch Fürbitten zu heilen.
Ich bedurfte nach der anstrengenden Reise in der dritten Klasse der Ruhe. Ich konnte sie aber nicht haben. Abends kam die Direktorin zu mir und hatte einige Prospekte mit. Worum handelte es sich? Sie staunte, daß ich nicht daran gedacht hatte. ›Natürlich um Eveline!‹ Ich sprang auf, es durchlief mich eisig. ›Ach, setzen Sie sich, junger Herr‹, sagte sie mütterlich, ›was kann Sie denn so erschrecken? Keine Angst! Das Kind ist Gott sei Dank gesund und munter. Aber es kann nicht ewig im Frauensanatorium bleiben. Also was jetzt?‹ ›Ist keine Nachricht von den Angehörigen da?‹ ›Die Schwägerin hat sich gemeldet. Hier ist der Brief, polnisch. Ich habe ihn übersetzen lassen. Sie schreibt, daß der Oberst verschollen ist, auch ihr Mann, sein Bruder, ist bei der polnischen Armee, sie selbst zieht von einem Gut aufs andere, man fürchtet, daß die Bolschewiken kommen. Dorthin kann also Eveline nicht zurück.‹ ›Nennen Sie das Kind nicht Eveline, das verbitte ich mir!‹ sagte ich voll Wut. Sie war den Umgang mit kranken, irren und irrenden Menschen gewohnt, sie ließ es dabei. Ich bereute meine Heftigkeit, küßte ihre Hand und begann zu weinen. Hatte ich unmittelbar nach der Katastrophe geklagt, daß ich nicht imstande war zu weinen, so floß jetzt das Tränenkrüglein um so reichlicher. So ist der Mensch nie zufrieden. ›Ich wollte Ihnen nur sagen, es bleibt nichts übrig, als das Kind ins Waisenhaus zu tun. Die Geldmittel in dem Sanatorium sind aufgebraucht.‹ ›Ich ... ich habe noch ein Sparkassenbuch‹, stotterte ich und versuchte mich zu fassen, ›es ist auf Evelines Namen angelegt ... damals, als sie mir Geld geliehen hat, gleich nach ihrer Ankunft.‹ ›Ja, geben Sie nur her, aber wie lange kann das reichen?‹ ›Und Mohrauer?‹ fragte ich. ›Er hat Sie in sein Herz geschlossen‹, antwortete sie, ›aber wenn Sie uns verlassen, wird er Ihnen keinen roten Heller geben. Sie kennen ihn doch. Er ist ein Narr unter den andern Narren hier, wie wir anderen auch.‹ ›Ins Waisenhaus? Ins Waisenhaus‹, sagte ich. ›Evelines Kind ins Waisenhaus? Wenn sie das gewußt hätte!‹ ›Sie hat es aber nicht gewußt. Es ist denn auch noch nichts verloren. Ich glaube zwar, daß der Oberst von den Bolschewiken nicht wiederkommt, auch sein Bruder schwerlich – aber es sind noch entferntere Verwandte da. Wenn ich einen Mann und einen Haushalt hätte, würde ich das Kind adoptieren. Es kann ja nichts für ...‹ Sie unterbrach sich, denn sie sah, ich hätte kein Wort gegen Eveline ertragen.
Der Chefarzt trat ein und begann mir die wütendsten Vorwürfe zu machen, weil ich ihn verlassen wollte. Er wollte mich halten. Er wollte mein Gehalt verdoppeln, verdreifachen – es nützte nichts. Hätte ein wenig mehr Geld mich glücklich machen können? Ich konnte hier nicht weiterleben, wo ich mit ihr gelebt hatte. Er hätte es einsehen können. Statt dessen wurden seine Vorwürfe nur noch bitterer, sie erstreckten sich jetzt auch auf meinen Vater, vor dem er mich warnte. Er drohte, er würde mich nicht wieder aufnehmen, wenn mir das Leben neben meinem Vater zur Hölle geworden sei, und schließlich mahnte er mich an das Geld, das er mir vor meiner Abreise geliehen hatte. Ich hatte nichts, konnte ihm daher nichts zurückgeben. Mein Vater war aber immer noch reich genug. Ich dachte daran, als Bedingung für meine Heimkehr von meinem Vater zu verlangen, er müsse, anstelle eines Gehaltes für mich, die Unterhaltungskosten für das Kind, für Nischy, bezahlen, dann kam mir plötzlich ein neuer, einleuchtender, überzeugender Gedanke, und ohne mich um Mohrauer zu kümmern, der verdutzt dastand, eilte ich zum Telephon, rief meine Familie an, und nach zehn Minuten meldete sich Vally am Apparat. ›Ich bitte dich sofort herzukommen‹, sagte ich, ›nimm den Nachtzug!‹ ›Was gibt es denn? Um Himmelswillen, was ist los?‹ fragte sie zurück. ›Frage nicht! Ich will, daß du sobald wie möglich kommst. Du wolltest ja eine Probe bestehen. Jetzt ist der Augenblick da.‹ Diesmal dauerte das Gespräch nicht einmal drei Minuten. Am nächsten Vormittag kam Vally, blaß und abgespannt nach der Reise. Ich holte sie von der Bahn ab und mußte mit aller Gewalt die Tränen unterdrücken, wenn ich daran dachte, daß ich vom gleichen Bahnhof vor Jahr und Tag Eveline abgeholt hatte. Aber diesmal war ich der Herr meiner Nerven. Und in unerschütterlicher Ruhe setzte ich ihr meinen unabänderlichen Entschluß auseinander. Er war das einzig Richtige, da er der einzig Mögliche war.