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12

Vally hatte es sich nicht nehmen lassen, mir heimlich in die Tiefen meines Rucksackes allerhand Leckerbissen – es waren nicht die raffiniertesten, aber die besten, die der kleine Dorfkrämer in seinem alten Laden hatte – für die lange Reise vorzubereiten, und mein Vater begleitete mich in alter Freundlichkeit zur Bahn. Ich hatte ein schweres Herz. Ich suchte sogar vor mir selbst eine Ausrede, um länger bleiben zu können, denn der Abschied von Vally fiel mir trotz allem schwer. Mein Vater – wußte er, wußte er nicht?

Er sah ruhig zu, wie ich die vielen kleinen Münzen, die ich mir im Laufe des Jahres von meinem schmalen Taschengeld zusammengespart hatte, aus der Tasche zog und immer wieder mit der Summe verglich, die das Billett kostete und die auf einer mächtigen Tabelle, die alle Stationen des großen Österreich-Ungarn enthielt, aufgezeichnet war. ›Ich hatte eigentlich gedacht‹, sagte er, als ich endlich mit dem Billett in der Hand zu ihm zurückkehrte, der inzwischen bei dem Rucksack Wache gehalten hatte, ›ich dachte eigentlich, du wolltest mit mir nach London fahren.‹ ›Warum hast du nichts davon gesagt, gestern, als es noch Zeit war?‹ wollte ich fragen. Aber diesmal war ich ein guter Schüler meines Meisters. Es war ganz und gar unnötig, diese dumme Bemerkung zu machen. Ich hatte reden gewollt, also war es klug zu schweigen. Er lächelte etwas spöttisch, vielleicht weil er in der Ferne den Schullehrer erblickte, den er auch diesmal um das Geld für das Armenhaus zu narren gedachte, und der einen Brief in den Bahnhofspostkasten einwerfen wollte. Ich blieb stumm. Ich dachte im stillen daran, daß ich Vally nicht liebte. Meinen Vater liebte ich eben.

In meiner Heimatstadt suchte ich zuerst meinen Freund Perikles auf. Ich fand ihn bei einer sonderbaren Beschäftigung, die er aber sofort unterbrach, als ich in sein Zimmer eintrat, das er mit seinem Vater zusammen bewohnte. Der Vater hatte seine Stelle wegen politischer oder antireligiöser Tätigkeit eingebüßt, oder er war dauernd beurlaubt worden, was auf das gleiche herauskam, und mein Freund war froh, wenn er ein paar Stunden des Tages für sich allein haben konnte. Der Vater trieb sich indessen in den umliegenden Wirtshäusern umher, um sich ›zu erfrischen‹ und überall von der alten Ungerechtigkeit der Behörden und von seinem neuen Jammer als Witwer der Welt die Ohren vollzuposaunen, wie sich sein liebender, aber respektloser Sohn ausdrückte. Und dieser Sohn, der schwächliche, schielende, im höchsten Grade kurzsichtige, bei jeder Zigarre Übelkeit empfindende Perikles, was tat er? Ich hätte es nie erraten. Er arbeitete sich ab an einem sonderbaren Gerät, dem Muskelspanner ›Herkules‹, wie er ihn nannte, der aus zwei Handhaben mit dazwischen gespannten Spiralfedern bestand, die man auseinanderzuziehen hatte. Er hatte nur zwei Federn eingespannt, und doch rann ihm der Schweiß bei seinem Sport von seinem auch jetzt noch blassen, vergeistigten Gesicht. Als wir uns begrüßt hatten, immer so herzlich, wie sich zwei alte Freunde begrüßen (Imperator und Perikles aus alten Zeiten!), die sich für das ganze Leben gefunden haben, auch wenn sie sich nur ab und zu treffen, nahm ich das komische Ding in die Hand und fragte, wieviel Federn man einspannen könnte? ›Zehn‹, sagte er, ›aber das ist dann nur für einen Athleten.‹ ›Nun, versuchen wir es mit fünf‹, sagte ich lachend. Er suchte die Federn in der schmutzigen Wäsche auf dem Boden des Schrankes zusammen, der ihm und seinem Vater als Aufbewahrungsort für alles mögliche diente, und ich machte mich stark, um die Herkulesprobe zu bestehen. Aber sie machte mir keine Mühe. ›Gib noch zwei zu!‹ sagte ich dann, ›oder spann ruhig alle zehne ein!‹ Ich lachte aber nicht mehr, als ich sah, daß Perikles meine Übungen mit wenig Freude sah. Er hatte Wochen gebraucht, um von einer Feder zu deren zwei fortzuschreiten. Ich machte daher auch nicht die Probe mit allen zehn, sondern tat, als sei es mir zu schwer, und jetzt hatte ich die Freude, wieder den alten mutigen und lebensprühenden Gesichtsausdruck auf seinen Zügen wiederkehren zu sehen.

Wir gingen darauf reihum in die Wirtshäuser, um den Vater zu holen, und verbrachten den Tag sehr lustig gemeinsam.

In dieser Zeit war von der Okkupation der Kronländer oder Provinzen Bosnien und Herzegowina viel die Rede, und man munkelte sogar von einem Krieg mit Serbien oder der Türkei, wo die Jungtürken eine nationale Wiedergeburt anstrebten. Die Sympathien waren nicht immer auf der Seite des sich ein fremdes Gebiet aneignenden Großstaates Österreich, und von Krieg wollte man nicht das geringste wissen. Man? Perikles gehörte nicht zu dieser Masse. Er war uneingeschränkt für den Krieg, für eine Entscheidung, für eine rücksichtslose Ordnung der Dinge auf dem Balkan. Ja, mehr als das, er wollte Soldat, oder besser gesagt, Krieger sein (er machte einen feinen Unterschied zwischen den Begriffen, den ich nicht verstand), er hatte sich zum Einjährigfreiwilligendienst schon jetzt gemeldet. Ich dachte nicht daran, es einen Tag vor dem Einberufungstermin zu tun, und hatte daher noch ein Jahr Zeit, er war aber wegen allgemeiner Körperschwäche abgewiesen worden und – wegen seines ›Augenfehlers‹, wie er es nannte. Der Körperschwäche versuchte der Philosoph durch den Herkulesapparat abzuhelfen, gegen den Augenfehler wollte er sich einer Operation unterziehen und bedauerte nur, daß mein Vater nicht mehr hier lebte, da er als Operateur in so schwierigen Fällen hier noch nicht ersetzt worden war. Sein Vater war sicherlich viel leichter in seinem Steueramte zu ersetzen, er hatte sich jedenfalls in dieses Schicksal gefügt, im Gegensatz zu dem Sohn, der in jeder Hinsicht ›mit der geballten Faust dem Schicksal in den Rachen greifen‹ wollte, wie es der Heros Beethoven gesagt hatte. Wir sprachen, an einem Kaffeehaustisch im Freien sitzend, auch von dem künftigen Beruf. Mein ehemaliger Schüler Jagiello, den ich am Abend aufsuchen wollte, hatte die Reifeprüfung noch nicht bestanden, weil er im letzten Semester durchgefallen war. Perikles sah ihn öfter, wollte aber heute abend nicht mit zu ihm kommen und sprach mit Verachtung von dessen ›Steckenpferd‹. ›Nationalökonomie?! Auch eine Wissenschaft!‹ Der altadelige, sehr reiche Sohn eines polnischen Obersten und einer französischen Mutter aus hohen Finanzkreisen interessierte sich nämlich für die Frage der proletarischen Kinderarbeit und hatte darüber Studien begonnen, die freilich keinen Wert haben sollten.

Auch mein Perikles hatte schon Aufzeichnungen über seine Gedanken gemacht und eine kleine Abhandlung in seiner elenden Handschrift an einen Professor der Philosophie in Deutschland gesandt. Sie muß dort offenbar Eindruck gemacht haben, denn Perikles hatte eine Antwort bekommen, die er, als wir am Spätnachmittag noch einmal in seine Behausung hinaufsahen, in dem Universalschrank suchte, diesmal aber unter der reinen Wäsche. Endlich fand er sie, genügend zerknittert. Ich sah nur die Anrede: Sehr geehrter Herr Kollege! So war er von dem Geheimrat als dessen Kollege angesehen worden! Ein junger, halbblinder Mensch von noch nicht neunzehn Jahren. Auf ihn schien dies keinen großen Eindruck gemacht zu haben, er knäuelte das Papier zusammen und warf es in einen Winkel. Er fand alle Universitätsbonzen ›hassenswert und erbärmlich‹. Auch sein Vater, der sich kaum mehr auf den Beinen halten konnte, war mit dieser Verachtung der offiziellen Philosophie der Hochschulen einverstanden. Immer wieder kam ich auf die Frage des künftigen Berufs, denn sie beschäftigte mich nach meinem Vater am meisten. ›Und was hast du eigentlich vor?‹ fragte Perikles. ›Ich studiere Medizin‹, sagte ich stolz. ›Sososo‹, antwortete er, ›du hast mich eigentlich mißverstanden, ich meinte, was hast du heute abend vor? Willst du wirklich mit diesen Halbmenschen (dem Obersten und Jagiello) deine Zeit vergeuden?‹ Ich ging nicht weiter darauf ein. ›Und was willst du werden‹, fragte ich naiv. ›Werden?‹ gab er zurück. Ich verstand und schwieg. Sein Lebensweg war von ihm selbst vorgezeichnet. Er hatte keinen solchen Vater wie ich.

Ich seufzte auf, denn ich sah voraus, daß es noch Kämpfe mit meiner Familie geben würde, bevor ich mit Recht sagen könnte, ich studiere Medizin. Diesmal verstand er mich falsch und fragte mich, unwillkürlich wärmer werdend und näher rückend: ›Hast du auch Kummer? Die Weiber! Welch eine banale Rasse – und doch! Hast du auch eine unglückliche Liebe?‹ Ich wollte ihn keinesfalls verletzen und seufzte nur noch einmal. Weshalb ihm von meinen Erlebnissen mit Vally erzählen? ›Ja‹, nickte er, ziemlich zufrieden, ›es ist schwer. Ich liebe. Der Name tut nichts zur Sache. Es ist eine Frau von Größe, böse, aber großartig. Ich habe ihr einen Heiratsantrag gemacht, aber sie sagt, ich sei viel zu jung, und sie müsse es sich überlegen. Sie will einen pensionsberechtigten Beamten; mag sein! Aber es gibt keinen pensionsberechtigten Philosophen.‹

Als ob er fürchtete, daß ich doch von einem etwas glücklicheren Erlebnis erzählen könnte, drängte er zum Aufbruch. ›Hast du auch Handschuhe?‹ Ich konnte ihm nicht sagen, daß man nicht mit einem Touristenrucksack – und mit Glacéhandschuhen erscheinen konnte. ›Beeile dich‹, fuhr er fort. ›Du kannst nicht zu nachtschlafender Stunde zu dem Obersten kommen, Kleiner!‹ Ich hätte es getan. Aber da ich ihn sehr gut verstand, auch die winzige Regung von Neid, die nicht von ihm gewichen war, seitdem er meine dummen Leistungen beim Herkules-Apparat gesehen hatte, folgte ich seinem Rat, schnürte schnell den Rucksack wieder auf, holte ein paar Lederhandschuhe heraus, welche die treue Vally einzupacken nicht vergessen hatte, und wir machten uns auf den Weg. Wir sprachen nichts mehr. Aber wir waren uns trotz allem von den ersten Freundschaftsjahren so ans Herz gewachsen, daß wir uns schwer trennen konnten und lange vor dem prachtvollen Haus des Obersten auf- und abgingen. Endlich sagte er, seine feinen, spinnenartigen Finger unter meinen Rucksack schiebend, wie um zu prüfen, wie schwer ich zu schleppen habe: ›Es ist genug, du schwitzt wie ein Neger, wir müssen uns trennen.‹ ›Wenn du willst, bleibe ich den ganzen Sommer bei dir‹, sagte ich, voll Freude über seine Anteilnahme. ›Du bist wohl ...‹ sagte er und tippte an meine Stirn, ›was fällt dir ein? Den ganzen Sommer mit mir Stubenhocker und meinem Erzeuger, dem alten Bsuff! (Betrunkenen). Geh nur, geh!‹ Dieses Geh nur, geh, kam mir bekannt vor. Ich hatte es ja in der bewußten Nacht von meiner Vally gehört. Ich kramte aus den Tiefen meines Rucksackes eine Konservenbüchse heraus, die mir vorhin beim Suchen nach dem Handschuh in die Hände gefallen war. Es war Schweinsgulasch, wie es die Touristen in dem Bergnest verlangten, um es als eiserne Ration bei den Gletschertouren zu verwenden. Ich wollte es Perikles schenken, und er nahm es nach langem Widerstreben an.

Endlich nahmen wir Abschied. Als ich oben bei meinem Bekannten Jagiello und bei seiner entzückenden, aschblonden, schmalhüftigen, zarten, grauäugigen Schwester Eveline angekommen war und einen Augenblick ans Fenster trat, sah ich ihn, Perikles, den kriegerischen Philosophen, vor dem Haus auf und ab gehen.

Im Grunde blieb er, der er war, und das tat mir sehr wohl. Er war der meine.

Von der Familie des Obersten wurde ich so verwandtschaftlich aufgenommen wie immer, und am nächsten Morgen reisten wir alle ab. Sie hatten nur noch auf mich gewartet.

Wir verlebten schöne Tage auf dem Gut. Ich verliebte mich in die Schwester meines Freundes, es kam sogar zu einigen schüchternen Küssen und zu einer halben Verlobung – aber alles blieb in der Schwebe, denn wir sprachen nicht über unsere Liebe. Ich hätte glücklich sein können, hätte ich nicht unter der alten Unruhe gelitten. Meine Zukunft war der erste Grund dazu, das Leben und die Gesundheit meiner lieben Mutter der zweite. So unsinnig es mir selbst vorkam, machte ich meinen Vater für beides verantwortlich. Ich sah keinen Grund, weshalb er mir meinen Wunsch verweigerte, den Beruf zu wählen, für den ich mich nun einmal geeignet glaubte, und – ich sah auch keinen Grund, weshalb meine arme Mutter, eine Frau von über 39 Jahren, sich den Gefahren einer neuen Schwangerschaft hatte aussetzen müssen, und nur von diesen Gefahren waren ihre langen, schwer leserlichen Briefe erfüllt. Mitten in dem lustigen Getriebe auf dem galizischen Gut, wo es täglich eine Menge neuer Gäste und eine Unzahl von Zerstreuungen gab, wurde ich den Gedanken an meine Mutter nicht los, ich entsann mich der Aufregungen und Leiden, die ich vor der Geburt von Judith in dem Knabenheim mitgemacht hatte. Ich konnte sie nicht vergessen. Meine Mutter schwenkte aber plötzlich um. Ohne daß sich etwas geändert haben konnte, wurde der Ton ihrer Briefe anders, die Briefe kamen in längeren Zwischenräumen, sie erzählten jetzt nur von vielen Kleinigkeiten. Wie sollte ich das verstehen?

Es kam der Augenblick, wo Jagiello in die Schule in meiner Heimatstadt zurückmußte. Ich wollte, wie wir es seinerzeit besprochen hatten, wieder zu meiner Familie. Ich deutete dies in meinen Briefen nach Hause an, es kamen aber nur ausweichende Antworten. Endlich richtete ich an meinen Vater eine entschiedene Frage. Er antwortete durch den Mund oder die Hand meiner Mutter, ich solle, wenn möglich, noch bis Mitte Oktober bei der Familie Jagiellos bleiben, er wäre bereit, eine kleine Entschädigung für die Unkosten zu zahlen. Davon war nun keine Rede. Ich wurde von dem Obersten wie ein Kind des Hauses betrachtet, und wir waren denn auch schon eine Art kleiner Familie. Und doch fühlte ich, ich konnte nicht immer bei ihnen leben, ich hatte andere Aufgaben. Endlich kam, als ich schon mit dem Obersten in meiner Heimatstadt war, die glückliche Nachricht von der Ankunft eines kleinen Bruders. Ich telegraphierte meinen Glückwunsch und erwartete, daß man mich sofort heimberufen würde. Aber nichts dergleichen erfolgte. So ging, während mich eine fast unerträgliche Unruhe plagte, die zweite Hälfte Oktober vorüber. Eveline, etwas kränklich und sehr verstimmt, reiste ab.

Perikles war nicht mehr hier. Er war in die deutsche Universitätsstadt gefahren, deren Professor sich für ihn so lebhaft eingesetzt hatte. Ich half Jagiello bei seinen Schularbeiten. Endlich kündigte ich meiner Familie meine Ankunft auf Ende Oktober an. Da keine Gegenordre kam, reiste ich ab.

Zu Hause fand ich alles verändert. Meine Mutter war noch mehr angegriffen als nach der Geburt Judiths, sie konnte das Neugeborene nicht stillen, man hatte eine Amme aufnehmen müssen. Da der Platz in unserem Hause beschränkt war, mußte man entweder Vally entlassen oder außer dem Hause einquartieren. Das letztere war erfolgt. Tagsüber tat Vally ihre Arbeit wie immer, abends suchte sie ein kleines Stübchen in einem der Häuser auf, die meinem Vater gehörten. Mein Zimmer war zwar unberührt geblieben, aber Judith zeigte eine solche Feindseligkeit gegen das neugeborene Brüderchen, daß man sie, so gut es ging, absondern mußte. Meine Mutter konnte sich ihr nicht immer widmen, es mußte eine geprüfte Kindergärtnerin aufgenommen werden, und Judith sollte mit der Kindergärtnerin zusammen mein Zimmer bewohnen. Aber Judith konnte sich von Vally nicht trennen, sie liebte sie. So war alles noch unsicher.

Meine arme süße Mutter beschwor mich unter Tränen (eine Sekunde später aber lächelte sie schelmisch, denn die allgemeine Verwirrung, treppauf-treppab, machte ihr Spaß), ich solle ›einstweilen‹ vorlieb nehmen. Gern. Aber wie? Sollte auch ich in einer der Zinskasernen meines Vaters einen Winkel zum Unterschlüpfen erhalten? Ich lächelte auch jetzt, mir war dies die am wenigsten wichtige Frage. Schließlich fand ich in einer Kammer, wenn auch nicht viel Platz, so doch meine Ruhe. Mein Studium war mir die Hauptsache.

Die Subskriptionsfrist auf der medizinischen Fakultät konnte in Ausnahmefällen bis in den November hinein verlängert werden, davon gedachte ich Gebrauch zu machen. Ich drängte meinen Vater. Meine Mutter stand auf meiner Seite, oder sie tat so, denn später habe ich erfahren, daß die Entscheidung über meine Zukunft bereits gefallen war, alles war längst entschieden, fest besiegelt, und zwar nicht in letzter Zeit, sondern schon seit Jahren, nach dem unseligen Geburtstagsgeschenk für meinen Vater, dem ›Diebstahl‹ des Buches über die Irren etc. Ich hatte es nicht gewußt und hätte es nie geglaubt, wenn es mir Vally nicht berichtet hätte, die nie gelogen hatte. Sie hatte ein Gespräch zwischen meinen Eltern über diesen Punkt gehört. Damals aber wußte ich von nichts. Mit Vally sprach ich kaum, obwohl unsere Leidenschaft, ein ganz anderes Gefühl als das für Eveline, aber vielleicht auch eine Art Neigung, nicht erloschen war und noch nicht erloschen sein konnte.

Ich setzte bei meinem Vater durch, daß er mich zu einer entscheidenden Aussprache – der wievielten im Lauf der letzten Jahre? – empfing, und zwar in seinem Sprechzimmer. Als ich pünktlich kam, waren noch Patienten da, sie wurden einer nach dem anderen hineingerufen. Ich sah ihre mit weißen Verbänden oder schwarzen Tüchern bedeckten Augen, sah die Brillen, hinter denen die ausgeschnittene Regenbogenhaut, die verzerrten Pupillen und die sonderbar leuchtenden Hintergründe der Augen zu sehen waren, bei denen mein Vater eine Staroperation vorgenommen hatte. Im Grunde aber sah ich nur sein Gesicht, wenn er innerhalb der Portiere aus grünem Samt auftauchte, um einen Patienten zu entlassen oder einen anderen in Empfang zu nehmen.

Endlich war ich an der Reihe. Ich trat ein. Er setzte sich nicht auf den alten, wohlbekannten Fauteuil hinter seinem Schreibtisch, sondern ging im Zimmer umher, verschwand ab und zu auch in den ›Spiegelraum‹, der sich an das Ordinationszimmer anschloß, brachte dort die Instrumente in Ordnung. Ich aber saß auf meinem Stuhl, sprach und sprach, und wußte nicht einmal, ob mir mein Vater folgte.

Unsere Unterredung dauerte nicht lange. Ich brachte meinen alten Wunsch vor. Er sagte, anfangs scheinbar gewillt, soweit wie möglich auf meine Wünsche einzugehen: ›Es hat aber doch seine Schwierigkeiten. Hast du es dir denn genügend überlegt?‹ Ich nickte. ›Und wenn du anfängst und dir dann nach ein paar Jahren der Atem ausgeht und du die Lust an der Sache verlierst, was dann? Das Medizinstudium dauert am längsten. Bringst du es nicht zu etwas Ordentlichem, hast du deine ganze Jugend vergeudet. Akademisches Proletariat? Was gibt es schlimmeres, sag selbst!‹ ›Ich werde mir alle Mühe geben‹, sagte ich. ›Ich weiß, ich weiß, daran fehlt es ja bei dir nie, aber glaubst du, daß du die nötige Begabung hast?‹ ›So begabt wie viele andere werde ich vielleicht auch sein.‹ ›Wie viele andere? Mittelmäßige Ärzte gibt es genug. Sie sind eine wahre Pest, sie richten nur Schaden an und verderben die Preise. Und vor allem: du bist zu unruhige sagte er, wie abschließend, ›ein Arzt, der diese innere Unruhe hat, verbreitet sie auch bei seinen Kranken um sich. Schon Paracelsus sagt, ein Arzt müsse seiner sicher sein und gewiß. Du bist zu weich. Ein Messer, das schneidet, muß scharf sein, sonst hilft es nicht.‹

›Ich werde auch dazu genug Kraft haben, wenn es sein muß. Ich bin nicht übertrieben weich. Ich bin ja noch jung. Es ist mir wichtig, sonst bestünde ich nicht auf meinem Willen. Du weißt ja, Papa, wie gern ich dir den Willen täte, aber ...‹ ›Aber‹, unterbrach er mich, ›immer sprichst du von Liebe. Aber eine Art Opfer bringen? Einem erfahrenen Menschen gehorchen, der dein Bestes will?! Nimm doch Vernunft an.‹ ›Nein‹, sagte ich, ›ich weiß, daß dies mein Beruf ist. Es ist ... ich handle unbedingt mit Vernunft, wenn ich dich bitte, mir keine Hindernisse in den Weg zu legen.‹ Und ich erzählte von meinen Kuren in A., die mir unlängst wieder in Erinnerung gekommen waren, von der Heilung des Bettnässers und von dem Einsetzen des ausgebrochenen Eckzahnes. ›Ach so, ach so?‹ fragte er, jetzt die Stimme zum erstenmal erhebend. ›Das beweist nur, daß ich recht habe. Du hältst diese Kunststückchen, kindisch wie du bist, für Beweise ärztlichen Könnens. Ich nur für Anlage zur Scharlatanerie.‹ ›Mir ist die Kur doch gelungen!‹ ›Beweist nichts, beweist absolut nichts. Du hast eben mehr Glück gehabt als Verstand. Was du getrieben hast, ist Kurpfuscherei. Hast du dir Rechenschaft gegeben, was geschehen wäre, wenn dir diese Wunderkuren mißglückt wären? Nein! Es wäre unverantwortlich von mir, dich auf die leidende Menschheit loszulassen. Medizin ist nicht dein Beruf.‹ ›Also, was dann?‹ ›Was dann?‹ fragte er etwas milder. ›Alles, was du sonst willst, Ich persönlich bin der Ansicht, ein Akademiker in unserer Familie sei genug. Werde Kaufmann, akademisch gebildeter Kaufmann meinetwegen. Du siehst, ich widerspreche mir, in dem Wunsch, dir Freude zu machen. Ich kann mich nicht der Vertretung aller meiner Interessen widmen. Tu dies für mich. Ich brauche einen Menschen, der treu ist. Zu dir habe ich nun einmal dies Vertrauen trotz deinen Jugendstreichen mit den Dukaten und der Unterschrift.‹ (Er lächelte voller Güte.) ›Du erbst einmal mein Vermögen, nach deiner Mutter und gemeinsam mit den Geschwistern, versteht sich. Ist es nicht besser, mein Vermögen zu erben als den aufreibenden Beruf, durch den ich es mir verschafft habe?‹ ›Aber gerade das will ich! Ich will nichts anderes, als dein Erbe in dieser Weise übernehmen. Am Geld liegt mir nichts.‹ ›Du sprichst wie ein Kind! Nein, wie ein Gymnasiast. Ein verbildetes Hirn. Höchste Zeit, daß du mit den Tatsachen des Lebens und der Wirtschaft Bekanntschaft machst ...‹ ›Aber ich will Medizin studieren!‹ wiederholte ich. ›Aber ich will es nicht!‹ ›Und warum?‹ ›Weil ich nicht will. Es ist Eigensinn bei dir, wie bei so vielen elenden Kurpfuschern, die ihren Willen durchsetzen, auch wenn der arme Patient durch ihren Starrsinn schon am Rande des Grabes ist. Mich hat man zu diesem Beruf gezwungen. Wäre ich an deiner Stelle gewesen ... Wäre ich heute so jung und hätte das ganze herrliche wunderbare Leben vor mir wie du ... ich beneide dich.‹ Ich schwieg. Inzwischen war die Tür ins Wartezimmer gegangen, was man trotz der filzgefütterten Türen des Sprechzimmers hörte, es waren neue Patienten gekommen. Mein Vater wurde etwas ungeduldig, aber ich rührte mich nicht von der Stelle. ›Ich sehe‹, sagte er endlich, ›so rühren wir uns nicht von der Stelle. Ich mache dir einen letzten Vorschlag. Du nimmst einen Kursus auf der Handelshochschule, wo du dich, soviel ich weiß, in der besten Gesellschaft befindest. Sollte es sich wider Erwarten herausstellen, daß du an Weltgeographie, Sprachen, Wechselrecht, Handelsrecht, Buchführung etc. kein Interesse hast, an Gegenständen, die mich reifen Mann brennend interessieren und in denen ich dann bei dir in die Schule gehen möchte, willst du? – wenn du es also dort durchaus nicht aushalten kannst und mir auf der ganzen Linie Unrecht gibst, so kannst du dich im Sommersemester zum Militärdienst melden, und im nächsten Herbst studiere in Gottes Namen, was du willst.‹ ›Du sagst aber selbst‹, erwiderte ich, ›daß das Medizinstudium das längste ist. Wie kannst du von mir verlangen, daß ich da noch ein Jahr verlieren soll?‹ ›Verlangen? Verlangen?‹ und seine Stimme nahm einen wärmeren Ton an, von dem kein Mensch auf Erden hätte sagen können, ob er echt oder gespielt war, ›sind wir denn Gläubiger und Schuldner, die etwas von einander verlangen? Sind wir denn nicht Vater und Sohn? Bist du nicht mein Erster, der Älteste, an den ich die meisten Hoffnungen geknüpft habe? Verstehe mich doch, bitte.‹ Er rückte nahe an mich heran. ›Was will ich denn? Deine Existenz auf Lebenszeit sichern. Ich will, daß du ein regelmäßiges, anständiges Einkommen hast, daß du eine Frau aus unseren Kreisen heiraten, sie und deine Kinder standesgemäß erhalten kannst, und daß du aus diesem schweren Leben alles herausziehst, was ein Mensch daraus holen kann.‹ ›Aber das ist kein Hindernis ...‹ unterbrach ich ihn. Er ließ mich nicht aussprechen: ›Ich habe doch nur dein Glück im Auge. Du bist jung, du kennst dich nicht. Ich bin erfahren, ich glaube dich zu kennen. Kannst du mir denn je ein gefährlicher Konkurrent sein?‹ ›Das will ich gar nicht.‹ ›Kann man uns denn je miteinander verwechseln? Nein! Leider! Ich sage es dir ganz offen, weil du mich durch deinen häßlichen, wenn auch durch deine Natur verständlichen Starrsinn dazu zwingst. Ich beobachte dich seit Jahren. Ich mache mir genug Gedanken über dich, wie es meine Pflicht ist als Vater.‹ ›Du kennst mich vielleicht doch nicht ganz‹, sagte ich, glaubte aber mir selbst nicht, als ich dies sagte. ›Ja, wenn ich annehmen könnte, daß du die geringste Begabung zu diesem undankbaren Berufe hast, so würde ich dir selbstverständlich mit tausend Freuden alle Schritte erleichtern. Dich treibt aber irgendeine Leidenschaft. Ein Mensch nun, der starken Leidenschaften unterworfen ist, ist nicht der Mann für die Leiden der Kreatur. Du hast ein gar zu reiches Herz. Du hast keine ruhige Hand.‹

Er sprach so überzeugt, daß ich in meinem Plane zum erstenmal, seitdem ich mich entsinnen kann, wankend wurde. Das Telephon auf seinem Tische schlug an. Er ließ es lange läuten. Er sah mich an, bis endlich seine Hand, die schöne, weiße Hand mit den oval geschnittenen rosigen Nägeln nach dem Hörer des Apparates tastete. Endlich sagte er, man möge später noch einmal anrufen. Er läutete kurz ab. Er kümmerte sich nur um mich. Ich war die Hauptsache. ›Hab Geduld!‹ sagte er, sehr weich. Ich sah seine Haare an den Winkeln der Stirne etwas gelichtet und die Schläfen etwas gehöhlt. ›Vertraue dich mir an. Was ist ein halbes Jahr? Wenn du inzwischen eine andere Seite des Lebens kennengelernt hast, ist es natürlich nicht verloren. Gib mir deine Hand. Schlag ein! Du wirst mir vielleicht später einmal dankbar sein.‹

Ich tat, was er wollte.


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