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Feargus O'Connor
Im vorigen Kapitel erzählte uns der alte Jackson die Bewegung der britischen Volkspartei von dem Ende des vorigen Jahrhunderts an bis zum Passieren der Reform Bill.
Der Name, welcher diesen Abschnitt schmückt, wird meinen Lesern sofort zeigen, daß ich in ihm die aus der Bewegung der alten Radical Reformers hervorgegangene Partei der Chartisten zu schildern gedenke.
Wenn ich dem Irländer Feargus O'Connor dieses Kapitel widme, so geschieht es nicht, weil ich mit allen seinen Ansichten einverstanden bin, sondern nur deswegen, weil ich in ihm einen Mann verehre, der sich durch seine Rechtlichkeit, durch seine Unerschrockenheit und durch seinen eisernen Fleiß verdienter um die Sache des Volkes als tausend andere gemacht hat. Rechtlichkeit, Unerschrockenheit und Fleiß, das ist, was ihn zum Abgott des englischen Volkes erhob, was ihm seine Stellung als Parteichef sicherte und ihm vielleicht noch lange erhalten wird. Manche seiner Kollegen überragen ihn an Verstand, an Witz, an glänzender Beredsamkeit – keiner kommt ihm gleich an jenen schönsten und wichtigsten Eigenschaften eines Agitators.
Man kann ihn angreifen, man kann ihn treten, man kann ihn mißhandeln, man kann es klar und deutlich machen, daß er manchmal ein Dummkopf war, daß er tausend und aber tausend Trivialitäten und Lächerlichkeiten beging, daß er oft mehr schadete als nutzte, daß es zu Zeiten besser gewesen wäre, wenn ihn der Teufel geholt hätte mit Haut und Haar, man könnte, wenn man alles dieses nachwiese, wirklich für einen Augenblick seinen Ruf untergraben, ihn in der Liebe des Volkes zum Wanken bringen und seinen Sturz fast bis zur Gewißheit machen – aber auch nur für einen Moment, nur scheinbar würde dies gelingen, denn gleich darauf würde er auch wieder siegreich erstehen, gleich darauf wieder lustiger als je auf die Beine springen, das Banner der Partei über den Köpfen seiner Feinde entrollend, aufs neue reich an Einfluß, an Gewalt und bewundert von Millionen.
Leicht ist es, das Rätsel der Existenz dieses Mannes zu lösen, wenn man ihn gesehen, wenn man ihn gehört hat, wenn man nur ein einziges Jahr lang seinen Schritten und Tritten folgte. Unwiderstehlich drängt sich dann die Überzeugung auf, daß er nicht nur durch seine Rechtlichkeit, durch seine Unerschrockenheit und durch seinen Fleiß emporkommen und imponieren konnte, sondern daß er auch gerade durch seine weniger guten Eigenschaften, durch seine häufige Borniertheit, durch seinen blinden Enthusiasmus, durch seinen heinebüchenen und nur zu oft trivial werdenden Humor, trotz aller Anfechtungen einen dauernden Platz in den Herzen des Volkes erobern mußte.
Denn sind es nicht eben diese weniger guten Eigenschaften, welche auch die Masse, welche auch das Volk, dieser gewaltige, ungeschliffene Riese, besitzt? Gewiß! In seinem O'Connor sieht das englische Volk sich selbst. O'Connor ist das Volk in einer Person, ausgestattet mit all seinen Tugenden und behaftet mit all seinen Lastern.
Abwechselnd himmlisch weise und niederträchtig dumm; tragisch ernst und bis zum Entzücken ergötzlich; naiv und sentimental in einem Atem; manchmal fein und gewandt wie ein Franzose und plötzlich wieder grob und plump gleich einem Shakespeareschen Stallknecht; zutraulich schmeichelnd wie ein kleines Mädchen und wiederum stolz und despotisch wie ein römischer Imperator; von Liebe lispelnd wie Heine und Hafis und in barbarischen Zoten sich ergehend trotz Meister Franz Rabelais!
Großmütig wie ein Leu, aber auch grausam wie ein Tiger; ebenso aufopfernd für seine Freunde als mißtrauisch gegen seine Feinde; ebenso enthusiastisch für das einmal Begriffene als widerspenstig gegen das Unverstandene; launig-poetisch und leichtsinnig in der Liebe und dem Wein wie der rechte Irländer; ökonomisch und wirtschaftlich besorgt gleich dem filzigsten Schotten; stolz, energisch und adlerkühn wie ein Engländer – alles das ist O'Connor!
Ein tolles Gemisch aller Volksleidenschaften, mit einem Charakter, in dem sich die Grundzüge des Volkes der Rose, der Distel wie des Klees widerspiegeln, ein Mensch, von dem man nicht weiß, ob man ihn mehr bewundern als achten soll, den man aber voll und feierlich anerkennen muß, da er alle Flammen seiner Seele, durch Rechtlichkeit, Unerschrockenheit und Fleiß geregelt, doch am Ende nur zum Wohle des Volkes zu benutzen strebt.
Doch noch andere Umstände sind es, welche die Aufmerksamkeit des Volkes an diesen außerordentlichen Mann heften. Außer dem Renommee, das er sich selbst schuf, liegt noch ein eigentümlicher Reiz über O'Connors Namen. Denn seinen Stammbaum leitet er zurück bis zu den fernsten, halbverschollenen Königen des grünen Erin, verwachsen ist der Name seines Hauses mit allen blutigen Ereignissen jener unglücklichen Insel, durch das Tosen einer jeden Revolte klingt der Ruf eines O'Connor; Vergangenheit und Gegenwart berühren sich in diesem Menschen; er ist ein vom Throne gestürzter König, der als kecker Proletarier wieder auferstand, ohne Leid um das Geschehene, mit allen Fasern seines Lebens wurzelnd in der Gegenwart und mit der Riesenfaust donnernd vor die Pforte der Zukunft, daß sie weit dem Volk sich erschließe, dem Volke und nur dem Volke.
Einem starken, wilden Geiste baute die Natur eine imposante und robuste Wohnung. O'Connor ist ein stattlicher Mann. Auf wohlgebildeten und gewandten Schenkeln und Lenden erhebt sich ein breitschultriger, brustgewölbter Oberkörper, der einen mehr interessanten als schönen Kopf von breiter, nach vorn stehender Stirn trägt. O'Connors Haare sind rot, seine Augen liegen tief, seine Nase ist aufgestülpt. In O'Connors Auftreten liegt Würde und Festigkeit; seine Gestikulation ist lebendig und bezeichnend, der Ton seiner Stimme kräftig, metallen. Man sieht sofort, daß er nicht in die Reihen der Gewöhnlichen gehört, man ahnt, daß etwas Wildes, Unbändiges in diesem Manne steckt, man ist davon überzeugt, daß man eine außerordentliche Rede hören wird, wenn er freudestrahlenden Auges auf die Tribüne steigt. Dort ist er recht an seinem Platze!
Ich werde nie den Augenblick vergessen, als ich ihm zuerst bei einem Meeting begegnete. Die Versammlung hatte lange gewartet, der Saal war gedrängt voll. Viele der Anwesenden hatten sich schon in die Fensternischen geflüchtet, um nicht erdrückt zu werden; Frauen und Mädchen wurden auf die Stufen der Tribüne gebracht. Über dem Ganzen lag eine schwere, dumpfige Atmosphäre. Die Lichter der Ampeln warfen einen trüben Schein auf die Gesichter von etwa anderthalbtausend Arbeitern. Rings herrschte eine unheimliche Stille. Wie einem Gewitter sah man dem Erscheinen O'Connors ernst und bang entgegen.
Da entstand plötzlich vor der Tür ein wildes Spektakel; im Vordergrunde des Saales wogte es toll durcheinander; die Leute drehten sich rechts und links, man bekam Rippenstöße in Menge, und unwillkürlich wurde man nach der Richtung fortgezogen, von der der Lärm ausging. O'Connor hatte die Schwelle des Saales betreten.
Von mehreren Freunden begleitet, brach er sich Bahn durch die Menge, vielen die Hände schüttelnd, manche bei Namen rufend, alle herzlich grüßend, wie ein heimkehrender Vater seine Kinder bewillkommt, und lachend und scherzend immer vorwärtsdringend bis zum Fuß der Tribüne. »There he is, there he is!« (Da ist er, da ist er!) klang es von allen Lippen, und wie im Triumphe hoben ihn die Arme seiner Getreuen auf die Höhe der Plattform. Mit einer Stimme, die im Laufe der Rede mehr oder weniger ihren ersten Ton behielt und durch ihre Einförmigkeit gewissermaßen jedes Wort in das Gedächtnis der Zuhörer graben zu wollen schien, begann O'Connor seine Rede. Ich weiß nicht recht mehr alle Details derselben; ich war damals kaum des Englischen mächtig. Nur so viel ist mir erinnerlich, daß einem halbstündigen, aufmerksamen Zuhören allmählich eine sichtbare Bewegung der ganzen Masse folgte. O'Connor hatte über dieses und jenes Bericht abgestattet, und dann folgte seine Argumentation, jetzt rückte er in das Herz seines Gegenstandes vor. Schon mehrere Male hatte er hörbarer das Brett der Tribüne mit der Rechten geschlagen, schon mehrere Male zorniger mit dem Fuße gestampft und wilder das Haupt geschüttelt. Er schickte sich an, den Angriff auf seine Feinde zu machen – die Versammlung merkte dies und ermunterte ihn durch lauteren Beifall –, es war, als hätte man einen Stier mit rotem Tuche gehetzt. Da hatte der Riese sein Opfer gepackt! Die Stimme bekam einen volleren Klang, die Sätze wurden kürzer, stoßweise drangen sie aus der kochenden Brust, die Faust trommelte wilder auf den Rand der Tribüne, das Gesicht des Redners wurde blaß, seine Glieder zitterten, der Katarakt seines Zornes hatte das letzte Wehr überflutet, und hin donnerte nun die Woge der Beredsamkeit, alles vor sich niederwerfend, alles zerkrachend, zersplitternd – und ich glaube, der Mann hätte sich totgesprochen, wenn er nicht durch einen Applaus unterbrochen worden wäre, der das ganze Haus für eine Minute lang wie in eine schwingende Bewegung setzte.
Dem stürmischen Niederwerfen seines Feindes folgte das Gemetzel der Bataille. Durch einen umfassenden Bericht des früher Geschehenen hatte der Redner den Kampfplatz vorbereitet. Durch seine Argumentation organisierte er den Angriff. Die Phalanx der Beredsamkeit rannte ihren großen Sturm – jetzt lag das Opfer, und nun sollte ihm noch jedes Glied abgerissen und jedes Gelenk abgedreht werden, damit auch nicht die Spur seiner frühem Gestalt übrigbleibe. Der Witz, der Humor, die Satire des Redners übernahmen diese Arbeit. Es war, als wenn man einen Kadaver zerrieben und zermalmt hätte. Schlag auf Schlag folgte eine Wendung, welche den sterbenden Gegner noch bis in die tiefste Seele hinein verwunden mußte; Schlag auf Schlag eine Sentenz, die ihn mit Hohn und Verdammnis bis in den Tod begleitete. Der Kopf des Redners hatte sich zwischen die Schultern zurückgezogen, seine Hände faßten krampfhaft den Rand der Tribüne, regungslos stand er so da, und nur seine Augen blitzten, nur seine Zunge zischte Gift und Galle – da war das Opfer verblutet.
Der Sieger erhob sich in seiner ganzen Größe, das Lied des Triumphes anstimmend, voll jubilierenden Hohnes. Der Argumentation, dem Feuer der Beredsamkeit und dem vernichtenden Teile des Vortrags folgte der Pomp und das Pathos der Rhetorik. Wie unter klingendem Spiele hielt dann der Redner seinen Einzug in die Herzen des Volkes, indem er, den Alten gleich, die ihre überwundenen Feinde beim Triumphzuge mit durch die Straßen der Städte schleiften, noch einmal alle beseitigten Schwierigkeiten seiner Rede samt der eignen Überlegenheit an dem Gedächtnis der Zuhörer vorüberführte, sie des fernern Gelingens ihrer Anstrengungen versichernd und der Lust einer glorreichen Zukunft.
O'Connor sprach etwa drei Stunden lang an jenem Abend. Sein Eindruck auf die Versammlung war unbeschreiblich. Mehr als einmal trockneten die Weiber, welche den Redner auf der Tribüne umringten, ihre heißen Tränen von den Wangen, mehr als einmal brachen sie in den unendlichsten Jubel aus. Auf den Gesichtern der Männer las man, was in ihren Herzen vorging, die Stimmung des Redners spiegelte sich in ihnen wider.
Die Irländer, welche bei dem Meeting zugegen waren, kannten für ihren Enthusiasmus, wie gewöhnlich, keine Grenzen. Sie drängten sich mehrere Male durch die dichtesten Haufen, sprangen an der Tribüne hinauf und drückten O'Connors Hände. Einen Menschen, den man für einen Spion oder für einen Unruhstifter hielt, ergriff man und warf ihn über die Köpfe der Versammlung von einer Hand zur andern durch die ganze Länge des Saales, absichtliche Stöße den unwillkürlichen hinzufügend und an der Tür des Saales durch einige Fußtritte seine schnelle Abreise höchst befördernd.
Das Amt eines Agitators gehört indes nicht zu den erfreulichsten und leichtesten. Man muß eine Konstitution wie O'Connor haben, um nicht allein drei volle Stunden in einem dumpfigen Raume mit gleicher Kraft sprechen, sondern um auch solche Meetings wochenlang hintereinander fortsetzen zu können. O'Connor tut das eine wie das andere mit derselben Leichtigkeit. Von London aus, wo er seinen Sitz hat, unternimmt er bisweilen Streifzüge in die Fabrikdistrikte Englands und Schottlands. Die Nacht verstreicht dann nicht selten auf der Eisenbahn oder im Wagen. Am frühen Morgen hat er den Ort seiner Tätigkeit erreicht; er besucht seine Anhänger, läßt sich alles Wichtige und Unwichtige von ihnen erzählen, setzt sich dann hin und schreibt Artikel darüber für sein Journal, den »Northern Star«; der Nachmittag kommt, er wird zu Ausflügen in die Umgegend verwandt; endlich wird es Abend, die Stunde des Meetings hat geschlagen, von allen Seiten nahen Zuhörer, und bald steht O'Connor auf der Tribüne. Er spricht drei oder vier Stunden lang, die Sitzung zieht sich bis tief in die Nacht hinein und wird nicht selten nach geschlossenen Debatten bei einem kleinen Mahle noch bis 3 oder 4 Uhr morgens fortgesetzt. Da springt der Unermüdliche auf; er geht zu Bett oder wirft sich wohl noch gar in einen Wagen, fährt nach dem nächsten Orte und beginnt bei Sonnenaufgang seinen neuen Tag, gerade wie er den kaum vergangenen schloß. Und so treibt er es oft vierzehn Tage lang.
In der Nummer des »Northern Star« vom 6. November 1847 gibt O'Connor die Beschreibung einer solchen Reise. Es heißt darin wörtlich: »Vor allem, meine Kinder«, so redet er häufig die Chartisten an, »laßt euch erzählen, was ich in der letzten Woche tat, damit ihr euch davon überzeugt, daß euer Vater seine Energie noch nicht verloren hat. Am Montag war ich bei dem Meeting in der ›Kran- und Ankertaverne‹ in London; die Nacht verstrich, und ich saß mit unserm Freunde Roberts auf bis um 3 Uhr morgens. Am Dienstag reiste ich nach Manchester und verteidigte mich in einem Ofen und nahm Gelder in Empfang zwischen Tür und Fenster im Zuge – genug, um jeden andern zu töten. Es dauerte bis ½2 Uhr morgens, und um 4 war ich erst im Bette. Am Mittwoch fuhr ich nach Nottingham, verteidigte mich in einem warmen Bade, nahm Gelder in Empfang bis ½12 nachts und ging erst zu Bette um ½3 Uhr morgens. Am Donnerstag ging ich wieder nach London und legte dem Direktor unsrer Bank Rechnung über alle empfangenen Gelder ab, ordnete auch alles unserm Finanzsekretär und schrieb meinen Brief an euch in der letzten Nummer des ›Star‹. Am Freitag eilte ich nach Herringsgate und verteilte die Prämien an unsre Leute und inspizierte ihre Ländereien, fuhr auch noch am Abend zurück nach London und ging am Samstag nach Minster, um unsern dortigen Freunden 25 Säcke Weizen zur Aussaat zu bringen – ein nettes Geschäft für ein englisches Parlamentsmitglied. Dies ist nun auch vorüber, und jetzt will ich euch allerlei Wichtiges mitteilen.« – So schließt er, und dann folgt ein Artikel von neun eng gedruckten Spalten, in dem er sich gegen die Angriffe der Whigs verteidigt, mit einer solchen Gewandtheit und Genauigkeit, als hätte er vier Wochen Zeit gehabt, um sich vorzubereiten. – Ich frage meine Leser, ob ein Mensch auf der weiten Welt tätiger sein kann als dieser Feargus O'Connor?
Ergötzlich ist es, die Titel zu lesen, unter denen O'Connor seine Adressen an das Volk erläßt. Da heißt es: »Meine teuern Freunde«; oder: »An meine Kinder und teuern Freunde in England«; oder: »An die alte Garde«; oder: »An die, welche in Faulheit ohne Arbeit leben, und an die, welche gern arbeiten möchten, aber hungern müssen«; oder: »An die alte Garde, die Barchent-Jacken, die schwieligen Hände und die ungeschorenen Kinnladen« (To the old Guards, the Fustian Jackets, the blistered hands, and unshorn chins).
Die Zärtlichkeit der Chartisten gegen ihren Chef ist aber nicht weniger groß. Mehr als einmal geschah es schon, daß man den Namen desselben vollständig bei der Taufe benutzte und einen Knaben William Feargus O'Connor Thompson oder Richard Feargus O'Connor Jackson nannte, zum großen Ärger freilich der Geistlichkeit, die lieber jeden Namen des Kalenders als den des wilden Irländers gebraucht hätte.
Wie schon bemerkt, stammt O'Connor aus einer der ältesten irischen Familien. Seine Besitzungen waren nicht unbedeutend und würden ihn wie so manchen andern sorgenfrei haben leben lassen, wenn nicht die mit der höchsten Uneigennützigkeit geführte Volksagitation manche Kosten mit sich gebracht hätte, welche den Betrag seiner Revenue überstiegen. Die Güter, welche O'Connor in Irland besaß, mußten daher teilweise verkauft werden. Die Besitzungen, welche ihm blieben, verschuldeten sehr. Als Barrister-Advokat hätte er natürlich das Fehlende ersetzen können, denn er verstand sich nur zu gut auf das verwickelte englische Rechtswesen, alle übrige Beschäftigung absorbierte aber bald die den Volksinteressen gewidmete Tätigkeit, so daß endlich die Anlage eines Journals das einzige Mittel schien, um den unermüdlichen Agitator vor dem Ruin zu schützen. Dieses Volksorgan, wie man es im eigentlichsten Sinne des Wortes nennen kann, entstand im Jahre 1837 unter dem Namen »The Northern Star« und erfüllte einen doppelten Zweck, indem es nicht allein den Redakteur und den Chef der Chartistenpartei durch seine große Verbreitung pekuniär sicherstellte, sondern auch alle Angelegenheiten des Volkes in geeigneter Darstellung zusammenfaßte.
Das Verschulden der Güter O'Connors und eine Existenz, die auf täglicher Arbeit begründet waren, trugen außer der unermüdlichen Agitation dieses Mannes nicht wenig dazu bei, um ihm dauernden Einfluß bei dem Volke zu sichern; denn wenn man es auch in England gewohnt ist, daß jeder sich für jeden Dienst in barem Gelde bezahlen läßt, so gibt es doch nur zu oft zu allerlei Mißtrauen Veranlassung, wenn ein Agitator, des lieben Lebens wegen, manchmal aus seiner politischen Stellung eine Domäne machen muß. Glücklicherweise hat sich O'Connor vor dieser schiefen Position zu bewahren gewußt.
Neben seinem Fleiße und seiner festen Rechtlichkeit brachte der Irländer indes noch eine dritte Eigenschaft mit nach England herüber. Es war dies die Unerschrockenheit eines Löwen. Wenn er durch das eine seiner Stellung die eigentliche Grundlage gab, durch das andere Freunden und Feinden Achtung einflößte, so imponierte er durch diesen dritten Hauptzug seines Charakters und machte dadurch die Fülle seiner Erscheinung vollständig.
Ein breitschultriger Riese, der die Keule ebensogut schwang, als er behend mit dem Dolche spielte, fiel er seine Feinde an; jede Rücksicht beiseiteschiebend und nur sein Ziel vor Augen; mit der Feder die tausend und aber tausend Angriffe der Presse erwidernd und mit der Kraft seiner Lunge jeden Feind niederdonnernd, der ihm auf offenem Markte oder in den Räumen des Parlaments begegnete; ebenso unumwunden in der Wahl der Menschen, die er für die Sache des Volkes benutzen wollte, als rücksichtslos in der Weise, wie er sie desavouierte, sobald sie ihren Bestimmungen nicht ferner entsprachen; den ersten Lord der Pairskammer und den reichsten Fabrikanten Manchesters nicht mehr schonend als den letzten Arbeiter, der seinen Plänen zu widerstehen wagte; allen Spionen des Gouvernements, allen Bestechungsversuchen seiner Feinde und allen Verlockungen seiner falschen Freunde mit gleicher Kälte trotzend; seiner Sache getreu in dem einen Jahre wie in dem andern, auf dem Dreifuß des Redaktionsbüros, auf der Höhe der Tribüne, vor den Schranken des Gerichts oder in der Nacht des Gefängnisses. Wie Börne von Goethe, so kann man noch viel mehr von O'Connor sagen: »Wie eine Mauer stand dieser Mensch im Leben da.«
Gehen wir indes nach dieser Schilderung unseres Helden auf den Verlauf der politischen Ereignisse zurück. Im vorigen Kapitel berührten wir die Volksbewegung bis zum Passieren der Reform Bill.
Wie wir sahen, nahm diese große Maßregel alle Geister in Anspruch. Reformers und Radical Reformers, die sich seit dem Manchester Massacre mehr wie je als zwei geschiedene Klassen herausstellten, hatten sich für einen Augenblick wieder bei dieser Gelegenheit die Hände gereicht; die Reformers sahen in der Reform Bill das Ziel ihrer Wünsche, die Radical Reformers betrachteten sie wenigstens als einen Fortschritt. Den vereinten Anstrengungen hatte natürlich denn auch das erwartete Resultat folgen müssen – die Reform Bill wurde Gesetz des Landes; sie war die Niederlage der Aristokratie, ein vollkommener Sieg der Bourgeoisie und ein Fortschritt in der Bewegung der Volksmasse.
Aus diesem Grunde, weil sie nämlich nur ein Fortschritt für die Volkspartei war, löste sich daher auch die Vereinigung der beiden Reformparteien in demselben Augenblick wieder, wo der einstweilige Zweck ihrer Allianz erfüllt war. Die Reformers wurden konservativ in der Reform des Parlamentes, die Radical Reformers blieben revolutionär. Sie hatten sich gegenseitig benutzt; zwei ehrliche, offene Feinde, drehten sie sich wieder den Rücken. Aufs neue begann die alte, eingewurzelte Antipathie. Beschäftigen wir uns mit den daraus entstehenden Konflikten.
Es ist ein gewagter Stoff, den wir uns geben. Zu kolossal, als daß er auf so beschränktem Raume von unserer Feder auch nur flüchtig berührt, geschweige erschöpft werden könnte. Machte nicht schon der leider zu früh geschiedene Buret in seinem trefflichen Werke darauf aufmerksam, daß man die gigantischen Anstrengungen des englischen Volkes, namentlich was die letzten zehn oder fünfzehn Jahre angeht, einzeln schildern müsse, um nur eine entfernte Idee davon zu geben? Er hatte recht. Eine Menschenmasse vieler Millionen hat man vor sich, die zwar alle ihre Tätigkeit zu einem einzigen Zweck vereinigen, die sich aber zugleich in so vielen partiellen Kämpfen und Bewegungen Luft machen, daß das eine unwillkürlich mit dem andern zusammenfließt und die Aufstände der Kohlenarbeiter, die Revolten der Bevölkerung Lancashires und Yorkshires oder die Vorfälle in Birmingham und Sheffield einzeln geschildert werden müßten, wenn man ein richtiges Bild der großen politischen Gesamtbewegung entwerfen wollte.
Die alten Helden der Reformbewegung waren allmählich vom Schauplatz verschwunden. Cartwright, Cobbett und Hunt, sie sanken hinab, ohne das Ziel ihrer Wünsche erreicht zu haben. Eine Nation energischer Männer feierte aber ihr Angedenken, und an die Stelle der Geschiedenen traten jüngere und nicht weniger rastlose Kämpfer »der alten guten Sache«.
Robert Owen und Feargus O'Connor. Ehe wir den Anstrengungen des letztern bis in die jüngste Zeit folgen, wollen wir die Laufbahn des erstern mit einigen Worten berühren. Das Auftreten Owens brachte seit der Reform Bill eine gewisse Spaltung unter der Volkspartei hervor, die sich erst vor etwa zwei Jahren wieder ausgeglichen hat. Owen sammelte nämlich die Leute um sich, welche alle ferneren Reformen nur durch moralische Gewalt durchsetzen wollten, anders wie O'Connor, der auch der physischen Gewalt das Wort redete.
Robert Owen wurde im Mai 1771 geboren und wanderte aus seiner Vaterstadt Newtown in Montgomeryshire früh nach London, wo er als Gehilfe eines Handlungshauses Beschäftigung fand. Wenig schien ihm diese Tätigkeit indes zu behagen, denn schon im sechzehnten Jahre wandte er sich nach Manchester und begann dort für eigne Rechnung ein kleines Spinngeschäft. Merkwürdig ist es, daß er zu dieser Zeit den ersten Ballen Baumwolle verarbeitete, der je von Nordamerika nach England verschifft wurde. Im zwanzigsten Jahre übernahm er die Leitung einer neuerrichteten, sehr bedeutenden Spinnerei für feine Garne, der ersten, die in der Welt erbaut wurde, und prosperierte dadurch so sehr, daß er sich schon nach mehreren Jahren bei einem andern nicht weniger großen Etablissement als Associé beteiligen konnte. Während der junge intelligente Mann auf diese Weise industriell tätig war, hatte er indes nicht versäumt, auch andere Sachen durchzustudieren. Naturwissenschaften, Theologie und Philosophie zogen ihn wechselweise an; seine Kenntnisse vermehrten sich, und seine Urteile geschahen von einem höhern Standpunkte aus. Es konnte daher nicht fehlen, daß er sehr bald des Widerspruches inne wurde, der in seiner praktischen Lebensstellung und in der innern Stimme seines besseren Selbst lag. Als praktischer Mann begriff er natürlich alle Vorteile und Segnungen, welche aus einer fernern Entwicklung der Industrie für alle Welt entstehen mußten; der Geist der Humanität, der ihn durch das Studium der Wissenschaft anwehte, machte ihn aber auch darauf aufmerksam, wie nur dann diese Segnungen dauernd sein könnten, wenn Vernunft und Menschlichkeit jene kolossale Entfaltung materieller Verhältnisse zu leiten begännen. Es drängte daher den jungen eifrigen Mann, diese Widersprüche sofort zu versöhnen, indem er die zwei großen Klassen der Gesellschaft, die Besitzenden und die Nichtbesitzenden, über ihre Stellung klar machte und ihnen zu zeigen suchte, wie nicht durch die bisherige barbarische Exploitation der beiden Klassen, sondern nur durch gegenseitige Liebe und Hilfeleistung der eigentliche Nutzen, das wahre Glück aus jenen großen industriellen Erfindungen gezogen werden könne, welche das Schicksal nicht zugunsten einzelner, sondern zum Besten aller verliehen habe.
Die Umrisse des neuen Systems der Gesellschaft, mit dem sich Owen herumtrug, glaubte er ihrer Richtigkeit nach dadurch am besten erproben zu können, daß er sie selbst praktisch in Anwendung brachte. Sie gründeten sich vor allem auf einer andern als der bisherigen Volkserziehung, und er kam deswegen mit seinen Geschäfts-Associés dahin überein, daß man die großen Spinnereien und Fabriken von New Lanark, welche ungefähr 2500 Menschen beschäftigten, an sich brachte. Mit diesen nebeneinander wohnenden, nützlich beschäftigten Leuten wollte Owen seinen Versuch beginnen, indem er sich bestrebte, dieselben zu glücklichen Menschen zu erziehen.
Es ist nicht zu leugnen, daß dieser edle Vorsatz von vielem Erfolge gekrönt wurde. Treffliche Schulen für das heranwachsende Geschlecht, Sorge für reinliche, wohlgebaute Wohnungen, Herbeischaffung von gesunden, wohlfeilen Nahrungsmitteln, Unterhaltung und Belehrung für Erwachsene – alles dies machte die Arbeiter von New Lanark zu den glücklichsten und zufriedensten, die es vielleicht je in England gab. Owen hatte einen Teil seines Zweckes erreicht; er hatte Segen über eine ganze Landschaft verbreitet, und sein Name war weit und breit gefeiert.
Damit hatten aber auch alle Erfolge ein Ende; vor allen Dingen regten sie zu wenig Nachahmung an, denn leider zeigte es sich, daß Owen, nachdem er vom Jahre 1799 bis 1829 dem Etablissement von New Lanark vorgestanden, nicht nur wenig für sich verdient hatte, sondern daß auch sein früheres Vermögen durch die so herrlich gelungenen philanthropischen Experimente verlorengegangen war. Manche industriellen Kollegen des Herrn Owen mögen laut aufgelacht haben, als sie dies erfuhren. Es zeigte sich, daß man durch persönliches Aufopfern zwar andere Menschen glücklich machen kann, daß aber solche edlen Beispiele selten andere Leute veranlassen, aus der Starrheit der noch zur Stunde bestehenden Eigentumsverhältnisse ebenso liebreich und philanthropisch herauszutreten.
Es ist nicht zu ermessen, inwieweit Owen über die Natur seiner Bestrebungen in New Lanark mit sich im reinen war – genug, er setzte die Agitation für seine Ideen ruhig fort, abwechselnd England, Frankreich, Deutschland, die Vereinigten Staaten und Mexiko durchreisend und alle Gouvernements mit Vorschlägen besserer gesellschaftlicher Einrichtungen bombardierend.
In seinem Werke »The Book of the New Moral World«, London 1842, in dem der Verfasser seine sämtlichen Ideen niederzulegen suchte, finden wir als Basis des »Rational System of Society« folgende fünf »Fundamental Facts« hingestellt.
In den Meetings der Anhänger Owens, der sogenannten englischen Sozialisten, werden diese fünf »Fundamental Facts« jedesmal vor dem Beginn der Verhandlungen wie ein Abschnitt aus dem Katechismus vorgelesen, so daß man also großen Wert darauf zu legen scheint. Ich muß es meinen Lesern überlassen, in dem Buch von der neuen moralischen Welt nachzulesen, wie Owen auf diesen »Fundamental Facts« sein ganzes System erbaut. Mit wahrhaft bewunderungswürdiger Weitschweifigkeit hat er darin nachgewiesen, wie die Menschen nicht sind und wie sie wohl sein könnten und wie erst dann etwas mit ihnen anzufangen sei, wenn sie ganz und gar umerzogen wären.
Wir gehören nicht zu den Bewunderern solcher Systeme und halten es jedenfalls für das beste, die Menschen einstweilen so zu nehmen, wie sie sind. Owen scheint es selbst für geraten gehalten zu haben, hierauf überzugehen, indem er, nach einem von den Herzögen von Kent und Sussex geleiteten, aber schon im Entstehen gescheiterten Versuche, aufs neue mit seinen Anhängern in England ein auf Aktien basiertes Unternehmen begann. Dies war die unter dem Namen »Harmony Hall« im Süden von England errichtete Anstalt, welche, von teilweise sehr fruchtbaren Feldern umgeben, ihren Bewohnern neben einer Beschäftigung als Handwerker sogleich eine landwirtschaftliche Tätigkeit verstattete. Das ganze Etablissement war unter Owens eigenen Augen nach seinem eigenen Plane errichtet; die Ökonomie des Zusammenwohnens, Essens und Trinkens, ohne für die einzelnen Individuen unangenehm und beengend zu sein, sollte den Bewohnern einen höhern Grad der Lebensgenüsse erlauben, indem die Produktionskosten ihrer Arbeiten dennoch ein Konkurrieren mit der übrigen Gesellschaft möglich machten. Während die erwachsenen Personen auf diese Weise, ähnlich den Arbeitern von New Lanark, einer bessern materiellen Lage sich erfreuen und durch geselligen, musikalisch, theatralisch und wissenschaftlich verschönerten Umgang noch jene Bildung erhalten würden, welche ihrer Jugend fehlte, wollte man in dem neuen Etablissement zugleich eine Knaben- und Mädchenschule auf großartigem Fuße errichten, um nicht nur die Kinder von Harmony Hall, sondern auch die von den Aktionären und sonstigen Freunden des Owenschen Systems zur Pflege übergebenen Zöglinge von vornherein zu jener Mustergeneration heranzubilden, von der Owen das vollkommene Gelingen seines Systems abhängig machte.
Ein durch Aktien unter der Arbeiterwelt und der kleinen Mittelklasse Großbritanniens aufgebrachter Fonds von fast 40 000 Pfund Sterling (etwa ¼ Million Taler) machte die Ausführung aller dieser Pläne möglich. Die Werkstätten füllten sich mit Handwerkern, die Felder mit Ackerbauern und die Schulen mit Kindern, und im Jahre 1838 war die Anstalt im besten Zuge.
Als ich einige Jahre später nach England kam und in dem von den Schülern Owens in Harmony Hall selbst herausgegebenen Journal »The New Moral World« die genauesten Berichte über diese Anstalt las und auch sonst von meinen Freunden viel Lobenswertes darüber hörte, fühlte ich das Bedürfnis, mich mit eigenen Augen von dem Gelingen des Unternehmens zu überzeugen, und machte mich deswegen von London nach Harmony Hall auf den Weg. Nach zwei Tagen war ich an Ort und Stelle und wurde aufs freundlichste von den Bewohnern empfangen. Wider Erwarten fand ich alles ausnehmend schön. Die Bauart der großen Halle sowie die der sämtlichen Nebengebäude war höchst elegant. Breite, bequeme Treppen führten zu den verschiedenen Etagen, und in den Zimmern herrschte überall Ordnung und Reinlichkeit, ja manche schienen mir zu gut und zu luxuriös für die Beschäftigung der Bewohner eingerichtet zu sein. Fast alle Leute der Anstalt sahen sehr wohl und munter aus; mit vielem Anstand ließen sie sich zu ihrem Diner nieder, und ich muß gestehen, daß ich oft in meinem Leben schlechter als in Harmony Hall gegessen habe. Die Kinder waren nicht weniger vergnügt als ihre Eltern und Freunde; nach beendigtem Unterricht tummelten sie sich lustig auf dem großen Hofraum umher, der von blühenden Gärten und lachenden Feldern eingefaßt war.
Die ganze Bevölkerung von Harmony Hall kam mir wie eine große glückliche Familie vor, bei der sich Wohlstand und gute Sitte bis in die kleinsten Details hinunter zeigte. Mit den besten Wünschen für ihr ferneres Wohlergehen verließ ich meine Wirte und würde mich gern der reinsten Freude über so frohe, zufriedene Menschen hingegeben haben, wenn sich mir nicht noch immer der Gedanke aufgedrängt hätte, daß all diese Glückseligkeit doch am Ende nur auf dem Ruin der armen Aktionäre begründet sein könne. Leider verwirklichten sich diese Befürchtungen nur gar zu bald. Einigen vorläufigen Bemerkungen folgte ein dringendes Mahnen um fernere Geldbeiträge von Seiten der Gesellschaft. Es zeigte sich, daß man mit dem ursprünglichen Kapital nicht ferner mehr auskam; die Aktionäre wurden unruhig, man verlangte eine genaue Rechnungsablage und erschrak nicht wenig, als man nach den Tabellen des Sozialistenorgans, der »New Moral World«, schließlich fand, daß der eingeschossene Fonds schon zur Hälfte aufgezehrt war. Die Geschichte kam nun ins Stocken, einige unwillige Gläubiger meldeten sich, und man mußte liquidieren; die Gesellschaft löste sich auf.
So endete der zweite, ziemlich großartige Versuch, das System Owens praktisch zu verwirklichen. Bei dem ersten in New Lanark hatte Owen selbst die Kosten bezahlt, bei dem zweiten in Harmony Hall zahlten die Aktionäre die Zeche. Wiederum hatte es sich gezeigt, daß trotz aller Ökonomie in der Einrichtung großer, gemeinschaftlicher Gebäude dennoch ein Konkurrieren mit der übrigen Gesellschaft, deren Prosperität auf dem Elende der Arbeiter begründet ist, unmöglich wird, wenn die Arbeiter der gemeinschaftlichen Anlagen viel besser leben wollen als ihre Kollegen da draußen.
Sehr wahrscheinlich werden ähnliche Unternehmungen, falls man daran noch wagen sollte, nur zu ähnlichen Resultaten führen.
Abgeschnitten und unberührt vom ganzen übrigen Weltverkehr mögen sie im fernen Westen von Amerika oder sonst in einem Winkel der Welt wohl gelingen – solange sich aber eine Gemeinschaft noch den ökonomischen Gesetzen unterwirft, welche die übrige Welt rings um sie herum regieren, so lange wird sie auch die Konsequenzen dieser Gesetze tragen müssen. Der Zukunft und einer noch gewaltigern Entwicklung des Proletariats wird es überlassen bleiben, etwas dauernd Großes und Umfassendes an die Stelle unsrer heutigen Verhältnisse zu setzen. Die Philanthropie eines Owen ist nichts im Vergleich zu den Ereignissen, welche die eherne Notwendigkeit mit sich bringen wird.
Kurz nach dem Scheitern der Unternehmung von Harmony Hall wurde ich mit dem alten Owen bekannt gemacht. Ich sah einen alten, ehrwürdigen Mann vor mir, auf dessen Gesicht ein feierlich friedlicher Ernst lag. Seine kleinen klugen Augen schimmerten freundlich durch die ergrauten Wimpern. Er sprach wenig und spielte mit zwei Kindern, die er auf den Knien wiegte. Als er hörte, daß ich ein Deutscher sei, erzählte er von seinen Reisen in meiner Heimat, erwähnte seine Unterredungen mit Humboldt und Raumer und schien sich namentlich über die Gunstbezeugungen des früheren Königs von Preußen und Ludwigs von Bayern nachträglich zu freuen. Ich vermied es, auf die philanthropischen Bestrebungen und auf das System des alten Mannes einzugehen. Einer der Anwesenden begann aber aufs neue über den Fall von Harmony Hall zu jammern, und mit dem ruhigsten Tone bemerkte der Greis, daß er dies vorhergesehen habe, daß aber die Zukunft seines Systems gedenken werde. Am folgenden Morgen begleiteten wir den alten Herrn nach der Eisenbahnstation. Er begab sich nach Liverpool, um von da seine siebte Reise nach den Vereinigten Staaten zu machen. Bei seinem früheren Aufenthalt in Amerika war er schon entschlossen gewesen, nicht mehr nach England zurückzukehren; als aber Harmony Hall am Wanken war, kam er noch einmal herüber, um bei dem englischen Gouvernement eine Summe von 6000 Pfund Sterling zu reklamieren, die er einst der Gemahlin Georgs IV. vorgeschossen hatte und die jetzt seinen Schülern aus der Klemme helfen sollte. Vergebens hatte er sich um dieses Geld bemüht; es war nicht zu erhalten, und Harmony Hall mußte fallen.
Jetzt nahm der gute Mann auf ewig von seinen Jüngern in England Abschied. Ich fürchte mich vor rührenden Szenen – ich machte mich aus dem Staube, als wir in die Station traten. Einige Minuten nachher kehrten die weinenden Schüler stumm und traurig zu mir zurück. Der Alte war fort.
Wie ich höre, soll er jetzt abwechselnd den Mississippi und den Ohio befahren, auf den Dampfschiffen während der Reise Vorträge haltend, und dann wieder zu seinem Sohn Robert Dale Owen nach New Harmony in Indiana zurückreisen, wo das System des großen Philanthropen wirksamer als in England ausgeführt zu sein scheint. Einen eigentümlichen Reiz hatte es, diesen merkwürdigen Mann gerade in dem Augenblicke zu sehen, wo er auf immer von einem Lande Abschied nahm, dessen großartige industrielle Entwicklung er mehr als viele andere in ihren ersten Keimen beobachtet hatte, eine Entwicklung, die ihn selbst einst mit Reichtum überschüttete, die ihn aber auch nicht die Schattenseiten übersehen ließ, welche sie an sich hatte, und ihn zu jenen Forschungen gesellschaftlicher Zustände führte, denen wir viel Wahrheit und Belehrung entnehmen können.
Das Gold, das ihm die Industrie gegeben, er gab es wieder hin, um die Leiden zu heilen, welche die Industrie mit sich brachte.
Daß seine philanthropischen Versuche im größern Maße an der Barbarei unsrer heutigen Zustände scheitern mußten, es war natürlich. Aber ein Vorläufer jener großen Reformer wird er bleiben, die uns die Welt in ihrer Entwicklung bringen muß. Als solchen wird man ihn immer nennen und verehren. Der Dank vieler Tausende, die er glücklich machte und die noch heute leben, er fehlt ihm nicht.
Gehen wir nach diesen wenigen Mitteilungen über die durch Owen repräsentierte sozialistische Fraktion der englischen Volkspartei wieder auf die weit bedeutendere durch Feargus O'Connor vertretene politische Bewegung über. Sie beschäftigte sich nach dem Passieren der Reform Bill zunächst mit dem anscheinend unwichtigen, aber im Grunde höchst bedeutsamen Gegenstande des Herabsetzens der Stempel-Taxen für Zeitungen.
Vor und während der Agitation für die Reform Bill hatte sich unter dem Volke die Lust des Zeitungslesens ungemein vergrößert. Dies war natürlich. Jeder wollte sich über das, was im Lande vorging, unterrichten, und gierig fiel man über alle Blätter her. Leider kostete aber jede Nummer allein an Stempel 4 d (etwa 3½ Sgr.), so daß es unbemittelten Leuten fast unmöglich war, ihre Neugierde immer zu befriedigen. Ein Umgehen des Stempels war daher bald an der Tagesordnung, und zahllose Journale erschienen, die der Strafe des Ohne-Stempel-Publizierens zu trotzen wagten.
Während der Aufregung der Reform-Agitation würde es umsonst gewesen sein, wenn man die Herausgeber der verschiedenen Blätter jedesmal hätte belangen wollen, denn für jeden Ruinierten würde sich schnell ein neuer eingestellt haben; auch mochte dem Gouvernement hin und wieder wohl daran gelegen sein, daß alle Neuigkeiten soviel als möglich unter das Volk drangen, so daß man dann ein Auge über das Vorfallende zudrückte.
Als indes die große Bewegung zu Ende war, da brach man nur zu schleunig über die plötzlich allerorts erschienenen Journale her, Konfiskationen erfolgten in Masse, und das Volk, das sich noch eben der billigen Lektüre erfreut hatte, sah sich zu seinem großen Ärger wieder in der traurigen Lage, alle Nachrichten entbehren zu müssen. Ein allgemeiner Schrei des Unwillens tönte daher von einem Ende Englands bis zum andern; eine regelrechte Agitation begann gegen den verrufenen Stempel, und das Gouvernement sah sich denn auch zuletzt genötigt nachzugeben, indem es den Stempel von 4 auf 1 d ermäßigte. Diese Maßregel passierte das Haus der Commons im August 1836.
Während man die Agitation gegen die Stempel-Taxe führte, hatte indes noch eine andere Sache die Gemüter des Volkes und namentlich der industriell beschäftigten Arbeiter in Anspruch genommen. Dies war der Umstand, daß man sich endlich im Unterhause mit etwas Ernst den Untersuchungen über den Einfluß des Fabriksystems auf die arbeitende Klasse hingab. Infolge vieler Klagen war schon im Jahre 1818 eine Bill Sir Robert Peels zur Regulierung der Arbeitsstunden in den Fabriken passiert; in 1825 und 1831 passierte eine zweite und eine dritte Bill, »da aber«, wie der Dr. Wade in seiner »Geschichte der Middle and Working Classes« sagt, »die scheußliche Barbarei in den Manufakturdistrikten fortfuhr, so wurde ein neuer Akt nötig. Es zeigte sich durch den Bericht eines parlamentarischen Komitees, welches die wahrhaft entsetzlichen Grausamkeiten der Fabrikbesitzer aufdeckte, daß alle bisherigen Maßregeln die niedrigen Leidenschaften jener Leute nicht im Zaume zu halten vermochten und daß sie in ihrem Drang nach Gewinn kaum von den Spaniern an Barbarei übertroffen wurden, als letztere einst voll Goldgier über das neuentdeckte Amerika herfielen.«
Der Bericht des Parlament-Komitees, wovon Wade spricht, behandelt namentlich die in den Baumwollspinnereien gegen die Arbeiter verübten Grausamkeiten und füllt nicht weniger als 600 Folioseiten. Es geht daraus hervor, daß es nichts Ungewöhnliches war, wenn man fünfzehn- oder sechzehnjährige Knaben von 4 Uhr morgens bis ½12 Uhr nachts in einem fort arbeiten ließ, daß manche Kinder sich gewöhnlich nachts in den Wollmagazinen verbargen, um dort zu schlafen, weil sie zu müde waren, um nach Hause zu gehen, und daß kleine Mädchen, stehend bei ihren Maschinen eingeschlafen, gar nicht bemerkt hatten, daß diese stillgesetzt waren, und noch immer die Bewegungen machten, mit denen sie wachend den Lauf der Spindeln begleiteten. Im Juli 1833 brachte dann Lord Ashley seine 10-Stunden-Bill vor das Parlament, die aber verworfen wurde, indem man ein Amendement Lord Althorps annahm, wonach einstweilen nur die Arbeiter beschützt werden sollten, welche zu jung seien, um sich selbst helfen zu können.
In dem dann votierten Fabrik-Regulations-Akt stellte man fest, daß kein Kind vor dem neunten Jahre beschäftigt werden und daß kein Kind unter 11 Jahren mehr als 48 Stunden in einer Woche arbeiten solle, auch nicht mehr als 9 Stunden in einem Tage. Nach dem 1. März 1835 erstreckte sich diese Maßregel auf Kinder unter 12 Jahren, nach derselben Zeit in 1836 auf alle unter 13. Personen unter 18 Jahren sollten nicht mehr als 69 Stunden in der Woche arbeiten.
Es läßt sich leicht denken, daß diese Versammlungen aufs eifrigste von der Volkspartei überwacht wurden; der durch das Passieren der Reform Bill immer größer gewordene Haß zwischen der industrietreibenden Mittelklasse und den alten Torys war Schuld daran, daß auch letztere namentlich im Parlamente dafür stimmten. Außer dem Hause hatte der Tory Richard Oastler vor allen andern das Wort geführt und sich so populär gemacht, daß ihn die Arbeiter nicht anders mehr als »King Dick« (König Dick) nannten und ihn nicht selten bei einem Meeting durch ihre Kinder mit Blumen bekränzen und nach dem Schluß der Sitzung wie im Triumphe wieder nach Haus führen ließen. Noch bis zur Stunde weiß der jetzt ziemlich alt gewordene Mann seinen Namen mit alledem, was die Fabrikkinder angeht, zu verbinden, und ob er auch nach vielen Widerwärtigkeiten seines Lebens endlich als Wechselmakler unter der Firma Wellbeloved u. Oastler in Leeds seine Tage zu beschließen gezwungen ist und dadurch also augenblicklich noch selbst in den Reihen der Mittelklasse steht, so scheut er sich doch nicht, noch fortwährend seine Kollegen anzugreifen und sich so in das Gedächtnis seiner politischen Freunde zurückzurufen.
Mehr als Zeitungsstempel und Fabriksystem setzten aber die Folgen des im Jahre 1834 gewissermaßen als Nachtrag zu der Reform Bill passierten neuen Armengesetzes die sämtlichen Volksagitatoren in Bewegung. Da wir in einem der nächsten Kapitel das englische Armenwesen ausführlich beleuchten werden, so bemerken wir hier nur, daß die geschehene Änderung darin bestand, daß man nicht mehr wie früher hilfsbedürftige Arme in barem Gelde abfand, sondern sie hinfort in Arbeitshäuser steckte, wo sie durch allerlei strenge Maßregeln dermaßen gepeinigt wurden, daß im eigentlichsten Sinne des Wortes aus der Mildtätigkeit eine Strafe wurde.
Der Grund dieser sonderbaren Änderung war das unerhörte Steigen der Armentaxe, die einen solchen Betrag erreichte, daß man unwillkürlich vor der weiteren Verfolgung des bisherigen Systems zurückschauderte. Der Poor-Law-Amendment-Act mit seinen barbarischen Workhouses sollte nun die Armen gewissermaßen davon zurückhalten, die Mildtätigkeit der Gesellschaft in Anspruch zu nehmen. Dies schien das einzige Mittel zu sein, wie man sich vor der steigenden Taxe bewahren könne.
Daß ein solches Gesetz die fürchterlichste Entrüstung unter dem Volke hervorbrachte, läßt sich leicht denken. Arbeiter, die sich ihr ganzes Leben lang ehrlich für ihre Herren geplagt hatten und durch den Verlust ihrer Kräfte, durch Handelskrisen oder sonstige Unglücksfälle plötzlich außer Brot kamen, sollten jetzt nur in Häusern, die das Volk mit Recht »Armen-Bastillen« nannte, ein Asyl finden, wo sie bei schlechter Kost, von Weib und Kind getrennt einer entwürdigenden Beschäftigung wie dem Gehen-in-der-Tretmühle usw. unterworfen wurden – das war zu stark! Augenblicklich standen die Führer der Volkspartei dagegen auf.
Unter ihnen zeichnete sich ein Methodistenprediger aus, Joseph Rayner Stephens aus Stalybridge, ein wilder Fanatiker, der naiv genug war, den Kindern seiner Gemeinde aus der Bibel zu beweisen, daß Gott ganz damit einverstanden sei, wenn sie einmal recht gründlich über die Priester Baals, über die reichen Fabrikanten, herfielen, daß ein Schwefelhölzchen hinreiche, um eine tüchtige Verwüstung unter ihren Palästen anzurichten, und daß überhaupt alle politischen Bewegungen nur Messer-und-Gabel-Fragen seien, indem sich alles zuletzt auf Essen und Trinken reduziere.
Stephens, »der hochwürdige Feuerbrand«, wie ihn Lord Brougham einst im Parlamente titulierte, hatte sich, wie gesagt, das neue Armengesetz vor allem andern zum Thema genommen. Er erklärte dem Volke geradezu, daß es die richtige Konsequenz der Bevölkerungstheorie von Malthus sei, »dieses eingeborenen Teufels«, der das ganze Gouvernement verrückt gemacht habe.
In seinem »Essay on the Principle of Population«, ein Werk, welches zuerst im Jahre 1798 erschien, nahm Malthus an, daß die Bevölkerung der Erde sich bei vollkommen freier Entwicklung jedesmal in 25 Jahren wenigstens verdoppeln, also in einer geometrischen Proportion wachsen würde, daß dagegen die Subsistenzmittel in Betracht des jetzigen Zustandes der Erde und unter den günstigsten Umständen nur in einer arithmetischen Proportion gesteigert werden könnten. Die Bevölkerung würde sich also vermehren: 1, 2, 4, 8, 16, 32, 64, 128, 256 – die Subsistenzmittel: 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9. In zwei Jahrhunderten würde sich die Population zu den Subsistenzmitteln verhalten wie 256 zu 9, in drei Jahrhunderten wie 4096 zu 13, und in zweitausend Jahren würde der Unterschied beinah unberechenbar sein – genug, es würde schon bald das Bestehen der Menschheit unmöglich werden, wenn Krieg, Pest, Not und Tod die Bevölkerung nicht stets wieder mit den Subsistenzmitteln ins Gleichgewicht brächten. Hierauf gestützt, erklärt Malthus das Laster wie das Elend für ganz herrliche Sachen, da sie die Bevölkerung, welche stets die Neigung hat, sich über ihre Subsistenzmittel hinaus zu entwickeln, wieder in die gehörigen Schranken zurückdrängen. Er erklärt jeden Versuch, die Not der Menschen durch Almosen zu erleichtern, für eine Torheit und für sehr gefährlich, da dies dem ärmern Teil der Bevölkerung erlaube, sich auszudehnen, wodurch über kurz oder lang doch nur abermaliges, größeres Elend herbeigeführt werde. Er erlaubt auch die Heirat nur einigen vom Schicksal Begünstigten und sagt wörtlich: »Ein Mensch, der in einer Welt geboren wird, die schon besetzt, hat, falls ihn seine Familie nicht ernähren kann und die Gesellschaft seiner Arbeit nicht bedarf, nicht das geringste Recht auf irgendeinen Teil von Nahrung; er ist zuviel auf der Erde. Bei dem großen Bankett der Natur hat man kein Kuvert für ihn gelegt. Die Natur befiehlt ihm, sich zu entfernen, und zögert nicht, diesen Befehl selbst in Ausführung zu bringen.« Ebenso heißt es am Schlusse des ersten Bandes wörtlich: »Die stille, aber sichere Untergrabung des Lebens in großen Städten und Manufakturen, die engen Wohnungen und die unzureichende Nahrung vieler Armen lassen die Population die Summe der Subsistenzmittel nicht überschreiten und, wenn ich einen Ausspruch wagen darf, der gewiß anfangs sonderbar erscheinen wird, überheben uns der Notwendigkeit großer, verheerender Seuchen, um das Überflüssige zu zerstören.«
Der Geist des neuen Armengesetzes, das aus der Mildtätigkeit eine Strafe machte, hatte wirklich genug Ähnlichkeit mit den Ideen eines Malthus, und es bedurfte wohl kaum der feurigen Beredsamkeit eines Stephens, um dies dem Volke klarzumachen. Die Erbitterung der Masse wurde aber noch gesteigert, als plötzlich unter dem Titel »On the Possibility of Limiting Populousness – an Essay on Populousness, to which is added the Theory of Painless Extinction« ein kleines Werk erschien, in welchem der Verfasser Marcus, ein übrigens unbekannter Mann, auf die Malthusianischen Ideen gestützt, geradezu den Kindermord predigte. Die vierte Auflage, erschienen bei W. Dugdale, Holywell Street, Strand, London 1840, wurde uns mit dem Bemerken übersandt, daß der Verfasser in seinem Buche die Theorie Malthus' dadurch habe lächerlich machen wollen, daß er die Sache auf die Spitze stellte.
Wir wollen dies gern so annehmen oder die ganze Geschichte auch nur als einen schlechten buchhändlerischen Spaß betrachten. Befremden muß indes jedenfalls der mysteriöse Ton des ganzen Buches und namentlich der Umstand, daß es zuerst bei einem Verleger erschien, der sich vorzugsweise mit der Verbreitung moralischer und religiöser Schriften beschäftigte. Wie dem auch sei, das Volk nahm in seiner fieberhaften Aufregung jene »Theorie der schmerzlosen Vertilgung« als ernst entgegen. Geben wir in wenigen Worten den Inhalt des Buches an. In dem ersten Kapitel wird erwähnt, daß Malthus zuerst die Theorie der Übervölkerung aufgebracht habe und daß von Gottes und Rechts wegen Laster und Elend in der Welt existieren müssen, um der schnellen Vermehrung menschlicher Wesen zu steuern. Im zweiten Kapitel setzt der Autor auseinander, daß in alten Zeiten Sklaverei und Kindermord dem Übel der Übervölkerung so sehr vorbeugten, daß man diese damals nicht schwer fühlte und ihr deshalb keine Aufmerksamkeit schenkte. Im dritten Kapitel legt der Verfasser die Basis seiner Theorie nieder, welche darin besteht, daß alle Kinder, welche über drei in einer Familie geboren werden, zur Verminderung der Population ermordet werden sollen; sogar alle dritten Kinder soll man sammeln und über jedesmal drei aus vieren das Los werfen, damit man sie zerstöre. Im vierten Kapitel wird der Vorschlag gemacht, daß man unter gesetzlicher Sanktion eine Assoziation bilde, welche den Plan in Ausführung bringe; im fünften, daß die ärmeren Klassen, überhaupt alle die, welche nicht eine gewisse Summe des Eigentumes besitzen, ihre Kinder ausliefern sollen, damit man sie erdroßle. In Irland soll jede arme Familie nur ein Kind auferziehen dürfen, damit man die Population dort vermindere. Der Verfasser schlägt ebenfalls vor, daß Eltern durch ein geringes Gehalt veranlaßt werden sollen, sich bei der Vertilgung ihrer Kinder zu beruhigen; namentlich sollen diejenigen unterstützt werden, welche versprechen, ganz kinderlos bleiben zu wollen. Am Schluß des Buches heißt es, daß Eltern nicht das Recht hätten, mehr Kinder aufzuerziehen, als die Gesellschaft verlange; ferner, daß kein Kind ein Recht auf sein Leben habe und nur die Gesellschaft zu entscheiden brauche, ob es sein Leben fortsetzen dürfe oder nicht. Des Kindes Anspruch auf Existenz wird ein imaginäres Recht genannt. Man ladet dazu ein, die Mütter durch hübsche und lustige Bilder über den Mord ihrer Kinder zu beruhigen; sie sollen mit dem Gedanken befreundet werden, daß es zum Wohle der Welt sei, daß sie ihre neugeborenen Kleinen opferten. Vor allem sollen aber die toten Kinder in hübschen Reihen begraben werden, die man mit Blumen und schönem Gesträuch auszuschmücken hat; und diese Gräberreihen sollen dann das »Paradies der Kinder« heißen, und der Ort soll ein Erholungsort und eine Promenade der armen arbeitenden Klasse sein. Der Autor setzt hierauf seine Mordmethode auseinander, welche er die »Theorie der schmerzlosen Vertilgung« nennt, das heißt: die Kunst zu morden, ohne Schmerz zu verursachen. Diese Kunst besteht darin, die Luft, welche die Kinder während ihres ersten Schlafes einatmen, nach und nach mit einer hinreichenden Quantität tödlichen Gases zu vermischen und dadurch den Schlummer in einen Todesschlaf zu verwandeln.
Es bedarf weiter keiner Bemerkung über diese Ausgeburt einer verpesteten Phantasie.
Der Pfarrer Stephens brachte aber das Marcussche Buch in dieselbe Linie mit dem Poor-Law-Amendment-Act und erklärte sie für Zwillingskinder der Malthusianischen Muse. In dem Munde des fanatischen Methodisten wurden solche Sachen natürlich zu Mitteln, welche die Masse des Volkes mehr als je in Bewegung setzte:
»Für Weib und für Kind Mit Messern zum Kampfe geschwind!« |
So sang er auf der »Kanzel seiner Kapelle. Da kannte die Neugier und der Enthusiasmus keine Grenzen mehr. Aus Liverpool, Manchester, Bury, Middleton, Oldham, Leeds usw. wanderten die Arbeiter in Scharen zu dem ehrenwerten Feuerbrand hinüber, und wenn dann am Sonntage die Kapelle zu eng war, um alle fassen zu können, da ajournierte man den Gottesdienst auf den offnen Marktplatz. Stephens stellte sich auf ein Faß oder auf eine Karre, und seine Zuhörer standen bis in die entferntesten Straßen hinein. Die Zusammenkünfte nahmen bald einen so drohenden Charakter an, daß es vom Gouvernement für das beste gehalten wurde, einen Trupp Artillerie nach Stalybridge zu schicken, so daß nicht selten im Bereich der Kanonen die Tribüne des feurigen Geistlichen errichtet wurde.
Ein Bändchen Stephensscher Predigten, das ich als einen Schatz hochkomischer Kanzelberedsamkeit aufbewahre, gibt den schönsten Beweis, wie selbst die wahnsinnigsten Tiraden auf das Volk einwirken können, wenn nur die rechten Stichwörter der verschiedenen Parteien darin vorkommen. Stephens warf damit nach Herzenslust um sich, und deshalb machte er Effekt. Ein lustiger Feuerwerker, ließ er Funken und Flammen um seine Kanzel sprühen, und wenn er die Leute auch über nichts belehrte, so setzte er sie doch in Bewegung, und das war damals durchaus nötig. Man hatte sich zuviel von den Folgen der Reform Bill versprochen. Es war im Interesse der Volkspartei, daß Männer wie Stephens die Masse des Volkes selbst durch Übertreibungen davon zurückbrachten. Stephens hatte das Verdienst, dies zu unternehmen und teilweise durchzuführen. Er machte das meiste aus der Anti-Poor-Law-Amendment-Act-Agitation. »He made the most of it«, wie die Engländer sagen. .
Ein feuriger, wilder Prophet, bahnte er den Weg für den Irländer Feargus O'Connor.