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Die alte Turmglocke rief eben mit vernehmlicher Stimme, daß es 8 Uhr sei, und die sinkende Sonne setzte hinzu: »8 Uhr abends« – da klopfte es recht tüchtig an meine Tür, und herein trat Freund Jackson.
Ein stattlicher Mann, etwa vierzig oder fünfundvierzig Jahre alt. Er trug ungeheuer große Schuhe, mit Nägeln beschlagen, die Sohle einen Zoll dick. Ferner weiße baumwollene Strümpfe, die bis ans Knie reichten und sich dort in einer braunen Manchesterhose verliefen. Die grüne Weste stand ihm vortrefflich, noch besser aber der schon etwas abgetragene schwarze Frack, mit einer roten Tulpe im Knopfloch. Jackson behielt den Hut auf dem Kopf und die Hände in den Hosentaschen.
»Trinkt Ihr gerne Punsch?« fragte er mich und »Liebt Ihr die Blumen?« und »Wollt Ihr mit in die ›Alte Hammelsschulter‹ gehen?« – Die »Alte Hammelsschulter« ist aber eine Schenke am Abhänge des nächsten Hügels.
Zu allem war ich bereit, und rasch eilten wir die Gasse hinunter. Um 8 Uhr abends auf den Gassen – in einer Fabrikstadt!
Da kann man vielerlei sehen.
Rechts und links öffnen sich die großen Türen der Magazine, der Werkstätten, der Fabriken, und in einem Augenblick sind die sonst so stillen Straßen voll von heimkehrenden Arbeitern. Man denke sich aber keine lustige Menge, die nach geschehener Arbeit jubelnd ins Freie stürzt, gleich einer Bande ausgelassener Jungen, die, der Schule und dem Stock des Magisters entlaufen, hurtig der Freude den Zügel schießen läßt – nein, die Knaben und Mädchen der Fabriken schleichen stumm und traurig ihrer Freiheit entgegen, denn ein Tag der angestrengtesten Arbeit hat ihre Füße gelähmt, ihre Arme zerschlagen, ihren Sinn verwirrt, und wie ein Alp reitet die Müdigkeit auf ihren armen Seelen. – Und nun die Männer und Frauen! Tiefer Ernst liegt auf ihren Gesichtern; und die Gesichter sind dunkel, schmutzig; nur hin und wieder hat ein voller, schwerer Schweißtropfen, der über Stirn und Wangen rieselte, eine weiße Straße in das staubige Antlitz gefurcht. Die Männer sprechen miteinander – keiner sieht den andern dabei an –, die Köpfe sind gesenkt, und die Augen starren auf das Pflaster der Gassen.
So wandern sie vorwärts. Vielleicht werfen sie einen Blick auf die Pracht der Kaufläden, in denen eben beim Glanz von tausend Lichtern alle Wunder der Industrie zu schimmern anfangen. O die prächtigen Tücher, die feinen Spitzen, die schweren Atlasstoffe! Wie das flimmert und blitzt! Und dort die goldenen Uhren, die silbernen Schüsseln und die weichen Sessel, und drei Schritte weiter: wie es dort dampft und duftet! Da nicken die gebratenen Tauben zum Fenster hinaus, und rechts und links freundliche Rinderkeulen und Enten und ander verstorbenes Federvieh bescheiden im Hintergrund, in reizenden Gruppen. O schmackhafte Welt! O du zerlumpter, hungriger Arbeiter! – Rasch schreitest du vorüber. Die seidenen Tücher wehen – nur nicht für dich. Die Schüsseln blitzen – nur nicht für dich! Und Tücher und Schüsseln hast du doch selbst geschaffen – und einer gebratenen Ente ist es einerlei, ob sie im Magen eines Schurken oder eines ehrlichen Mannes begraben wird.
Dort an der Straßenecke stockt plötzlich der Zug der Vorübergehenden. Die Vordern bleiben stehen; die Folgenden müssen ebenfalls halten, und bald stehen Männer, Weiber und Kinder in einem dichten Haufen zusammen.
Aller Augen richten sich nach einem Anschlagzettel, der von der Wand des nächsten Gebäudes herunterhängt.
Es wird sehr still in dem ganzen Kreise. Da, mit einem Male entsteht ein Murmeln. Der größte Teil der Arbeiter kann nicht lesen – die Gelehrteren teilen ihren Kameraden daher den Inhalt des Plakats mit. Das Murmeln wird immer lauter; Männer und Kinder sprechen durcheinander, die Weiber flüstern und machen bedenkliche Gesichter. Manche der Lauschenden setzen ihre Töpfe oder Körbe, in denen sie das Mittagessen, den Tee oder Kaffee mit sich führten, zur Erde; und hin und wieder ballt sich eine kräftige Hand zur drohenden Faust; auch die Augen werden lebendiger – sie blitzen, sie leuchten –, man sieht, die Leidenschaft zieht plötzlich in jede Brust ein – spät am Abend setzt sie die Geister jener Müden noch einmal in Flammen.
Wehe, wenn diese Geister erst zu vollem Bewußtsein erwachen! Es rollt ein düstrer Fluch von Mund zu Mund – dann ein Lachen – Zorn und Spott zuckt durch die bleichsten, die ältesten Gesichter – der Haufe stiebt auseinander. Wovon sprach wohl jener Anschlagzettel? –
Jackson machte ganz gewaltige Schritte. In Zeit von zehn Minuten hatten wir schon die dumpfige Stadt hinter uns. Die dumpfige Stadt! Ewig eingehüllt in den dichtesten Kohlendampf, so daß man eine halbe Meile von den ersten Häusern auch kein Dach bemerkt. Nur am Sonntag wird es plötzlich hell, oben über der Stadt; aber nicht in den hunderttausend Köpfen da unten!
An jenem Abend aber, der kein Sonntagabend war, spien ein paar Hundert schlanke Fabrikschornsteine ihren letzten Rauch gen Himmel. Wir konnten daher schon von der Hälfte des Hügels aus fast kein Haus unten im Tale unterscheiden. Unten totale Finsternis, oben auf den Hügeln aber der herrlichste Abend!
Das Grün der Felder leuchtete in den letzten Strahlen der Sonne, in den Büschen wurden die Vögel noch einmal lebendig, dazu stürzten sich die Bäche rauschend in die Tiefe hinab und blitzten und funkelten, daß meinem Freund Jackson vor lauter Lust und Vergnügen die Augen schier übergingen – ach, und der große Yorkshire-Mann fing an zu singen, plötzlich, und brüllte – o Jackson! Da standen wir vor der Schenke »Zur alten Hammelsschulter«. In dieser Schenke hielten die Arbeiter eines gewissen Bezirkes der Grafschaft York ihr erstes diesjähriges Blumenfest.
Mit diesen Blumenfesten verhält es sich aber folgendermaßen.
Jeder Arbeiter, der aus dem Schmutz der Städte, aus dem Rauch der Fabriken, aus dem Dunst der Branntweinstuben – aber auch aus den Wogen einer Volksversammlung, aus der Wut einer Emeute den zarten Sinn, die Liebe zu einer Blume rettete, sucht entweder neben seiner Wohnung oder in dem Garten irgendeines Freundes einen kleinen Platz, den er sorgfältig mit Hacke und Spaten bearbeitet, den er noch sorgfältiger düngt, den er mit Latten und Stöcken gegen alles Ungemach zu schützen sucht und dem er seinen teuer erkauften Blumensamen, seine Tulpen- oder Hyazinthenzwiebeln anvertraut.
Kommt dann der Frühling heran, so verständigen sich diese blumenliebenden Arbeiter über einen Tag, an dem sie sich gegenseitig mit dem Resultat ihrer Gartenkunst bekannt machen wollen. Für die erste Zusammenkunft wird gewöhnlich die Tulpe bestimmt, für die zweite die Ranunkel, für die dritte und letzte die Aster und Georgine. Außerdem zahlt jeder einen Schilling in eine gemeinschaftliche Kasse, aus der die vorkommenden Kosten wie Miete des Saales, worin die Blumen ausgestellt werden, Honorar für die Blumenrichter und andere Sachen bestritten werden. Den Rest des Geldes verwendet man zum Ankauf eines Geschenkes für denjenigen, der die schönste Blume aufzuweisen hat. Diese Blumenausstellungen oder Blumenfeste werden in vielen Teilen Englands, namentlich aber in den nördlichen Provinzen jährlich dreimal von den Arbeitern gehalten. Sie stehen unter keiner höheren Protektion. Diese Blumenliebhaberei hat sich rein aus dem Volke entwickelt. Die Bourgeoisie weiß wie von so vielen andern Dingen nichts, so auch nichts von dieser poetischen Leidenschaft der Arbeiter. Wie könnte es auch einem respektablen Mann einfallen, sich in die »Alte Hammelsschulter« zu verirren!
In dieser Schenke hatte man einen Saal oben im Hause für den Tag gemietet. Das Zimmer war voller Menschen. Aber welche Menschen! Prächtige Kerle, in Schmutz, Staub und Lumpen gewickelt, und dann ein gewaschenes Gesicht und jetzt ein neuer Hut auf einem unternehmenden Kopfe und weiter ein paar Lenden und ein paar Fäuste und eine Brust, ein Schädel – ein Bursche, der dreißig Mann hintereinander niederboxen würde; aber auch recht verkommene Gesellen reckten sich in die Höhe; Leute, an denen die Not schon lange Zeit still genagt hatte, die vielleicht eben erst gesenkten Hauptes aus den Fabriken schlichen, wo sie zwölf Stunden gearbeitet, wo ihnen zwölf Stunden lang eine rasselnde Maschine das Jubellied der Industrie gesungen – und den eigenen Grabgesang.
Mochte der Staub ihrer Kleider, mochte die Furche auf mancher Stirn verraten, daß die ganze Gesellschaft dieser Blumengenossen eben nur Sklaven, arme Teufel, Gassenbuben und Lumpen waren – in dem Benehmen eines jeden, in der Art, wie sie miteinander sprachen, wie sie mir, dem Fremden, entgegentraten und mich bald freundlich, bald keck und herausfordernd anschauten, lag doch der Ausdruck jenes Bewußtseins, das einen Mann inmitten des gräßlichsten, aber unverschuldeten Elends, inmitten der tiefsten Verworfenheit trotz Staub und Fetzen zu einem Helden stempelt, jenes Bewußtsein der guten Fäuste, des guten Rechts und des unerschütterlichen Willens! – Und sind das nicht Helden, die vierzig, fünfzig, sechzig Jahre leben wie englische Arbeiter! Oh, wer beschreibt die Langmut des Volkes!
Unsere Blumengenossen lagen aber wie die lieben Heiden auf den Bänken herum; wer einen Rock besaß, hatte ihn ausgezogen und an die Wand gehängt. Jeder hielt eine irdene Pfeife im Munde und trug das Seinige dazu bei, den erschrecklichsten Kellergestank, der durch den Saal wogte, noch mehr zu befördern und zu verdichten. In der Mitte des Zimmers stand ein großer Tisch, auf dem in vielen kleinen Gläsern die herrlichsten Tulpen prangten, denn die Tulpe war es, welche man an jenem Tage in die Schranken führte. Es waren schöne Blumen, die in den Gläsern standen. Zuerst die einfarbigen, dann die gesprenkelten, hierauf die gestreiften und endlich einige Exemplare, die von der Natur mit ausnahmsweise sonderbaren Reizen ausgestattet waren. Ich hatte mich kaum mit all diesen Herrlichkeiten bekannt gemacht, als sich sämtliche Zuschauer von dem Tische entfernten und ebenfalls ihren Platz auf den Bänken im Hintergrunde des Zimmers einnahmen. Der größere Teil der Gesellschaft schien dort den weitern Verlauf des Festes schon seit längerer Zeit ängstlich abzuwarten.
Der Augenblick der Entscheidung rückte heran; dann, als alles niedersaß und bald um den Tisch herum ein freier breiter Raum war, öffnete man rechts und links die Türen des Saales, und herein spazierten würdig und freundlich die zwei höchsten Blumenautoritäten, die zwei berühmtesten Blumenkenner und -richter der Grafschaft York.
Ein Scharren, Murmeln, ein »Oh« und ein »Ah« der Gesellschaft, kurz, ein Getöse, das, zu dem sonderbarlichsten Wohllaut anschwellend, sich nur langsam in melodischen Kadenzen wieder verlor, zeigte hinreichend, wie sehr man die Gegenwart jener zwei ausgezeichneten Männer zu würdigen wisse. – Die Blumenrichter näherten sich dem Tulpentische. Ich meine, ich sähe die beiden Herren noch jetzt vor mir stehen. Der eine erfreute sich einer unendlich langen, dünnen Figur; ein kompletter Spazierstock, oben mit einem dicken Kopf darauf! Seine rote Nase leuchtete im Abendlichte, das durch die Fenster schaute; seine Hände saßen wie festgewachsen in den Hosentaschen, und die Beine schlenkerten durch den Saal, als ob sie die größeste Lust verspürten, sich jeden Augenblick von ihrem Eigentümer zu entfernen. Er stolperte den Tulpen entgegen, die alle seine Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen schienen, denn kein Gruß klang von seinen Lippen, als er ins Zimmer trat; er schien die ganze Versammlung gar nicht einmal zu bemerken; auch hielt er die Augen fest geschlossen, und nur ein lustiges Blinzeln und Blitzen, das durch die buschigen Wimpern brach, zeigte deutlich, daß ein enthusiastischer Kerl herantaumelte.
Soll ich nun die Kleidung des Mannes schildern, so muß ich gestehen, daß sein Rock erschrecklich zerrissen war, daß seine Hose in früheren Jahren einmal ganz, seine Schuhe einmal erträglich gewesen, jetzt aber den Weg alles Irdischen zu wandern schienen; daß ferner das liebe Tageslicht sich in aller Glorie durch die Löcher des Hutrandes drängte, daß aber das Hemd des großen Blumenrichters blendend weiß war und aus den Brustfalten einen frischen Blumenstrauß hervorschauen ließ.
Die ganze Erscheinung hatte etwas Lumpig-Geniales, etwas Rührend-Lächerliches, was den Griffel eines Hogarth, eines Cruikshank, eines Hasenclever sofort in Bewegung gesetzt haben würde. »Seht Ihr«, sagte Jackson und klopfte auf meine Schulter, »das ist so ein Erzblumennarr. Ich habe freilich auch einen kleinen Hieb von dieser Liebhaberei und hänge im Frühjahr, wenn das Gras wieder aus dem Boden schaut, gewöhnlich mein eigentliches Geschäft an den Nagel, um Botanik zu treiben, das heißt: ich höre auf, Wolle zu kämmen, und werde ein Gärtner – aber so weit wie dieser Herr Richter habe ich es nie gebracht.
Meine Blumenliebhaberei bringt mir auch noch Geld ein; denn verdiene ich auch nicht soviel damit wie mit dem Wollkämmen, so habe ich doch wenigstens meinen Tagelohn, und der Aufenthalt im Grünen und die große Freude, welche mir die kleinste Pflanze macht, entschädigen mich so reichlich, daß ich gern mit allem zufrieden bin. Dieser Herr Richter, das versichere ich Euch, treibt aber den Blumenspektakel aus den uneigennützigsten Absichten.
Diesem Manne ist es nicht um Geld zu tun, nein, es ist reine Liebe zu den kleinen, lieblichen Dingern, die man Blumen nennt; es ist das Entzücken über die erste junge Blüte, was ihm mit unwiderstehlicher Gewalt das Werkzeug aus den Händen zieht und ihn hinaustreibt in die Felder, wo er oft tagelang umherirrt, bis ihn der Hunger wieder nach Hause zwingt. Oft verläßt er schon im Anfang April seine Wohnung und läuft auf die nächsten Dörfer. Gott weiß, wie er sich durchschlägt, denn Geld hat er nie bei sich. Aber die Bauern kennen ihn und lassen ihn die Nacht in irgendeiner Ecke schlafen; manchmal können sie auch seine Blumenkenntnisse benutzen und geben ihm dann zu essen und zu trinken.
So taumelt er weiter von Feld zu Feld, von Garten zu Garten. Einer von unsern Leuten fand ihn vorgestern bei Halifax hinter einer Hecke und brachte ihn natürlich hierher, denn auf sein Urteil kann man sich verlassen; er ist ein weiser, angesehener Mann, und wir geben ihm viel zu essen und 18 Pence per Tag extra.«
Dann machte mich Jackson auf den zweiten Blumenrichter aufmerksam. Er war von dem ersten, länglichen sehr verschieden, denn er war ein Grobschmied, groß und breit, wie fast alle Leute seines Zeichens. Auch in seiner Kleidung übertraf er den Herrn Kollegen bei weitem, denn er war von oben bis unten fein schwarz wie ein Pastor angezogen, er trug sehr reine Wäsche und weiße baumwollene Handschuhe, dazu war sein Gesicht sorgfältig von Staub und Ruß gesäubert, und auf dem glattgestrichenen stahlgrauen Haar saß in schiefer Richtung ein kleiner Hut mit sehr schmalem Rande. Wenn man den Mann zuerst sah und hörte, daß er ein Grobschmied sei, so mußte man unwillkürlich voraussetzen, daß er sich in seinem feinen Gewände nicht wohlfühlen könne und daß namentlich die riesigen Arme und die großen Hände wohl besser mit Hammer und Amboß umzugehen wüßten als mit zarten Tulpen, Rosen und Aurikeln. Wie erstaunte ich aber, als die gewaltige Figur des sinnigen Grobschmieds plötzlich in die lebendigste und artigste Bewegung geriet, als er in den gewähltesten Ausdrücken und mit einer bald lispelnden, bald volltönenden Stimme der Versammlung erklärte, daß jene rote Tulpe »Diana« sich dieses Jahr ausnehmend schön entwickelt habe, daß die gesprenkelte »Amsterdam« beinah die gestreifte Schwester »Antwerpen« an Lieblichkeit übertreffe und die blaßgelbe »Desdemona« mit der rotpunktierten »Hochland Mary« dieses Jahr kühn in die Schranken treten könne.
Dazu gestikulierte er mit einer Anmut und bewegte das feiste Unterkinn, indem er es bald tief in das Halstuch zurückzog, bald graziös darüber hin agierte, mit so vielem Ausdruck, daß Freund Jackson mir ein über das andere Mal versicherte, dieser Grobschmied sei ein ganz verdammt netter Kerl.
Beide Blumenrichter waren indes damit beschäftigt, sämtliche Tulpen noch einmal zu überschauen. Schon am Nachmittage hatten sie einzeln die Ausstellung prüfen müssen, und es kam jetzt nur noch darauf an, daß sie sich über die schönste Tulpe miteinander verständigten. Dies mußte in Gegenwart der ganzen Gesellschaft geschehen. Nachdem die beiden Richter sich daher voreinander verneigt und sich feierlich begrüßt hatten, nahm der erste, längliche das Wort.
Gerne führte ich jene wunderbare Blumenrede hier wörtlich an; aber wie soll ich damit zustande kommen? Wie soll ich jenen breiten, höchst komischen Yorkshire-Dialekt im Deutschen wiedergeben, und wie könnte es mir vor allen Dingen einfallen, jenen Zauber nachahmen zu wollen, der wie ein rätselhafter Blütenstaub auf jedem Worte des phantastischsten aller Blumennarren lag? Genug, der große Richter, steif dastehend, mit geschlossenen Augen und nur bisweilen verstohlen blinzelnd, sprach eine Viertelstunde lang, sprach von dem Herannahen des Frühlings, von rauschenden Linden, von duftenden Rosen, bis man zuletzt nicht anders meinte, als mitten in einer prächtigen Laube zu sitzen, auf dem Gipfel der lustigsten Terrassen, die von Wein und Efeu umrankt hoch über lachenden Gärten schwebten, als raunten einem sämtliche Büsche und Bäume ganz verzweifelt komische Geschichten ins Ohr und als müßte man zuletzt laut aufjauchzen vor lauter Spaß, und – laut jauchzte auch die ganze Gesellschaft auf, als der Richter endlich mit einigen mystisch gemurmelten Worten seine Rede schloß und die blaßgelbe »Desdemona« für die schönste Tulpe des Jahrhunderts erklärte.
Überwältigt von dem Glanz seiner eigenen Rede sank der dünne Blumenrichter erschöpft auf die nächste Bank, die Arme schlüpften wieder in die Hosentaschen, die kleinen blitzenden Augen schauten aber unverwandt nach der blaßgelben »Desdemona«, der schönsten Tulpe des Jahrhunderts.
Jetzt trat auch der zweite Richter, der Grobschmied, in den Vordergrund des Saales. Er räusperte sich dreimal, zog das feiste Unterkinn dreimal hinter das Halstuch und machte dann noch drei Bewegungen mit dem gewaltigen Haupte, als folge er dem Takt einer in der Ferne verklingenden Melodie.
Als dies geschehen, zog er das Antlitz in sehr ernste Falten und sprach im Baß: »Well!« – »Wohl!«
»Geliebten Freunde! Schmerzlich berührt es mich, daß mein teurer Herr Kollege, dessen meisterhafte Rede uns noch soeben mit dem höchsten Entzücken erfüllte, mit seiner Wahl auf die zwar sehr vollkommene, aber doch nicht untadlige blaßgelbe ›Desdemona‹ gefallen ist. Ich beuge mich vor den großen Kenntnissen meines Gegners, vor seiner tiefen Einsicht in das stille, wunderbare Leben der Pflanzenwelt und muß gestehen, daß es wohl niemand in ganz Alt-England gibt, der mit einer gleich innigen Liebe die holdesten Töchter der Natur umfaßt und besser mit all ihren Reizen vertraut ist als mein geehrter Herr Kollege.« – (Allgemeine Sensation und »hört! hört!«) – »Ich kann es daher auch nur seiner stürmischen Begeisterung, die ihn hingerissen und ihn, den sonst so Urteilfesten, aus dem Sattel geworfen hat – ich kann es nur seiner zu großen Liebe zuschreiben, daß er gleich einem Blinden an dem wahrhaft wahrhaftigen ersten und einzigen Tulpenjuwel vorübergegangen ist, ohne erschrocken stehenzubleiben und auszurufen: O ›Trafalgar‹, Sieg und aber Sieg! ›Trafalgar‹, du bist die erhabenste unter den Tulpen!« – (Allgemeine Aufregung, »hört! hört!«) – »Freunde, meine Freunde!« – und da griff der Grobschmied in die Mitte des Tulpentisches und zog eine braune, sehr stattliche Tulpe mit roten Flammen hervor. – »Seht hier, ›Trafalgar‹! Die lieblichste Blume, so je die Sonne Englands gezeitigt!«
Der Grobschmied hob sein Tulpenjuwel hoch empor. Die ganze Gesellschaft sprang von ihren Sitzen, und alles drängte sich herzu, um das Wunder zu beschauen. – Sonderbarerweise schien die Wahl des Richters aber gar keinen Anklang zu finden. Eine braune Tulpe mit roten Flammen, das war ja etwas sehr Gewöhnliches. Viele Gesichter der Umherstehenden wurden lang und länger und mürrisch, und man murrte wirklich, und einige lachten, und andere spotteten, und das Antlitz des ersten, dünnen Richters, der die »Desdemona« auf den Schild erhoben, bekam plötzlich einen sehr todesverächtlichen, grinsenden Ausdruck, auf dem man deutlich lesen konnte, daß es dem Herrn Richter vielleicht nicht unangenehm sein würde, wenn der Grobschmied plötzlich eine sehr entschiedene Niederlage in der öffentlichen Meinung erlitte.
Der Grobschmied, seines Sieges gewiß, ließ sich aber von alledem nicht irremachen, sondern fuhr fort: »Das Schöne blüht manchmal im Verborgenen. Töricht wäre es, sich stets an die äußere Erscheinung der Dinge zu halten. Man forsche nach – da werden sich erst die rechten Wunder den Sinnen erschließen! Und so, mein geehrter Herr Kollege« – da wandte sich der Grobschmied an den langen Richter –, »werdet Ihr freilich äußerlich nichts Vortreffliches an dieser Tulpe entdecken; habt aber jetzt einmal die Güte, Eure ehrenwerte Nase mit meiner ›Trafalgar‹ in Berührung zu bringen und mir aufrichtig zu gestehen, ob nicht ein gewisses Etwas Euch sofort die süßeste Empfindung verursacht. Tretet näher!«
Der lange Blumenrichter folgte der Einladung des Grobschmieds. Ein ungläubiger Thomas, schwankte er aber nur sehr langsam heran, und erst, als man ihn noch mehrere Male ersucht hatte, bog er den langen Oberkörper weit vornüber, so daß seine Figur einen vollkommenen rechten Winkel bildete und endlich seine rote Nase mit der rotgeflammten Tulpe Bekanntschaft machte. Die umherstehenden Blumenfreunde, welche recht gut wußten, daß die Tulpe zwar ein Schmaus für das Auge, keineswegs aber für die Nase ist, konnten den ganzen Vorfall nicht recht begreifen; sie stellten sich in einen dichten Kreis um die zwei Blumenrichter und warteten ängstlich auf den Ausgang der Geschichte. Einige Sekunden lang herrschte rings im Saale die tiefste Stille. Da hob sich der lange Blumenrichter endlich feierlich empor, drehte sich rings im Kreise herum – eine Träne rollte durch die halbgeschlossenen Augenwimpern –, und mit zitternder Stimme lispelte er: »Veilchenduft!«
Jawohl, Veilchenduft. – Die Tulpe »Trafalgar«, unscheinbar von außen, beherbergte den süßen Duft eines Veilchens in ihrem Kelche. Dieses Ereignis, dieser Zufall setzte die Blumengesellschaft in nicht geringes Erstaunen. »Veilchenduft! Veilchenduft!« tönte es von allen Seiten, und in demselben Augenblicke war man darüber einig, daß der Tulpe »Trafalgar« der Preis gebühre. Alle Anwesenden, welche sich während der letzten halben Stunde sehr ruhig verhalten hatten, ließen nun ihrer Lustigkeit freien Lauf.
Der Grobschmied freute sich, daß er die duftende Tulpe aus einer so großen Menge herausgefunden hatte; die Blumenfreunde waren sehr damit zufrieden, daß endlich die Debatten vorüber und daß man sich jetzt dem mehr substantiellen Teil des Festes näherte; der lange Blumenrichter aber geriet über das seltsame Tulpenereignis in eine solche Gemütsstimmung, daß er wie von Taranteln gestochen im Zimmer umhertanzte. Der Glücklichste von allen blieb indes mein Freund Jackson, da er der Aussteller der Tulpe »Trafalgar« war und somit den diesjährigen Preis für die schönste Blume erhielt. Dieser Preis war aber ein großer kupferner Kessel!
Die Sonne hatte sich inzwischen davongemacht, ein zartblauer Nebel flutete über die Berge. Da kam die Nacht, und im Saale der Blumenfreunde mußte man die Kerzen auf zwei alten Kronleuchtern anzünden. Als dann auch die Tulpen an die Frauen und Töchter der Anwesenden verschenkt und die Tische näher zusammengerückt waren, eröffnete der Kassaführer der Gesellschaft, daß nach Abzug aller gehabten Kosten noch soundso viel Münze vorrätig sei, die nach seiner bescheidenen Meinung nicht besser verwandt werden könne, als wenn man dafür einen kleinen Punsch bereiten lasse und diesen in dem neuen Kessel des allgemeinen Freundes und Siegers Jackson auf den Tisch bringe.
Diese Proposition wurde natürlich mit großer Stimmenmehrheit angenommen.
Man setzte sechs Gläser auf den Tisch, die stets aufs neue mit dem dampfenden Getränk gefüllt wurden und gleich der Reihe nach ausgetrunken werden mußten. Als die Reihe etwa zum zehnten Male an mich kam, flüsterte mir Jackson ins Ohr, es sei jetzt wohl Zeit, daß er mich an die frische Luft setze; und da ich nichts dagegen hatte, so war ich bald auf dem Heimweg.
In der Schenke »Zur alten Hammelsschulter« öffnete man aber die Fenster, denn die Nacht war gar zu köstlich. Die Sterne funkelten so lustig, als freuten sie sich über die armen kleinen Menschen da unten auf der Erde, über die Arbeiter in Yorkshire, die trotz aller Tyrannei dennoch so herrliche poetische Feste feiern.
Jawohl, poetische Feste! – Denn ist ein Blumenfest englischer Arbeiter auch nicht der Feier ähnlich, die jährlich die französische Jugend zum Andenken an Clémence Isaure veranstaltet, wo es silberne Lorbeerkränze, Becher und andere Kostbarkeiten regnet und wo mancher Poet seine klingendsten Sonette singt, so ist das viel einfachere Blumenfest doch von um so viel größerer Bedeutung, weil es ohne allen äußern Anlaß aus dem Volke entsprungen ist. Darin liegt denn auch ein Beweis, daß der Arbeiter neben seiner politischen Entwicklung noch einen Schatz von warmer Liebe für die Natur in seinem Herzen bewahrt hat, eine Liebe, welche die Quelle aller Poesie ist und die ihn einst in den Stand setzen wird, eine frische Literatur, eine neue, gewaltige Kunst durch die Welt zu führen.