Georg Weerth
Skizzen aus dem sozialen und politischen Leben der Briten
Georg Weerth

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III
Londoner Leben

Für den Besuch des Britischen Museums hatte ich einen ganzen Tag bestimmt. Ich wollte dort meine großen Kenntnisse sehr vermehren – aber ach, ich fühlte bald, daß ich ein sterblicher Mensch bin; ich merkte, daß ein Tag eine kurze Zeit ist und daß das Britische Museum etwas länger beschaut sein will. Von allem, was das Meer an Perlen, Muscheln, Korallen und wunderlichen Pflanzen gebiert, was die Berge an Steinen, Metallen und an Überresten verschollener Zeiten besitzen, was sich in den Lüften bewegt, was auf Erden hüpft und kreuchet, und fast von allem, was die dummen und witzigen Menschenkinder mit ihren rastlosen Händen geschaffen haben von den fernsten Jahrhunderten an bis auf den heutigen Tag – fast von allen Dingen hat man hier einige Brocken zusammengetragen.

Wenn man von einem Saale in den andern schreitet, da ist es nicht anders, als purzelte man in Zeit von einer Minute von einem Weltteil in den andern, da ist es nicht anders, als ob man bald den Grund der Ozeane als Taucher durchfurchte, bald als roter Indianer mit Affen und Hirschen das Dickicht der düstersten Urwälder durchtanzte.

Wenn wir einst mit unsern irdischen Erfindungen so weit gekommen sind, daß wir als Luftschiffer die Wolken durchziehen, daß wir uns aufschwingen bis zu den Monden und Sternen, um mit den Völkern jener entlegenen Kolosse in freundlichen Verkehr zu treten, da wird man vielleicht einst einem irdischen Commis voyageur die große Weltmusterkarte unsrer Schöpfung, das Britische Museum, in die Tasche stecken, um auf diese Weise unsern neuen Bekannten am schnellsten einen Begriff von der großen Güte beizubringen, mit der sich der liebe Gott auf unsrer Erde offenbart hat.

Wie werden sich die Leute im Monde freuen, wenn sie zuerst einen Affen, einen Esel, wenn sie zuerst ein Kamel oder einen irdischen Stockfisch sehen!

Das Britische Museum könnte ihnen freilich die meisten Wunder der Schöpfung nur ausgestopft oder getrocknet bieten; wenn der Herr Repräsentant der Erde dann aber versicherte, daß diese Affen, diese Esel und Kamele im eigentlichsten Sinne des Wortes sehr lebendig und liebenswürdig bei uns herumspazierten – oh, dann werden sich die Völker des Mondes und die Nationen aller Sterne alsobald aufmachen, sie werden die weiteste und die gefahrvollste Reise nicht scheuen, um sich an Ort und Stelle von der Wahrheit dieser Aussage zu überzeugen.

Oh, herrliche Zeiten stehen unsrer Erde noch bevor! Die Gastwirte werden natürlich, wie immer, am meisten dabei profitieren, wenn all diese neuen Fremdlinge zu uns herüberreisen. Da werden sie noch manchen Sonnentaler verdienen, manchen Uranusdreier, manchen Venusgulden, viele große Bärendukaten, Massen von Herkulespfennigen und Säcke voll Scheidemünze aus den Gestirnen der Milchstraße.

Da ich schon am vorhergehenden Tage im Zoologischen Garten zahlreiche Bestien im lebendigen Zustande gesehen hatte, so konnten mich die ausgestopften Tiere des Museums natürlich nicht mehr interessieren. Für Steine und trockne Pflanzen bin ich niemals gefühlvoll gewesen, ich war daher schnell mit den meisten Sälen fertig und wandte mich nun mit gebührender Andacht und Aufmerksamkeit dem Höchsten zu, was es in den Räumen des Museums gibt: ich ließ mich nämlich zu den Göttern herab, zu den Götzenbildern, welche der sinnreiche Brite hinter den großen Glasscheiben seiner Raritätenschränke versammelt hat.

Es ist wirklich traurig, wie die Menschen mit ihren Vorgesetzten umgehen. Es war allenfalls noch zu ertragen, wenn uns die christlichen Künstler die langen Beine übrigens sehr achtungswerter Märtyrer in die Betstühle oder an die Kommoden schnitzten; und bei etwas schlechtem Geschmacke sah man sogar noch über die blauangelaufenen Leichenbilder hinweg, mit denen man unsre Seelen zu erbauen hoffte – verwerflich ist es aber, in welcher Weise unsre irdischen Mitmenschen jenseit des Atlantischen Ozeans oder unsre Vorfahren des Ostens die Matadore ihres Olymps abkonterfeiten oder nachbildeten.

So ein Barbare denkt sich aber nun einmal seine Götter grundhäßlich; er kann nicht anders, und er schlitzt ihnen die Ohren, spaltet ihnen die Nasen, gibt ihnen einen zwei Ellen breiten Mund, bemalt ihnen das Gesicht mit Kienruß und Rötel – kurz, es ist nicht anders, als wenn er recht eigentlich darauf bedacht wäre, die Ruhe und den Ernst des Gebetes vor solchen Heiligen in den Spaß und die Narretei eines Puppenspiels zu verwandeln.

Die Bilder machen indes das wenigste bei einem wahrhaften Gottesdienste aus. Man kennt ja die Geschichte jenes frommen Abbés, der einst in religiöser Überschwenglichkeit den Nürnberger Nußknacker seiner Zöglinge, statt des Kruzifixes ergriff und, damit auf den Boden niederkniend, ein ebenso brünstiges Gebet lallte, als wenn er das wirkliche Bild seines gekreuzigten Herrn und Meisters an die Lippen gedrückt hätte. Die gottlosen Zöglinge ließen den würdigen Mann bei seinem Versehen und machten ihn erst nachher darauf aufmerksam, wo es denn freilich viel Büßen und Kasteien absetzte.

Mit den Götzenbildern des Britischen Museums hat sich einst eine allerliebste Aventüre zugetragen: man war immer in der Meinung, daß sie Originalien seien, man glaubte, daß sie von denselben Menschen verfertigt wären, welche anbetend davor niedersanken; da kommt einst jemand auf den Gedanken, die Sache näher beim Licht zu besehen; die würdigen Bilder werden aus den Schränken hervorgeholt, man dreht sie rechts und links, man untersucht sie von allen Seiten, und, o Wunder, es findet sich plötzlich in dem Gewirr von Falten und Verzierungen – der Stempel einer Fabrik in Birmingham!

Was man als große Seltenheit in fremden Ländern erobert zu haben glaubte, es war in England selbst fabriziert, die sämtlichen Götter waren einheimische Ware; während die frommen Missionare bibellesend und predigend in alle Welt zogen, hatte manchmal dasselbe Schiff eine Ladung großbritannischer Götzen mit hinübergenommen, und gerade wie der Brite überall mit seinen Kalikos die Konkurrenz niederzuschmettern weiß, so hatte sein guter Geschmack auch in der Erfindung neuer Götter gesiegt.

In Düsseldorf sah ich einst ein sehr hübsches Bild des sehr talentvollen Malers Lilotte. Man blickte in das Atelier eines alten Bildhauers, der eben damit beschäftigt war, der fast vollendeten Statue unsres lieben Herrn Jesus Christus jene berühmte Seitenwunde beizubringen, welche weiland der Kriegsknechte einer mit seinem Speer dem göttlichen Originale applizierte. So harmlos diese Beschäftigung sein mochte, so große Freude schien sie doch dem alten Bildhauer zu machen. Die Beine fest ineinandergekniffen, den Nacken etwas gekrümmt, den Kopf aber nach oben gerichtet, sitzt der alte Mann auf seinem Dreifuß; er hält in der einen Hand den gefährlichen Meißel, in der andern den geschwungenen Hammer; man sieht, daß die Operation in demselben Momente vor sich gehen muß, und man hat kaum Zeit, darauf zu achten, wie die Gesichtszüge des grauen Künstlers plötzlich einen so komischen Ausdruck annehmen, daß man wirklich nicht weiß, ist es eine satanische Freude oder nur ein menschlicher Witz, der mit einem Male durch den Kopf des pfiffigen Meisters fährt. Genug, das Bild jenes jungen Malers ist vortrefflich; es macht ihm die höchste Ehre, namentlich deswegen, weil er es in einer Umgebung zu malen wagte, die unter der Direktion des frommen Schadow noch so sehr in der Blüte der heruntergekommenen christlichen Kunst steht.

Das lächelnde Antlitz des Bildhauers in jenem kleinen Gemälde steht mir noch deutlich vor der Seele, und ich bin fest davon überzeugt, daß der Birminghamer Fabrikant, der dem Auslande eine Sendung Götzen bestimmte, einst gerade eine solche Grimasse gerissen hat, als ihm zuerst die Idee seiner Götterspekulation durch den Kopf fuhr.

Wahrscheinlich saß er, mit dem Gesangbuch vor der Nase, umringt von frommen Töchtern und Söhnen, am Sonntagabend auf der Galerie der Pfarrkirche. Da trat ein würdiger Herr auf die Kanzel, der erst eben aus fernen Weltteilen zurückkehrte, wo er sich der Bekehrung der Ungläubigen beflissen hatte. Er schilderte die Mühen seines heiligen Amtes, erzählte die Erfolge seiner Mission und forderte die liebe Gemeinde auf, ihn durch reichliche Geldspenden in der weitern Ausbreitung des Christentums zu unterstützen. Wie immer erklärte der eifrige Mann gewiß auch damals, daß noch viele Völker in Aberglauben und Unwissenheit wandelten, und um seinem Bericht mehr Interesse zu geben, ließ er sich schließlich wohl noch darauf ein, die Götzenbilder der Heiden mit den lebhaftesten Farben, mit der vollsten Ausführlichkeit vor die Phantasie seiner Zuhörer zu bringen. Die Gemeinde schauderte; nur der Fabrikant da oben auf seiner Galerie hat in jenem Augenblick gewiß geradeso gelächelt wie der alte Meister des Düsseldorfer Bildes, und während er mit würdiger Miene seinen Schilling zum Besten der Missionsgesellschaft hergab, rechnete er vielleicht schon aus, wie viele Pfunde ihm ein Geschäft in Götzenbildern einbringen könnte.

Ich habe nie mehr über die scheinbare Frömmigkeit der Engländer lachen müssen als bei der Rückkehr des bekannten Dr. Wolff aus dem Orient. Die lieben Gemeinden ließen sich von diesem schlauen, durchtriebenen Manne auf eine sehr ergötzliche Weise an der Nase herumführen. Beiläufig gesagt ist dieser Dr. Wolff ein höchst beachtungswerter Mann; ursprünglich Frankfurter Jude, ging er nach Rom und wurde ein eifriger Katholik. Das dauerte aber nur kurze Zeit; der Katholizismus ist nicht mehr so einträglich wie früher. Wolff begab sich bald nach England und ging zur anglikanischen Kirche über; er machte dadurch sein Glück, heiratete eine Lady mit mehreren Tausend Pfund Rente und verschaffte sich außerdem eine sehr ersprießliche Pfarre. Lange Zeit lebte er sehr komfortabel und glücklich in seinen neuen Verhältnissen, wie sich jeder leicht denken kann.

Da sehnte sich plötzlich seine Seele nach einem neuen Spekulatiönchen, und er unternahm jene Reise in den Orient, welche das Aufsuchen jener zwei verlorengegangenen englischen Offiziere zum Zweck hatte, eine Geschichte, worüber seinerzeit das Lange und Breite in allen Journalen mitgeteilt wurde. Wolff hätte sich natürlich mit vollem Recht dieser Reise als eines heroischen und gefährlichen Unternehmens rühmen können, wenn er nur je einmal bewiesen hätte, daß er auch wirklich das durchmachte, was man in so hohen Worten überall ausposaunte. Dies ist aber bis auf den heutigen Tag nicht geschehn, und da es erwiesen ist, daß der erfindungsreiche Doktor der größeste Stümper in orientalischen Sprachen ist, so wird seine vorgegebene Tätigkeit in Bokhara immer unwahrscheinlicher. Es ist sogar die Ansicht sehr einsichtsvoller Leute, daß Wölffchen nur eine sehr heitere und harmlose Reise überstanden hat, bei der das Aufsuchen der verunglückten Offiziere gewiß der letzte Zweck gewesen ist.

Wie dem aber auch sei, Wolff kam zurück nach England, den Mund voll von abenteuerlichen Geschichten, und gab sich auf der Stelle ans Werk, seine Märchen gegen gutes englisches Geld zu versilbern.

Überall gingen die Engländer in die Falle. Ein Pastor, ein Doktor, der auf einem Esel den Orient durchritt, im wallenden Talar, das Wort des lebendigen Gottes aufgeschlagen in der Hand – das war hinreichend, um jeden respektablen Mann in die Vorlesungen des berühmten Reisenden zu locken.

Schon eine Stunde vor Beginn der Affäre sah man alt und jung mit langen christlichen Gesichtern, in frisch geputzten Stiefeln, in schwarzen Frackröcken und weißen Handschuhen über die Straßen rennen und in den Saal der Vorlesung stürmen. Natürlich fiel es den meisten Leuten gar nicht ein, an die Reiseberichte des Doktors zu glauben; aber der Doktor war ein Pastor, und deshalb mußte die Versammlung besucht werden, deshalb mußte man den Glauben heucheln.

Der ehemalige Frankfurter schien dies sehr gut zu merken, als er spöttisch lächelnd in den Saal trat. Er begann seinen Vortrag in dem schlechtesten englischen Dialekt, den ich in meinem Leben gehört habe; aber wunderbar waren seine Lügen! In Zeit von einer Stunde hatte er ein solches Gewebe von seltsamen Abenteuern, frommen Historien und christlichen Sentenzen bereitet, daß zuletzt dem ungläubigsten Thomas der Verstand irre wurde, daß zuletzt der heuchlerischste Fabrikant wie festgenagelt auf seiner Bank saß, den Mund aufsperrte und in vollem Ernste dem Berichte Wölffchens glaubte.

Dem gescheiten Frankfurter war es im eigentlichsten Sinne des Wortes gelungen, mit der eignen Heuchelei die Heuchelei aller seiner Zuhörer zu überwinden. Es war ihm gelungen, die erlogene Ehrfurcht in eine wirkliche zu verwandeln; er feierte den größesten Triumph, den ein Redner feiern kann.

Mit rednerischen Triumphen ist ein Mann wie Wolff aber keineswegs zufrieden; kaum war sein Vortrag beendigt, da stand er auch schon mit einer großen Liste an der Tür, und jeder der Hinausgehenden mußte jetzt für seinen Enthusiasmus bluten, indem er auf ein sehr teueres Exemplar der gedruckten Reise des Doktors subskribierte.

Ich kann es mir lebhaft denken, wie der würdige Mann nach solchen Erfolgen, endlich mit Gold und Ruhm beladen, in die Arme seiner Lady zurückkehrte und sich darüber freute, daß er die Dummheiten seines Jahrhunderts begriffen hatte.

Ich gebe dem Doktor durchaus recht; ich bin ganz auf seiner Seite. Wolff ist kein gewöhnlicher Kanzelschreier, nein, er ist ein Talent, ein Genie. Wenn er wirklich fromme Leute hinterginge, wenn er wahrhaft gläubige Schafe schöre, da wäre die Sache nur halb zu entschuldigen; sie wäre nur deswegen zu entschuldigen, weil ein Schaf überhaupt nur dazu existiert, um geschoren zu werden. Aber diese englischen Commerçants zu hintergehen, diese Leute, welche sechs Wochentage lang aus Lug und Trug zusammengesetzt sind und es nur am Sonntag für ihre Pflicht halten, die Mäuler in religiöse Falten zu ziehen – nein, das ist verdienstvoll, das ist lobenswert! Die Leute auf der Frankfurter Börse können stolz auf ihren Bruder Pastor in England sein. Es ist schön, daß sich ein gescheiter Jude auf diese Weise an den dummen Christen rächt! Wolff ist übrigens nur interessant, wenn er lügt. Als er einst zur speziellen Erbauung der in England anwesenden Deutschen in einer Kirche in Yorkshire in deutscher Sprache die Heilige Schrift auslegte und sich sehr streng an seinen Text hielt, da sah man die Hälfte der liebenswürdigen Germanen in seligen Schlummer versinken.

Neuere englische Reisende haben den Deutschen oft vorgeworfen, daß sie große Heuchler seien. Ich glaube, meine Landsleute in diesem Punkte vollkommen in Schutz nehmen zu können. So vollkommene Beispiele wie der Dr. Wolff sind selten bei uns; die Deutschen heucheln nicht mehr wie alle andern Nationen, und ihre Heuchelei ist wirklich so bescheiden und unbedeutend, daß sie kaum einer Erwähnung verdient. Die Engländer betreiben die Geschichte dagegen, wie die meisten Sachen, ganz en gros. Sie sind wahre Virtuosen in der Heuchelei; ihre Heuchelei hat etwas Kolossales, Weltumfassendes!

Dreißig Millionen Pfund Sterling werfen sie fort, um die Sklaven der Kolonien zu emanzipieren. Nicht, um im Sinne des alten, ehrlichen Wilberforce der Menschheit einen wirklichen Dienst zu erzeigen, nein, sondern nur, um die Schwarzen aus Sklaven, die man unterhalten muß, wenn sie nicht mehr arbeiten können, in freie Arbeiter zu verwandeln, die man wieder loswerden kann, wenn sie verschlissen sind oder gerade nicht gebraucht werden. Und wie herrlich wußte man hinter dieser philanthropischen Sklavenkomödie alle jene Brutalität zu verbergen, die man sich an tausend andern Orten zuschulden kommen ließ! Schön ist es, daß der eigentliche Zweck der Emanzipation doch nicht gelang! Der Londoner Charivari hat nie einen bessern Witz gerissen als einst, wo er seinen Lesern unter dem Siegel der Verschwiegenheit mitteilte, der Lord Brougham habe sich seine Bibel in die schwarze Haut eines Negers einbinden lassen.

Der Londoner Charivari »Punch« ist eine kleine Zeitung, welche wöchentlich einmal erscheint und in kurzen Artikeln, Versen und Karikaturen die politischen und sozialen Zustände des Inlandes und des Auslandes ebenso lustig und humoristisch behandelt, wie sich die große Londoner Zeitung »The Times« in ernster und gewichtiger Weise darüber ausspricht. Ich erwähne hier die »Times«, weil sie bei der Diskussion der wichtigsten Sachen gewissermaßen mit »Punch« Hand in Hand geht. Was man während der Woche in den immensen Kolonnen der »Times« entwickelt fand, dasselbe Urteil, was diese Zeitung in seriösen Artikeln zum besten gibt: das findet man am Samstag in »Punch« zu kurzen, höchst witzigen Aufsätzen zusammengedrängt. Beide Blätter sind liberal, wenn man so sagen darf; sie sind die hervorragendsten Organe der liberalen Bourgeoisie; sie verfechten die Interessen der Mittelklasse, indem sie die Aristokratie als etwas Althergebrachtes noch mit einigem Respekt, mit einiger Höflichkeit behandeln und sich auf der andern Seite der Interessen des Proletariats, soweit es z. B. die Abschaffung des jetzigen englischen Armenwesens oder die zum Besten Irlands zu ergreifenden Maßregeln angeht, in einer solchen Weise annehmen, daß man sie geradezu philanthropisch nennen muß. Diese liberal-philanthropische Richtung, welche sich bei der »Times« in den umfassendsten Nachrichten aus allen Teilen der Welt und in lebendigen, manchmal ausgezeichnet geschriebenen Räsonnements kundgibt und die bei »Punch« in den ergötzlichsten Humoresken und Sarkasmen zum Vorschein kommt, ist auch die Richtung eines großen Teiles der englischen Bourgeoisie.

Die »Times« und »Punch« spiegeln die öffentliche Meinung, das heißt die Meinung der Bourgeoisie, am treusten wider und werden deswegen auch am meisten gelesen. Jeder, der sich während der Woche mit der »Times« herumschlug, nimmt auch gewöhnlich am Sonntag den »Punch« in die Hand, um sich von letzterem Blatte das noch einmal kurzweilig, lustig vorkauen zu lassen, was ihm erstere Zeitung durch ihre Riesenartikel oft nur gar zu ernst und zu langweilig machte.

Unglücklich der, welcher diese beiden Blätter zu seinen Feinden hat! Während ihn die »Times« mit Kanonenkugeln beschießt, sticht ihn »Punch« mit tausend Nadeln; während ihn die »Times« mit ernsten Argumenten niederschmettert, macht nun »Punch« seine Niederlage erst recht vollständig, indem er ihn noch zu guter Letzt mit Witz und Spott überschüttet. Wie ein riesiger Boxer fällt die »Times« ihren Gegner an; wie ein Wespe nistet sich »Punch« in seine Locken und verwundet ihn ein zweites Mal, wenn er am wenigsten daran denkt.

Wie gesagt bewegen sich beide Blätter nur innerhalb der Schranken der Bourgeoisie; sie lassen der Aristokratie alle Ehre, solange es der Bourgeoisie nichts kostet, und sie greifen dieselbe an, sobald dies im Interesse der Bourgeoisie ist; sie sind philanthropisch den Arbeiterklassen gegenüber, wie man gut gegen einen ruhigen, armen Domestiken sein kann, sie werden aber brutal, sobald dieser Domestike etwas verlangt, worauf er zwar ein menschliches Recht hat, was ihm aber die heutige Gesellschaft verweigert.

Der Name »Punch« ist dem englischen Volke seit undenklicher Zeit bekannt. Punch ist nämlich in den Straßen und Kneipen der Held des Marionettenspiels, der Mann mit dem Buckel und der großen, roten Nase, der sich gern mit seiner Frau und mit dem Polizeidiener prügelt, der aber gewöhnlich mit seinem Hunde die zärtlichste Freundschaft geschlossen hat. Noch jetzt sieht man ihn bei Jahrmärkten und Volksfesten in seiner Bude oft vorüberziehn. Er ergötzt dann die kleinen Kinder durch Gesang und Spiel.

»Punch«, die kleine wöchentliche Zeitung, ergötzt die großen Kinder. Auf dem Titelblatte ist er jedesmal in seiner ganzen Glorie abgebildet. Er scheint eben von einer Reise durchs Land zurückgekehrt zu sein, wo er vieles sah und vieles hörte. Jetzt sitzt er daheim in dem Lehnstuhl, den Zeigefinger der linken Hand an die große Nase legend, in der rechten die Feder, um seine Erlebnisse zu Papier zu bringen.

Gegenüber thront der treue Hund in Hut und Hemdkrause auf dem Stoß der bereits vollendeten Bände. Rings um die beiden herum tummeln sich allegorische Figuren im tollsten Gemisch in den verzweifeltsten Positionen.

Die tätigsten Mitarbeiter an »Punch« sind Douglas Jerrold und Gilbert A. A. Beckett; die schönsten Illustrationen sind gewöhnlich von Leech.

Es würde zu weitläufig sein, auf die verschiedenen Artikel dieses höchst interessanten und in England höchst einflußreichen Blattes einzugehen. »The Story of a Feather« und »Mrs. Caudle's Curtain-Lectures« von Jerrold, »The comic Blackstone« von A. Beckett und ähnliche Sachen, welche nach und nach abgedruckt wurden und später wieder mit Illustrationen von Leech und George Cruikshank gesammelt erschienen, sind in England noch in jedermanns Gedächtnis. Wer dazu verurteilt war, in England längere Zeit zu verweilen, wird an jenen traurigen großbritannischen Sonntagnachmittagen, wo aller Spaß der Welt ein Ende hat, in »Punch« stets einen heiteren Freund gefunden haben, mit dem man an der Seite eines flammenden Kamins manche angenehme Stunde verbrachte. »Punch« ist auch deswegen noch zu empfehlen, weil seine Karikaturen fast durchgängig rein politisch sind, so daß man in spätem Jahren nur die verschiedenen Blätter durchzugehn hat, um sich der Hauptereignisse der Vergangenheit ebenso rasch als angenehm zu erinnern.

Der stämmige Sir Robert Peel, der kleine Lord John Russell, der alte Wellington mit seinem geistreichen Antlitz, Sir James Graham, der berüchtigte Mann, Colonel Sibthorb, der komische Eisenfresser, Lord Brougham in karierter Hose, mit großer Kartoffelnase, und Disraeli, der phantastische Jung-Engländer, sie kehren stets in verschiedenen Stellungen wieder, je nachdem sie sich gut oder schlecht herausgebissen haben.

Auf den Lord Brougham hat »Punch« einen langjährigen Ingrimm. Der edle Lord war nämlich einst so unvorsichtig, sich über eine Nummer, in der er im höchsten Grade in Wort und Bild verhöhnt wurde, sehr zu erzürnen und den armen »Punch« öffentlich anzugreifen.

Natürlich half ihm dies nichts. Se. Lordschaft wurde mit Glanz zurückgeschlagen. Seitdem ist es aber nun auch mit aller Freundschaft vorbei. Bald erscheint der edle Lord als Schuljunge, bald als Esel, bald als Eber, bald als Sau – kurz, wenn jeder schon zu schlecht ist, daß man noch einmal einen Witz über ihn reißen könnte, da ist Henry Lord Brougham noch immer gut genug, um aufs neue lächerlich gemacht zu werden.

Ebenso gern wie ich seinerzeit in London den lustigen »Punch« las, ebenso oft besuchte ich auch einen Ort, genannt »Garrick's Head«, ein Wirtshaus, in dem eine Gesellschaft verdorbener Advokaten zusammenkam, um in langen Talaren und gewaltigen Perücken die oft nur zu ernste Jury in der amüsantesten Weise zu imitieren.

Mehrere Mitglieder verkleideten sich gewöhnlich in Droschkenkutscher, in Frauenzimmer oder Polizeidiener und erschienen dann vor den gestrengen Richtern im Verhör. Richter, Geschworene und Zuhörer saßen bei diesen Verhandlungen mit einem Glase Grog und mit brennenden Zigarren sehr andächtig auf den Bänken. Zum Gegenstande der Diskussion nahm man gewöhnlich Tagesgeschichten, die natürlich oft nur gar zu zweideutig waren. Aller Londoner Witz schien sich aber damals in diese Versammlung geflüchtet zu haben. Rechts und links sprudelte es von Humor, und die ernsten Briten, von denen man kaum geglaubt hatte, daß sie je einmal in ein schallendes Gelächter ausbrechen könnten, sie rasten dann nicht selten auf ihren Bänken umher, als wären sie leibhaftige Wiener.

War das Verhör beschlossen und hatten sich Ankläger und Verteidiger weidlich miteinander herumgezankt, da sprach man den unglückseligen Angeklagten natürlich jedesmal frei, und die Szene änderte sich dann plötzlich aus einem Gerichtshof in den Tanzboden eines »Château Rouge« oder eines »Jardin Mabille«, auf dem sich die schönsten Grisetten und Loretten Londons in großer Menge einstellten. Es gelingt den Engländern aber nie, dergleichen Reunions mit jenem Geschmack und mit jener hohen Grazie zu arrangieren, welche den Leuten an der Seine eigen ist; eine Königin Pomare würde man auch vergebens in ganz London suchen.

Statt aller Musik hat man bei solchen Gelegenheiten nur das herzzerreißende Geklimper eines alten Pianos, das gewöhnlich von einem alten Musiklehrer oder von sonst einem herabgekommenen Künstler in der entsetzlichsten Weise gerührt wird. Freundliche Weiber nahen bisweilen dem alten Musikanten mit einem Glase Brandy, um ihn für fernere Kompositionen zu stärken. Trotz vieler Ausgelassenheiten behalten diese Vergnügungen stets etwas Melancholisches. Man knöpft unwillkürlich den Rock zu und fühlt nach seiner Brieftasche.

An Orten der Erheiterung fehlt es indes in London durchaus nicht; auch nicht an solchen, die von den unbemittelten Volksklassen besucht werden können. Die kleinen Theater geben für sehr wenig Geld jeden Abend, sonntags ausgenommen, eine Menge Stücke, unter denen man fortwährend die Dramen Shakespeares figurieren sieht. Es macht einen komischen Eindruck, wenn man den »Hamlet« oder »Othello« auf diesen kleinen Bühnen sieht; mögen diese Sachen aber auch noch so schlecht gegeben werden, die Zuhörer lachen und weinen, wenn sie die Worte ihres größesten Geistes hören. Der Dichter verfehlt seine Wirkung fast nie.

Ich muß immer an die kleine Anekdote denken, welche man von einem englischen Matrosen erzählt. Der arme Junge war mehrere Jahre lang auf der See gewesen; da geriet er nach London und ging am Abend in ein kleines Theater am Strand, um den »Othello« zu sehen. Er ist sehr aufmerksam und wendet den ganzen Abend keinen Blick von der Bühne. Als Othello aber seine Desdemona ersticht, da dreht er sich erschrocken um und ruft seinen Kameraden zu: »This stupid black devil – to kill such a nice woman!« (Was für ein dummer schwarzer Teufel – ein so nettes Weib totzustechen!) Jedenfalls hatte der gute Junge doch genug Illusionen für seinen Penny gehabt.

Mit der Ankunft in England wird jeder Fremde, wenn er es früher noch nicht war, doch gewiß dann, mehr oder weniger ein Politiker. Er sieht, daß die Leute stets an den Straßenecken stehenbleiben, um auf den Plakaten nachzuforschen, wo am Abend ein Meeting gehalten wird, wo man sich einer politischen Demonstration wegen zu versammeln gedenkt. Er sieht zur festgesetzten Stunde jung und alt in aller Eile den Ort dieser Zusammenkünfte aufsuchen und den Worten der Redner mit so großer Aufmerksamkeit zuhören, als handelte es sich stets um die wichtigsten Interessen; und er sieht endlich Tag für Tag die halbe Welt in den Zeitungen vertieft; er sieht, wie man die riesigen Kolonnen einer »Times«, eines »Morning Chronicle« mit wahrhaft bewunderungswürdiger Ausdauer durchstudiert, und unwillkürlich nimmt er zuletzt selbst ein Blatt in die Hand und fängt an zu lesen. Da ist es um ihn geschehen.

Er erfährt, daß etwa Sir Robert Peel am Ruder des Staates sitzt, daß der kleine Lord John Russell aber schon alle seine Genossen um sich sammelt, um den Gegner zu verdrängen; er sieht, was die Freetraders in ihren Meetings sagten und die Irländer in Conciliation Hall, und ohne daß er es weiß, wird er bald mit dem Stand der Parteien bekannt; wenige Wochen vergehen, da hat er sich eine Meinung gebildet, und ist ein halbes Jahr herum, da sitzt er auch schon mit befreundeten Bretonen in der Bar eines Hotels, um über Korn- und Zuckerzölle geradeso verwegen mitzusprechen, als wenn er diese Sachen schon in Quarta auf der Schule der Heimat von hinten und von vorne kennengelernt hätte. Mir ging es wenigstens so.

Kommt nun gar die Zeit der Parlamentseröffnung heran, beginnen im Hause der Commons jene kolossalen Reden, zu deren aufmerksamem Studium man eigentlich ganze Tage nötig hätte, da wird es einem förmlich unheimlich zumute, wenn man nichts von dem weiß, was in der Welt vorgeht. In Wirtshäusern, in Klubs, in Lesezimmern fallen die Menschen wie Wölfe über die zuletzt erschienenen Blätter her; und gibt es zu wenige Zeitungen für die anwesenden Leute, da liest der eine den andern vor; und ist man mit dem Lesen fertig, da beginnt die Diskussion, und was die edlen Lords und die würdigen Commons am Abend vorher bis auf die Hefe durchdiskurrierten, das läuft jetzt noch einmal durch die Debatte von tausend und aber tausend Familien und Gesellschaftskreisen, und wie ein abgeschiedenes Wesen sitzt man da, wenn man von allem nichts versteht und über nichts mitreden kann.

Gerade wie es einem aber in dem Treiben der Straßen ging, wo man eben nichts verloren und nichts zu tun hatte, wo man aber dennoch, vom Strome fortgerissen, zuletzt ganz so rannte und lief wie alle die emsigen Kommis, Makler und Handelsherren, ganz so, als ob man auch in Zeit von zwei Minuten auf der Börse eine halbe Million verdienen könnte, wenn man nur zur rechten Zeit ankäme – in derselben Weise wird man auch zuletzt von dem Treiben der Politiker fortgezogen; man kann schon bald nicht mehr ruhig nach Bett gehen, wenn man nicht vorher das letzterschienene Blatt gelesen hat; man interessiert sich für den Kampf eines fremden Volkes mehr wie für alle die stille Gemütlichkeit der Heimat.

Manchen meiner teueren Landsleute habe ich freilich angetroffen, der sich in England ebensowenig um die Politik bekümmerte wie weiland zu Haus in der Heimat; aber das waren auch eben nur schöne deutsche Ausnahmen, große Kerle, die sich in London noch abends auf ihre Stuben verkriechen konnten, um Grimms »Kinder- und Hausmärchen« zu lesen.

Man erlernt die Politik in England spielend. Die Namen der Matadore der beiden Häuser sind fortwährend im Munde der Bevölkerung; ihre Porträts findet man jede Woche in den Karikaturen von »Punch« und anderen scherzhaften Blättern. Man ist bald mit allem, was ein Minister getan und getrieben hat, so genau bekannt, daß einem der Mann durchaus familiär vorkommt, da ist keine Geheimniskrämerei im Spiele. Da existiert keine Furcht mehr vor einem erhabenen, allmächtigen Manne – ein jeder weiß, daß die Minister die Sklaven der öffentlichen Meinung sind, daß sie vom Volke für jeden Dienst gut bezahlt werden, daß es ihre große Schuldigkeit ist, wie Pferde zu arbeiten. Machen sie sich angenehm, da liebt man sie; werden sie unanständig, da geht man in Zeitungsartikeln und in den Reden der Meetings nicht gelinder mit ihnen um wie mit jedem anderen Menschen und freut sich darüber, wenn die widerspenstigen Herren nächstens in einer Debatte unterliegen und einer andern Partei das Feld räumen müssen. Diese ganze Manier, über die Minister und Agitatoren des Landes zu urteilen, zeigt sich schon in der humoristischen Weise, in welcher man diskursive mit ihren Namen umspringt. Sir Robert Peel heißt gewöhnlich »Sir Robert« oder »Bobby Peel«. Den Lord John Russell nennt man »Lord John« oder »little John«. Daniel O'Connell nannte man meistens »old Dan«, Busfield Ferrand fast durchgängig »Bill Ferrand«. Den Chartisten Feargus O'Connor titulierte man schlichtweg »the wild Feargus«.

In den letzten zwei Jahren war Richard Cobden der Mann, den man bei jeder Gelegenheit nennen hörte; erst als die Anti-Corn-Law-Agitation ihren Gipfel erreicht hatte und Sir Robert, der Stimme der öffentlichen Meinung gehorchend, die Sache zuletzt in seine eigenen Hände nahm, um sie im Hause der Commons der Entscheidung entgegenzuführen, da war »Bobby Peel« wieder der Held des Tages, und alle Augen richteten sich auf ihn. Jeder wußte zwar, daß Peel eigentlich nur das tat, was Cobden ihm seit sieben Jahren vorgebetet hatte; er erklärte ja selbst in seiner ersten Rede bei Beginn der Session von 1846, daß er bisher immer im Dunkeln gesteckt habe, daß ihm aber im letzten November plötzlich ein Licht aufgegangen sei und daß er nun Cobdens Werk vollenden wolle. Es war nun gewissermaßen sehr traurig, daß »dem ersten Mann Englands« dieses Licht erst so spät aufging. Der Brief an die Londoner Wähler, in dem sich Lord John für die Sache der Freetraders erklärte, möchte auch das Seinige dazu beigetragen haben, um den Premier so rasch von seinen bisherigen Meinungen abzubringen; denn jedenfalls wäre es hart für ihn gewesen, wenn ihm der kleine John den Triumph der Abschaffung der Korngesetze vor der Nase weggenommen hätte. Genug, Peel nahm die Sache der Freihandelspartei in seine Hände, und da man weiß, daß er alles bei dem rechten Fleck anzugreifen versteht, so freute man sich darüber und brach sogar in lauten Jubel aus, als er endlich sein großes Schema zum besten gab, seine »allmächtige Maßregel«, welche man lange nicht so umfassend und durchgreifend erwartet hatte, als sie es wirklich war.


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