Frank Wedekind
Mit allen Hunden gehetzt
Frank Wedekind

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Sechster Auftritt

Rüdiger führt Leonore herein, die in ein leichtes Nachtgewand gekleidet ist.

Effie (mit gellem Aufschrei): Mutter! (Sie stürzt ihr entgegen.) Barmherziger Himmel, wie du aussiehst!

Leonore: Effie? – Lebst du noch?

Rüdiger (zitternd vor Besorgnis, bettet Leonore in einen weichen Sessel): Faß dich, um Gottes willen! Leg dich zur Ruhe!

Leonore: Die Treppe bis hier herauf! Die Treppe. Das nahm kein Ende! Eine Mauer über der anderen Mauer!

Effie: Was war das? Was hat es gegeben?

Rüdiger: Erschossen hat er sich!

Effie (neben ihrer Mutter kniend): Erschossen? Sich selbst? In deiner Gegenwart?

Leonore: Du, Effie, hast mir den Gedanken eingepflanzt!

Rüdiger: Vergiß das! Du darfst acht Tage keine Menschenstimmen hören!

Effie: O Mutter, hätte ich jemals gedacht, dich in so jammervollem Elend zu sehen!

Leonore: Gott sei Dank, mein Kind! Du erkennst mich noch! Einen Mord hast du vollbracht! Einen grauenvollen Mord!

Effie: Ich hatte geprahlt, Mutter! Mit kindischen Hirngespinsten hatte ich großgetan!

Leonore: Ich wanke hinunter – jede Stufe, jeder Treppenabsatz eine unzerreißbare Wand. Schon zu Stein erstarrt, stammle ich unaufhörlich: Liebt das Weib einen Anderen, dann – dann kann es sich so verstellen, daß . . . Und so weiter . . . Dann kann es sich so verstellen, daß . . .

Effie: Hätte ich mir doch lieber die Zunge abgebissen, als dich, Mutter, in den furchtbaren Abgrund zu hetzen!

Rüdiger: Aber bis zur Verstellung kam es doch so Gott will nicht!

Leonore (aufschreiend): Wie er jetzt daliegt!

Rüdiger: Komm zur Besinnung! Du tötest dich, wenn du daran zurückdenkst.

Leonore: Wie er daliegt! Saht ihr das schon? Der Mund, weit auf, läuft von Blut über. Die Augen faustgroße Kieselsteine!

Rüdiger (aufächzend): Leonore!

Effie: Soll ich den Arzt rufen, Mutter? Soll ich dir etwas Stärkendes bringen?

Leonore: Meine Stirne an den Pfosten seiner verschlossenen Tür pressen! Eine letzte kurze Minute Besinnungsmöglichkeit! Wie kam es, daß ich das mit heiligster Gewißheit noch erhoffte?

Rüdiger (sie angstvoll streichelnd): Vorbei ist vorbei! Denk, wie du dich uns erhältst! Du siehst aus, als hättest du keinen Tropfen Blut mehr im Körper!

Leonore: Dafür ist deine Freiheit mit Blut erkauft! Sei stolz, Rüdiger! Stell dich gekrönten Häuptern zur Seite! Mit zwei Menschenleben ist deine Freiheit erkauft!

Rüdiger: Heiliger Gott, mit zweien!

Leonore: Rechnest du meines vielleicht für nichts? – Wie rasch du zusammenzuckst! Rechnest du mein Leben für gar nichts? Was bin ich noch? Nein, du hast nichts erlitten. Ich allein bin Abschaum, Auswurf! Du stehst fleckenlos da wie Gott!

Rüdiger: Martere mich nicht, Leonore! Was hat er getan? Sage mir, was vorging!

Leonore: Ich Kindskopf! Ich alberne Gans! Angelweit offen klafft seine Zimmertüre! Ich selber, als ich im Zimmer stand, ich drückte die Tür von innen zu, aus Angst, daß uns die Hausknechte von draußen zusehen!

Rüdiger: Sprich nicht weiter! Ich bitte dich, sprich nicht weiter!

Effie: Welcher Mann betritt je in solcher Verzweiflung das Zimmer einer Frau! Und das alles nur, weil wir Frauen unsere Macht nicht kennen!

Leonore: Kind! Kind! Bewahre uns Gott vor der Macht! Nie im Leben habe ich mich verstellt. Und nun da, wo immer nur reinste Offenheit waltete! Wo nie ein Hauch von Falschheit möglich war! Da sich verstellen!

Rüdiger: Sind wir noch Mann und Frau, Leonore, oder nicht! Ich beschwöre dich, komm zu Ende, damit ich weiß, was ich noch bin!

Leonore: »Wo bleibt deine Wollust?« schreie ich mir zu. Angewurzelt am Kamin höre ich zu jedem Kleidungsstück, das er fortwirft, sein gellendes Hohngelächter. Gassenhauer pfeift er zum offenen Fenster hinaus. Viehisch wird er, als wäre er im Stall. – Und dabei die Höllenangst, daß das Tier sich plötzlich auf mich stürzt. Ich natürlich schlage mit allen Gliedern auf ihn ein. An Verstellung nicht mehr zu denken! Du verloren! Ich verloren! Alles verloren! Da fliegen mir seine Beinkleider an die Stirn, und das Gold rollt mir über den Körper hinunter.

Rüdiger: Schandbar! Schandbar! Sag mir, kam es zu Tätlichkeiten?

Leonore: Wolken über Wolken türmen sich mir vor den Augen auf. Endlos gedehnte Qualen: Am Spiegel ist er festgewachsen, verstrickt sich absichtlich in seine Halsbinde, versucht drei Frisuren hintereinander. Grausame Schadenfreude! Teuflische Henkerskniffe! Hält mir seine Hemdknöpfe vor Augen, preist sie als Kunstwerke! Stellt sich gekränkt, weil ich die Knöpfe nicht ehrfurchtsvoll genug bewundere!

Effie: O Mutter, was hat uns beide in diese entsetzlichen Verhängnisse getrieben! Wenn ich an unser Heim in Hannover zurückdenke. Ließen wir uns von solchen Erlebnissen träumen!

Rüdiger: Nun, Leonore?

Leonore: »Jetzt oder nie!« schreie ich mir zu – »du bist im Tollhaus«, schreie ich mir zu. »Dort, wo die Nacktsüchtigen ihren Wahnsinn austoben! Meine Finger hängen voll Fetzen, so rasend reiße ich mir die Kleider vom Leib, bis ich da stehe – vierzehn Jahre ward ich von meinem Gatten nicht nackt gesehen, und stehe nackt vor dem Scheusal . . . Nein! Nicht vor ihm! Hinter ihm! Er sieht mich nicht, klebt noch an seinem Spiegelbild. Da packt mich Schamlosigkeit so übergewaltig an . . . Wie war das nur? Muskelspannung! Rieseln über die ganze Haut! Aufruhr in allen Gliedern! Nun noch ein letzter Aufwand: Ich zwinge mich zu lachen. Gott sei gedankt, es glückt! Ich lache – lache . . . (Sie bricht in wildes Gelächter aus.)

Effie: Komm mit mir, Mutter! Bei mir findest du Ruhe, Freude, Behagen!

Leonore (lacht weiter).

Rüdiger: Das ist entsetzenerregend! (Zu Leonore.) Willst du mir nicht endlich sagen, was weiter geschah?

Leonore: Ruhe? Behagen? (Lachend.) Gib mir zu tun, Rüdiger! Laß mich das Erlebnis verwerten! Sonst bleibt dir nichts, als mich zu dem Ewignackten ins Tollhaus zu sperren.

Rüdiger (im Begriff zu gehen): Jetzt ist es aber höchste Zeit, einen Arzt zu rufen!

Leonore (sich beruhigend): Was wollt Ihr? Was entsetzt Ihr euch vor mir? Mein Lachen war die Rettung! – Rettung? – Nein! Mein Lachen war der Mord! Hinunter, hinauf, hinauf und hinunter, rollen seine Tigerblicke über meinen nackten Körper. Da war jeder Blutstropfen in mir ein Gedanke: Was kann eine kluge Mutter heutigentags von ihrem Kind lernen!

Rüdiger: Also doch! Natürlich! Leonore.

Leonore: Nein, Rüdiger! Tausendmal nein! Du bist unversehrt! Barmherziger Gott, soll denn all das Ausgestandene umsonst vergeudet sein? Lachend richte ich mich hoch vor ihm auf, laut lachend, daß meine Stimme sein Gelächter übertönt, und rufe: Dich will ich! Sei mein! Ich befehle, ich fordere! Ich schwur, dich zu genießen! Und ich setze meinen Willen durch! So! So! Vorwärts ohne Scham! Jetzt kannst du mich einmal so recht nach Herzenslust lieb haben!

Effie (die Hände ringend): Oh! Oh! Welcher Teufel gab dir die fürchterlichen Worte ein?

Leonore: Du, mein Kind! Welch anderer Teufel als du!

Rüdiger (pocht sich mit den Fäusten gegen die Schläfen): Werden diese Folterqualen denn ewig kein Ende nehmen?

Leonore: Hui, wie ihm da jählings die Frechheit aus den Augen wich! Und wie seine Roheit schwand! Und wie die Siegestrunkenheit zerrann! Wie sein Lachen erst einen Augenblick trocken und klapprig wurde, eh es abbrach. Und dann . . .

Rüdiger: Eile dich, Leonore! Soll mich die Erzählung meiner Rettung um den Verstand bringen? (Drohend.) Oh, wenn er noch lebte . . .

Leonore: Dann – Allmächtiger, er, unser aller Verderben, wenn ich einen Atemzug lang nicht ausgelassen lache! (Sich im Fessel aufrichtend, mit wildem Lachen.) Aufgenötigt habe ich ihm meinen Leib! Nicht wie ich jetzt bin! Nein, du siehst, ich beeile mich! Meinen nackten Leib! Aufgezwungen habe ich ihm meinen Leib!

Effie: Komm zu dir, Mutter! Das anzuhören, erträgt kein Mensch!

Leonore (plötzlich ernst): Und dann – ich beeile mich – dann kam es dazu . . .

Rüdiger (schreiend): Leonore!

Leonore: Er, bei dem jeder Satz in schallendes Gelächter zerplatzt, an den eigenen Flüchen erstickt er. Weiß ist er wie Marmor, fletscht die Zähne, beißt sich in die Hände, schlägt sich die Fäuste ins Gesicht. Und ich? Da wälzt sich das Scheusal schon ganz verwirrt, unser aller Tod, wenn es den Betrug erkennt. Was ich da getan habe! Man soll mich in Stücke schlagen, soll die Stücke unter den Hammer werfen, soll mich zerstampfen, zerstampfen, zerstampfen! (Sie ist, die Hände vor dem Gesicht, in einen anderen Sessel gesunken.)

Effie (gedämpft aber energisch zu Rüdiger): Sie begehen ein unmenschliches Verbrechen, wenn Sie die Frau in diesem Augenblick noch quälen!

Rüdiger (gedämpft): Quälen nennen Sie das? Wäre es vielleicht liebevoller von mir, wenn ich gleichgültig zuhörte? – Das wäre ein schöner Dank für ihre Opfer!

Leonore (unter strömenden Tränen): Was tat ich denn Gräßliches, daß ich zum Dank für das, was ich getan habe, alles verlieren soll? Sind wir alle hier denn irgend etwas mehr als nackt? Kein Faden am Leib ist mehr unser Eigentum! Nun? Geküßt habe ich ihn, weil ich sicher war, daß ihn darauf die Wut überwältigt und er mich unter seine Füße stampft. Aber da . . . (plötzlich gefaßt, ohne Tränen, abwechselnd Rüdiger und Effie anstarrend) . . . da reißt er, als wollte er mich vor sich zu Boden schlagen, reißt beide Hände über den eigenen Kopf zurück, sieht mich lange mit weit aufgesperrten Augen drohend an, ob ich bleibe, ob ich zurückwanke – ich fühle schon das Brennen seiner Fäuste auf meinen Wangen – da – da zuckt etwas – da hat er sich von oben rückwärts in den Scheitel geschossen! (Auf ihren Scheitel deutend.) Da! Da hinein hat er sich geschossen! (Zurücktaumelnd.) Fällt mir gegen die Knie, daß ich bis zum Kamin zurücktaumle, und bleibt regungslos liegen. (Pause.)


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