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Frankfurter Zeitung vom 29. Oktober 1917.
Es ist angenehm, sich ausnahmsweise mit einem sachlichen Gegner auseinanderzusetzen. Die eben erschienene Schrift des jungen Berliner Ordinarius Erich Kaufmann (mit dem obigen Titel) verdient diese Bezeichnung. Die Gesinnung, die sie trägt, ist sympathisch, der staatsrechtliche und historische Inhalt, auch wo er anfechtbar sein könnte, wertvoll. Gänzlich versagt sie erst da, wo der Jurist zum Politiker wird. Das ist der Fall vor allem bei der Würdigung der politischen Folgen der vom Verfassungsausschuß des Reichstags beantragten Aufhebung des Art. 9 Satz 2 der Reichsverfassung, welcher bekanntlich den bundesstaatlichen Regierungen verbietet, Mitglieder des Reichstags, wenn sie ihr Mandat beibehalten, zu Bundesratsbevollmächtigten zu ernennen, und es damit ausschließt, daß ein dem Parlament entnommener Reichskanzler (der dem Bundesrat angehören muß) oder Staatssekretär (wenn er, wie durchweg üblich, in den Bundesrat eintritt) Einfluß in seiner Partei behält. Die praktische Bedeutung zeigte sich gerade jetzt. Die Übernahme der auch außerhalb ihrer Parteien angesehenen Abgeordneten Spahn (Zentrum) und Schiffer (nationalliberal) in Regierungsstellen hatte den Verlust ihres Einflusses in ihren Parteien zur Folge. Die Regierung gewann ein paar brauchbare Verwaltungsbeamte, die sie ohnedies besitzt, ohne aber, wie die jüngste Krisis zeigte, politisch irgend etwas an parlamentarischem Rückhalt zu gewinnen. Auf der anderen Seite hatten jene Politiker zwar durch ihre Metamorphose ihren parlamentarischen Einfluß eingebüßt, Einfluß innerhalb der Regierung aber nicht im mindesten gewonnen. In seiner politischen Sinnlosigkeit war der Vorgang ein Musterbeispiel für die verderbliche Wirkung jener Bestimmung. Wenn Bennigsen, den der Verfasser (Seite 75) in befremdlicher Art zitiert, in Bismarcks Regierung eingetreten wäre, so würde er, infolge des Art. 9, die Partei in die Hände des linken Flügels ( Lasker-Forckenbeck) haben fallen lassen, und er hat in persönlicher Rücksprache Bismarck auch erklärt, daß er dessen Politik als Parteiführer wirksamer dienen könne als in einer Verwaltungsstelle. Der Sinn der Beseitigung jener Schranke liegt eben keineswegs nur in einer Stärkung der Parlamentsmacht, sondern ganz ebenso auch umgekehrt in der Stärkung des legitimen Einflusses der politischen Führung auf das Parlament. Heute beeinflußt die Bürokratie das Parlament durch ein Trinkgeldersystem von kleinen Konzessionen und verhüllter Ämterpatronage. Höchst charakteristischerweise möchte nun der Verfasser diesen Zustand noch in seinen Konsequenzen steigern. Er findet es »angenehm« und »ersprießlich« für die Regierung, wenn im Parlament Leute mit »solchem Ehrgeiz« (nach »Regierungsstellen« nämlich!) sitzen (S. 77). Also schreite man auf dem durch die Übernahme von Spahn und Schiffer betretenen Wege fort und eröffne den Parlamentariern die Chance, anders als auf dem Wege »der normalen Beamtenlaufbahn« Ämter zu erlangen. In unserer Sprache: man mache das Parlament zu einer Stätte für das Getriebe von Strebern und Stellenjägern, ohne ihm aber politischen Einfluß einzuräumen, und also ohne für Führernaturen, – die ja nicht Pfründe, Rang, Gehalt, sondern etwas ganz anderes: Macht und politische Verantwortung erstreben, – in ihm Raum zu schaffen. Resultat: Neben den kleinen die großen Trinkgelder als Prämie für eine der Bürokratie genehme Parlamentstätigkeit!
Wenden wir dem abstoßenden Bild den Rücken und fragen nur noch, welche Bedenken denn nun eigentlich gegen die Aufhebung jener Bestimmung vorgebracht werden. Mit den »Gewissenskonflikten« zwischen der »eigenen Überzeugung« des Abgeordneten und der »Instruktion« des Bundesratsbevollmächtigten bleibe man uns vom Leibe. Der Abgeordnete Spahn müßte als Mitglied der preußischen Zentrumsfraktion ja die preußische Regierung für die ihm gegebenen Instruktionen »nach eigener Überzeugung« zur Verantwortung ziehen. Warum erregt dieser tolle Zustand keinen Anstoß? Einfach, weil es sich nicht um den Reichstag handelt. Der »Konflikt« erledigt sich sehr einfach: Ein Staatsmann, der Instruktionen erhält, welche seinen politischen Überzeugungen zuwiderlaufen, hat sein Amt zu verlassen. Der Rücktritt ist dann ein Gebot der politischen Ehre und nicht: eines »Gewissenskonflikts«.
Aber der Verfasser fährt schwereres Geschütz auf. Zwar die Gefahr, daß Preußen durch einen Block parlamentarischer Bundesratsbevollmächtigter von Kleinstaaten vergewaltigt würde, ist schwerlich ernst gemeint. Mehr als zwei Drittel der Reichstagsabgeordneten stellt Preußen, und die ungeheure Übermacht, welche neben dem Veto der Präsidialstimme und den persönlichen Machtbefugnissen des Kaisers die Militärkonventionen und die oft rücksichtslos ausgenutzte Eisenbahn- und Finanzmacht gegenüber den Kleinstaaten darbieten, ist unerschütterlich. Aber der Verfasser sieht durch parlamentarischen Zentralismus die Mittelstaaten mit »Zerstörung« bedroht, Bayern zum Suchen nach »Anschluß außerhalb« verleitet oder gar »aus dem Reich herausdrängt«. Ob solche Wendungen politisch angebracht sind, möge der Verfasser doch reiflich erwägen. Sie entbehren jedes Ernstes und würden die wirklichen Zentralisten (wenn es solche gibt) wenig schrecken. Aus der Zollgemeinschaft heraus führt heute kein gangbarer Weg. Wir wünschen die Teilnahme Bayerns und der anderen großen Mittelstaaten an der Leitung des Reichs gestärkt und sehen gerade in der Parlamentarisierung in Verbindung mit der Entwicklung vorberatender Ausschüsse unter obligatorischer Vertretung der Mittelstaaten und mit dem Recht, vom Reichskanzler Rede und Antwort zu verlangen, dazu den Weg. Bleibt aber die mechanische Schranke des Art. 9 Satz 2 bestehen, so kann die Entwicklung dahin gehen, daß zwar der Reichskanzler als zunehmend rein preußischer Interessenvertreter im Bundesrat bleibt, die künftigen parlamentarischen Staatssekretäre aber, um sich im Parlament nicht zu entwurzeln, nicht in den Bundesrat eintreten, sondern, gestützt auf das Parlament, trotz ihrer formalen Unselbständigkeit auf Kosten des Reichskanzlers und des Bundesrats an selbständigem Einfluß gewinnen, der Bundesrat aber eine zwischen preußischem und Reichsparlament ausgeschaltete Abstimmungsmaschinerie wird. Dies möchten wir verhindern.
Der Verfasser schildert richtig, wie Bismarck seinerzeit seine Leitung der Politik nicht auf Bundesratsabstimmungen, sondern auf Verständigung und Kompromiß mit den Höfen und Ministerien abgestellt hat (der reale Machtanteil der Bundesstaaten war freilich minim!). Aber wie in der Außenpolitik die Beeinflussung der Monarchen und Kabinette als politisches Mittel an Bedeutung zurücktritt, so werden in Zukunft auch in der Innenpolitik die Bundesratsbevollmächtigten an der Stellung der Einzel parlamente nicht vorübergehen können und an ihnen den nötigen Rückhalt finden. Die Frage ist nur, ob man nicht klug tut, demgegenüber den Strom der deutschen Parlamentarisierung in die Kanäle des Reiches zu leiten. Damit dies möglich sei, muß jenes mechanische Hemmnis des Art. 9 beseitigt werden.
Schließlich noch eins. Ungern liest man auch in dieser Schrift unsachliche Literatenwendungen wie die Warnungen vor dem Aufgeben deutscher »Eigenart« (d.h. der reinen Bürokratenherrschaft). Wir haben das satt. Noch jedesmal vor unvermeidlichen Neuordnungen waren in den Augen der Interessenten des Bestehenden spezifisch »deutsche« Kleinodien in Gefahr, vor allem bei den großen Reformen zwischen 1807 und 1813, welche bekanntlich als Nachäffungen der französischen Revolution mit ungefähr so viel Recht verketzert wurden wie heute die Arbeit an der Schaffung eines deutschen Volksstaats. Und es ist ein peinliches Schauspiel, wenn heutige Professoren Leute wie Bennigsen oder auch wie die Männer der Paulskirche oder die Göttinger Sieben nicht als Repräsentanten spezifisch deutscher politischer Gesinnung anerkennen wollen, weil ihre Eigenart den heutigen Schulmeistern des »deutschen Geistes« nicht in ihr trauriges Eintagsschema paßt.