Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zur Frage des Friedenschließens

1915/1916

Der Friedensschluß einer europäischen Macht in unserer geographischen Lage, welche auch künftig »Weltpolitik« zu treiben beabsichtigt, hat von der Tatsache auszugehen, daß außer uns noch sechs andere Mächte vorhanden sind, welche das gleiche zu tun willens sind und von denen einige der stärksten an unseren Grenzen auch die Macht dazu haben. Daraus folgt, daß trotz eines noch so vollständigen Sieges jene Absicht für uns unausführbar ist. Weltpolitik ist für uns nicht zu führen, wenn wir die Chance haben, bei jedem Schritt auch in Zukunft stets erneut auf die gleiche Koalition zu stoßen, wie sie diesmal gegen uns sich zusammengefunden hat. Es muß die Möglichkeit für uns offen gehalten werden, mit einer der stärksten von ihnen eine feste Verständigung auf lange Sicht hinaus zu erzielen. Dies muß keineswegs sofort geschehen, wohl aber dürfen die Friedensbedingungen nicht so gestaltet werden, daß sie jene Möglichkeiten dauernd ausschließen. Dies wäre der Fall, wenn Annexionen nach beiden Fronten auf jeder von ihnen uns Gegner schaffen würden, welche durch die Interessen ihrer eigenen Sicherheit genötigt wären, jedem Feind, der gegen uns in die Schranken tritt, die Hand zu reichen. – So aber wäre die Lage Englands und Frankreichs, wenn Belgien durch Deutschland ganz oder überwiegend annektiert oder in einer Art dauernd »angegliedert« würde, welche einer Verwandlung der belgischen Seeküste in eine maritime Operationsbasis gegen England, der belgischen Südgrenze in eine territoriale Operationsbasis gegen Frankreich gleichkäme.

Die Annexion Elsaß-Lothringens hat jeder Macht, welche in Gegensatz zu unseren weltpolitischen Interessen geriet, gestattet, bedingungslos und ohne alle Gegenleistung auf die Hilfe Frankreichs gegen uns zu zählen, ohne daß die geringste Chance für uns bestand, durch Verständigung mit Frankreich diese Lage zu ändern, weil die Ehre den Franzosen verbot, die Annexion als definitiv anzuerkennen, solange die Elsässer selbst dies zu tun zum erheblichen Teil abgeneigt waren, und solange die politische Lage des Elsaß den Stempel des Provisoriums an sich trug. Wir sind dadurch weltpolitisch vollkommen gelähmt und sowohl Rußland wie England gegenüber zur Ohnmacht verurteilt worden. Eine Annexion oder dauernde widerwillige »Angliederung« von Belgien an uns innerlich anzuerkennen, verbietet Frankreich und England nicht nur die Ehre, sondern die elementarste Rücksicht auf die eigene Sicherheit ganz ebenso, wie unsere Sicherheitsinteressen uns verbieten würden, die Angliederung Belgiens an eine jener beiden Mächte zu dulden. An ein innerliches Sichabfinden mit der deutschen Herrschaft von seiten der Belgier selbst ist vollends unter gar keinen wie immer gearteten Verhältnissen jemals zu denken. Alle gegenteiligen Vorstellungen sind auch hinsichtlich der Flamen – große Selbsttäuschungen. Aber auch abgesehen davon steht fest: jede Macht, die uns künftig bedrohen könnte, insbesondere also Rußland, würde im Fall der Annexion jenes Gebiets nunmehr die vollkommene Sicherheit haben, nicht nur wie jetzt: Frankreich, sondern: Frankreich und England auf seiner Seite zu haben. Und nicht nur diese Militärmächte allein, sondern alle jene ideellen Mächte in der ganzen Welt, welche nun einmal durch das Schauspiel der dauernden Vergewaltigung und Unterjochung eines Volkes mit (formell) erstklassiger Zivilisation in Bewegung gesetzt würden. Die Stimmung, welche diesmal in Amerika und Italien von Kriegsbeginn an gegen uns bestand, und deren Folgen politisch und auch militärisch nicht gleichgültig gewesen sind, bestände dann dauernd auch im Frieden. Denn so hoch man die ältere und technisch weit überlegene englische Nachrichtenorganisation und vor allem die Angst dieser Länder vor der überlegenen englischen Seemacht als Gründe ihrer feindlichen Stellungnahme gegen uns einschätzen mag, so kann über die gewaltige Bedeutung des Eindrucks unseres Einmarsches in Belgien dafür doch kein Zweifel bestehen. Die urwüchsige Solidaritätsempfindung der lateinischen ebenso wie der angelsächsischen Bevölkerung der Erde ist an sich in ihrer Bedeutung für die Stellungnahme Italiens und Amerikas von uns zu niedrig eingeschätzt worden. An ihrer Erweckung ist der Eindruck von deutschen Eroberungs- und Invasionsplänen in Belgien und auf dem Weg über Belgien ganz wesentlich beteiligt.

Haben wir mit einer dauernden und wachsenden Gefährdung unserer nationalen Unabhängigkeit durch Rußland in Zukunft zu rechnen, so gebieten uns zwingende Gründe weltpolitischer Art, nicht an unserer Westgrenze einen Zustand zu schaffen, welcher für alle Zukunft die Feindschaft eines großen und – mögen wir annektieren, was wir wollen – sehr mächtig bleibenden Teils der Welt zur Folge haben muß. Daß wir mit jener Bedrohung durch Rußland zu rechnen haben werden, unterliegt nicht dem geringsten Zweifel. England kann unseren Handel abschneiden und uns Kolonien abnehmen auf Kosten eigener materieller Interessen, wie selbst dieser Krieg gezeigt hat –, Frankreich könnte uns im Fall eines Sieges eine Provinz abnehmen. Keine der beiden Mächte und auch nicht beide zusammen könnten jemals unsere Existenz als Nation und Großmacht wirklich dauernd vernichten. Die einzige Macht, von welcher uns etwas derartiges drohen kann, ist aus geographischen und nationalpolitischen Gründen Rußland, und zwar bis zum Eintritt eines (relativen) populationistischen Sättigungsgrades, der noch in weiter Ferne liegt, in steigendem Maße. Rußland wird auch, wenn wir die gegenwärtige Linie unserer Orientpolitik fortsetzen, unbedingt dazu genötigt sein, mit allen Mitteln nach der Vernichtung unserer Machtstellung zu trachten. Nicht nur der durch ökonomische und soziale Motive bedingte Expansionsdrang der russischen Bauernschaft, sondern die Abschneidung vom offenen Meer und von den historisch und kulturlich bedingten nationalen Aspirationen aller Jahrhunderte zwingt jede russische Regierung in Zukunft zu einer vor allem darauf gerichteten Politik. Es scheint nicht klug, dieser Politik in Gestalt der Heere und der ökonomischen Mittel von Frankreich und England Helfer zu verschaffen, welche durch ihr eigenes Interesse genötigt sind, ihr bedingungslos dauernd zur Verfügung zu stehen.

Die durch den ungeheuren Lärm, mit welchem wir unsere wahrlich bescheidene Übersee-Expansion in Szene setzten, verursachte Vorstellung, daß wir das ebenso aussichtslose wie nach geographischen Bedingungen sinnlose Ziel verfolgten: 1. eine deutsche Expansion in Westeuropa vor Englands Toren, 2. die Eroberung des indischen und ägyptischen Kolonialreichs und 3. die Vernichtung des national-britischen Weltreichs durchzusetzen, hat der russischen Politik schon bisher diesen Dienst geleistet. Die beginnende Umsetzung des zuerst genannten Ziels (Expansion in Westeuropa) in die Tat würde für die russische Politik die gleichen Chancen für alle Zukunft verewigen. Die beiden anderen Ziele würden aber beim Versuch der Umsetzung in die Tat alsbald als Utopien erkannt werden – im Gegensatz zu der äußerlich möglichen Annexion Belgiens. Daß der Gedanke, ein auf nationaler Grundlage ruhendes Weltreich wie England mit Kanada, Australien und jetzt auch Kapland zu zersprengen, für uns Unsinn ist und durch keine Niederlage Englands in die Tat umzusetzen wäre, hat der Krieg wohl erwiesen. Nur innere ökonomische und soziale Zersetzung könnte es zerfallen lassen. Gegen den Versuch, eine deutsche Herrschaft an die Stelle der englischen zu setzen, fände es sich sofort wieder zusammen, genau so wie jetzt die Anglo-Amerikaner zum alten Mutterland halten. Über den Ungedanken einer deutschen Herrschaft in Indien ist wohl kein Wort zu verlieren. Eine etwaige Überspannung des direkten Aktionsradius der deutschen Orientpolitik bis nach Syrien und Ägypten bedeutete die dauernde solidarische Feindschaft Frankreichs und Italiens mit England gegen uns und ist aus geographischen Gründen für uns militärisch nicht durchführbar.

Es wird politisch durchaus nützlich sein, wenn der Verlauf des Kriegs in England den Eindruck hinterläßt, daß wir über Mittel verfügen, die naturgegebenen und unvermeidlichen Orientinteressen dieses Landes ernstlich zu schädigen, wenn Englands Politik unseren eigenen Kolonialinteressen so wie bisher ohne Notwendigkeit schikanös in den Weg tritt. Sicher aber ist, daß der Krieg, einerlei wie er im übrigen ausgeht, bei uns wie in England den Beweis liefern wird, daß eine Verdrängung der englischen Macht speziell in Ägypten zu unseren eigenen Gunsten politisch nicht in Betracht kommt, und daß es also notwendig und auch sehr wohl möglich ist, mit England über die beiderseitigen nordafrikanischen und Orientinteressen zu einem beide Teile befriedigenden Abkommen zu gelangen. Eine politische Mittelmeermacht können wir nun einmal aus geographischen Gründen nicht werden. Wenn so diese utopischen Ziele, welche der Zorn gegen England und die Phantastik politischer Publizisten anläßlich der Siege unserer Heere hie und da auftauchen ließ, sich von selbst durch die Gewalt der Tatsachen erledigen werden, so steht es infolge der militärischen Okkupation Belgiens und Nordfrankreichs anders mit dem Ziel der westeuropäischen Expansion. Der Gedanke einer solchen hat vor dem Krieg wohl auch dem verantwortungslosesten Bierstubenpolitiker ganz ferngelegen. Unser militärischer Aktionsradius, der im Orient selbst bei den überschwenglichsten Siegen seine festen Grenzen haben wird, reicht, wie sich zeigt, selbst in der jetzigen unerhörten Lage dieser Koalition gegenüber weit genug, um wenn nichts zur Zeit Unvorhergesehenes geschieht – Belgien und Nordfrankreich wenigstens äußerlich militärisch in der Gewalt zu behalten. Die Frage ist: ob wir es sollen.

Was haben wir uns von diesem Besitz zu versprechen? Zunächst 1. keine »deutsche Rheinmündung«, ein Kanal nach Antwerpen ist nur durch holländisches Gebiet möglich; ebensowenig 2. selbst im Fall des Hinzunehmens von Dünkirchen, Calais und Boulogne einen Kriegshafen für Schlachtschiffe. Dafür müßte schon Cherbourg mitannektiert werden, und dann wäre die deutsche Hochseeflotte, falls England in der Themsemündung einen Flottenstützpunkt schafft, in zwei strategisch getrennte Hälften zerschnitten. Also nur 3. einen Stützpunkt für Unterseeboote: und also die Möglichkeit einer Sperrung der Themsemündung, wenn dieses Kampfmittel genügend weiterentwickelt wird und wir es rücksichtslos, insbesondere ohne Rücksicht auf die Neutralen, gebrauchen. Aber die Ungunst unserer militär-geographischen Lage zur See wäre damit nur wenig gebessert, denn diese beruht darauf, daß die quer vorgelagerten britischen Inseln die fast vollständige Sperrung aller Nordsee- und Kanalhäfen für England sehr leicht machen, während die Sperrung Liverpools, auf die alles ankäme, dann ebensowenig wirklich durchführbar wäre, wie sie es jetzt gewesen ist. Dem freien Ozean wären wir in einem praktisch wirklich entscheidenden Grade nur dann näher gerückt, wenn wir auch die Häfen der Bretagne besäßen; ohne diese wird eine wirkliche Hinderung von Truppentransporten von England nicht möglich, und sie wird auch dann nur in unerheblichem Grade möglicher werden als diesmal, wo sie trotz des Besitzes von Zeebrügge und Ostende nicht gelang. Die Flankenlage der Häfen der britischen Seeküste bliebe bestehen. Die (in dem diesmaligen Kriege) völlig utopische Invasion nach England hinein wäre auch in Zukunft nur im Fall des Besitzes von Calais und der Nachbarhäfen eine ernsthafte Möglichkeit. Eben deshalb aber wäre die dauernde Besetzung benachbarter belgischer Küstenstriche durch uns nur das Mittel, England und Frankreich zu einem dauernden Schutz- und Trutzbündnis gegen uns direkt zu zwingen, also der russischen Politik in die Hände zu arbeiten. So wehrlos wie diesmal gegenüber einer wirklich gelungenen Invasion werden wir England künftig nicht wieder finden. Die Notwendigkeit ständiger Munitions- und Proviantnachschübe macht übrigens auch jede gelungene Truppenlandung, wenn nicht die feindliche Torpedo- und Unterseebootsflotte in jeder Hinsicht absolut unterlegen ist, zu einem reinen Abenteuer. Ob endlich unserer eigenen Unterseebootmacht für die Schädigung des englischen Handels und der englischen Truppentransporte künftig etwas mehr als die diesmalige – weit mehr durch den in dieser Art nicht leicht wiederholbaren, moralischen Eindruck als in wirklich militärisch wichtigen Erfolgen sich äußernde – Bedeutung beschieden sein wird, hängt von der heute nicht übersehbaren Frage ab, ob nicht vielleicht zunehmend wirksamere technische Mittel zur Unschädlichmachung der Unterseeboote geschaffen werden. Andererseits auch davon, wie sich der Aktionsradius und das Aktionstempo der Unterseeboote selbst entwickelt. Diese letzteren Umstände werden auch darüber entscheiden, wieviel oder wie wenig der Unterschied des Besitzes von Kanalstützpunkten gegenüber den Nordseehäfen für die Verwertung der Unterseeboote gegen England künftig bedeuten wird. Daß die Chance, dem englischen friedlichen und militärischen Schiffsverkehr im Kriegsfall Verlegenheiten zu bereiten, mit dem Besitz von Kanalhäfen steigt, soll mit alledem natürlich nicht bestritten werden. Ganz unsicher sind nur alle Faktoren für die Berechnung, wie stark diese Steigerung künftig militärisch ins Gewicht fällt. Politisch wird die ideelle Bedrohung: das gewaltig gesteigerte subjektive Bedrohtheits gefühl der englischen Bevölkerung uns gegenüber, das einzig sichere Ergebnis sein. Es scheint, daß manche Politiker sich eben davon günstige Wirkungen versprechen. Gerade dies aber geschieht mit dem denkbar zweifelhaftesten Recht. Gelänge es jetzt etwa, Calais zu besetzen und zu behaupten, so wäre ein guter Friede mit England gewiß wahrscheinlich, – dann nämlich, wenn England dabei gegen andere Konzessionen die Beseitigung dieser (wesentlich ideellen) Bedrohung, also unseren Verzicht auf die Kanalküste eintauschte. Würde man aber darauf bestehen, im Frieden Kanalhäfen oder auch nur dem Kanal naheliegende Gebiete zu behalten, dann wären die einzigen politisch denkbaren Wirkungen: einerseits dauernde Todfeindschaft Englands (und Frankreichs) uns gegenüber und andererseits die Verewigung von deren jetziger Koalition mit Rußland ausdrücklich oder stillschweigend, also: die günstigsten Zukunftschancen für Rußland gegen uns.

Gewiß ist es ein nationales Unglück, daß unsere mittelalterliche Geschichte und dann das 16. Jahrhundert die Mündungsgebiete des Rheins von uns trennte. Aber selbst wenn es möglich wäre, die Fehler von acht Jahrhunderten durch Annexionen wieder zu reparieren, so liegt doch eins auf der flachen Hand: nicht Belgien, welches an uns mit rein französischen Landesteilen grenzt, sondern – wie schon angedeutet – Holland müßte dann das Objekt unseres westeuropäischen Expansionsstrebens sein. Jede Karte zeigt und jeder ehrliche Politiker sollte zugeben, daß hier die politisch-geographische Verstümmelung Deutschlands liegt, welche durch jenes geschichtliche Verhängnis herbeigeführt wurde. Nun gibt es freilich hie und da Politiker, welche meinen, wenn wir Belgien uns zwangsweise »angliedern«, so wird Holland sich uns »freiwillig anschließen«. Es gehört ein unglaubliches Maß von Unkenntnis der holländischen Eigenart und Interessenlage dazu, um das zu glauben. Nur durch militärische Gewalt oder durch Vergewaltigung (gleichviel mit welchen Mitteln) könnte jetzt und künftig Holland zu irgend etwas, was einer Aufgabe seiner Selbständigkeit ähnlich sieht, veranlaßt werden. Es bleibe dahingestellt, ob eine indirekte, etwa durch ökonomische Mittel, ins Werk zu setzende Vergewaltigung leicht durchführbar wäre. Die Erfolge der österreichischen ökonomischen Zwangspolitik gegen Serbien sind nicht ermutigend. Jedenfalls wäre die Chance sehr groß, daß Holland alle Mittel dagegen in den Kauf nehmen würde, auch das: sich seinerseits zum Einfallstor Englands gegen uns und schlimmstenfalls selbst zu einem »Bündnis« nach Art Portugals herzugeben. In jedem Fall aber würde ein schwerer, auch für den Kriegsfall immerhin nicht gleichgültiger Haß der – seit der Annexion Hannovers – ohnehin tief mißtrauisch gewordenen holländischen Bevölkerung gegen Deutschland die Folge jeder als solcher fühlbaren Vergewaltigung der Selbständigkeit des Landes sein. Eine etwaige militärische Besetzung aber, die nicht so einfach ist, wie die Landkarte dem Landesunkundigen vortäuscht, würde England lediglich Anlaß geben, die holländischen Kolonien in »Verwahrung« zu nehmen, ohne daß wir dies hindern könnten.

Es ist eine ganz andere Frage, ob es etwa auf dem Gebiet unserer Verkehrspolitik Mittel gibt, den Holländern einzelne bestimmte, auf gegenseitigen Konzessionen ruhende Abmachungen vorteilhaft erscheinen zu lassen, welche dann zu intimeren Beziehungen der beiden Länder und Völker führen können, als sie bisher bestanden. Je sorgsamer dabei die unbedingte Selbständigkeit des Landes unsererseits geschont wird, desto möglicher kann dies erscheinen, und desto mehr wird auch politisch das Interesse Hollands, so wie bisher gegen jedermann, auch gegen England seine Selbständigkeit zu wahren, zugunsten einer engeren Freundschaft mit uns ausschlagen. Die »Angliederung« Belgiens aber und ein fühlbarer Druck unsererseits auf Holland würde das vorhandene Mißtrauen nur steigern.

Jegliche Annexions- und Vergewaltigungspolitik an der Westgrenze führt uns in eine Verwicklung von Todfeindschaften, welche unsere Macht für die Lösung der Probleme des Ostens dauernd lähmen. Glauben wir trotzdem, aus welchen Gründen immer, über das hinausgehen zu müssen, was das absolute Minimum an Sicherung der Grenzen unserer Rheinprovinz erfordert, nämlich 1. Herstellung des Zustandes von vor 1867 in Luxemburg und 2. eine Behandlung des belgischen Problems, welche eine zukünftige Versöhnung mit dem belgischen Volke nicht ausschließt und welche uns lediglich die ohne Annexionen oder annexionsartige »Angliederung« erreichbaren, relativ optimalen Garantien gegen plötzliche Überfälle auf unser westliches Industriegebiet gibt, – wollen wir also Expansions- und nicht bloße Sicherungspolitik im Westen treiben –, dann wäre eine vorbehaltlose Verständigung und d.+h. ein festes Bündnis mit Rußland absolute Voraussetzung. Andernfalls gibt es durchaus keine Mittel, den Fortbestand der jetzigen Koalition und die Erneuerung des gleichen Krieges in einem dem Gegner gelegeneren Zeitpunkt zu vermeiden, weil beides absoluten Lebensinteressen der Westmächte entspricht. Wir würden dann unsere Gegner in West und Ost geradezu nötigen, auf nichts anderes als die Vorbereitung dieses Zukunftskrieges hinzuarbeiten, selbst unter Preisgabe von anderen wichtigen (asiatischen und anderen außereuropäischen) Interessen, die sie schon im Lauf der letzten beiden Jahrzehnte lediglich aus Angst vor uns in auffallendem Maße zurückgestellt haben. Es steht aber dann auch bei noch so ausschließlicher Berücksichtigung rein militärischer Gesichtspunkte bei einem siegreichen Friedensschluß keineswegs fest, ob nicht die innerösterreichische und die Balkansituation sich bis dahin so verschoben und ob nicht die Entwicklung der englischen und russischen Wehrkraft und die technische Vervollkommnung der Gegner bis dahin solche Fortschritte gemacht haben, daß die Lage dennoch für uns weit schwieriger wäre als diesmal.

Abgesehen von diesen Zukunftschancen aber wird ein direkt greifbarer Effekt jeder, eine aufrichtige Verständigung mit den Westmächten doch für die Zukunft ausschließenden Annexionspolitik im Westen unvermeidlich der sein: den jetzigen Krieg ins Unabsehbare zu verlängern, gleichviel welche äußeren militärischen Erfolge wir erzielen. Unsere Gegner können aus finanziellen Gründen in absehbarer Zukunft einen Krieg gegen uns nur wagen, wenn England will. Sie können den jetzigen Krieg nur so lange fortführen, wie England will. England muß den Krieg gleichviel um wie viele sonstige Opfer fortsetzen, und wenn das Versagen eines Bundesgenossen etwa den Frieden erzwingt, die künftige Erneuerung der Koalition wollen, solange nicht feststeht, daß unsere Politik im Westen den Standpunkt der reinen Sicherungspolitik (im obigen Sinn) festhält. Das Fortbestehen und stete Wiedererstehen der gleichen Koalition in der Zukunft würde unsere Weltpolitik dauernd lähmen. Wir werden, wenn wir mit keiner der jetzt gegen uns verbündeten Mächte zu einem wirklichen Vertrauensverhältnis gelangen, auch künftig auf Schritt und Tritt, in Afrika, im Orient und wo es sei, auf ihre gemeinsame Gegnerschaft stoßen. Und es wäre ein ganz gewaltiger Irrtum, zu glauben, daß uns dann immer erneut das Mittel des Krieges zur Verfügung stände, um sie zu beseitigen. Es wäre ferner ein schwerer Irrtum, zu meinen, daß die Nation seinerzeit etwa in einen Krieg wegen Marokko ebenso hineingegangen wäre wie in den jetzigen. Ein noch schwererer Irrtum, daß wir bei solchen Kriegen um kolonialpolitische Objekte der Mithilfe Österreich-Ungarns schlechthin sicher wären, mögen wir mit dieser Monarchie Verträge schließen, welche immer. Wir haben die Wahl: Weltpolitik oder eine sämtliche Weltmächte gegen uns zusammenschließende europäische, insbesondere – da die Gegnerschaft Rußlands naturgegeben ist – westeuropäische Expansionspolitik zu treiben.

Die unabsehbare Verlängerung des Kriegs aber hat noch andere Folgen. Zunächst lohnt es freilich, nach ihren Gründen zu fragen. Daß unter der Hand Verhandlungen aller Art stattgefunden haben, auch abgesehen von den bekannten fehlgeschlagenen Versuchen im Haag, dürfte kaum zweifelhaft sein. Indessen ist davon nichts bekannt. Sicher scheint nur, daß jeder Versuch einer eigentlichen »Vermittlung « von neutralen Staaten auf unabsehbare Zeit als aussichtslos unterlassen wird, gleichviel was sich im Felde ereignen möge. Es fragt sich: warum dies aussichtslos erscheint? Bei unseren Gegnern zunächst und vor allem: weil sie trotz allem an eine Wendung des Kriegsglücks glauben und an diesem Glauben so lange festhalten werden, bis 1. auch der letzte der noch in Betracht kommenden Staaten seine Macht in die Waagschale geworfen haben und 2. sich gezeigt haben wird, ob nicht doch Rohstoffmangel und erlahmende Finanzkraft einen unabweisbaren Druck auf uns ausüben. Aber daneben wird aus anderen, innerpolitischen Gründen, auch im Fall größter Unwahrscheinlichkeit einer Änderung der Lage, an der Fortsetzung festgehalten aus dem Grunde, weil der Entschluß zum Frieden nicht gefunden wird. Innerpolitische Befürchtungen spielen dabei in Rußland, Frankreich, Italien unzweifelhaft die entscheidende Rolle, weniger in England. In allen gegnerischen Ländern sind von Seiten der für den Krieg verantwortlichen Leiter maßlose Versprechungen gemacht worden. Die Enttäuschung und der Zorn nach einem Frieden, der diese Hoffnungen unerfüllt läßt, bedroht die russische und italienische Dynastie und die französischen führenden Staatsmänner zu sehr. Wie steht es damit bei uns? Bei uns ist wenig versprochen worden, es ist aber dennoch eine ähnliche Situation entstanden. Es sind bei uns der »Burgfriede« und das Verbot der Erörterung der »Kriegsziele« der Sache nach so gehandhabt, daß alldeutschen Phantasten und den Kriegslieferungsinteressenten einseitig die Freiheit des Wortes zugestanden, allen anderen aber unterbunden wurde. Es ist ferner unterlassen worden, von Anfang an und stets erneut zu erklären: daß das okkupierte belgische und französische Gebiet für uns lediglich die Bedeutung eines Pfandes habe, daß wir es also bei anderweitigen Garantien für das Aufhören der Kriegsbedrohung von Westen her und gegen geeignete Abgrenzung unserer kolonial- und weltwirtschaftlichen Interessensphäre jederzeit herausgeben würden. Die Folge ist, daß, wenn jetzt oder künftig ein Frieden auf Grundlage einer solchen Herausgabe zustande kommt, im Ausland und Inland der Anschein entstehen kann, als ob wir diese Gebiete wieder hergeben, nicht weil wir wollen, sondern weil wir müssen. Die weitere Folge ist, daß in breiten Schichten der Bevölkerung und des Heeres die Vorstellung entstanden ist: nur die Annexion dieser Gebiete sei ein würdiges Kriegsziel, jede Form der Herausgabe aber ein nach unseren Siegen ganz unbegründetes Eingeständnis von Feigheit oder Schwäche. Die Fortsetzung des Krieges ist auch bei uns höchst wesentlich nicht durch sachlich-politische Erwägungen, sondern durch die Angst vor dem Frieden bedingt. Man fürchtet einerseits die außenpolitischen Wirkungen jedes Anscheins von Schwäche und Nötigung, Frieden schließen zu müssen. Noch weit mehr aber fürchtet man die innerpolitischen Wirkungen jener Enttäuschungen, welche angesichts der törichten Erwartungen, die nunmehr ins Kraut geschossen sind, in jedem Fall eintreten müssen. Irgendwelche schwere Enttäuschungen nun werden unvermeidlich eintreten. Sie und ihre Folgen werden aber wesentlich akuten Charakters und zugleich (relativ) vorübergehende sein, wenn sie nur darauf beruhen, daß die politischen Friedensbedingungen, insbesondere die »Angliederungen« hinter den Forderungen der annexionistischen Presse zurückbleiben. Sie werden dagegen chronische und schwere Folgen nach sich ziehen – selbst bei den ausgiebigsten Annexionen –, wenn der Güterverbrauch des Krieges rein als solcher die Steigerung der Schuldzinsen und die Festlegung der Vermögen in Rentenpapieren die Anlage suchenden Kapitalien derart dezimiert haben wird, daß die Masse der heimkehrenden Krieger keine oder doch keine ihren Ansprüchen und Selbstgefühl ökonomisch und sozial entsprechende Arbeitsgelegenheit findet. Diese Folgen werden mit zunehmender Länge des Krieges rein an sich immer unvermeidlicher und schwerer. Sie sind durch keinerlei Annexionen zu kompensieren, und es steht auch rein ökonomisch völlig fest, daß eine Kriegsentschädigung so phantastischen Umfangs, um dagegen überhaupt ins Gewicht zu fallen, niemals von irgendeinem Gegner zu erlangen sein würde.

Die bloße Verlängerung des europäischen Krieges bis zur Ermattung aller Beteiligten bringt rein an sich die Folge mit sich, daß die außereuropäischen Nationen, insbesondere Nordamerika, die industrielle Suprematie an sich reißen und uns für alle Zeit ins Hintertreffen drängen. Dies ist die unvermeidliche Folge einerseits eines Hineingleitens in Papier[geld]wirtschaft mit ihren bekannten Folgen, andererseits der Aufzehrung der Inlandskapitalien durch die zunehmende Anlage in festverzinslichen öffentlichen Anleihen. Diese letztere bedeutet zunächst Minderung der für die Industrieanlagen verfügbaren Mittel, also erstens Stillstand der Inlandsentwicklung der Industrie und zweitens Fehlen der für die Erschließung der uns etwa beim Frieden zufallenden Interessensphäre erforderlichen Kapitalien. Was das erste für unsere Zukunftskampfkraft bedeuten kann, ist an sich klar. Das zweite aber kann die Folge haben, daß in den uns zufallenden Interessensphären fremde Kapitalisten die ökonomische Herrschaft gewinnen, weil wir nicht mehr die Mittel haben, sie uns zu sichern. Abgesehen aber hiervon bedeutet jede Zunahme der Anleihewirtschaft rein an sich eine gewaltige Steigerung des Rentnertums – es sind schon jetzt jährlich eine Milliarde Kriegsanleihezinsen an Rentner zu zahlen – und vor allem die Züchtung der Rentner gesinnung, welche ökonomische »Sekurität« sucht.

Deutschland verliert dann mit dem ökonomischen Wagemut auch die ökonomische Expansionskraft zugunsten in erster Linie der Amerikaner. Es dürfte ein sehr bescheidener Trost für uns sein, daß auch England und Frankreich ein ähnliches Schicksal gegenüber Amerika droht. Aber selbst dieser Trost ruht auf nicht ganz sicherer Grundlage. Es ist richtig, daß im Krieg, wenigstens diesmal und vorerst, die finanzielle Lage Englands und Frankreichs im Verhältnis zu uns relativ schwächer war, als man nach der Weltstellung ihrer Börsen in Friedenszeiten vielleicht erwartet hat. Aber es wird sich zeigen, daß im Frieden das Land des Zweikindersystems und das Mutterland der angelsächsischen Handelssprache, Handelstechnik und Handelsbeziehungen erheblich schneller, als jetzt angenommen wird, und weit schneller als wir es für uns – der Krieg möge ausgehen, wie immer er wolle – erwarten können, wieder in die Reihe der Geldgeber der Welt werden eintreten können, und daß dies künftig ebenso wie bisher die bekannten politischen Folgen haben wird.


 << zurück weiter >>