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Ein Mann zog ein Ross hinter sich her. Es war ein schön geapfelter Schimmel von adeligem Bau, und man sah es ihm an, dass er Edelblut war, ob auch sein Leib durch schlechte Behandlung herabgekommen war. Der Tag war liebreich und voller Sonne; nur ein paar Perlmutterwölklein hingen zuäußerst am Himmel droben, und die Landschaft, die die beiden durchwanderten, war holdselig schön. Doch das Tier gewahrte das nicht. Seine armen Augen waren vernarbt, waren zerstört worden von den Peitschenhieben tobender Knechte. Es war blind.
Weil es so unsicher und tastend ausschritt, konnte der Mann nicht darauf reiten, und so zerrte er es mürrisch mit sich. Er hatte ihm sein Bündel aufgeladen. Dem Stichdegen nach, den er trug, mochte er ein abgedankter oder ein ausgerissener Soldat sein. In seinem Gesicht waren die Spuren verwürfelter Nächte und noch schlimmerer Laster eingegraben, und er schien eher an den Pranger oder in einen Malefizturm geschmiedet als auf die freie Straße zu gehören.
In der Nähe eines ausgedehnten Waldes schlug er sich ins Gras nieder, und das Ross blieb neben ihm in trostloser Haltung hilflos und wie ausgesetzt stehen und gewärtig rauen Schimpfes, wie es ihn wegen seines verstümmelten Sinnes zu empfangen pflegte. Er aber sah den Reiher auf der Tanne nisten und ein Kornfeld Hochzeit feiern und stäuben. Er sah den schimmernden Spiegel eines kleinen Flusses, den Gemsgeier hoch im höchsten Blau und auf fernen Bergen den Firnschnee und die Gletscher. Sein Blick war sehr scharf, und er begriff nicht, dass ein anderes Geschöpf blind sein konnte. Und wie er also da lümmelte, empfand er, dass die Welt ein wunderhübscher Guckkasten war voll lustigen Getiers, reizender Blumen, reger Wolken und wechselreicher, unterhaltlicher Geschehnisse, und das erfüllte ihn mit Behagen, obschon er ein dumpfer Mensch war.
Wallfahrendes Volk drang aus dem Wald und sang vorüber.
Ein alter, weißköpfiger Bauer hielt in seinem gemächlichen Pilgerschritt inne und betrachtete wohlgefällig das Ross. Er merkte, dass der Schimmel und dieser Mann nicht zusammengehörten, wagte aber den bewaffneten Menschen nicht zu fragen, wo und wem er das Tier gestohlen habe. Es ging ihn ja auch nichts an.
»Was gaffst du so dumm?« murrte der im Gras. »Bist du ein Rossfresser? Ich geb dir das Vieh wohlfeil. Es ist mir lästig.«
»Ein gar stattliches Ross!« meinte der Alte.
»Was hilft es? Es ist stockblind. Es sieht keinen Stich mehr. Ich will noch bei wachender Sonne einen Schinder erreichen. Wer sonst kauft mir den Gaul ab? Und betrügen kann ich damit niemand.«
»Hier findest du weit und breit keinen Schinderwasen und überhaupt keine Herdstätte«, sagte der Bauer. »Hier findest du nur das heilige Mühlrad.«
»Hallo, ist das ein Wirtshaus?« lachte der Soldat.
»Beileibe nicht! Im tiefen Wald drin springt das Wasser über ein Rad. Und wer dort in das Wasser schaut, bis er darin die eigenen Augen gespiegelt sieht, der kriegt einen gesunden, weiten Blick. Gar mancher, den Gott an den Augen gestraft hat, hat sich von seinem Hündlein an der Schnur hinweisen lassen; blind ist er hingetappt und ist dort genesen und mit blitzblanken Augen wieder heimgegangen.«
Der Soldat krümmte höhnisch den Mund. »Keine Handbreit glaube ich dir!«
Der Alte zuckte die Achsel. »Manch würdiger Mann kann diese Wunder bezeugen«, sagte er. »Und bilde sich nur keiner ein, dass er alles bis aufs Würzelein weiß! In der Welt ist wenig klar, das meiste ist unerforschlich.«
»Du lügst mir gut«, schalt der Soldat. Und er raffte sich auf und zog mit dem Schimmel über Bühel und Senke weiter in den Wald hinein. Die Straße war alt und zum Hohlweg ausgefahren und ging auf einmal in einen schlechten Pilgersteig über, der an einem Rinnsal entlangführte, darin eine berggrüne, ungestüme Ache brauste.
Der Mann holte eine bejahrte Frau ein, die ein junges, trauriges Mädchen an der Hand führte.
»Lass uns in Frieden, Soldat!« bat die Frau. »Meine Tochter ist schlimm genug daran. Als wir im Herbst das Obst geheimst haben, ist ihr ein Apfel aufs Auge gefallen, und es ist sogleich erblindet. Bald hernach hat auch das andere den Schein verloren.«
Das Mädchen sagte voller Leidmut: »In meiner Welt gilt nur die Nacht. Für mich sind Sonne, Mond und Sterne ausgebrannt. Ist Tag? Ist Dämmer? Ich weiß es nicht. Nur die Finsternis ist mein. Oh, dass ich so jung bin und schon die Welt verloren habe! Das klag ich Gott.«
Da sie also redete, wieherte das Ross schmerzlich, als wolle es in ihre Klage einstimmen.
»Was hat das Ross gerufen?« fragte das Mädchen. Der Soldat lachte. »Es ist blind wie du.«
Die Kranke kehrte ihr erloschenes Gesicht dem Tier zu und tastete sich zu ihm hin, sie zog den beinernen Kamm aus ihrem Haar und kämmte damit sanft durch die seidene Mähne des Schimmels. »Sind deine Fenster auch schwarz verhangen, Rösslein?« fragte sie. »Wie bist du blind geworden? Hast du dich blind geweint?«
Der Soldat aber schlug mit seinem Degen einer Wegdistel den roten Kopf ab. »Geht ihr zu dem heiligen Mühlrad?« sagte er hämisch. »Hoffet dort nichts! Es ist alles Betrug.«
Doch die Blinde erwiderte: »Der Leib braucht Brot, die Seele Glauben. Gott erbarme sich unser!«
Der Achenrunst entgegenschreitend, gelangten sie zu einer lichtgrünen Wiese, die mitten im schwarzen Tannengrund gebettet war, und dahinter verbaute eine lotrechte Wand das Tal, und der Weg nahm hier sein Ende. In dieser Lichtung aber drehte sich ein Rad einsam und feierlich, doch trieb es kein Mühlwerk, sondern ging ganz für sich allein.
Bis hierher schwammen die glitzernden Fische, und sie konnten nimmer weiter; denn hier schroffte es hoch auf +… Und unmittelbar vor dem Geschröff schoss weiß und klingend der Bergbach nieder und füllte das Geschäufel und bewegte das Rad und sprang wieder davon ab. Es war Wasser, das gletscherentquollen aus menschenenthobenen, fremden Hochgefilden rann und darum noch jungfräulich, unentweiht und heilig war.
Ein Adler flog auf und stieg über das Kar hinaus. Vielleicht war er krank und hatte hier gebadet.
»Sieh da!« spottete der Soldat. »Das ist wohl Gottes Mühle, weil sie sich gar so langsam dreht!«
Aber das Mädchen trat gläubig zu dem Rad, das von dem reichen Schwall überfloss und davon es silbern und regenbogig sprühte. Sie betete leise und ließ dabei den Absprang über die erstorbenen Augen fließen.
Auf einmal rief sie: »Ich höre das Licht um mich klingen. Ich fühle einen hellen Schein.« Und dann schrie sie entzückt auf: »Ich sehe wieder! Mutter, ich sehe!«
Die Nacht war von ihr gefallen, und sie kehrte staunend das erneute Gesicht gegen die Welt.
Da sah sie das eisgrüne Wasser und den goldenen Kies des Baches und den weißen Achensturz, da sah sie die milden Matten und das graue Gefels darüber und droben die blendende Wolke im Blau. Und die Rosen sah sie lächeln am Wildstrauch und das Gras blühen und den Falter im tänzelnden Flug und das ernste, stille Ross. Und sie gewahrte wieder den Tanz der Farben im lauteren, leuchtenden Licht und erkannte alle Wesen nach ihren Umrissen. Und sie schattete mit der Hand den wiedergeborenen Blick; denn der Glanz der Erde war ihr noch zu grell. »Die Welt ist wieder mein!« schrie sie und sank der Mutter an die Brust.
Der Soldat aber hatte ein felsenhartes Herz; ihn rührte nicht, was da geschehen war. »Blut von der Katz!« fluchte er. »Den Hokuspokus glaub ich nicht!«
»Ich sehe!« jubelte das Mädchen und weitete die Arme gegen Erde und Himmel. Und singend gingen Mutter und Tochter davon.
»So will ich das Wunder auch an einem Vieh versuchen!« rief der Soldat. Er riss das Ross zu dem Mühlrad hin. »Da sauf!«
Das Tier schnob auf. Seine Ohren steiften sich, es witterte das kühle Wasser. Es witterte etwas Gewaltiges. Ein Schauder huschte über seine Flanke. Demütig senkte es den Kopf gegen den Schwall.
Brausender, zorniger drehte sich das Rad. Und auf einmal neigten alle Tannen des Waldes die Wipfel dem Heiligtum zu.
Das Ross aber hob das triefende Haupt und schrie und sprang aus dem Bach. Jetzt stand es dem Mann gegenüber.
Die Augen des Tieres wären herrlich aufgetan und glänzten wie zwei Monde, und der Reiter sah erschrocken, dass die grauen Häute davon weggewaschen waren, und erkannte an ihrer funkelnden, beherzten Glut, dass ihr Blick geheilt war.
Er sah noch, wie das Ross sich senkte, als wolle es in die Knie fallen, und wie es sich dann mit jauchzendem Gewieher riesig bäumte.
Doch vor seinem eigenen Blick wogte es wie düsterer Nebel. »Was ist mir?« ächzte er.
Schwarz wurde es um ihn. Seine Augen waren unter schwerer, lastender Nacht verschüttet. Lange stand er ratlos.
Die Ache erklang eintönig. Zuweilen scholl es wunderbar und befremdlich drohend von den Höhen nieder. Sang der Gletscher, der gewaltig an der Glut des Sommers zersprang? Oder war das die Stimme Gottes? –
Endlich fühlte der Blinde, dass sich das Tier helfend an ihn drängte: er tastete kläglich in die Mähne, und das Ross leitete ihn langsam durch den Wald.