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Der wandernde Brunnen

In der Einöde Kehrum, die also hieß, weil sie hoch am Berg an einem Holzweg lag, der nimmer weiter führte, so dass dort die Wanderer und die Bettelleute umkehren mussten, in dieser Einöde hausten zwei arme Leute, der Rasel und die Reigel. Um ihrer Armut willen hatten sie zum Mittag meist nur eine dünne Krügelsuppe, und die grünen Kräutlein, die auf den hohen Fichten ringsum wuchsen, die waren ihr Salat. Und doch wären die beiden mit ihrem kümmerlichen Leben ganz zufrieden gewesen, wenn sie nur einen Brunnen bei ihrer Hütte gehabt hätten. Ohne Brunnen ist schwer Haus halten. Weil es dem Berghang darüber ihr kleines Feld und ihre Wiesen sich erstreckten, an Quellen gebrach, war dort die Erde ohne Saft; und die Halme darauf waren kurz und welk und die Ähren taub. Der Grasgarten starrte gar voll verdorrter Birnbäume. Und doch hackte der Rasel keinen davon um, sondern er wartete gläubig von Frühjahr zu Frühjahr, dass die säumigen Äste wieder ausschlügen, blühten und nützten.

Wenn den Rasel und die Reigel bei ihrem harten Tagwerk dürstete oder wenn sie kochen oder ihr Kühlein tränken wollten, mussten sie in das tiefe Tal hinuntersteigen und dort das Wasser holen und es mühsam in Butten bergan tragen. Im Tal stieß nämlich mitten in einer Wiese ein Brunnen ans Licht; der spendete reichlich sein felsenkühles, lauteres Wasser und feuchtete das Land rings, und davon waren auch die Fluren des Tales so frisch und grün und ergiebig. Und der Rasel und die Reigel knieten jedesmal scheu an den Rand dieser Quelle hin, und sie sauste so süß, als sänge ein guter Geist in den Tiefen der Erde, und sie lauschten eine Weile, schöpften dann andächtig ihre Butten voll und sagten hernach freudig zu dem Brünnlein: »Hab Dank, du lieber Ursprung!«

Der Brunnen aber gehörte dem reichen Bauern Barnabas, und der war hinter dem Geld her wie der Teufel hinter einer armen Seele und betrog darum alle Leute, die mit ihm zu schaffen hatten, dass ihnen die Augen übergingen. Und ob ihm auch nicht der mindeste Schaden geschah, wenn der Rasel und die Reigel aus dem hellen Überfluss seines Brunnens schöpften, so gönnte doch sein neidisches Herz den armen Leuten kein einziges Krügelchen. Und darum vertrat er einmal den zweien den Weg und sagte grob: »Jetzt ist es genug. Ich verbiet euch das Wasser. Ihr schöpfet und schöpfet und wisst nicht, dass der tiefste Brunnen einmal leer wird, wenn man alleweil daraus schöpft« Darob erschraken die zwei gar sehr und huben an zu bitten: »Hab mit uns Geduld, lieber Nachbar! Wir müssen ja verschmachten, wenn du uns das Wasser da verwehrst Der Bauer aber deutete auf einen Henkeltaler, den die Reigel an einem Faden vor dem Hals hängen hatte; es war ein hübsches Schaustück, aus böhmischem Bergsilber geprägt und mit dem Bildnis des heiligen Joachim versehen. »Gebt mir den Taler«, begehrte der Bauer, »und ich trete euch dafür den Brunnen ab!« – »Ach nein«, sagte die Reigel, »den Taler dürfen wir nicht hergeben. Es ist ein Tauftaler; mein guter Vater selig hat mir ihn hinterlassen. Auch ist er nimmer gib und gäb.« Der Bauer aber bestand auf seinem Willen. »So spottwohlfeil kriegt ihr im ganzen Land keinen Brunnen zu kaufen. Her mit dem Taler! Bereites Geld ist ein lachender Kauf.« Der Rasel schüttelte den Kopf. »Der Taler ist kein Geld mehr, er ist ein Andenken«, sagte er. »Was? Soll ich mit euch Hudelpack streiten?« schrie erbost der Bauer. »Gebt den Taler schnell her! Wenn nicht, so lasst es bleiben!«

Da, dachte die Reigel, dass sie und ihr liebes Vieh doch ohne den Brunnen nicht leben konnten, und sie nestelte das blanke Taufstück von der Schnur und gab es dem reichen Barnabas. Der sah es wie einen Herzenstrost an, wendete und drehte es und schob es hämisch in den Sack.

Nun sagte der Rasel zu der Reigel: »Der Brunnen gehört jetzt uns, und wir wollen fröhlich daraus trinken und wollen seine Flut keinem dürstenden Geschöpf verweigern, das Gott herschickt.« Und er wollte schöpfen. Aber der Bauer kratzte sich listig das gelbrote Haar und rief: »Hallo, Nachbarlein, so ist es nicht gemeint. Der Brunn ist euer, das ist wahr. Aber Grund und Boden um den Brunn herum hab ich euch nicht verkauft; der gehört nach wie vor mir, und ich will es nimmer leiden, dass ihr ihn betretet!« Darauf sagte der Rasel erschrocken: »Barnabas, gib uns den Taler zurück! Du hast ihn uns abgenarrt.« Der Bauer aber hätte ein Rabenherz im Leib und lachte »Nein, nein! Der Handel besteht zu Recht. Und der Taler ist mein in alle Ewigkeit!« Da klagte die Reigel: »Du arger Geldfresser! Himmel und Erde willst du betrügen!« – »Seid still und weichet schnell von meinem Grund!« drohte der Barnabas und pfiff seinen Hunden.

Also schritten die zwei wiederum ihren dürren Berg hinan, müde auf ihre Stecken gestützt, und zergrämten sich fast das Herz über den schlimmen Betrug. Der Rasel lächelte traurig und seufzte: »Armer Leute Hoffart nimmt bald ein Ende!« Und die Reigel weinte: »Uns zweien geht kein einziges Sternlein auf!«

Als sie wieder im Grasgarten bei den verdorrten Bäumen anlangten, stieß der Rasel den Stecken in die Erde und sagte: »Wenn es auf der Welt ein Recht gäbe, müsste der Brunnen jetzt da fließen!«

O liebes Wunder! Da öffnete sich unter der Spitze des Stabes der Grund; es gluckste seltsam, und dann schoss eine weiße Welle zutag, und ihr folgte mit starkem Schwall das reinste und kühlste Felsenwasser, das man sich wünschen konnte. Die Reigel staunte mit ihren runden Augen und schrie vor Freude. Der Rasel hingegen rannte schnell um ein Grabscheit und riss dem Quell eine geräumige Grube auf; legte sie mit schimmernden Kieseln aus und baute ein Mauerlein rundherum, und fortan spiegelte dort der schönste Brunnen den Himmel in sich und die treuen Gesichter des Rasel und der Reigel. Und das holde Gotteswasser rieselte den beiden über Acker und Alm, und der Berghang begrünte sich mit langem Gras und verhüllte sich unter schwerem Korn, und die alten, toten Bäume im Garten erwachten und wurden laubig, und im Herbst schwebten die Birnen golden im Gezweig wie kleine Glocken.

Von derselben Stunde an war der Brunnen im Tal versiegt Und dem falschen Barnabas vertrockneten die Wiesen, die nimmer von den Wassern der Quelle getränkt wurden, und er verließ fluchend das Land, und niemand weiß, was weiter mit ihm geschehen ist.


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