Jakob Wassermann
Etzel Andergast
Jakob Wassermann

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Siebzehntes Kapitel als Finale

Und so geschieht es. Er geht fort. Er weiß nicht, wo er hin soll. Er ist so unstet, daß wir ihn kaum im Auge behalten können. Er ist landflüchtig. Genauso, als ob er polizeilich verfolgt würde. Überall ist sein Steckbrief angeschlagen: so scheint es ihm. Jeden Augenblick kann er arretiert werden, scheint es ihm. Man denkt an nichts Böses, auf einmal legt sich einem eine schwere Hand auf die Schulter: Kommen Sie mit, kein Aufsehen, ich verhafte Sie im Namen des Gesetzes. Welches Gesetzes, bitte? Wer sind Sie? Das Gesetz steht nirgends geschrieben und besteht nirgends in Kraft, aber der einem die Hand auf die Schulter legt, ist ein Herr ohne Gnade, seine verbindlichen Umgangsformen gemahnen an die makabre Artigkeit des steinernen Gastes.

Ausgestoßen. Sozusagen infam kassiert. Dahin sind wir also gelangt mit der Gerechtigkeitsfackel im erhobenen Arm. Gefahndet wird nach ihm. Nirgends ist seines Bleibens. Die Menschen zeigen mit Fingern auf ihn: Da ist einer, der ausgezogen ist, ein Königreich zu erobern, und was ist ihm zuteil geworden? Ein besudeltes Herz. Ausgezogen mit der Blendlaterne, um den Geistern der Finsternis zuleibe zu gehn, und zur Strecke gebracht von denselben Dämonen, wider die er sich übermütig vermessen. Ein Liebesmörder, das ist er. Nicht Mörder aus Liebe, versteht mich recht: Mörder der Liebe. Und ärger noch: Seinem Meister hat er das Schamtuch von den Lenden gerissen, um seiner Blöße zu spotten. Das ist unsühnbar. So also sieht sie aus, die Forderung nach Gerechtigkeit, wenn es sich nicht mehr um die fremde, sondern um die eigene Verschuldung handelt. Da will einer das Gewissen der Menschheit wecken und bringt manches mit, was ihm dazu dienen kann: einen entzündlichen Geist, ein erregbares Herz, Mut zur Wahrheit, Erkenntnismut, Leidensmut; auf einmal verwandelt sich das Unrecht, das vor seinen Augen geschieht und das aus der Welt zu schaffen er sich geboren wähnte, in Unrecht, das er selber begeht, an sich selber begeht, und er spürt die Tiefe wie auch den Sinn der Verstrickung, er begreift die Unabwendbarkeit der Schuld. Blickt er zurück auf seinen Weg, so dünkt ihn, als habe ihn das Schicksal mit wohlüberlegter Absicht in die Schuld hineingetrieben. Diese Absicht scheint ihm zunächst von teuflischer Beschaffenheit, erst mit der Zeit macht er die sonderbare Entdeckung, daß etwas in seinem Innern ihr stetig und willig entgegengekommen ist und den Boden bereitet hat. Er findet keinen Namen dafür, es hängt mit dem zusammen, was er als die »Unabwendbarkeit der Schuld« erkannt hat, aber es ist noch was anderes, es ist mehr, er möchte es beinahe Sehnsucht nach der Schuld nennen, wenn ihn das Wort nicht zuinnerst erschreckte und wie Wahnsinn anrührte. Das kann es ja unmöglich geben: Sehnsucht nach der Schuld. Oder doch?

Nein, er kann an keinem Ort bleiben. Es ist ihm unmöglich, zweimal in demselben Raum zu übernachten. Er erträgt keines Menschen Gegenwart und Blick. Wenn er gezwungen ist, mit jemand ein paar Worte zu sprechen, einem Hausgenossen, einem Kellner, einer Prostituierten, einem Landstreicher, wird er vor Ungeduld halb verrückt. Der Schall der Worte bereitet ihm Übelkeit, Stimmen aus dem Nebenzimmer, Gelächter oder Gesang. Übelkeit ist die herrschende Empfindung, sowohl körperlich wie geistig. Der Bissen widert ihn im Mund. Beim Waschen widert ihn der Geruch seiner Haut, der Anblick seiner Glieder, die Berührung seines Haares. Er möchte sich aus sich selber herausspeien. Bevor er sich ins Bett legt, versteckt er die Kleider und die Wäsche, die er ausgezogen hat, im Schrank; es sind ekelerregende Teile von ihm, die er haßt. Er haßt den Tag, die Nacht, die Dämmerung, die Häuser und die Straßen. Alles Gewesene ist ihm so grauenhaft wie alles Bevorstehende. Seine Handlungen haben untereinander keinen Zusammenhang. Ein Buch, das er zur Hälfte gelesen hat, fängt er von vorn an, und es ist ihm unbekannt. Er kauft ein Paar Schuhe und vergißt zu zahlen, so daß ihm der Verkäufer auf der Straße nachlaufen muß. Er sitzt geistesabwesend in Kinos und weiß nicht, was er sieht. Er vernachlässigt sein Äußeres gänzlich, der schmierige Dreß, in dem er halbe Tage lang auf dem Motorrad sitzt, ist sein einziger Anzug. Wohin er fährt, ist ihm gleichgültig, die Namen der Städte und Ortschaften, wo er rastet, kennt er meistens nicht. Fast jede Nacht hat er die gräßlichsten Träume, er, der vordem von störenden Träumen nichts gewußt hat. Aus solchen Träumen erwacht er mit einem rasenden Schrei, der die Umgebung alarmiert und die Leute veranlaßt, an seine Zimmertür zu klopfen. Dann liegt er mit knirschenden Zähnen und wildschlagenden Pulsen da, der Körper ist in Schweiß gebadet, Hemd, Kopfkissen und Laken sind naß zum Auswinden. Er magert ab. Die Augen sind glanzlos, das Zahnfleisch ist weiß, stundenlang befindet er sich in somnolentem Zustand, auch wenn er auf der Maschine sitzt. Er ist vermutlich krank und wird es immer mehr. Er verliert das Zeitgefühl. Die Bewußtseinslöschungen nehmen überhand. Die Städte kommen ihm wie Kirchhöfe vor, die Menschen, trotzdem sie sich bewegen, wie Grabsteine. Die Welt gleicht einem Ameisenhaufen, über den ein Faß Kalk geschüttet worden ist. Einmal gerät er in eine aufgewühlte Menge. Wilder Streik. Männer, Weiber, Kinder mit ohrenzerreißendem Brüllen und Kreischen um ihn her, ausgemergelte Gestalten; er steht wie schlafend, mit gesenktem Kopf, mitten in einem Haufen, hört nicht, sieht nicht, eine Gewehrkugel durchlöchert ihm die Schulter, er wird fortgetragen, liegt in einer Baracke, wie lang, kann er nicht beurteilen, vielleicht drei Tage, vielleicht drei Wochen, dann beginnt die Gespensterfahrt wieder, eines Tages wacht er in einem Wald auf, weiß nicht, was gestern gewesen ist, neben ihm das Motorrad wie ein dürres Symbol des scheinhaften Lebens, aus dem er flieht, zu dem er flieht und das aus Öl, Schmutz, Hunger und Mord besteht. Es ist früh am Tage, vorgeschrittener Herbst schon, er liegt auf zusammengescharrtem Laub und blickt durch die Fichtenkronen in den Himmel. Was lockt ihn so unerwartet an der Bläue des Himmels? Was will die azurne Höhe? Hinauf kann man doch nicht. Aber es lockt und lockt, als würde ihm ein Weg gewiesen aus dem Verlies, worin er sich blind von Wand zu Wand tastet, um einen Ausgang zu suchen. Das Gefühl verbleibt, ja es gewinnt Raum. Am Abend findet er Unterkunft in einem Wirtshaus an der Chaussee. Als er seine Sachen auspackt, fällt ihm eine zerschlissene Ledermappe in die Hände, worin er Papiere aufbewahrt; er öffnet sie, zuoberst liegt ein Brief. Ein ungelesener Brief; der Umschlag ist noch so, wie er ihn mit der Post bekommen hat. Verwundert betrachtet er den Stempel. Er ist zwei Monate alt. Er hat den Brief vor langer Zeit erhalten, damals noch, ihr wißt schon. Er hat ihn nie aufgemacht. Er hat ihn vergessen. Die Adresse zeigt die Handschrift seiner Mutter. Zögernd reißt er den Umschlag auf. Es sind nur ein paar Zeilen. Trockene Mitteilung, daß sie ihren bisherigen Wohnsitz verläßt und ins hohe Engadin zieht, ins Fex, wo sie ein kleines Haus gemietet hat, dort will sie bleiben. Was geht's mich an? denkt er, legt den Brief weg, greift wieder danach, legt ihn wieder weg. Hohes Engadin. Das bedeutet »hinauf«. Es ist ganz »oben«. Er erinnert sich an dieses »Oben«. Es war die Schwesterlandschaft, wo er gewesen ist, vor viereinhalb Jahren. Dort hat er gelebt. Mit der Sonne und den Sternen. Zwischen seiner ersten und seiner zweiten Existenz. Der wohlgesinnte Kairos hatte ihn hinaufgeführt, der Gott des günstigen Augenblicks. Er setzt sich an den wackligen Tisch und stützt den Kopf in die Hände. Es erscheint ihm unglaublich merkwürdig, ja beinahe unheimlich, daß er eine Mutter hat. Fremdartiges Wort: Mutter. Er hat es niemals mit Bewußtsein ausgesprochen. Es war ein Begriff. Und da »oben« ist sie, ganz »oben«; wenn man zu ihr will, gesetzt den Fall, man will zu ihr, muß man »hinauf«. Und sie wird da sein. Sie wird »Etzel« zu ihm sagen. Wie die andere. Mit derselben Stimme vielleicht. Sie wird »Sohn« zu ihm sagen. Seltsam, dies zu denken... Der Weg zu ihr ist wie eine Brücke zum andern Ufer...

Hinauf. Schicht um Schicht. Flußtal um Flußtal, Terrasse um Terrasse. Immer die Möglichkeit des Hinunter- und Zurückschauens, über jeder Teilwelt eine höhere Teilwelt, über jedem Tal ein höheres, das Ganze dennoch ein einziger Leib. Da ist es wieder, das gefärbte Gestein, je nach der Stunde und dem Auffall des Lichts verschieden, der schwarze Granit, der graue Basalt, der rote Porphyr, drüber im Geisterbogen die grünen Dome der Gletscher. Dieselbe Gewalt der Bildungen wieder, schwesterliche Form, die Durchsichtigkeit der Luft, die elementaren Influenzen von Metall und Mineral, Wasser und Wurzel her, die einen organisch einfügen in den Umlauf der Erdsäfte. Kairos führt, er legt den Finger auf die Lippen, wie Marie manchmal zu tun pflegte, er weist mit dem ausgestreckten Arm zurück und hinunter auf das Land der zweiten Existenz.

Es ist ein Haus mit dicken Steinmauern und stark vergitterten, schießschartenähnlichen Fenstern, worin Sophia von Andergast wohnt. Es ist kleiner als die gewöhnlichen Bauernhäuser, die spärlich in dem Hochtal verstreut liegen. Ein Berner Architekt hat es gebaut und ihr überlassen, da seine Frau gestorben ist. Es ist nicht leicht, sich zu verpflegen da oben, jedoch die Bedürfnisse Sophias sind einfach. Alles an ihr ist einfach, ihre Sprache, ihre Gedanken, ihre innere Welt. Besser gesagt: vereinfacht, auf das Einfache zurückgeführt. Sie trägt ein taubengraues, halblanges Stoffkleid mit einem Stoffgürtel und am Hals eine Gemme. Ihr Haar ist an den Schläfen grau. Es ist kurz geschnitten wie das eines Mannes. Die Reinheit der Züge wird nur übertroffen von der Reinheit des Blicks, der eine solche Konzentration hat, daß alles Leben in ihm allein zu ruhen scheint. Er gleicht einem Metall, aus dem jeder Rest von Schlacke ausgeglüht ist. Sie hat eine tiefe, angenehm vibrierende Stimme. Worüber Etzel fortwährend erstaunen muß, von der ersten Stunde an, ist das eigentümlich Lichte und Leuchtende ihres Wesens, das am stärksten hervorbricht, wenn sie schweigt und ihren Beschäftigungen nachgeht. Er überrascht sich bisweilen dabei, daß er sie heimlich und interessiert beobachtet. Sie macht den Eindruck eines Menschen, dem ein Geheimnis anvertraut ist, das ihn unbeschreiblich beglückt. Er sinnt und sinnt, was für ein Geheimnis es wohl sein mag. Er schaut ihr verstohlen zu und kann sich einer Bewunderung nicht erwehren, die nahe an Furcht grenzt. Sie hat ihn nicht gefragt, woher er kommt, warum er kommt, wie lang er bleibt, wohin er gehen wird, es sieht aus, als wisse sie es schon längst, ja, als wisse sie so viel von ihm, daß Schweigen die einzige Wohltat und Rücksicht ist, die sie ihm erweisen kann. Das ist gut. Es läßt ausruhen. Es ist ein Ruhen durch und durch. Die Mutter schweigt, die Landschaft schweigt, das Universum schweigt, und es schweigt das erschöpfte Herz. Das will ja Sophia, nichts anderes. Werde still, scheint ihr konzentrierter Blick zu sagen, darauf kommt alles an. Und er sitzt draußen auf dem steinernen Vorbau, sein Auge hängt an der Gewaltigkeit des Gebirges, an den zackigen Graten, von denen Geröllhalden abfallen wie graue, moosbesetzte, langschleppige Geisterkleider, an der langhingestreckten Talmulde, der sich mit kristallgepanzerter Brust der Gletscher entgegenwirft, als habe er sein Hinaufstürmen in die Ewigkeit zu verteidigen. Die geisterhafte Stille! Das Blut hebt zu singen an, die Pfiffe der Murmeltiere scheinen dazu dazusein, um die Stille nicht tödlich für den Menschen zu machen. Und er denkt nach über das Geheimnis der Mutter, ihm ahnt, daß es mit dem Geheimnis der Stille zusammenhängt und mit jener Ewigkeit, die sich im getürmten Gestein und in den Runen des Eises ausdrückt. Er wandert viel, manchmal mit ihr, manchmal allein. Die Unterhaltungen, die sie führen, bestehen aus kurzen Mitteilungen und Betrachtungen. Es ist wirklich kaum der Rede wert. Ihm ist die Lust zum Reden vergangen, und Sophia hat die Gabe, mit wenigen Worten viel zu sagen. Bisweilen, wenn ihre Blicke sich treffen, hat er ein so starkes Gefühl der Fremdheit, daß es ihn bedrückt, mit einer so fremden Frau allein in einem Haus zu wohnen, wozu kommt, daß ihr Aussehen ihrem Alter keineswegs entspricht. Sie kann zwar nicht älter als zwei- oder dreiundvierzig sein, aber wenn das Schläfenhaar nicht ergraut wäre, könnte sie für sechsunddreißig gelten. (Das ist gerade Maries Alter.) Als er sie zuletzt gesehen, ist sie ihm weit älter erschienen, nicht nur weil er noch ein halber Knabe war und eine Spannung zwischen ihnen herrschte, in der alle Gefahren der Vergangenheit und der Zukunft vereinigt waren, sondern auch weil sie ein ganz anderes Gesicht gehabt; er kann nicht ergründen, worin die Veränderung liegt, jedenfalls ist sie derart, als sei es nicht mehr ein und dieselbe Person. Doch der Körper und die Züge sind es nicht, die sie so verjüngt erscheinen lassen, es geht von innen aus und beruht auf dem gleichen Phänomen, das sie ihm so fremd macht. Er findet, daß er ihr ähnlich sieht, Leute, die ihnen begegnen, halten sie für Geschwister. Einmal hört er eine solche Bemerkung und denkt lang darüber nach. Ganz unverständlich, aber die Vorstellung, daß sie ihn geboren hat, verliert durch den Schein der Schwesterlichkeit das unheimlich Bindende. So kann er sich leichter fassen, sie wird ihm irdischer dadurch, gefährtenhafter, und dies wieder schafft einen tiefen Zusammenhang zwischen ihr und Marie. Es ist wie eine Vision, die ihn aufatmen läßt und eine Zentnerlast von ihm nimmt.

Zuweilen geschieht es, daß er die Augen erhebt, verwundert um sich herumschaut und vor sich hin sagt: Ich bin im Haus der Mutter. Dabei stellt sich ein Gefühl von Geborgenheit ein, wie es ein Genesender hat, wenn er endlich nicht mehr fiebert. Der Tag hat wieder seine klare Kontur, die Zeit geht wieder ihren natürlichen Gang; das Blut in den Adern ist wieder rein, so wie die Gebirgswässer nach einer Überschwemmung abschwellen und sich klären. Während dieses Prozesses der Reinigung und Entlastung steht er unter dem Eindruck, als ob Sophia auf sehr entschiedene, jedoch unmerkliche Weise mitwirke. Vielleicht ist es nur ihre Aura, vielleicht ist es eine ganz bestimmte Macht, die von ihr ausgeht. Eine ähnliche Beeinflussung hat er nur durch den Meister erfahren. Doch diese ist namenloser und schwerer nachweisbar; man kann sich ihr aber ebensowenig entziehen, nicht einmal im Schlaf. Außerdem ist ein Magnetismus im Spiel, wie er ihn in solcher Stärke nur ein einziges Mal im Leben empfunden hat: in den ersten Wochen seiner Leidenschaft, als er jeden andern Tag, dämonisch hingewirbelt, die siebenundsechzig Kilometer nach Lindow raste. Nur daß hier das Element des Dämonischen fehlt. Und wie seltsam, die beiden Kraftströme sind in Sophia vereinigt: des Meisters und Maries. Es ist wie eine mystische Synthese, er kann nicht aufhören, darüber zu grübeln. Was mag dem zugrunde liegen? Was für eine Frau ist es, die er Mutter nennt? Welche Art von Leben, inneres und äußeres, war imstande, sie so hoch zu tragen, wie sie anscheinend getragen worden ist? Was geht in ihr vor? Ist es ein Gedanke, der sie hält und bewegt, oder eine ihm unbekannte Empfindung? Es muß etwas sein, was den Menschen auf sein Wesentliches zusammenschließt, so daß er zur wahrhaftigen Erscheinung seiner selbst wird, sozusagen seine eigene Idee verkörpert. Sophia muß wohl spüren, was in ihrem Sohn vorgeht. Aber sie greift nicht ein. Sie ist nur da. Sie umgibt ihn förmlich. Sie hält ihn im magischen Ring. Daß sie dazu ihrer ganzen Seelenkraft bedarf, daß sie ihn gleichsam neu empfängt und neu gebiert, kann er nicht wissen. Eines Tages, kurz vor dem ersten Schneefall, kommt er von den Bergen, es ist die Stunde, wo sie zu ruhen pflegt, und um sie nicht zu stören, entledigt er sich vor dem Haus der genagelten Schuhe und geht auf Strümpfen durch die Küche und die Treppe hinauf. Die Tür zu ihrem Zimmer steht halb offen, sie hat ihn nicht gehört, er lugt hinein, ein hastiges Spähen, und er prallt zurück. Lautlos geht er die Stiege wieder hinunter und kauert sich auf die unterste Stufe. Den Anblick wird er nie vergessen. Nie wird das Bild dieser Versunkenheit von seinem innern Auge weichen. Das geneigte Haupt, die innige Bewegung der mit den Fingerspitzen gegeneinandergelegten Hände. Die Tiefe der Besinnung. Die unermeßliche Ruhe. Den Ausdruck des Gehorsams. Was ist das? Er hat nicht geahnt, daß es dergleichen gibt. Was ist es? Was ist es? Gebet? Zu wem? Wozu? Gibt es das? Wie kommt es, daß er an den Tag denkt, als er zum ersten Male zu Marie ins Zimmer kam und sie am Fenster saß, die ganze Gestalt, so zart in ihrer frühen Schwangerschaft, in eine mit Goldstaub gesättigte Atmosphäre getaucht. Er fühlt sich auf einmal müde, lehnt den Kopf an das Holzgeländer und spürt gelockert die Schwere seiner Glieder. Alles Gewesene ist der Erdverhaftung entbunden und schwebt langsam in eine reinere Region.

Und wieder fragt er sich: Gibt es das, bei einer Sophia von Andergast, einem geistigen Menschen, einer Frau, die wissenschaftlich gearbeitet hat und der das Leben eine höchst ernsthafte Wirklichkeit war? Er muß sich getäuscht haben, es ist nicht anders möglich. Da oben ist alles anders, man kann sich auf seine Sinne nicht mehr verlassen. Er darf annehmen, sie habe ihn nicht bemerkt, aber Sophia ist sehr sensitiv und scheint ihn besser zu kennen, als er ahnt. An dem Tag, wo das große Schneien beginnt, ereignet sich etwas, was ihn derart hernimmt, daß er sich lange nicht davon erholen kann. Ein Nichts. Eine Lächerlichkeit, und doch, es überläuft ihn, wenn er es denkt. Er sitzt im Erker und schaut in die umrißlos gewordene Landschaft hinaus, da tritt sie zu ihm und legt den Zeigefinger unter sein Kinn, so daß er den Kopf zu ihr erheben muß. Genau wie Marie es oft getan hat. Erschrocken starrt er ihr ins Gesicht: sie lächelt ihm zu. Nichts weiter. »Was willst du, Mutter?« fragt er scheu. Sie schüttelt den Kopf; keineswegs will sie etwas. Da lächelt er endlich auch, zum ersten Mal seit Monaten. Am Nachmittag beginnt es zu schneien, und es schneit ununterbrochen fünf Tage lang. Schneefall in diesen Höhen ist nicht dasselbe wie in der Ebene. Es ist, als sänken dichte, schwere weiße Mullvorhänge herunter, die die Lautlosigkeit der Natur in einem Maße steigern, daß die Luft in eigentümliches Sieden gerät und einem des Nachts zumute ist, als fange die Glocke, die der Schnee über das Haus stülpt, zu tönen an. Ich bin im Grund der Welt, denkt Etzel. Ich bin im Haus der Mutter, denkt er, und das Wort Mutter hat den geheimnisvollen Klang der weißen Glocke. Das Haus ist ein Grab im Schnee. Mit einer abgelebten Wirklichkeit ist er in das Grab hineingestorben, mit einer neuen wird er aus ihm auferstehen.


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