Jakob Wassermann
Etzel Andergast
Jakob Wassermann

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Drittes Kapitel

Schon in den ersten Tagen seiner Bekanntschaft mit Johann Irlen zeigte sich im Wesen Kerkhovens eine augenfällige Veränderung. Bis dahin ein Mann von nüchterner oder doch nüchtern scheinender Gesammeltheit, machte er nun den Eindruck zerfahrener Unruhe. Zuweilen sah er wie jemand aus, der insgeheim eine unerwartete Nachricht erhalten hat, deren Tragweite nicht abzuschätzen ist. Er war vor kurzem vierunddreißig geworden und stand seit acht Jahren in der Praxis, zum Besinnen war ihm wenig Zeit geblieben, nämlich zu dieser Art von Besinnen, die wie erschrockenes Innehalten auf einer bequemen Straße war. Es ließ sich etwa so ausdrücken: ein tadellos funktionierender Mechanismus war in Unordnung geraten, und die Ursache war nicht zu finden, ein Rädchen zerbrochen, eine Feder gesprungen, Gott weiß was. Wer seine täglich wiederkehrende Aufgabe hat, streng eingeteilten Dienst, der tut nicht gut, wenn er sich mit störenden Vorgängen in seinem eigenen Innern befaßt, namentlich wenn ihm das Innere der andern Menschen dauernd zu schaffen macht, er gleicht dann einem Mann, der angelegentlich in den Spiegel starrt, während ringsherum das Haus brennt.

Aber was war denn geschehen? Im Grunde nichts weiter als die Begegnung mit einer Persönlichkeit, die ähnlich wie ein Scheinwerfer wirkte. Bereits beim zweiten Besuch kam es außerhalb des ärztlichen Bereichs zu einem Gespräch, das Kerkhoven aus dem Gleichgewicht brachte, wobei ihm klar wurde, daß es ein eingerostetes Gleichgewicht war. Es lag nicht am berührten Gegenstand, auch nicht an der Art der Betrachtung, sondern an der Atmosphäre. Man hatte das Gefühl: Luft! Du kannst atmen! Am Ende der Woche ließ ihn Irlen gegen zehn Uhr abends rufen, weil er vor Kopfschmerzen fast verrückt wurde. Er blieb bis elf Uhr still bei ihm sitzen, dann, als die Schmerzen vorüber waren, unterhielten sie sich bis halb eins. Auf dem Nachhauseweg, im Regen, unter einer Gaslaterne, versteinerte er aus dumpfwühlenden Zweifeln heraus unter der schlaglichtartigen Erkenntnis: alles, was du bis jetzt getrieben, gedacht, vorgestellt hast und gewesen bist, war Irrtum und Zeitverlust.

Nun, damit konnte man sich ebensogut hinlegen und krepieren. Dazu die schülerhaft erstaunte Feststellung, daß man hierherum ungefähr sieben- bis achthundert Menschen kannte und zwei bis drei Dutzend hinlänglich gründlich und genau, daß aber dieser von allen übrigen so verschieden war wie ein Säugetier von Insekten.

Er war der Sprache nur in geringem Grad mächtig, nicht mehr als etwa ein gebildeter Handwerker, wenigstens was den Mut zur Äußerung betraf. Vieles lag ihm auf der Zunge, was er nicht formulieren konnte; Irlen war der erste Mensch, den er je getroffen, der es jedesmal erriet und zu seiner maßlosen Verwunderung in Worte brachte. Und auf einmal erwies es sich, daß er die Worte selber fand. Er hatte nie ein deutliches Bewußtsein von seiner Einsamkeit gehabt, in Irlens Nähe wurde sie ihm als Zustand sichtbar, wie eine Fotografie beinahe, und er versuchte stotternd, ihm eine Vorstellung davon zu geben. Irlen nickte ihm zu, als hätte er etwas ganz besonders Tiefes gesagt und bezeichnete es als ein Merkmal der Zeit. »Alle unsere Berufsleute sind einsam«, sagte er, »einige leiden darunter, die meisten spüren es nicht. Sie haben ihre Interessengemeinschaften und das armselige Ersatzmittel für höhere Beziehung, den gesellschaftlichen Verkehr, der durch alle sozialen Stufen in seiner eigentümlichen Verkümmerung besteht, indem er Kaste gegen Kaste ausspielt, in der Arbeiterwelt wie in der Adels- und Bürgerwelt. Das ist ja unser Unglück, deswegen sind wir so verarmt. Heute gibt es kaum einen Mann über dreißig, der noch einen Freund besitzt, vor zwanzig Jahren war man erst mit vierzig so weit, um neunzehnhundertdreißig werden bereits die Fünfundzwanzigjährigen vereinsamt sein. Sie werden mit zwanzig ihre erotischen Erlebnisse hinter sich haben und für die Liebe dann verloren sein wie für die Freundschaft. Die Ehe ist dann auch nur ein jämmerlicher Ersatz.« Kerkhoven machte ein naivschuldbewußtes Gesicht. (Vielleicht, weil er annahm, Irlen wisse nicht, daß er verheiratet war, er erzählte es ihm erst einige Tage später.) Er schaute Irlen in einem Moment, wo er sich nicht von ihm beobachtet glaubte, mit einem Blick an, der ihn durch und durch zu erforschen schien. Es war ihm zumut, als kenne er ihn schon viele Jahre, sei schon seit vielen Jahren vertraut mit diesem indianisch-schmalen Kopf, den blauen, tiefliegenden Augen, dem hastigen, harten, trockenen Händedruck, auf den er beim Kommen und Gehen immer wartete wie auf eine unentbehrliche Verständigung, und als sei es auf keine Weise zu erklären, daß sie einander erst vor kurzer Frist kennengelernt hatten.

Kerkhovens Ehe war ein Fall für sich, ein Kerkhovenscher Fall. Es dauerte Monate, bis Irlen in das Verhältnis Einblick erlangte, denn Kerkhoven konnte sich nicht entschließen, darüber anders als in spärlichsten Andeutungen zu sprechen. Die Vorgeschichte war nichts weniger als interessant. Schon als Student war er ein Abseitsgeher gewesen und hatte sich von den Kommilitonen ferngehalten. Nicht aus Hochmut, sondern aus Schwerblütigkeit und hauptsächlich, weil er sich mit ihnen langweilte. Seine Schüchternheit lähmte ihn auch dort, wo er sich gern angeschlossen hätte. Im allgemeinen war ihm die Methodik der studentischen Vergnügungen unleidlich, nichts verdroß ihn mehr als das programmäßige Über-die-Schnur-Hauen und das Heldentum, das sich nach der Quantität des konsumierten Alkohols bemaß. Sie sprachen mit schöner Ungeniertheit von sich; er liebte es in keiner Weise, von sich zu sprechen, wenn sich bei irgendeinem Anlaß die Aufmerksamkeit auf seine Person richtete, wurde er ängstlich und rollte sich igelhaft zusammen. Langweile unter Menschen war beinahe eine Krankheit bei ihm; war er einmal gezwungen, in Gesellschaft zu gehen, so bekam er richtiges Lampenfieber und verbarg seine Mißgefühle unter einer peinlich wirkenden steifen Höflichkeit, redete jeden beflissen mit seinem vollen Titel an und entschuldigte sich beim geringsten Verstoß so umständlich wie der unglückliche Beamte in der Geschichte von Tschechow, der seinem Vorgesetzten im Theater beim Niesen auf die Glatze spuckt. Infolgedessen beging er natürlich lauter Verstöße, mitunter ziemlich lächerliche. Jedoch nach seiner bürgerlichen Niederlassung gewann er hierin mehr Sicherheit und Haltung.

Während seiner Praktikantenzeit hatte er eine junge Italienerin kennengelernt, sie hieß Nina Belotti und stammte aus dem Trentino, eine äußerst lebhafte, anmutige, hübsche Person. Sie hatte sich als achtzehnjähriges Mädchen an irredentistischen Umtrieben beteiligt, und, ohne daß sie es recht merkte, in eine hochverräterische Verschwörung verstrickt, war sie der drohenden Verhaftung nur durch schleunige Flucht über die nahe Schweizer Grenze entgangen. Da die Familie sich von ihr lossagte und ihr die Unterstützung verweigerte, hatte sie den Plan gefaßt, sich in Deutschland zur Krankenschwester auszubilden. Wie sie in den politischen Kampf geraten war, darüber vermochte sie nie eine vernünftige Auskunft zu geben, vielleicht durch ein Liebesabenteuer, vielleicht bloß, um ihrem Temperament die Zügel schießen zu lassen. Über die Ziele, die ihr vorgeschwebt, wußte sie wenig auszusagen; wenn man neugierig wurde und sie bedrängte, brachte sie mit einem gewissen verlegenen Trotz die billigsten Schlagworte aus der Rebellenfibel vor, wie daß die Freiheit mit Blut erkauft werden müsse und die Unterdrücker den Tod verdienten. Kerkhoven hörte sich das jedesmal mit grabesernster Miene an. Sie zu belehren oder zu erziehen fiel ihm nicht im Traum ein.

Sie war entzückend ungebildet, ganz Naturkind, vollkommen anspruchslos. Und so gefiel sie ihm, so wollte er sie haben, so sollte sie bleiben. Was braucht eine Frau mehr als eine genügende Portion Hausverstand? Nämlich wenn sie in ihrem Äußern mit allen Eigenschaften ausgestattet ist, die den Mann zufriedenstellen. Ein paar Jahre lang hatte er in freiem Verhältnis mit ihr gelebt; nachdem er sich als praktischer Arzt ansässig gemacht, hatte er sie geheiratet. Er hatte geschwankt, hatte alle Möglichkeiten erwogen, sich durch alle Zweifel gekämpft, aber er hatte niemals Ursache gehabt, seinen Entschluß zu bereuen. Sie diente ihm mit Hingebung. Sie war seine Magd, seine Geliebte, seine Wirtschafterin und seine Assistentin. Sie war tapfer, hochherzig und selbstlos. Kinder hatten sie nicht.

Etwas trübte seine Beziehung zu ihr: die schrankenlose Bewunderung, die sie für ihn hegte. In dem Punkt war sie taub gegen jeden Einspruch und blind für die wirklichen Maße. Sie bewunderte alles, was er tat und sagte, sie bewunderte ihn beim Rasieren und beim Zeitunglesen, wenn er mißgelaunt und wenn er freundlich war, bei der Ordination und beim Schachspiel (er spielte gern Schach, als er es Irlen gestand, spielten sie bisweilen eine Partie), bei Tag und Nacht. Sie benahm sich dabei mit putziger Objektivität wie jemand, der sich für einen besonders imposanten Menagerielöwen begeistert. Was konnte er dawider tun, daß sie ihn für einen großen Mann hielt? Es waren gar keine Unterlagen dafür vorhanden, sie hatte, in der Außenwelt, nicht die geringsten Anhaltspunkte dafür, aber in ihren Augen war er ein großer Mann. Sie hütete sich natürlich, schon aus Furcht vor seinem Zorn, ihre Meinung vor die Leute zu tragen, aber wenn in ihrer Gegenwart von bedeutenden Leistungen die Rede war, gleichviel ob wissenschaftlichen oder profanen, eines Dichters, Fliegers oder Boxers, mußte sie sich Gewalt antun, um nicht etwas Ungereimtes und Enthusiastisches zum Lob ihres Giuseppe zu sagen.

Ihre Begriffe waren die eines Kindes, Kerkhoven war gleichsam der einzige Erwachsene für sie, so wie für das Kind der Vater, der es führt, die einzige Person von Geltung ist. Daneben steckte etwas von dem abergläubischen Respekt der italienischen Bäuerin vor dem Doktor in ihr, er wußte es wohl und hielt es ihr zugute, denn er liebte ihre Volksart, wie er ihre Sprache und ihre durch keine Kultureinflüsse verderbte Einfalt liebte. (Viele Jahre später, als sie schon eine vom Leben zerschlagene Kreatur war, deren geistige Nacht sich nur blitzartig erhellte, wenn die Kunde von Kerkhovens Aufstieg zu ihr drang, sagte sie, so oft ihr davon erzählt wurde, mit einem ergreifenden Leuchten im Gesicht und dem unverändert radebrechenden Deutsch: »Seht ihr, ich 'aben es immer gewußt; ich allein 'aben es immer prophezeit.«)

Wenn man einem Menschen als etwas erscheint, was man auch bei mildester Selbstbeurteilung in das Gebiet unsinniger Übertreibung verweisen muß, verliert sich die Stimme dieses Menschen nach und nach ins Unartikulierte wie die eines Vogels. Es steht gefährlich um die Verbundenheit, wenn das Wesen, das man sich zugesellt hat, einen beständig in aller Unschuld über die Grenzen heben möchte, die man sich von Anfang an und in der Meinung, es sei für immer, gezogen hat. Es verletzt den Stolz, und in diesem Fall geschah Ärgeres: Als Irlen es erkannte, belehrt durch die zögernden, vorsichtigen, ganz langsam die Vergangenheit aufdeckenden Mitteilungen Kerkhovens (die ihn dann selbst über die Gespenstigkeit des Geschehens belehrten), erschrak er über die seltsame Typengleichheit der Erlebnisse innerhalb ein und desselben Menschenschicksals, trotzdem es nichts Neues für ihn war, er hatte die Erfahrung schon öfter gemacht. Da war etwas Begrabenes, was begraben bleiben sollte, und jene unschuldig-törichten Hände scharrten und scharrten danach. Kerkhoven war in seiner eigenen Meinung, was er eben war, ein unbedeutender Arzt in einer Provinzstadt, im Adreßbuch unter soundsoviel andern verzeichnet als Doktor der gesamten Heilkunde. Mehr wollte er nicht sein, weil er überzeugt war, nicht mehr sein zu können. Es war dies ein Ergebnis seiner inneren Verfassung, eines Zustands von Selbstauslöschung, von fortwährendem Herunterschrauben des Ichgefühls. Seine Bescheidenheit, oder wie man diese Eigenschaft nennen mochte, war eine chronische Erkrankung des Selbstbewußtseins. Der Ursache nachzugehen nahm er sich sorglich in acht, und so war es ein Schock, wie er ihn lange nicht verspürt hatte, als Irlen durch ein bestürzend unvermutetes Wort daran rührte und er, wie wenn in seiner Brust Blöcke von einem Höhleneingang wären weggewälzt worden, gezwungen war, einen Blick auf das »Begrabene« zu werfen. Es ließ ihn nicht mehr ruhen. Das und vieles noch. Manche Leute schleppen eine Last durch Jahrzehnte und gewöhnen sich dermaßen an ihr Gewicht, daß sie vergessen, wie schwer sie ist.

Da ist ein Momentbild der Sprechstunde: Er öffnet die Tür zum Wartezimmer, sein Blick überfliegt die geduldig harrenden Menschen. Jeder ist sorgenvoll mit seinem Leiden beschäftigt und überlegt, wie er es dem Arzt möglichst eindringlich schildern soll. Fünf Personen: eine schwarzverschleierte Frau, die er zum erstenmal sieht, ein Arbeiter mit verbundenem Kopf (eine Eisenstange ist ihm auf den Schädel gefallen); ein unaufhörlich hustender und spuckender Alter mit unsauberem Bart und Klumpfuß; ein barfüßiger kleiner Junge, dessen ganzes Gesicht von einem Ekzem bedeckt ist, und ein gewisser Schnaase, Varietékünstler, geschlechtskrank, der seit Wochen täglich kommt und sich beharrlich weigert, einen Spezialisten aufzusuchen, weil er angeblich zu Kerkhoven mehr Vertrauen hat. Während er die Schwarzverschleierte mit einer Handbewegung ins Ordinationszimmer bittet, erscheinen noch zwei Frauen, eine junge, die sich gleich auf einen Stuhl wirft und das Taschentuch an die Augen drückt, und eine bejahrte, offenbar die Mutter, die die Anwesenden geringschätzig mustert, wie es nur reichgewordene Kleinbürgerinnen tun, und sich pomphaft an Kerkhoven mit der Frage wendet, ob sie nicht als erste drankommen könnten. Als er stumm auf die bereits Wartenden deutet, kehrt sie sich beleidigt ab wie eine Primadonna, die eine Statistin abgeben soll...

Heute die, morgen andere. Im Grunde sieht es aus, als seien es immer die nämlichen. Zu Irlen sagt er einmal: »Es gibt eine Eintönigkeit im Wechsel, die das einzelne zur Masse zusammenschweißt und die Fülle des Leidens zum Sammelsurium macht.« Irlen antwortet nicht, er scheint darüber nachzudenken. Kerkhoven möchte es näher erklären, findet jedoch nicht die richtigen Wendungen. Er würde dann ungefähr folgendes sagen: Ja, wenn es noch ein ausgeprägtes Leiden ist, in grundlegenden Worten benannt, auf Kongressen erörtert, in Fachzeitschriften umstritten, wenn es noch das ist. Oder einer der seltenen Fälle, wo die Wissenschaft im dunkeln tappt und man in die Grenzgebiete gerät, vor deren Weglosigkeit auch der berühmte Professor das ehrwürdige Haupt schüttelt und aufmerksam zuhört, was der kleine Kollege an Symptomen aufzuzählen hat; da lohnt es vielleicht der Mühe, es geht gegen einen Feind, an dem man unter Umständen seine Kräfte messen kann. Unter Umständen; denn du lieber Gott, mit den Kräften ist kein großer Staat zu machen, in der Zwangsfron ist man lahm geworden, von der gewaltigen Arbeit zahlloser Forscher in zahllosen Laboratorien und Kliniken sind die Ergebnisse nur zu einem verschwindenden Teil zu einem gedrungen; hat man denn Zeit, zu lesen und weiterzulernen? Und was man zu lesen und zu lernen versäumt hat, das muß, alle sagen es, die Erfahrung ersetzen. Was aber ist meistens Erfahrung? Die Reihenfolge des Mißlungenen. Trotzdem verleiht sie eine Art von Sicherheit, wenigstens den verzweifelten Mut, den Wissensmangel aus der Rechnung auszuschalten, und den edleren, das Eingeständnis der Unzulänglichkeit als Schutzwehr aufzurichten gegen den Dünkel und die Verbrechen der Ignoranz.

So ungefähr würde er es ausdrücken, wenn er etwas beredter wäre. Jedoch Irlen scheint ihn trotzdem zu verstehen, in seiner Miene liegt auch die Antwort, ungefähr so: Ich glaube, Sie sind auf einer falschen Fährte, Mann.

Er hatte sich früh damit abgefunden, daß er nur einen besseren Handlanger vorzustellen hatte. Die Schuld lag selbstverständlich an ihm, er hatte sich mit voller Überlegung in die beschränkte Bürgerexistenz begeben. (Jetzt, eben jetzt begann er zu ahnen, warum, er war auf dem Weg der Erkenntnis, und wie tief der auch hinunter- und zurückführte, er fürchtete sich nicht mehr vor dem, was ihm bisher das Allergefürchtetste gewesen war, der Durchforschung seines Innern, Durchforschung bis auf den Grund, wobei er sich darüber klar war, daß es ohne die Bekanntschaft mit Irlen nie so weit gekommen wäre.)

Natürlich hätte er ein Spezialfach wählen können, um der Verflachung im allgemeinen Betrieb zu entgehen. Aber dies hätte noch jahrelanges Studium erfordert, und dazu hatten die Mittel gefehlt. Er wollte fertig und unabhängig sein. Als Spitalassistent hatte er ein unangenehmes Erlebnis mit dem Chef seiner Abteilung gehabt; dieser hatte durch eine grobe Fahrlässigkeit den Tod eines Patienten verschuldet; er dachte aber gar nicht daran, die Schuld auf sich zu nehmen, sondern schob ihm, der sich nicht wehren durfte oder von dem er mit Recht annahm, daß er zu timid oder zu autoritätsgläubig war, um sich zu wehren, kaltblütig die ganze Verantwortung zu. Der Fall lag so, daß ein Versäumnis Kerkhovens im Bereich der Möglichkeit lag, die Berechnung aber stimmte: er wehrte sich mit keiner Silbe. Nicht unwahrscheinlich bei seinem schweigsamen Stolz, daß diese Erfahrung ihn von einer Laufbahn abschreckte, die ihm solche häßlichen Überraschungen vor der schwer erringbaren Selbständigkeit noch öfter bescheren konnte. Zudem lebte in ihm eine hohe, wenn auch ganz undeutliche Idee von ärztlicher Kunst und Zusammenfassung des Vielfältigen, die ihn von der Spezialisierung abhielt (sogar auf seinem Schild fehlte die Bezeichnung Facharzt), eine verborgene Bewegung seines Geistes zum Humanen hin unterstützte eine Illusion, von der allerdings nach ein paar Jahren nicht mehr viel übrig war.

Die trostlose Verflachung hatte er nicht vorausgesehen. Er hatte sich's anders gedacht. Was war's denn geworden? Als er davon mit Irlen sprach, löste ihm der bittere Unmut die Zunge. Sie kamen mit eitrigen Geschwüren am Finger, mit erfrorenen Zehen, entzündeten Augen und Sausen in den Ohren. Sie hatten Bauchschmerzen, Brustschmerzen, Gliederreißen, Übelkeiten. Kinder hatten Schafblattern, Masern, Keuchhusten, Mumps, alte Leute waren gichtbrüchig und asthmatisch. Dienstmädchen und Gouvernanten fürchteten schwanger zu werden und waren es zuweilen, Ehefrauen, die nicht mehr gebären wollten, simulierten Herzkrankheiten. Da ein Schorf auf der Haut, dort eine pfeifende Lunge, einmal eine Halsentzündung, einmal ein schwacher Darm, einmal ein Basedow. Den schickt man in die Poliklinik, den zum Zahntechniker, dem schneidet man einen Abszeß, dem vierten schient man ein gebrochenes Bein. Die einen finden, man verschreibe nicht genug, die andern, die Rezepte seien zu teuer. Sie wollen Pflaster haben, Purgative, rasch heilende Tränkchen, sie glauben, es ist Zauberei. Sie verweisen auf gewisse Zeitungsinserate und erkundigen sich, ob das angepriesene Mittel verläßlich sei. Manche verstehen alles besser, sie haben medizinische Traktätchen oder Flugschriften von Wunderdoktoren gelesen und benörgeln jede Verordnung. Manche schlottern vor Angst, wenn sie ein Brausepulver nehmen sollen, manche verlangen gleich den Chirurgen, wenn sie der Magen drückt. Manchen sitzt der Tod im Nacken, und sie lassen nicht von ihren aufreibenden Geschäften und mörderischen Leidenschaften, manche rufen einen mitten in der Nacht, wenn sie Nasenbluten bekommen. Mit denen, die sich in der Sprechstunde einfinden, ist es leichter als mit denen, die man in ihren Häusern aufsuchen muß, mit den Armen hat man weniger Beschwer als mit den Begüterten. Die Großbürger geben einem zu verstehn: Wir bezahlen dich, folglich hast du uns zu helfen. Sie tun, als hätten sie ein besonderes Anrecht auf Gesundheit und langes Leben, als bewohnten sie einen sakralen Bezirk, in dem der Arzt etwas wie einen Schutzmann gegen Tod und Schmerz abzugeben hat, und als vervollkommne sich die Wissenschaft nur für sie, denn schließlich ist es ihr Geld, von dem man hygienische Institute baut, kostbare Mikroskope kauft und teure Professoren besoldet. Viele sind ungeheuer aufgeklärt, sie reden von Bakterien, Streptokokken, Röntgenbildern, Sepsis und Harnanalysen, daß man sich ganz dumm dabei vorkommt, und denken, das alles sei schon so sicher wie ein Staatspapier und einfach wie die Regeln beim Sport.

Nein; er hatte sich's anders gedacht. Bei aller Selbstunterdrückung, bei aller Überzeugung von der eigenen Mittelmäßigkeit hatte er sich's beglückender gedacht. Nicht so folgenlos und auf demselben Fleck bleibend, nicht so subaltern. Für einen kleinen Medizinbeamten war er vielleicht doch zu schade, obwohl nicht einzusehen war (wie er, sich selbst zurücknehmend, durchblicken ließ), worauf er hätte hinweisen sollen, um sich dagegen aufzulehnen. Er war in dem labyrinthischen Bau seiner Wissenschaft um ein paar Stockwerke zu tief hinuntergeraten, jetzt gab es keinen Ausgang mehr nach oben, das Türschloß war eingeschnappt, die Treppe nicht mehr zu finden, und um nur in die nächsthöhere Etage zu gelangen, hätte ihm der Ausweis gefehlt, nach dem er gefragt worden wäre. Er durfte sich nicht beklagen, er hatte es so gewollt, nun hieß es, sich zufriedengeben und demütig die spärlichen Botschaften entgegennehmen, die aus den erlauchten Regionen in seine niedrige Enge drangen. Daran vermochte auch, so dünkte ihn, das aufwühlende Wort Irlens nichts zu ändern, das in ihm nachhallte wie ein auf eine Grammophonplatte übertragenes Echo.

In späterer Zeit hat Joseph Kerkhoven noch oft über den Eindruck nachgedacht, den der kurze Dialog auf der Schwelle von Irlens Zimmer zum Vorplatz, im Schein der emporgehaltenen Lampe, auf ihn übte. Ein schweres Gewitter war vorübergezogen, in der elektrischen Leitung war Kurzschluß, deswegen hatte Irlen die Lampe anzünden lassen. Die einzelnen Umstände blieben Kerkhovens Gedächtnis für immer eingeprägt.

Sie hatten von der Möglichkeit plötzlicher Wesensveränderung in einem Menschen gesprochen, und ob ein solcher Vorgang pathologisch bestimmbar sei oder auf rein seelischen Bewegungen beruhe. Irlen lag flach ausgestreckt, wie Kerkhoven ihm geraten, den Kopf ein wenig nach abwärts, dadurch milderten sich die rasenden Schmerzen im Hinterkopf. Irlen sagte, ein derartiger Fall habe in seinem Leben eine große Rolle gespielt, sei auch der mittelbare Anlaß zu seiner afrikanischen Reise gewesen. »Es handelte sich plötzlich nicht mehr um den einen Menschen«, fuhr er mit leiser Stimme fort und als ob es ihn wider seinen Willen zu der Mitteilung zwinge, »sondern um das Verhältnis zu allen, die mir nahestanden. Alles kam ins Gleiten, die Welt um mich hatte ihren Schwerpunkt verschoben, es war eine Krise der gesamten Existenz. Davon muß ich Ihnen ausführlich erzählen, ich hatte eigentlich noch nie solches Bedürfnis danach.« – »Es scheint Sie aufzuregen«, sagte Kerkhoven, »es ist spät, Sie müssen sich schonen. Ich bin natürlich gespannt, ich möchte vor allem wissen, was Sie mit dieser verhängnisvollen Reise im Sinn hatten, ich meine, welches Ziel Ihnen dabei vorschwebte. Aber heute nicht mehr, Sie müssen ruhen.« – »Gut. Erinnern Sie mich. Sie brauchen mich nur an Otto Kapeller zu erinnern. Man soll ein so wichtiges Ereignis nicht im Bewußtsein untergehen lassen. Man soll es von Zeit zu Zeit in die Gegenwart stellen, sine ira, wie ein Ding, damit man sieht, daß man sich von seinem Einfluß befreit hat und daß es kein Gift mehr in sich trägt.« Kerkhoven blickte betroffen empor, es klang wie eine Mahnung. Nach einem ziemlich drückenden Schweigen stand er auf, um sich zu verabschieden. Irlen schob die Decke beiseite, die er über seine Knie gebreitet hatte, und griff nach der Lampe, Kerkhoven sagte: »Lassen Sie doch, ich weiß ja meinen Weg«, aber Irlen bestand darauf, ihm in den Flur zu leuchten. Als Irlen die Tür aufmachte, hörte man gedämpftes Klavierspiel aus der Bergmannschen Wohnung. »Ist das Doktor Bergmann, der so spät noch spielt?« fragte Kerkhoven. – »Ich glaube nicht«, erwiderte Irlen, »ich glaube, Ernst spielt gar nicht. Es wird Marie sein. Sie spielt gut. Sonderbar, davon hat sie nie etwas erwähnt. Sie stellt gern ihr Licht unter den Scheffel.« – Kerkhoven sagte: »Frau Bergmann hängt sehr an Ihnen.« Irlen schien über etwas anderes nachzudenken. Er hob die Lampe, die einen Milchglassturz hatte, bis in die Höhe der Schulter und schaute Kerkhoven fest und intensiv an, sicherlich fünf oder sechs Sekunden lang. Durch die Belichtung von oben gewannen seine Züge eine übertriebene Schärfe, alles Charakteristische war ins Verzerrte gesteigert, die Geierschnabelnase, die dicken Wülste der Brauen, die eingehöhlten, membranhaft zitternden Schläfen, zwischen denen eine knabenhaft klare Stirn wie eine Miniaturkuppel schwebte, der schmallippige Mund, das eckig und gebieterisch vorgestreckte Kinn; grandiose Plastik eines zufälligen Moments.

Da sagte Irlen: »Es steckt eine Kraft in Ihnen, Doktor Kerkhoven, ich glaube, eine große Kraft. Sie müssen sie aus sich herausholen, sonst geht sie verloren.« – »Meinen Sie?« erwiderte Kerkhoven mit rauher Stimme, durch die eine gewisse Erregung brach. »Worauf gründen Sie die Meinung?« – »Vorläufig nur auf die Beobachtung, daß Sie alles tun, um sie niederzuhalten. Sollte das eine bestimmte Ursache haben?« – »Ich ... nicht daß ich wüßte«, gab Kerkhoven zaudernd und abwehrend zurück. – »Denken Sie doch einmal darüber nach. Ich wünschte sehr, daß Sie ... ich sehe natürlich die Schwierigkeit ... ich wünschte, daß Sie ihr nicht ausweichen, es wird die unerwartetsten Folgen für Sie haben.« – Kerkhoven, in seiner gewohnten Art, schaute blicklos durch die Wand durch. »Ich will's versuchen«, sagte er ohne Liebenswürdigkeit, »ich danke Ihnen, Herr Major. Gute Nacht. Morgen beginnen wir wieder mit den Injektionen.«

Er grübelte und grübelte. Auf dem Heimweg über das Glacis, in den engen, leeren Gassen der Stadt, im Bett vor dem Einschlafen, während des Schlafs im Traum, am Morgen beim Erwachen, beim Frühstück und in der Sprechstunde grübelte er und konnte nicht erdenken, was Irlen mit der Kraft meinte, die er aus sich »herausholen« sollte.

Sie war offenbar zu tief begraben.

Es konnte auch daran liegen, daß ihm der entschlossene Wille fehlte. Er hatte Angst und gestand sich die Angst nicht ein. Er war kein Freund von Entdeckungen in der eigenen Seele, er liebte das bequem Gewordene und klammerte sich krampfhaft an die gewohnten Lebensformen. Nur aus diesem Grund weigerte er sich beharrlich, einmal eine Ferienreise zu machen (zu Ninas Kummer) oder ins Theater zu gehen. Nur um Gottes willen nichts Neues, nur nicht aus dem Trott heraus. (Als sich allmählich ein freundschaftlicher Verkehr zwischen ihm und Marie Bergmann entwickelte, war diese bauernhafte Abneigung gegen jede Unterbrechung des automatischen Tagesverlaufs der Gegenstand von Maries liebenswürdigem Spott, sie ahnte damals nichts von dem Unterstrom von Angst, der ihn hemmte, als ob eine unbekannte namenlose Macht in seinem Innern laure, bereit, über ihn herzufallen und ihn zu zerfleischen.)

Es gibt Geistesstimmungen, die fast gesetzmäßig die ihnen entsprechenden Ereignisse zur Folge haben. Die Natur bedeutet uns damit, daß wir, um sie zu verarbeiten, erst den notwendigen Grad der Reife, oder der Bereitschaft erreicht haben müssen. Drei Vorfälle, die sich innerhalb weniger Tage zutrugen, waren für Kerkhoven wie das Verschwinden einer Wand in einem zu engen Raum, hatten aber zunächst keine andere Wirkung, als daß sie die von dem Gespräch mit Irlen her ihm verbliebene Bestürzung vermehrten. Der erste hing mit der schwarzverschleierten Frau aus der Sprechstunde zusammen. Es war eine fortgeschrittene Phtihsis, die er an ihr feststellte. Sie war die Witwe eines Postoffizials, hatte verhältnismäßig jung drei Kinder zur Welt gebracht, der Mann war an Auszehrung gestorben, sie wohnte bei ihrer Mutter und lebte von deren Gnade; die Kinder gerieten nicht recht, klagte sie, hatten einen neidischen, bösen Charakter, eigentlich habe sie keineswegs den Wunsch, das elende Leben fortzusetzen, aber ihr Beichtvater habe ihr ins Gewissen geredet, und so habe sie sich entschlossen, zum Doktor zu gehen. Beim ersten und zweiten Mal hatte sich Kerkhoven mit den üblichen Anweisungen begnügt und davon gesprochen, sich für ihre Unterbringung in einer Heilstätte zu verwenden, wovon sie aber durchaus nichts wissen wollte. Als sie das dritte Mal kam und er in seinen Notizen nachsah, hatte er das Gefühl, als habe er sie zu oberflächlich untersucht und sagte, sehr rücksichtsvoll, er müsse ihren Zustand noch einmal überprüfen. Sie entblößte den Körper bis zur Hüfte und stand da, schmal, blaß, mit glanzloser Haut, flachem Thorax, schräg abwärts fallenden Schultern und flackrigem Blick. Während er nun die Frau betrachtete, geschah etwas Seltsames. Er drückte den Rücken der linken Hand gegen die Stirn, kniff die Augen zusammen und sagte: »Ja, ich sehe schon, ich sehe, es ist gut, ziehn Sie sich nur wieder an.« Verwundert, daß er sie nicht abklopfte, gehorchte die Frau zögernd und fragte mit trübem Lächeln: »Steht's denn so, daß Sie sich das Hineinhorchen ersparen können, Herr Doktor?« Es schien, als erschreckten ihn ihre Worte, aber nur der Schall, nicht der Sinn, er winkte lebhaft ab und sagte: »Nein nein, wo denken Sie hin.« Da traf ihn ein unendlich vertrauensvoller Blick aus den Augen der Frau, so als habe sie die Hoffnungslosigkeit ihres Falles zwar begriffen, sei aber seit dieser Stunde auch gewiß, daß sie einen besseren Berater nicht habe finden können. Es war ein auffallender Stimmungsumschwung bei ihr zu bemerken, nach dessen Ursache sich Kerkhoven vergeblich fragte, denn wie er glaubte, hatte er nicht das mindeste dazu getan. Und dieser selbe Stimmungsumschwung bewirkte in den nächsten Tagen eine ebenso auffallende Besserung ihres ganzen Befindens; mit Erstaunen konstatierte Kerkhoven, daß sie nach wochenlangen Temperaturen plötzlich fieberfrei war.

Irlen sah, daß ihn etwas beschäftigte, und suchte ihn zum Reden zu bringen. Der Mann interessierte ihn mit jedem Tag mehr, er konnte kaum sagen weshalb. Er interessierte ihn ungefähr wie den Bildhauer ein unverarbeiteter Marmorblock interessiert oder, weil dieser Vergleich das Lebendige, das fast Blutmäßige seiner Anteilnahme herabsetzen könnte, wie den Erzieher ein begabter, aber total verwilderter und geistig vernachlässigter Knabe. Wenn er nicht geradezu betäubt von Fieber und Krämpfen war und die Schwächeanfälle ihn nicht stumm machten (was übrigens immer seltener der Fall war, das Leiden schien sich gewissermaßen zu verbreitern, der anfänglich katastrophenhafte Charakter ging in einen chronischen, aber milderen über), gewährten ihm die Unterhaltungen mit Kerkhoven ein wachsendes Vergnügen, mehr als das, eine Art Lenker- und Entdeckerfreude, und zur Verwunderung Maries und der Senatorin dauerten die täglichen Besuche Kerkhovens, längst nicht mehr ausschließlich Krankenbesuche, oft bis weit über Mitternacht.

Es bedurfte nur eines geringen Anstoßes von Seiten Irlens, und Kerkhoven erzählte, ziemlich abgerissen und ungenau freilich, was ihm mit jener Frau passiert war. Er ging mit großen Schritten im Zimmer auf und ab, und indem er sprach, schien ihm die Sache plötzlich nicht mehr so rätselhaft wie bisher. »Wenn man längere Zeit im Seziersaal arbeitet, verliert die Leiche nach und nach das Menschenhafte«, sagte er leise und überstürzt, als rede er mit sich selber, »sie ist eben ein Präparat, weiter nichts. Man denkt nicht daran, daß das Herz einmal geschlagen, das Hirn einmal gedacht, der Mund einmal gelächelt und das Auge geschaut hat, daß das überhaupt jemand mit einem Namen und einem Leben war. Klar, nicht? Wissenschaftliches Material, Studienmaterial. Doch klar. Nun stellen Sie sich vor, daß man Ihnen eine Leiche auf den Tisch legt, mit der Sie gestern noch in der Eisenbahn zusammen waren oder in einer Gesellschaft, könnte doch vorkommen, nicht? Sie haben irgendwas Nettes mit der betroffenen Person gesprochen, sich sogar ein wenig angefreundet, jedenfalls waren Sie nicht darauf gefaßt, sie auf einmal nackt und tot vor sich zu sehen. Ich glaube, Sie würden das Messer nicht ansetzen. Oder würden Sie? Ich glaube nicht. Sie hätten Widerstände. Nun, etwas Ähnliches geschah mir mit der Frau.« – »Und in welcher Weise?« erkundigte sich Irlen äußerst gespannt. Er hatte sich aufgerichtet und den Kopf auf den Arm gestützt. – »Sie war kein Patient mehr, sondern ... ja was ... ich weiß es nicht. Eine Person eben.« – »Flößte sie Ihnen besondere Sympathie ein, besonderes Mitleid?« – »Durchaus nicht. Eine Frau wie tausend andere, ganz reizlos. Nein, das war es nicht.« – »Können Sie es auf keine Weise erklären? Es läge mir außerordentlich viel daran ...«

Kerkhoven setzte sich, beugte sich nach vorn, bohrte die Arme so tief zwischen die Knie, daß die Fingerspitzen fast den Boden berührten, und starrte angestrengt auf das Zifferblatt der Uhr, die auf dem Kaminbord stand. Er bemühte sich, deutlich zu machen, daß er in dem kritischen Augenblick ein vollständig genaues Bild von der inneren Organisation der Frau gehabt habe, nicht allein der körperlichen, auch der seelischen, derart, daß er wie bei einem kunstvollen Räderwerk die Abhängigkeit des einen vom andern habe bloßlegen können und die bestehende Unordnung erkannt habe, den Fehler im Getriebe, von dem er die quälende Empfindung gehabt, daß er zu verbessern sei, ja vielleicht behoben werden könne, wenn man nur einzugreifen verstünde. Überhaupt sei der ganze Vorgang merkwürdig quälend gewesen, auch physisch schmerzhaft, als ob die Augen dadurch wären überanstrengt worden. Keineswegs habe er ihn als Hervortreten einer ihm vielleicht innewohnenden Fähigkeit verspürt, eher als ein an Verzweiflung grenzendes Bewußtwerden einer Unfähigkeit, verbunden mit dem Entschluß, daß es damit anders werden müsse, kost' es, was es wolle. Er schwieg eine Weile, und Irlen schaute ihn an wie einen, den man für stumm gehalten und der nun fließend spricht. Dann fing er wieder an. »Das kann natürlich jeder sagen: Wenn ich die Mittel wüßte, könnt' ich helfen. So mein ich's nicht. Ich meine, die Hilfe müßte von der Erleuchtung ausgehen, nur so könnte man den allertiefsten Sitz des Übels finden, im Kern des Lebens, denn so weit bringt man's mit der Wissenschaft nicht. Die Wissenschaft leuchtet nur, die Erleuchtung kommt von woanders her. Bei mir fehlt's am Wissen, die Erleuchtung allein, die führt zum Humbug. Schwindeln, nein; niemals; auch nicht an der schummerigen Grenze, wo man nichts davon weiß.«

Irlen erhob sich, legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte: »Ich denke, da wird es einen Ausweg geben. Sie sind dicht daran. Haben Sie Geduld.«

Am Tage nachher hatte Kerkhoven in der Nähe der Infanteriekaserne zu tun; als er das betreffende Haus verließ, gewahrte er wenige Schritte vor sich eine Ansammlung aufgeregter Menschen. Sie umstanden das Tor eines einstöckigen, barackenähnlichen Gebäudes, vor welchem, als sollte es abgetragen werden, Leitern, Bretter, Schaufeln und Sandkarren herumlagen. Zwei Schutzleute wehrten die Neugierigen vom Eindringen ab, an einem Fenster des Erdgeschosses zeigte sich ein dritter, und als Kerkhoven näher kam, hörte er furchtbares Winseln aus dem offenen Fenster. Er verzögerte unwillkürlich seinen Schritt, da erkannte ihn jemand aus der Menge, ein Schreinermeister, den er behandelt hatte, und rief: »Man muß keinen Doktor mehr holen, da ist schon einer.« Die Leute machten ihm sofort Platz, er ging auf den Schutzmann zu, nannte seinen Namen und fragte, ob ärztliche Hilfe gebraucht werde. Der Beamte erwiderte, man erwarte die Sanitätsleute, vielleicht wolle er sich inzwischen das arme Weib drinnen mal ansehen, ihr besoffener Mann habe sie gänzlich zuschanden geschlagen, habe sich im Hof verbarrikadiert und drohe auf jeden zu schießen, der sich blicken lasse. Unterstützungsmannschaft, ihn zu fangen und unschädlich zu machen, werde gleich anrücken, der Herr Doktor könne aber beruhigt ins Haus gehen, das Hoftor sei abgesperrt.

Er fand eine etwa vierzigjährige Frau in Agonie. Sie lag mit einem blutnassen Hemd bekleidet auf einer schmutzigen Strohmatratze auf dem Boden. Neben der Tür standen zitternd aneinandergeschmiegt zwei Kinder, sechs- und siebenjährig, und starrten mit weit aufgerissenen Augen auf die Mutter. Der Schutzmann salutierte, als Kerkhoven eintrat, und berichtete, daß er das Mädel und den Buben aus dem Bretterverschlag im Vorplatz hervorgeholt, in den sie ihr Vater hineingestoßen hatte, um die Frau ungestört mißhandeln zu können. Tagelang sei der Kerl von Hause fort gewesen und habe das Weib verdächtigt, ihn mit einem Schlossergesellen betrogen zu haben, grundlos, die Frau hatte bloß Sorge, wie sie für sich und die Kinder Brot schaffen solle. Typischer Eifersuchtswahn des Alkoholikers. Nachdem er drohend die Wohnung umlauert, war er in die Stube getorkelt und hatte die Frau mit dem Knotenstock niedergeschlagen. Dann kochte er sich seelenruhig eine Mehlsuppe, und satt gegessen, sperrte er die Kinder ein und griff abermals nach dem Stock. Als er aufhörte, lag ein Fetzen zuckendes Fleisch vor ihm. Mit grimmigem Mitleid deutete der Polizist hin. Kerkhoven schüttelte den Kopf, der Körper war vom Hals bis zu den Schenkeln eine einzige Wunde, der Puls kaum mehr zu spüren. Fraglich, ob sie den Transport ins Spital überleben würde. Er kniete hin.

Unter der Tür erschien ein Herr; weiße Kappe, Armbinde mit dem roten Kreuz. Hinter ihm schoben zwei Träger die Krankenbahre auf die Schwelle. Kerkhoven erhob sich, die Morphiumspritze in der Hand. Er kannte den Arzt, sie begrüßten einander. »Ich glaube, Herr Kollege, Sie können da nur noch die behördliche Leichenschau veranlassen«, sagte er. Als er in den von saurem Mörtelgeruch erfüllten Hausgang kam, drangen gerade sechs Polizisten mit entsicherten Revolvern in den Hof. In einer Regung von Vergeltungssucht folgte er ihnen. Kein Verlust, wenn eine solche Bestie niedergeknallt wurde. Der Elende hatte sich am andern Ende des Hofes in einen Schuppen geflüchtet, der aussah wie ein Gänsestall. Hinter einer Tür aus dünnen Latten kauerte er mit dem Gewehr im Anschlag. Wie sich nachher herausstellte, hatte er es in der Kaserne gestohlen und in einem leeren Kohlensack unbemerkt weggetragen. Der Lauf blitzte zwischen den Latten. Er kauerte hinter einer Kiste, ein Mensch mit schwächlichen Schultern und dem Gesicht einer Ratte. Kerkhoven dachte: Man müßte sehen, ob das Vieh Appell im Leibe hat. Hinter diesem Gedanken lag etwas anderes: das Verlangen, eine Probe mit sich zu machen. Er sagte zu dem Wachtmeister: »Vielleicht kriegen wir den Burschen ohne Munitionsverschwendung. Überlassen Sie ihn mir.« Der Beamte wollte Einwendungen erheben, aber er war schon vor die Truppe getreten, ohne den Menschen eine Sekunde lang aus dem Blick zu lassen. Dabei winkte er befehlend nach rückwärts, worauf sich die Schutzleute widerstrebend unter das Tor zurückzogen. Wenn ich nachgebe, bin ich verloren, sagte sich Kerkhoven, es geht um den Kopf. Als er später Marie Bergmann den Vorgang schilderte, sagte er, es sei ihm plötzlich zumute gewesen, als trüge er das im wörtlichen Sinn totgeschlagene Weib auf seinen Armen, er habe auch die Arme ein wenig vor sich hingehalten, instinktiv, wie in einer Rolle, und dem Mörder sei dies zur Vision geworden, anders habe er, Kerkhoven, sich das Gelingen des gefährlichen Wagestücks nicht erklären können. »Markmann!« rief er fest, ohne jedoch zu schreien. »Tun Sie den Schießprügel weg!« Der Unhold hatte bereits den Finger am Drücker, seine Augen glitzerten tückisch, auf einmal ließ er das Gewehr sinken und glotzte stupid. »Machen Sie keine Geschichten, Markmann«, fuhr Kerkhoven fort, »kommen Sie her, kommen Sie auf der Stelle her zu mir.« War es die Stimme, oder der Blick, oder die übertragene Vision, der so Angerufene erhob sich wirklich, ließ das Gewehr fallen als seien die Hände lahm geworden, rückte mit den Knien die Kiste beiseite, stieß, ebenfalls mit den Knien, die Lattentür auf und schwankte einknickend mit halbgeschlossenen Augen und an der Hose herumtastenden Fingern auf Kerkhoven zu. Der drehte sich nach den Schutzleuten um, die auf ihn losstürzten. Der Wachtmeister stand vor Kerkhoven stramm und legte mit dem Ausdruck soldatischer Hochachtung die Rechte an den Helmrand. Es hätte übel ausgehn können, dachte Kerkhoven, als er wegging, wie bin ich denn nur darauf verfallen, früher hätt' ich mir so was bestimmt nicht zugetraut, offenbar vermag der Mensch viel mehr, als er weiß, daß er vermag: eine Lehre, eine bemerkenswerte Lehre ...

Es kam aber eine andere hinzu, von ganz verschiedener Art. In der Altstadt, über der Brücke, im dritten Stock des sogenannten Zunfthauses, wohnte eine junge Näherin, Berta Willig, die ein uneheliches fünfjähriges Kind hatte, ein Mädchen, an dem sie mit abgöttischer Liebe hing. Durch ihren Fleiß und ihre Bescheidenheit hatte sie sich die Sympathie der ganzen Nachbarschaft erworben, so daß kein Mensch mehr von ihrem Fehltritt sprach oder ihr den Umstand, daß sie unverheiratete Mutter war, zum Vorwurf machte, nicht einmal die frommen Kirchengänger. Wenn sie außer dem Haus beschäftigt war, was oft vorkam, nahm eine der Familien das Kind tagsüber zu sich und betreute es wie ein eigenes. Die Willig hatte viel Angst um das Kind ausgestanden, schon in den ersten Lebensjahren hatte es nicht recht gedeihen wollen, später war es alle paar Monate krank gewesen, kein Doktor hatte sagen können, woran es eigentlich fehlte. Um so mehr war sie auf der Hut, empfahl auch denen, die die kleine Anna gelegentlich beaufsichtigten, genaue Befolgung der von ihr geübten Vorsorge. Die sie näher kannten, wußten, daß sie immer Unglück gehabt hatte, mit achtzehn Jahren hatte sie in der Verzweiflung Gift genommen, auch das Verhältnis mit dem Vater des Kindes hatte auf die schnödeste Weise geendet; während sie blind an ihn glaubte, hatte er sie belogen und betrogen, ihre Ersparnisse durchgebracht und war schließlich spurlos verschwunden. Jetzt stand es so mit ihr, daß das kleine Wesen ihr einziger Halt war, sonst hatte sie nichts, nur Plage, das wußten alle Leute, und wie es im Volk manchmal geht, sie legten in dem Benehmen ihr gegenüber eine ganz besondere Nettigkeit und Hilfsbereitschaft an den Tag.

Eines Abends klagte das Mädchen über Halsschmerzen, wollte nichts essen und hatte gleich hohes Fieber. Berta war glücklicherweise zu Hause, brachte es zu Bett und bat die Frau des Buchbinders, die auf demselben Gang wohnte, ihren Buben zum Kassenarzt zu schicken. Der war jedoch über Land, man wußte nicht, wann er zurück sein würde. Da erinnerte sie sich an Kerkhoven, den sie im Haus des Professors Gaupp, wo sie zuweilen nähte, ein paarmal gesehen hatte. Sie besann sich nicht lang, drückte dem Buben ein Fünfzigpfennigstück in die Hand und trug ihm auf, den Doktor Kerkhoven zu holen, die Wohnung könnte er in der Dom-Apotheke erfragen. Telefon gab es in der ganzen Gasse keines. Kerkhoven kam nach einer halben Stunde. Er stellte eine akute Mandelentzündung fest, beruhigte die aufgeregte Mutter, verordnete Umschläge, flüssige Nahrung, verschrieb ein Rezept zum Gurgeln und versprach, am andern Morgen wieder nachzuschauen. Bei der Untersuchung hatte ihm das kleine Mädchen nicht recht gefallen wollen, schwächliche Konstitution, Herzgeräusche, der Bericht der Mutter über frühere Anfälligkeit ließ auf Störung der Drüsenfunktionen schließen, doch war in alldem kein Zusammenhang mit der gegenwärtigen Erkrankung nachzuweisen, und das Bild verwischte sich wieder. Das verzieh er sich später nicht. »Man muß so ein Bild festhalten können«, sagte er immer wieder, »ob es nun ein zufälliger Eindruck oder eine Augenblickseingebung ist; wer dazu nicht fähig ist, mag ein guter Rezeptschreiber, ein guter Masseur und ein guter Krankenwärter sein, ein Arzt ist er nicht.«

Am andern Tag ging es der Patientin beträchtlich besser. »Bleib nur schön im Bett liegen, Annchen«, sagte er zu ihr, »wenn du brav bist, kannst du übermorgen aufstehn, Mittwoch komm' ich noch einmal, aber eigentlich brauchst du mich nicht mehr.« Das war Sonntag. Dienstag stand die Kleine wirklich auf, war fieberfrei, und Berta erlaubte ihr, trotzdem es ziemlich kühl und regnerisch war, daß sie mit einer Freundin in den Hof spielen ging. Sie selbst war den Tag über in der Arbeit, sie nähte an einer Ausstattung bei der Oberstin Warberg und kam erst abends um halb zehn nach Hause. Sie fand die älteste Tochter der Buchbindersleute in ihrer Stube. Annchen lag bereits im Bett und schlief. »Ist was los, Hermine?« fragte Berta erschrocken. »Sie sieht ja so blaß aus ...« – »Gar nichts ist los«, war die Antwort, »sie war furchtbar müd, da hab' ich sie schlafen gelegt.« Berta befühlte die Stirn des Kindes, die aber ganz kühl war, nur schien es ihr, daß der Atem unregelmäßig ging. Aber als Hermine berichtete, daß der Doktor, weil er in der Nähe zu tun gehabt, gegen Abend dagewesen sei und sich zufrieden geäußerst habe, wich die ahnungsvolle Beklommenheit von ihr. Hermine hatte sich schon verabschiedet, da kehrte sie noch einmal zurück und sagte: »Du hast dich den ganzen Tag geplagt, Berta, du mußt deinen Schlaf haben, wenn's dir recht ist, will ich bei Annchen wachen, du gehst in deine Kammer, ich bleib' hier auf dem Sofa.« Berta wollte zuerst nichts davon wissen, aber weil sie sich in der Tat kaum auf den Beinen halten konnte, gab sie nach und ließ sich nur von Hermine versprechen, daß sie sie bei Tagesgrauen wecke. Hermine stellte ein Lämpchen auf den Ofen, bis Mitternacht hielt sie sich halbwegs munter, dann schlummerte sie ein. Als sie erwachte, stand Berta im Hemd auf der Schwelle zum Nebenzimmer. »Ich hör's gar nicht schnaufen«, flüsterte sie. Beide traten an das Bett des Kindes. Das Gesicht war kreidig entfärbt, die Brust atmete nicht, nur die Nasenflügel bewegten sich, was die Ärzte als flachen Atem bezeichnen. »Da ist was, Hermine«, keuchte Berta angstvoll, »heb seinen Kopf, da ist was.« Hermine ergriff das Kind an den Schultern, es rührte sich eiskalt an, bei dem Versuch, es aufzuheben, knickte der Kopf wie gebrochen zurück, und an den Lippen zeigte sich weißlicher Schaum. Ein gräßlicher Schrei gellte durch das Haus. Berta brach in die Knie und heulte: »Der Doktor! Der Doktor soll kommen.«

Als Kerkhoven erschien, er war gleich mit der verstörten Hermine gegangen, war das Kind bereits tot. Die Ursache war ziemlich klar: Herzmuskelschwäche durch Infektion. Allerdings auf einer abnorm geminderten Widerstandskraft des Organismus beruhend. Das war es eben, das war es. »Ich habe keinen Fehler begangen«, sagte er später zu Nina, die ihn mit schlechten Gründen trösten wollte, »hundert solcher Fälle verlaufen gutartig, ich war nur tatenlos und gottverlassen.« Das Ereignis brachte das ganze Viertel in Aufregung. Von morgens bis abends pilgerten ununterbrochen Frauen zu Berta Willig. Zu Dutzenden standen sie in der Stube und auf der Treppe und weinten. Sie begriffen alle, daß da jeder Zuspruch Anmaßung und Überhebung sei. Es war ein Trauertag der Mütter. Kerkhoven schickte auch Nina hin. »Das ist keine Leidtragende mehr«, sagte er, »die ist noch ärger geschlagen als das Weib von dem Markmann.« Sie lag sechsunddreißig Stunden stocksteif, mit stieren Augen. Zu Marie Bergmann sagte Kerkhoven: »Wenn Sie etwas für mich tun wollen, nehmen Sie sich der armen Person ein bißchen an.« Als Marie, voller Zaghaftigkeit, in das alte Zunfthaus ging und die Wohnung Bertas betrat, war Kerkhoven gerade bei ihr. Der liebreiche Ernst, mit dem er der Unglücklichen zuredete, machte einen tiefen Eindruck auf sie.

Abends bei Irlen. Als Kerkhoven kam, saß dieser mit einem Buch bei der Lampe. Er blickte innerlich beschäftigt empor. »Was Sie neulich von der Erleuchtung sagten, hat mir zu denken gegeben«, redete er Kerkhoven an; »da lese ich eben eine Stelle im Paracelsus, die müssen Sie hören.« Er las vor: »Es ist mit den Dingen des Irrsals gleich wie mit dem falschen Glauben, da nicht ein jeglicher, der da spricht: »Herr, Herr« wird erhört. Das ist wie wenn du kein Arzt bist und gebrauchst dich des doch. So du dein Experiment nimmst und sagst: tue das, tue das, es tut es aber nicht, denn die Arznei erhört dich nicht, bist du nicht der rechte Hirt zu diesen Schafen. Die Kranken müssen den Arzt haben, deshalb müssen sie ihn auch erkennen, denn er ist ihnen beschaffen. Darum allein der, so da beruft wird, ein Arzt ist, demselbigen wächst die Arznei aus der Erden, sie kennt ihn und hat ihn zu setzen und zu entsetzen. Der Mensch wird erlernt von der großen Welt und nicht aus dem Menschen. Da ist die Konkordanz, die den Arzt ganz macht: so er die Welt erkennt und aus ihr den Menschen, welche ein gleich Ding sind und nicht zwei.«

»Sie lesen mir das vor, und dabei blättern Sie mich um, als wäre ich selber ein Buch, sonderbar«, sagte Kerkhoven still. Irlen erwiderte in beiläufigem Ton: »Ja, für diesen Geist existieren die Jahrhunderte nicht. Sie merken natürlich, daß er unter Arznei allen Arztbehelf schlechthin versteht. Aber hören Sie noch das: »Jegliche Form ist äußerlich in der Nahrung in allem Aufwachsen, so wir die nicht haben, wachsen wir nimmer auf, sondern sterben in verlassener Form. Denn in uns ist ein Wesen gleicherweise wie ein Feuer, es verzehrt uns unsere Form und Bild hinweg. So wir nichts hinzutäten und die Form unseres Leibes mehrten, so stürbe es in verlassener Bildnis. Darum müssen wir uns selbst essen, auf daß wir nicht sterben aus Gebresten der Form. Darum essen wir unsere Finger, Blut, Fleisch, Fuß, Hirn, Herz. Darauf nun wisset, daß jegliche Kreatur zwiefach ist: die ein aus dem Spermate, die andere aus der Nahrung. Er ist eine Kreatur selbst, die Nahrung auch eine, er hat die Freiheit der Form des Menschen, darum ist der Mensch in Verzehrung der Form gesetzt durch den Tod. Einen Leib haben wir aus Gerechtigkeit, aus Vater und Mutter, daß aber derselbige nicht sterbe und abgang, empfahlen wir ihn aus Gnade, durch Bitt gegen Gott: unser täglich Brot gib uns heut, was so viel ist als: gib uns unsern täglichen Leib. Also haben wir zween Leib: der Gerechtigkeit und der Barmherzigkeit, und zwo Medizin: der Gerechtigkeit und der Barmherzigkeit...«« Irlen hielt inne. Nach einer Weile sagte er: »Ihm sind Gerechtigkeit und Barmherzigkeit die Grundelemente der Form. Das ist ungeheuer tief. Die Form ist ihm der Sinn der Welt.« Kerkhoven antwortete nicht. Er sah aus, als ringe er mit etwas Schwerem.

Die Frage war: wie es fassen und aus der »Begrabenheit« herausziehen. Es lag wie ein Fremdkörper in seinem Innern, verkrustet und mit den untersten Wurzeln verwachsen. Wenn er es greifen und lockern konnte, war es vielleicht wie die Befreiung von einem heimlichen Geschwür, dessen schädlichen Einflüssen er nicht genügend Beachtung geschenkt. Er mußte nur zuvor ertasten, wo es saß, er hatte bloß ein Gefühl davon, kein Wissen. Möglicherweise handelte es sich nicht allein um das eine Erlebnis, das erst in den letzten Tagen deutlich aus seiner Erinnerung emporgestiegen war wie eine versunken gewesene Insel, Ort des Schreckens allerdings, sondern außerdem um zwei oder drei andere, zum Beispiel das mit dem Epileptiker Domanek. Er müßte einmal davon reden, von dem und dann erst von dem mit der Mutter. Er hatte nie davon gesprochen. Er begegnete Irlens Blick und schöpfte Mut aus diesen Augen, die in vielen Abgründen des Lebens Erfahrung gesammelt hatten. Was Irlen betrifft, erwartete er schon lang, daß Kerkhoven sich erschließe, er war sicher, daß sich damit manche Dunkelheiten seines Wesens aufhellen würden, auch für ihn selbst. Ihn direkt aufzufordern hatte er bisher nicht gewagt, weil er spürte, daß es ein von ihm gemiedenes Gebiet war, dem sich auch ein Freund nur mit Vorsicht nähern durfte.

Aber nun war es soweit. »Ich bin unter keinem guten Stern geboren«, sagte Kerkhoven. Er saß vor dem Kamin und sprach in die Höhlung hinein. Seine Geburtsstadt war Düsseldorf. Die Familie stammte väterlicherseits aus Holland. »Mein Vater war ein geringer Mann, er wollte hoch hinaus und hatte nie Erfolg. Was er angriff, schlug fehl. Das nenn' ich gering: mit aller Gewalt Türen aufmachen, zwischen denen man eingeklemmt wird. Daß er den Mut nicht verlor, wundert mich noch heute. Gering, aber mutig. Heldenhaft sogar. Es gibt unter kleinen Leuten viele Helden, man weiß nur nichts von ihnen.« Pause. Dann: »Nachdem er mit einer Erfindung, einem Bankgeschäft, einem Reisebüro und Gott weiß was noch gescheitert war, begann er eines Tages Schachteln zu fabrizieren. Er gründete eine Fabrik, das heißt, er mietete einen geräumigen Schuppen, nahm Arbeiter auf und machte Schachteln. Meine Kinderjahre ... wissen Sie, was eine Kreissäge ist? Vom Kreischen der Kreissäge war meine frühe Jugend erfüllt. Sie wurde durch einen fünfpferdigen Motor betrieben, auf den mein Vater so stolz war, daß er immer mit der Zunge schnalzte, wenn er an ihm vorbeiging. Ich glaube, eine Menge sogenannte praktische Geschäftsleute sind im Grunde rührende Phantasten. Er machte also Schachteln. Kleine viereckige Holzschachteln. Jede war mit einem Bildchen beklebt: Blumen, Landschaften, idiotische Zwerge, ein Fräulein mit einem Hund. Oben stand in gebogener Schrift: remember me, unten: made in Germany. Feine Sache. Die Schachteln gingen nämlich alle nach England. Der widrigste Teil der Herstellung war, daß die Bilder schön lackiert werden mußten. Zwischen meinem siebenten und neunten Jahr habe ich nach der Schulzeit vielleicht zwanzigtausend blödsinnige Bilder lackiert. Der Pinsel mußte breit aufgesetzt und der Lack dick gestrichen werden, damit es glänzte. Meine Hände rochen beständig nach Terpentin. Remember me, made in Germany, das verfolgte mich in die Träume.« Pause. Starren ins Kaminloch. Dann: »Da ist noch etwas. Ich muß die Eindrücke auseinanderhalten. Wo wir wohnten, war im Parterre eine Bierwirtschaft. Wahrscheinlich stammt daher mein Abscheu vor allem Saufen. Jede Nacht wüstes Gejohle, Messerstechereien, dann rückte die Polizei an. Das ärgste aber, jeden Samstag wurde im Hof ein Schwein geschlachtet. Das höllische Quieken ging einem durch Mark und Bein, eine lebendige Kreissäge. Bis heut hat der Samstag einen Blutgeruch für mich. Schon am Nachmittag fing ich an, mich zu fürchten, im Bett zog ich die Decke über den Kopf und verstopfte mir die Ohren mit Brotkugeln. Nützte nichts, sobald das Vieh in der Todesangst schrie, wurde ich selber mitgeschlachtet. Am Sonntag starrten noch die Blutpfützen im Hof, erst Montag wurden sie fortgespült. Böse Mischung, das alles zusammen, Kreissäge, Terpentingeruch, Remember me, Schweinsgebrüll, Säufergejohl was Gräberhaftes. Klar, nicht?«

Er stand auf, ging quer durch das Zimmer (sehr schönes Zimmer, dachte er, könnte in einem alten Palast sein), setzte sich wieder, griff nach dem Band Paracelsus auf dem Tisch, und mechanisch blätternd fuhr er fort. Die Geschichte mit Domanek. Dieser Domanek war eine Art Kommis, beim Fabrikanten Kerkhoven angestellt, für einen Bettellohn, der Bursche war auch danach. Joseph, um diese Zeit neun Jahre alt, lackierte nun zusammen mit Domanek die Made in Germanys. Plumper, finsterer Mensch, das Gesicht mit Pickeln besät. Eine Tages redet er von Mädchen, prahlt mit seinen Eroberungen und wie herrlich es in den Bordellen ist. Joseph versteht keine Silbe. Domanek platzt vor Lachen, folgt die übliche sexuelle Aufklärung, lüstern, unflätig, handgreiflich. Dem Kind Joseph krampften sich vor Ekel die Eingeweide zusammen, er muß sich erbrechen. Domanek ist auf eine Leiter gestiegen, um eine Garnitur Schachteln zu holen, schaut herunter und wiehert vergnügt. Auf einmal lautes Gepolter, hochgellender Aufschrei, der Mensch stürzt von der hohen Leiter herab, windet sich wie ein Wurm auf dem Boden, das Gesicht violett, die Lippen voll Schaum, die Fäuste verkrampft, mit Armen und Beinen um sich schlagend. Es kommen Leute, man schafft ihn fort. Ein paar Tage darauf erkrankt Joseph an schwerem Scharlach. Er findet, das sei ein Glück gewesen, auf diese Weise habe er den Unflat aus sich herausgeschwitzt, sich gleichsam am Rand des Todes gesäubert. Dennoch glaubt der heutige Kerkhoven, dergleichen verschmerze sich nicht, eine bübische Enthüllung wie die, neunzig Prozent aller Männer trügen das nämliche Erlebnis als Seelenwunde mit herum. Allerdings schnitt hier die Kerbe durch die Koinzidenz mit dem Anfall besonders tief ein. Das Herunterstürzen des Menschen von der Leiter, als wäre er vom Blitz getroffen (wobei er sich aber nicht im mindesten verletzte); der nach hinten gezerrte Kopf; die glasigen Pupillen, aufeinandergepreßten Kiefer, vortretenden Halsmuskeln; das zyanotische Gesicht, die Zuckungen: das Bild schraubte sich tief in die Phantasie des Knaben, vermengt mit dem unzüchtigen Eindruck, wie Männer und Weiber miteinander umgingen. Was ein Kind schweigend in sich verschließt, könne von Erwachsenen nicht ermessen werden, bemerkt er, nicht unmöglich, daß deshalb so viele Kinder eine hochmütig-verschlossene Haltung gegen Lehrer und Erzieher einnähmen. Die Domanek-Geschichte hat noch ein Nachspiel. Der Vater hatte ihn entlassen, da er nicht einen Menschen mit der fallenden Sucht im Geschäft haben wollte. Nach einiger Zeit ließ er sich aber von Domaneks Bitten erweichen und nahm ihn wieder auf. Joseph ging ihm aus dem Weg, weigerte sich auch, mit ihm zu arbeiten, der Vater zwang ihn aber dazu. Alsbald nahm er wahr, daß Domanek in seinem Betragen gegen ihn wie ausgetauscht war. Die freche Überheblichkeit hatte sich in eine widerwärtig wirkende hündische Ergebenheit verwandelt. Wenn Joseph den Pinsel fallen Heß, bückte er sich eilig und hob ihn auf. Jeden Tag wollte er sein Vesperbrot mit ihm teilen. Wenn der Knabe müd wurde, drängte er ihn, sich auszuruhen, und übernahm sein Quantum Arbeit. Hundert solche Dinge. Joseph ließ sich alles ohne Dank gefallen. Eines Tages im Juli, er vergaß den Tag nicht, es war sehr heiß, die Säge krisch wie ein toll gewordener Hengst, legt Domanek Pinsel und Schachtel weg, beugt sich über den Tisch, packt Josephs beide Hände und murmelt sonderbar störrisch: »Vergib mir, du mußt mir vergeben. Ich bin ein Dreck, und du bist ein Licht. Du scheinst auf mich Dreck herunter. Dank dir schön dafür.« Das Gerede war dem Knaben über alle Maßen grausig, er lief Hals über Kopf davon. Am andern Tag kam die Polizei und verhaftete Domanek. Er hatte ein zehnjähriges Mädchen vergewaltigt und übel zugerichtet.

Irlen war bis jetzt aufrecht gesessen, nun legte er sich auf den Diwan. Er verspürte leichten Schwindel. Kerkhoven schaute ihn besorgt an, er sagte, es sei wohl genug für heute, doch Irlen machte eine dringlich verneinende Bewegung mit der Hand, und die Art, wie er Kerkhoven nicht aus den Augen ließ, gab diesem zu verstehen, daß er es als eine schlecht angebrachte Rücksicht betrachten würde, wenn er in diesem Moment abbräche. Bisweilen streifte er Kerkhoven mit einem eindringlich forschenden Blick. Es war etwas an dem Mann, was ihm je mehr zu denken gab, je länger er ihn kannte. Derart, als entfernte er sich von einem, wenn man sich ihm näherte. Manchmal glaubte man alles von ihm zu wissen, und er war einem heimlich und vertraut, plötzlich sagte oder tat oder verschwieg er etwas, wodurch er alsbald rätselhaft wurde, und alle Urteile, die man sich über ihn gebildet hatte, fragwürdig machte. Die meisten Menschen, mit denen Irlen umging, hatte er nach kurzer Zeit überblickt, er kannte sie gewissermaßen auswendig, sie hatten die und die eingelebten Gewohnheiten, Talente, Launen und Fehler; bei Kerkhoven war das in beunruhigender Weise anders, woher mochte es rühren? Warum war er nicht zu »überblicken«? Vielleicht, weil sein Leben sich nicht in der Fläche ausdehnte, sondern in der dritten Dimension. Eine Kugel kann man nicht »überblicken«, sie bietet dem Auge immer nur Teilansichten. Vielleicht war das der Grund, daß einem die eine Seite von ihm wohlbekannt sein konnte und die andere, wie beim Mond, ganz und gar fremd; und dies bewirkte wohl auch den Eindruck von raumhafter Persönlichkeit, von Volumen und Geheimnis ...

Jetzt begann er von der Mutter zu reden. Sie war das entscheidende Erlebnis des Knaben, obschon er es nicht ausdrücklich sagte, es ging nur aus seiner Erzählung und der Haltung dabei hervor. Der Tag, an dem er sie in der Irrenanstalt besuchte, um sein dreizehntes Jahr herum, war das Ende unbewußter Kindheit, das Erwachen zur Wirklichkeit der Welt. Der Vater war um diese Zeit schon gestorben, er hatte sich totgearbeitet, wie alle Leute von ihm sagten, die Arbeit war sein Brandmal. In der bürgerlichen Ära gibt oder gab es Männer, denen die Erwerbsarbeit heilig ist oder war wie den mittelalterlichen Menschen der religiöse Dienst. Bei seinem Tod war die Mutter schon das zweite Jahr in der Anstalt. Kerkhoven bezeichnete sie als eine äußerst gutmütige Frau. Sie war aus einem westfälischen Pfarrhaus, als Mädchen war sie eine Zeitlang in Gefahr gewesen, sich in pietistischen Grübeleien zu verlieren. Allmählich hatte sich in ihr die fixe Idee festgesetzt, daß sie ausersehen sei, das Glück ihrer Kinder zu begründen, da ihr Mann hierzu nicht imstande war. Bisher hatte Kerkhoven nie erwähnt, daß er Geschwister habe, zwei Brüder, er gab zu, daß er sich nicht um sie kümmerte und nicht einmal wußte, wo sie lebten und wie es ihnen ging, eigentümlicher Zug, auch dies. Die beständigen Mißerfolge des Mannes und die zunehmende Verarmung brachten nach und nach ihren Geist aus dem Gleichgewicht. Sie legte heimlich Geld zurück und bewahrte es in alten Strümpfen auf, um den Söhnen ein Vermögen zu hinterlassen. Fünfhundert Mark für jeden wollte sie ersparen, doch sobald sie hundert beisammen hatte, verspielte sie alles, entweder in einer ausländischen Lotterie, oder sie fiel irgendwelchen Schwindlern, spanischen Schatzgräbern, einmal sogar Falschmünzern zum Opfer. Jedes Jahr machte sie ein anderes Testament und verfügte darin über eingebildete Liegenschaften und Kapitalien, sie stand in Briefwechsel mit Wanderpredigern und Heilsaposteln, nahm an spiritistischen Sitzungen teil und glaubte fest an Geistererscheinungen. Zuerst war alles harmlos, als aber die Vermögensumstände sich von Jahr zu Jahr verschlechterten, artete in Wahn aus, was anfangs nur Leichtgläubigkeit und mißleitete Geschäftigkeit gewesen war. Joseph war ihr Augapfel, und ihn machte sie auch zum Erfüller ihrer Träume.

Er sollte reich und berühmt werden. Abendelang, halbe Nächte lang redete sie mit dem Knaben von nichts anderem. Sie war davon durchdrungen, daß er zu etwas Außerordentlichem bestimmt sei. An dieser Stelle stockte Kerkhoven und starrte düster vor sich hin. Irlen wußte sofort, woran er dachte, die Andeutungen, die ihm Kerkhoven über seine Ehe und über Nina gemacht, ließen es ihn erraten, und hier eben war es, daß er betroffener als je zuvor des unheimlichen Gleichverlaufs innewurde, der sich bisweilen im Schicksal eines Menschen kundgibt, Wiederholung derselben Grunderlebnisse, die offenbar vom Charakter her ihren Ausgang nimmt. Wie tragisch konsequent sie sich bei aller Verschiedenheit der Naturen in diesem Fall dann bis zum Ende auswirkte, konnte freilich keiner der beiden Männer ahnen.

Das Unwesen wurde nach und nach beängstigend. Sie lief zu den Lehrern, um ihren Joseph herauszustreichen, und verfeindete sich mit jedem, der ihn nicht für ein Wunder an Begabung erklären wollte. Sie bemühte sich, ihm Stipendien zu verschaffen und sein zukünftiges Studium sicherzustellen, belästigte die Verwandten, die Behörden, die Rektoren und Verwaltungen. Sie zeigte seine Schulhefte herum und las in der Tramway zum Gaudium der Fahrgäste seine deutschen Aufsätze vor. Als es immer ärger mit ihr wurde, begann er sich zu wehren und aufzulehnen, sie machte ihm gräßliche Szenen und warf ihm Undankbarkeit vor. Sie sei sein Schutzgeist, rief sie emphatisch, er wisse gar nicht, wozu er erwählt sei, ihr habe es Gott offenbart. »Jeder vernünftige Mensch konnte sich ausrechnen, wohin das führen mußte«, sagte Kerkhoven, indem er die Hände im Nacken faltete und zur Decke starrte, »sie zog mir quasi den Erdboden unter den Füßen weg. Eine je größere Verantwortung sie auf mich legte, je weniger traute ich mir zu. Lobte man mich in der Schule, so wurde ich argwöhnisch. Sollt' ich ein Gedicht aufsagen und ich hatt' es noch so gut gelernt, ich brachte keine Silbe heraus. Wenn ich eine ernsthafte Arbeit vorhatte, zitterte ich davor, daß jemand Notiz davon nahm. Das dauerte bis in die Universitätszeit hinein, viel länger, eigentlich bis heute. Es ist heute noch nicht anders. Mein erster Impuls ist immer, wenn es jemand wirklich einfällt, was Freundliches über mich zu sagen, oder wenn ich mit Müh' und Not was Diskutables zustande bringe, der erste Impuls ist immer: subtrahieren, reduzieren, klein machen. Damit sag' ich Ihnen wahrscheinlich nichts Neues. Jeder normale Mensch hat seinen natürlichen, anständigen Ehrgeiz. Meinem wurden die Flügel gebrochen, damals. Es war nichts von Belang schließlich, ein Kreidestrich überm Weg. Aber diesen Kreidestrich hab' ich wie ein dummer Vogel nie zu überschreiten gewagt. Als der unselige Einfluß aufhörte, war es zu spät. Das Wiedersehen im Irrenhaus, gerade in der Zeit, wo ich mannbar wurde, war nicht dazu angetan, mich zu befreien. Ich habe zu erzählen vergessen, daß der geistige Zusammenbruch bei ihr erfolgte, als die Fabrik des Vaters niederbrannte. Es war in der Nacht, sie lief laut singend in das brennende Gebäude, es fehlte nicht viel, und sie wäre im Rauch erstickt. Da brachte man sie in die Anstalt. Als ich konfirmiert werden sollte, zweieinhalb Jahre später, wollte sie mich sehen. Die Frau meines Vormunds fuhr mit mir hin. Großartige Idee, das. Kein Mensch nahm Anstoß daran. In der Provinz sind die Menschen in solchen Dingen absolut hirnlos. Die Konfrontierung war nicht gerade das Wünschenswerte für mich. Schon das Haus. Ich mußte lange warten und schaute vom Flur aus in den Hof. Ein hohes Fenster, ich seh' es noch vor mir. Seh auch die Männer unten, der Hof gehörte zur Männerabteilung. Einer mit braunem Vollbart machte unaufhörlich großartige Gesten wie ein Schmierenschauspieler. Dabei ging er allein auf und ab. Ein Rothaariger stand vornübergebogen wie versteinert, die Arme hingen schlaff, die wasserhellen Augen stierten unbeweglich auf einen Punkt in der Mauer. Er rührte sich nicht. Es waren vielleicht dreißig Leute, ich konnte die Augen nicht von ihnen abwenden. Sie erschienen mir wie Wachsfiguren, die man ein bißchen lebendig gemacht hat. Noch stärker hatte ich diesen Eindruck in den Weibersälen, durch die wir dann gingen. Die ruhige Abteilung. Manche lasen in zerfetzten Zeitschriften. Sie blickten auf und gafften mich erbittert an. Eine folgte uns nach und ging immer rings um uns herum, so ein freches Schleichen war's. An eine Schwarzhaarige entsinn' ich mich auch, die auf einem Schemel hockte, die Ellbogen im Schoß, mit diesen Augen, in denen nichts drin ist als der Jammer der Kreatur, und der ist leer. Alle seh' ich noch heute vor mir. Die Große, Schlanke, die ohne Unterlaß um den Tisch rannte; und die, die verschlagen in sich hineinlachte, wie wenn alle andern darauf brennen müßten, zu erfahren, was sie verschwieg, und sie dächte bei sich: ihr könnt lang warten. Es hat einen bestimmten Grund, daß ich mich so ausführlich darüber verbreite. Sie können sich kaum vorstellen, was das für mich war ... ich spreche nicht von der Erschütterung, obwohl die auch ... aber ich hatte doch schon einen dunklen Begriff von dem, was ich werden wollte ... An dem Tag wurde mir der wahnsinnige Mensch ... wie soll ich sagen ... ein Wesen, das Gott am Weg liegengelassen hat... Nein, besser so: ein Rechenfehler der Natur, und man kann ihn ausbessern. Durch Gnade freilich, durch besondere Gnade. Ich stand damals unter dem Eindruck, daß die Gnade dazu gehörte. Eine Zeitlang, als Student, wenn ich nach Wunsch hätte wählen können ... zur Psychiatrie fühlte ich die meiste Berufung. Später hatte ich den Mut nicht. Ich traute mich nicht so weit vor. Fürchtete mich quasi vor der Seele. Der Kreidestrich ... Sie verstehen. Nun, um zum Schluß zu kommen: Als ich in das Zimmer trat, wo meine Mutter war, erkannte ich sie nicht gleich. Sie saß in einem Ohrenstuhl, breit hingegossen, die Haare hingen aufgelöst zu beiden Seiten bis auf den Boden, so breitete sie die Arme nach mir, stieß einen Schrei aus, wie wenn der Erlöser in Person gekommen wäre, überschüttete mich mit Liebkosungen ... aber wozu das ausmalen, die hochtrabenden Reden, das triumphierende Herumblicken, als wäre das Zimmer voller Menschen, denen sie mich endlich zeigen konnte ... wozu das ... es war schließlich zu früh für den Abgrund ... es hätte noch Zeit gehabt... zu früh für dieses Negativ der Menschenwelt... man hätte mich nicht hinlassen dürfen ... es frißt sich zu tief ein ... man überwindet es nicht wie den Scharlach ... geritzt, vernarbt, ja ... aber es geht zu sehr die Barmherzigkeit an und bleibt zu weit weg von der Gerechtigkeit, um mit Ihrem Paracelsus zu sprechen. Man ist ein Gezeichneter. Finden Sie nicht, daß man ein Gezeichneter ist?« – »Allerdings«, sagte Irlen nach langem Schweigen, »wer durch die Hölle geht, wird von ihr gezeichnet. Aber so ein Wort, ist es nicht eine theologische Verirrung, lieber Freund? Zeichnet dich das Schicksal, Joseph Kerkhoven, so zeichnet es dich aus ...« Er sah rasch empor, fast herrisch. In Kerkhovens Gesicht ging eine Veränderung vor wie bei einem kleinen Jungen, der unerwarteterweise eine Taschenuhr geschenkt bekommt. »Du?« fragte er überrascht. Irlen nickte und streckte die offene Hand über den Tisch. »Das freilich ... widerlegt mich«, sagte Kerkhoven mit zuckendem Unterkiefer und gab seine Hand schwer und bedächtig in die Irlens. Dann, mit einem Anflug schmerzlichen Humors: »Jetzt müßte man sich vielleicht vergewissern, ob mit dem Joseph Kerkhoven was los ist oder nicht.«

In dieser Stunde empfand Irlen seine Krankheit als das Geschenk einer unergründlich weisen Fügung.


 << zurück weiter >>