Jakob Wassermann
Etzel Andergast
Jakob Wassermann

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Zweites Kapitel

Marie Bergmann erhielt die Nachricht, daß Irlen aus Genua telegrafiert habe, von ihrem Mann. Vor Erregung wurde sie blaß. Seit Jahr und Tag hatte sie auf die Kunde von seiner Rückkehr gewartet, es war eine fortgesetzte innere Spannung gewesen, eine unbewußte; umso stärker empfand sie jetzt die Freude, in der sie sich löste.

Zum ersten Male hatte sie ihn als Sechsjährige bei ihrem Vater gesehen. Es war niemand aufgefallen, wie sie auf einem Schemel in der entferntesten Zimmerecke gesessen war und jedes seiner Worte begierig trank. Er hatte sie dann freundlich angeredet, und man hatte ihr gesagt: »Das ist Onkel Irlen, Marie, gib ihm die Hand.« Niemand erfuhr, daß sie noch lange nachher, wenn sie am Abend gebetet hatte, mit scheuer Andacht die zwei Worte in der Dunkelheit flüsterte: »Onkel Irlen ... Onkel Irlen.« Jedesmal, wenn er kam, wußte sie es einzurichten, daß sie ihn wenigstens einen Augenblick sehen konnte. Dann vergingen Jahre, sie war schon vierzehn, als sie ihm in Bad Ems wiederbegegnete, wo er den Vater besuchte, der zur Kur dort weilte. Und schließlich, während ihrer Verlobungszeit, hatte sie ihn im Hause der Senatorin Irlen in Dresden als wirklichen Onkel begrüßen dürfen. Sie hatte nicht den Eindruck gehabt, daß ihm die verheiratete Verwandtschaft etwas bedeutete. Im Gegenteil; es schien, daß es in seinen Augen mehr war, Marie Martersteig als Marie Bergmann zu sein. Aber in ihren Augen war Ernst Bergmann vor allen andern jungen Leuten dadurch ausgezeichnet, daß er Johann Irlens leiblicher Neffe war. So stellte er gleichsam die Verbindung mit den höheren Mächten der Welt dar. (Vergessen wir nicht, daß sie achtzehn Jahre alt war, als sie sich verlobte, sie hatte gerade die Matura hinter sich.) Sie kannte Irlens Lebensweg ziemlich genau. In den letzten Jahren hatte sie alles mit Aufmerksamkeit verfolgt, was in den Zeitungen über ihn zu lesen stand, denn seine Afrikaexpedition hatte die Federn in Bewegung gesetzt. Gelegentlich las ihr die Senatorin Irlen Stellen aus seinen Briefen vor. Er schrieb freilich selten an seine Mutter. Das Verhältnis war kein besonders inniges. Als die alte Dame auf das Bitten der Enkelkinder in der Bergmannschen Villa ihr Quartier aufschlug, war sie ziemlich verwundert darüber, daß an ihre Wohnung anschließend drei geräumige Zimmer für Johann Irlen eingerichtet wurden. Es geschah auf Maries planvolles Betreiben. Sie hatte ihren Mann nach und nach dafür gewonnen. Sie wollte dem Zurückkehrenden ein Heim geben, gleichviel ob er es dauernd oder flüchtig in Besitz nahm. Die Senatorin war ohnehin den größten Teil des Jahres auf Reisen. Sie hatte kein Sitzfleisch. Sie hielt es nirgends lange aus. Sie nannte sich selbst einen unverbesserlichen Vagabunden. Sie war in Japan, in China, in Mexiko gewesen. Überall in Deutschland hatte sie Freunde und war beständig von einer Familie zur andern unterwegs. Etwas von der Unruhe ihres Bluts hatte sich wohl auf ihren Sohn Johann vererbt.

Ernst Bergmann hatte keine tiefere Zuneigung für seinen Onkel Irlen. Er achtete ihn hoch, er beugte sich willig vor seiner geistigen Überlegenheit, aber vieles in seinem Wesen war und blieb ihm fremd, seine politische Haltung war ihm sogar antipathisch, da er selbst trotz seiner Jugend durchaus konservativ gestimmt war und jede Befehdung des Bestehenden ablehnte. Zudem war er katholisch erzogen und konnte eine so durch und durch protestantische Natur wie die Irlens nicht verstehen. Er gab es gerechterweise selbst zu. Bei alledem hütete er sich sorgfältig, Marie in ihrer Verehrung für ihn irre zu machen. Dazu war er zu zurückhaltend, zu vornehm, und hauptsächlich war seine eigene Verehrung für Marie viel zu groß, als daß er Einspruch oder Kritik gewagt hätte. Nur über die Natur dieses Gefühls dachte er zuweilen nach, es zu enträtseln schien ihm schwierig. Es war wohl eine zu einfache Empfindung für seinen an denkerischen Problemen geschulten Geist. Anhänglichkeit, Idealisierungsbedürfnis, Übertragung der Liebe zum Vater auf den Freund des Vaters, das alles war es nicht, konnte es wenigstens nicht ausschließlich sein. Sie war allerdings eine richtige Vaterstochter, ganz in Vaters Bild geworden, und als ihr der abgöttisch geliebte Mensch durch den Tod geraubt worden, hatte sie den ihr ähnlich Scheinenden auf das leere Postament gestellt. So konnte es sein. Erotische Bindung konnte es keinesfalls sein. Bei ihren sicheren Instinkten, unmöglich. Sie war so geartet, daß die Irlensche Art sie von ihm trennen mußte wie ein Wasser ohne Brücke. Davon war er überzeugt. Sie selbst zu fragen hatte nicht viel Zweck. Sie ging so schwer aus sich heraus. Sie war zu intimen Mitteilungen nicht zu bewegen. Sie schaute einen dann mit so verwunderten Augen an, daß man sofort das Gefühl hatte, ihr zu nahe getreten zu sein, und das gesprochene Wort am liebsten zurückgenommen hätte.

Sie hätte ihm sagen können: einen Menschen verehren, an einen Menschen glauben, ist das nicht Erklärung genug? Es ist das Glück schlechthin, das Wunder. (Schließlich war es seine Schuld, wenn er das nicht verstand, muß man denn so etwas ausdrücklich sagen?) Ja, man kann sich krank sehnen nach Verehrung. Auch ein Kind kann es. Als sie ihn zum ersten Male sah, erschien er ihr wie der Graf Almaviva, das Vornehmste, wovon sie wußte. (Der Vater hatte sie kurz vorher zu Figaros Hochzeit mitgenommen.) Sie saß da, starrte ihn an und hatte innerlich den Wunsch, aufzustehen und sich dreimal zu verneigen, wie sie es in Tausendundeiner Nacht gelesen hatte. Er machte eine Bemerkung, die sie nie vergaß. Es gibt Worte, die im Blut bleiben, trotzdem vielleicht nichts Besonderes an ihnen ist. Sie sah ihn vor sich, in der dunkelblauen Uniform, Interimsrock mit der doppelten Reihe Knöpfe, er kam aus dem anstoßenden Zimmer, wo kein Licht war (er hatte ein Buch dort liegenlassen), und sagte zum Vater: wenn ich durch ein finsteres Zimmer gehe, spür' ich das ganze Universum auf der Haut. Das hatte unheimlich geklungen, unheimlich wahr, das ganz, ganz Wahre wirkte immer unheimlich auf sie. Später hieß sie ihn nicht mehr Almaviva bei sich, sondern Hyperion. Es war keine Schwärmerei. Es war auch keine Lesefrucht. Dazu war sie ganz und gar nicht der Charakter. Man stellt einen bewunderten Menschen so hoch wie möglich, weil man hinaufsehen will. Ist das so schwer zu begreifen?

Nein, sie gehörte nicht zu denen, die sich in Gedichtetem spiegeln. Davon war sie weit entfernt. Sie fand sich manchmal darin. Sie griff manchmal in einer Not danach, das konnte vorkommen. Als sie ungefähr sechzehn war, lief eine possierliche Anekdote über sie um. Die Mutter ihrer liebsten Freundin, die Konsistorialrätin L'Allemand, war eine ungemein aktive Philanthropin, sie hielt sich auch für eine große Rednerin und sprach gern in Versammlungen. Maries Vater, der sehr witzig sein konnte, hatte einmal von ihr gesagt: »Die gute Frau hat etwas von einem auf Humanität dressierten Gendarm, der auszieht, Menschen aus Wohltätigkeit zu verhaften.« Wenn ihr Marie bei ihrer leidenschaftlichen Geschäftigkeit zusah, kam sie ihr wie jemand vor, der auf einem Brandplatz mit dem Flederwisch herumgeht und voll wütendem Eifer die Asche wegfegt. Eines Tages hatte die Rätin sie und ihre Tochter Tina, Maries Freundin, in ein Meeting mitgeschleppt. Sie stand auf der Tribüne und donnerte ihre Rede mit solcher Lungenkraft und solchem Wortschwall in den Saal, daß Marie sich zu Tode schämte. Zwischen Menschen eingekeilt, konnte sie nicht davonlaufen; da wußte sie sich keinen andern Rat, um das gräßliche Zeug nicht mit anhören zu müssen, als hundertmal nacheinander »Füllest wieder Busch und Tal still mit Nebelglanz, lösest endlich auch einmal meine Seele ganz« vor sich hin zu sagen. Sie hatte es Tina nachher gestanden.

Sie kannte Ernst Bergmann seit ihrem dreizehnten Jahr. Er verkehrte im L'Allemandschen Hause, da er mit Tinas beiden Brüdern befreundet war. Sie hatte ihn stets gern gehabt. Jahrelang hatte sie nichts anderes als einen Jugendgespielen in ihm gesehen, den älteren Kameraden. Daß er seinerseits sie mit andern Gefühlen betrachten, daß eine schicksalsvolle Leidenschaft in ihm entstehen könnte, daran hatte sie nie mit einem Gedanken gedacht. Sie war spröd wie alle Unerweckten. In ihrer Führung und Haltung hatte sie eher etwas von einem starkherzigen und etwas verträumten Knaben als vom jungen Mädchen. Niemals hatte sie Flirts gehabt. Sie war so wenig gefallsüchtig, daß sie schon vollkommen zufrieden war, wenn man ihr versicherte, sie sei nicht häßlich. Anbeten, das konnte sie, heimlich bewundern, die herrlichsten Bilder um einen Menschen spinnen und tagelang Pläne schmieden, wie sie es bewirken konnte, einen Blick von ihm zu erhaschen; an diesem Punkt machten Phantasie und Wunsch unbedingt halt. Wahrscheinlich hat Ernst Bergmann sie von der ersten Begegnung an geliebt. Sie war ein höheres Wesen für ihn, unnahbare Diana. Es lag an seiner noblen Gehaltenheit, an seinen Anschauungen von Verantwortlichkeit und Ehre, daß er sein Gefühl als strenges Geheimnis in sich verschloß. Er war reich, einziger Erbe eines großen Vermögens. Der Reichtum dünkte ihn eher ein Hindernis, Marie zu gewinnen, als ein Vorteil, er wußte, wie stolz sie war, wie einfach erzogen, wie wenig sie sich aus Geld und Luxus machte. Indessen die Fügung war für ihn. Eines Tages mußte er für längere Zeit verreisen und nahm Abschied von ihr. In einem Augenblick des Selbstvergessens küßte er sie auf den Mund. Marie war zuerst sprachlos, dann lächelte sie glücklich-bestürzt, dann küßte auch sie ihn. Sie hielt die tiefe Zuneigung, die sie für ihn empfand, für Liebe. Als sie heirateten, schloß sie die Ehe mit einem zärtlich geliebten Bruder.

Woche um Woche verging, sie dachte: am Ende kommt er überhaupt nicht. Was soll ein Irlen in der dummen kleinen Stadt hier? Doch wartete sie, Tag für Tag. Sie ordnete Blumen in den Vasen und prüfte die Zusammenstellungen immer wieder, immer mit dem Hintergedanken, ob sie seinen Geschmack zu treffen fähig sei. Bisweilen trat sie vor den Spiegel, um sich mit den Augen des kritischsten Beschauers zu betrachten, den sie sich nur vorstellen konnte. Sie tat es nicht aus Eitelkeit, sie tat es aus Furcht. In der Furcht, dem zu mißfallen, dessen Urteil alles war, mißfiel sie sich mehr als je. Noch dazu bin ich eine Frau, dachte sie bekümmert, also doppelt reizlos für ihn. Vor ihrer kleinen Bücherei stehend, strich sie mit den Fingerspitzen über die glatten Rücken der Einbände und überlegte, ob er die Auswahl gutheißen würde. Dieses da und dieses liebte sie, ob er damit einverstanden wäre? Täglich zu einer bestimmten Stunde ging sie mit dem Kind auf dem Glacis spazieren, manchmal allein, manchmal von der Pflegerin begleitet. Wie soll ich's anstellen, daß er Interesse für Aleid faßt? ging es ihr durch den Kopf. (Der richtige Name des Kindes war Adelheid, Johanna Adelheid, die ungewöhnliche Form Aleid hatte sie gewählt, um es den Leuten möglichst zu erschweren, eine Diminutiv- und Koseform daraus zu machen, der bündige Zweisilber setzte Großmüttern und Tanten jedenfalls den größten Widerstand entgegen.) Ein schönes Kind, unleugbar; mit seinem braunroten Lockenhaar, das wie oxydiertes Kupfer aussah, glich es einem venezianischen Putto. Sie erinnerte sich, daß er kleine Kinder nicht leiden mochte. Sie war einmal dabei gewesen, wie ihm eine Dame der Gesellschaft ihr dreijähriges Bübchen präsentiert hatte. Er hatte ein so hilfloses und erschrockenes Gesicht gemacht, daß sich die junge Mutter, mit gutem Humor übrigens, beeilt hatte, das störende Wesen zu entfernen. Schade, dachte sie, womit soll ich ihn fesseln oder erfreuen?

Die Aufgabe für Irlen war, der Mutter seinen Zustand zu verheimlichen. Er überschätzte die Schwierigkeit keineswegs. Sie war eine kühle Natur und von ihren eigenen Angelegenheiten mehr beansprucht als von fremden. Auch um ihre Kinder hatte sie sich über die pflichtmäßige Betreuung hinaus nie viel gekümmert. Vor Johann hatte sie großen Respekt, war in gewisser Weise stolz auf ihn, fühlte sich aber, was Lebensführung, Grundsätze, Urteile über Menschen und Dinge betraf, durch eine Welt von ihm getrennt, verhehlte es auch nicht. Der einzige, den sie ins Herz geschlossen hatte, war Ernst Bergmann. Nach dem Tod der Tochter und des Schwiegersohns, seiner Eltern, die beide bei einem Schiffsunglück im Mittelmeer umgekommen waren, hatte sie versucht, Mutterstelle an ihm zu vertreten, mit unzureichenden Kräften und vielleicht auch überflüssigerweise, denn er war damals schon ein junger Mann von neunzehn Jahren gewesen; aber die bloße Bemühung hatte alle Leute erstaunt, die sie näher kannten, und ihr Gefühl für den stillen, artigen, feinnervigen, charakterfesten Enkel hatte seitdem nichts an Zärtlichkeit eingebüßt, sie fand ihn musterhaft in jeder Beziehung, er war auch der einzige Mensch, dem sie mit Aufmerksamkeit zuhörte, wenn er mit ihr sprach. Über seine Heirat hatte sie sich zuerst gebührend entrüstet, aber nachdem sie sich überzeugt hatte, daß Marie in der Tat eine passende Gefährtin für ihn war, und sie sich sonst nicht übel mit ihr verstand, hatte sie sich zufrieden gegeben. »Eine muß es sein, und die bessere ist besser als die schlechtere«, pflegte sie zu sagen. Sie hatte bereits eine Menge Bekannte in der Stadt, von denen sie Irlen gleich am ersten Tag erzählte. Da waren zum Beispiel Gaupps, reizende Leute, Professor Gaupp, Theolog (»daran darfst du dich nicht stoßen, es ist eine Wissenschaft wie jede andere«), sie werde sie einmal zum Tee bitten, höchst gebildet alle beide, die Frau eine geborene Hiller von Hillersheim (»du erinnerst dich vielleicht, die Hillersheim, die im Jahre sieben den großen Erbschaftsprozeß hatten«). Irlen dachte höflich nach, aber er konnte sich nicht erinnern.

Nein, sie sah ihm nichts an, sie merkte nichts. Groß und stattlich stand sie da, eine Krone schneeweißen Haars auf dem Haupt, einen alten Goldschmuck am Hals, verbindlich-würdig, Bild der Gesundheit, des Behagens an der Welt und an sich selbst. Sie kannte weder Kummer noch Sorge.

Er packte die Kisten aus, wobei das häufige Bücken zur Folter wurde, katalogisierte einzelne Stücke gleich und brachte sie in dem nach dem Garten zu gelegenen Zimmer unter, das etwas kleiner als die andern war. Die Papiere mußten geordnet werden, Notizbücher, Zeichnungen, Stöße von Fotografien. Länger als eine Stunde konnte er's nicht aushalten, dann mußte er sich hinlegen, schweißüberströmt. Hatte sich der Puls beruhigt und war das schwarze Flimmern vor den Augen vorüber, dann begann er von neuem, bis zum nächsten Erschöpfungsanfall. Er hatte einen Diener aufnehmen wollen, unterließ es jedoch, um nicht von fremden Augen überwacht zu werden. Zu Bergmanns hatte er seine Karte hinaufgeschickt, am nächsten Tag wollten sie ihn begrüßen, er hatte sie bitten lassen, erst am Sonntag zu kommen. Um längeres Zusammensein mit der Mutter zu vermeiden, hielt er sich an geregelte Mahlzeiten, er schützte eine dringliche Arbeit vor, Beitrag für einen geographischen Jahresbericht.

Die Tage waren noch erträglich, das Schlimmste spielte sich in der Nacht ab, die Hochglut des Fiebers, er hatte schon 39,7 gemessen, das gräßliche Ameisenlaufen über Arme und Schenkel, die Erstickungsängste. Er nahm Chinin in Löffeln, das gewöhnliche Quantum war längst überschritten, aber die stärksten Dosen blieben wirkungslos. Er erwog den Gedanken an Abreise. Doch wohin? Er würde den Schwächeeinbrüchen erliegen. In eine Anstalt, sich den Experimenten der Ärzte unterwerfen, monatelange Krankenhaft auf sich nehmen für eine unsichere Hoffnung? Vielleicht half die Zeit, vielleicht die Natur. Das Übel hatte seine Perioden, seine Kurven, oft kam gerade dann Erleichterung, wenn man meinte, beim nächsten Zugriff sei alles aus. Das kannte man. (Er glaubte in jenen Tagen noch an eine der schweren Formen von tropischer Malaria.) Und versagte die Natur, was sollte die Wissenschaft ausrichten mit ihrem Ungefähr von Regel und Nachweis? Man wird den vorbestimmten Tod sterben, das ist alles.

Allein das Schwere ist nicht der Tod, sondern der Gang zum Tod.

Da er nachmittags zwischen fünf und sieben noch am meisten auf sich zählen konnte, bestimmte er diese Stunde für den Besuch des jungen Paares. Als sie kamen, entschuldigte er sich lebhaft, daß er nicht schon bei ihnen gewesen war, doch sei er von der Reise noch ermüdet und könne sich kaum entschließen, das Zimmer zu verlassen. »Ein entzückendes Heim, das ihr euch da geschaffen habt«, sagte er und blickte Marie forschend an, als sei er unsicher, wie diese das etwas unartige »ihr« aufnehmen würde. Aber die Sprache gab keine Möglichkeit, das Du für Ernst und das Sie für die junge Frau in der Anrede auseinanderzuhalten. Marie war außerordentlich gehemmt. Sie nahm ein paarmal einen Anlauf, etwas nicht ganz Törichtes oder Banales zu sagen, aber es gelang auf keine Weise. Da begnügte sie sich, einfach da zu sein und um seine Nähe zu wissen. Ernst sprach über die Verhältnisse an der Universität, über die verschiedenen studentischen Gruppen und die Beeinflussungen, denen sie unterlagen. Er übte Kritik nie. Er stellte alles sachlich und möglichst wahrhaftig dar. Er sprach gut, mit einer weichen, angenehm diskreten Stimme. Marie betrachtete ihn aufmerksam und sogar etwas neugierig, gleichsam mit Irlens Blicken. Seine schmale, flache Stirn stand unter dem korrekt gescheitelten, blonden Haar wie ein reines Blatt Papier. Die Stirn war das Auffallendste und das Edelste an ihm. Der Mund war groß und unschön. Wenn er lächelte, sah man das blasse Zahnfleisch. Es war, als koste ihn jedes Lächeln immer erst einen kleinen Entschluß. Er ist ungeheuer sympathisch, schloß Marie ihre ängstliche Musterung und atmete beruhigt auf. Irlen lauschte seinem Neffen mit artigstem Interesse. Bisweilen wandte er sich mit einer Frage an Marie, wobei er ihr nicht in die Augen, sondern auf den Mund sah. Sie hatte dieselbe Beobachtung schon bei andern Menschen gemacht; sonst war es ihr gleichgültig, wenn nicht lästig, in diesem Fall hob es ihr Selbstgefühl. Sie hatte ein ungemein gewinnendes Lächeln, die Lippen entblößten dann in einem hübsch gebogenen Oval die kräftigen Zähne (ich will nicht behaupten, daß starke Zähne bei Frauen immer ein Zeichen von Verstand sind, aber dumme Frauen haben in der Regel Zähne wie eine Maus), und ihre Züge erhellten sich in einer fast ansteckenden sinnlichen oder sinnenhaften Lebensfreude. Sie bemerkte in Irlens Gesicht Zeichen von Ermüdung und gab ihrem Mann einen Wink. Sie verabschiedeten sich. Als sie in ihrer Wohnung waren, fragte Ernst: »Findest du ihn nicht sehr gealtert?« – »Ich weiß nicht«, antwortete Marie betroffen, »kommt es dir so vor? Er sieht wundervoll aus.« – »Ja, er sieht aus wie die Ritter auf mittelalterlichen Grabmälern.« Marie dachte ein wenig nach, dann nahm sie seinen Kopf zwischen beide Hände, vielmehr sie berührte nur seine Wangen mit den Fingern und hauchte einen Kuß auf seine Stirn. Es war eine charakteristische Liebkosung, die genau ihr Gefühl zum Ausdruck brachte.

Unter den Dutzenden von Briefen, die auf Irlens Schreibtisch lagen, war einer, dessen Beantwortung er nicht hinausschieben wollte. Die Freunde hatten erfahren, daß er zurückgekehrt war, jeder wollte Nachricht haben. Sie mußten sich gedulden. Nur diesen einen, den er seit zwanzig Jahren kannte und der vor einer heiklen Lebensentscheidung stand, durfte er nicht warten lassen. Sein Brief war von der liebenswürdigsten Ausführlichkeit, und nachdem er mit seiner eilenden, schwachgrundierten, rundungreichen Schrift viele Seiten über die Angelegenheit des andern geschrieben, berichtete er auch von sich selbst, hauptsächlich von der Schwierigkeit, dort wieder fruchtbar anzuknüpfen, wo er vor mehr als zwei Jahren die Fäden so jäh abgeschnitten hatte. Von seinem körperlichen Leiden keine Silbe. Wozu auch? War er invalid, so hatte er abzudanken wie die spartanischen Könige, die ihre Würde nur so lange innehatten, als sie stark und wehrhaft waren. Kranksein hieß verzichten und die Geschäfte berufeneren Händen übergeben. Pflege dich, wenn du siech bist, laß dich pflegen, aber verlange nicht von der Welt, daß sie noch mit dir rechnet. Der Schnellzug muß seine Fahrzeit einhalten, die Passagiere können sich nicht darauf einlassen, auf einen zurückgebliebenen Mitreisenden zu warten.

An ernste Krankheit hatte er im Innersten bis jetzt nicht geglaubt. Als er am nächsten Morgen aus somnolentem Zustand mit einem schmerzhaften Druck im Nacken erwachte und die tastenden Finger eine Geschwulst unterschieden, war ihm zumut, als ob er langsam in eine mit Schleim gefüllte Grube sinke. So eisernen Gemüts war er nicht, um die Bedeutung des Zeichens unbeachtet zu lassen, so unerfahren nicht, um danach an der bisherigen, immerhin noch glimpflichen Annahme festzuhalten. Ein wenig später zog er das durchnäßte Hemd vom Leib und bemerkte auf der Brust drei handtellergroße ziegelrote Flecken.

In der zweitfolgenden Nacht erwachte Marie gegen drei Uhr, und es kam ihr vor, als habe sie im Schlafe beständig über Johann Irlen nachgedacht. Etwas beunruhigte sie an ihm, aber sie wußte nicht was. Der hohe Begriff, den sie in all den Jahren von seiner Person in sich getragen, hatte sich bestätigt, noch über ihre Erwartung hinaus. Definieren konnte sie den Eindruck nicht, aber es war alles so selbstverständlich, und das Selbstverständliche hat keine Formel. Seine Nähe gab ihr ein Gefühl vollkommenen Einklangs, sie entsann sich nicht, je ein so geistiges Glück verspürt zu haben. Das Sonderbare dabei war, daß ihr seine körperliche Erscheinung beinah gänzlich aus dem Gedächtnis entschwand, schon beim Verlassen des Zimmers hatte sie sich besinnen müssen, wie er aussah; das passierte ihr sonst nie, konnte sie doch den gleichgültigsten Menschen, der ihr in Gesellschaft begegnet war, oft noch lange nachher bis auf die unscheinbarsten Einzelheiten beschreiben. War es das, was sie beunruhigte, dieses Zerfließen der Form in das Empfundene hinüber? Sie vermochte es nicht zu ergründen.

Da hörte sie dumpfes Stöhnen, als ob im Garten jemand hilflos läge. Es war eine schwüle Nacht, das eine Fenster stand weit offen. Sie richtete sich auf und lauschte: wieder. Behutsam schlüpfte sie aus dem Bett, eilte zum Fenster und beugte sich hinaus. Wieder. Die Kronen der Bäume ragten still und schwarz, der Springbrunnen rieselte. Sie konnte feststellen, woher der Laut kam: aus dem offenen Fenster schräg unten, aus Irlens Schlafzimmer. Ihr Mund verzog sich bang. In unregelmäßigen Pausen wiederholte sich das dumpfe Stöhnen unaufhörlich. Sie ging ins Zimmer zurück, warf hastig den Schlafrock über, schlich auf Zehenspitzen zur Tür, um ihren nebenan schlafenden Mann nicht zu wecken, lief in den Flur, riß an der Eingangstür den Sperrhaken aus der Schiene, rannte barfuß die teppichbelegte Treppe hinaus und läutete unten, zweimal, dreimal, zuletzt so lange, daß die Spitze des Zeigefingers auf dem Taster weh tat. Endlich erschien ein verschlafenes Mädchen, sie schob es beiseite, um die Großmutter zu wecken. Aber die war bereits aufgestanden, sie trat eben aus ihrem Zimmer und fragte ungehalten nach dem Grund der nächtlichen Störung. »Geh mal sofort zu Onkel Irlen hinein, Großmutter«, stammelte Marie, »ich glaube, er braucht jemand ...«

Irlen lag im Pyjama zusammengekauert, die Knie an den Bauch gedrückt, auf dem Diwan. Er war dorthin gekrochen, aus dem glühendheißen Bett herausgekrochen. Er sah zu, wie aus einer Hüftenwunde sein Blut rann. Es war eine eingebildete Wunde, sie ähnelte jener des gekreuzigten Christus. Das Blut floß in ein riesiges Marmorbecken, wo es sich als scharlachroter Teich ausdehnte, dessen Oberfläche in konzentrischen Ringen vibrierte. Die Bewegung wurde durch zahllose langschwänzige Geschöpfe verursacht, die sich wie Aale durcheinander schlängelten und die er nur deshalb wahrnehmen konnte, weil seine Augen als Mikroskope funktionierten. Er konnte beobachten, wie sie sich verdickten und aufschwollen, offenbar nährten sie sich vom Rot des Blutsees, denn an den Stellen, wo sich größere Massen von ihnen zu Knäueln geballt hatten, verwandelte sich das Rot in ein schleimig-bleiches Grau. Er hatte das Bedürfnis zu schreien, brachte es aber nur zu erstickten Kehllauten, und als er feststellen wollte, was ihn am Schreien verhinderte und den Unterkiefer anrührte, fand er, daß die Muskeln dort steinstarr waren. Er hörte vier Schläge vom Domturm aus der Stadt und empfand eine melancholische Befriedigung darüber, daß sich ihm die Zeit noch verkündete. Auf einmal wurde es hell, das elektrische Licht war aufgedreht worden. Er wandte das Gesicht ab, als er seine Mutter erkannte. Marie saß regungslos auf einem Stuhl im Vorplatz. Bei Tagesanbruch war der Anfall vorüber. Die Senatorin ging mit unerwarteter Energie ins Zeug. Die Versuche Irlens, sie zu beschwichtigen, schlugen fehl. Umsonst bemühte er sich, sie glauben zu machen, es sei die übliche Tropenmitgift und der Höhepunkt bereits überschritten (was er bis vor drei Tagen selbst geglaubt, heute nicht mehr), sie ließ sich nicht beirren. Sie sagte: »Wozu haben wir die größten Kapazitäten bei der Hand?« und wollte gleich nach dem Frühstück den Professor L. anrufen, den Kliniker. Irlen beschwor sie, es zu unterlassen. Um ihr zu beweisen, daß er die Sache nicht vernachlässigt, erzählte er von der Ordination bei Ahrens in Berlin. »Nun?« fragte die alte Dame. »Und?« – »Er hat mir genaue Verhaltungsmaßregeln gegeben. Eine Geduldprobe, weiter nichts.« Er preßte die Finger um die Kehle; er fürchtete einen Erregungsausbruch wie neulich im Hotel, wenn sie noch länger auf ihn einredete. Sie verzichtete auf weitere Debatten, und ohne sich an seinen Widerstand zu kehren, läutete sie gegen neun Uhr die Wohnung des Professors an. Sie erhielt die Auskunft, er befinde sich auf einer Nordlandsreise, von der er erst in zehn Tagen zurückerwartet werde. Schon wollte sie nach den Namen des Stellvertreters und des ersten Assistenten fragen, da besann sie sich eines andern. Sie hängte den Hörer auf, ging ins Zimmer zu ihrem Sohn zurück, der gerade eine schön geschnitzte Gewürzbüchse aus der Landschaft Avatiko anschaute, und sagte in ihrer verbindlich überredenden Art: »Ich habe dir doch von Gaupps erzählt. Nun hör mal. Die haben eine zwölfjährige Tochter, die seit Monaten gelähmt war. Nachdem sie es mit allen möglichen Kapazitäten versucht hatten, wandten sie sich an einen hiesigen Arzt, einen ganz einfachen Hausdoktor, wie es ihrer Dutzende gibt, und denke dir, dieser unbedeutende kleine Doktor ist im Begriff, das arme Kind völlig wiederherzustellen. Es ist wirklich zu merkwürdig, Gaupps sind selig, am liebsten möchten sie den Mann in Gold fassen. Ich möchte ihn kommen lassen, Johann. Schaden kann es keinesfalls, und ohne jede Behandlung kannst du nicht bleiben, das mußt du einsehen. Ich erinnere mich nicht mehr an den Namen, aber man braucht ja nur bei Gaupps anzurufen.«

Es erwies sich später, daß die Heilung der kleinen Gaupp kein solches Wunder war, wie die Senatorin Irlen glaubte. Joseph Kerkhoven selbst schilderte Irlen den Fall bei einem seiner ersten Besuche. Das Mädchen war verhalten worden, dauernd im Bett zu liegen, angeblich wegen chronischer Nephritis. Ihm seien Zweifel an der Richtigkeit der Diagnose aufgestiegen, nach sorgfältiger Untersuchung und Beobachtung habe er eine ganz andere Ansicht gewonnen. Er ließ das Kind, das schon ganz muskelschwach und anämisch war, eines Tages aufstehen, ernährte sie »furchtlos« (das war sein eigener Ausdruck: furchtlos) und gewöhnte sie an regelmäßige Turnübungen. »Es war gewagt«, schloß er mit gesenkten Augen seinen Bericht, »aber es glückte. Ein Einfall eben; manchmal hat man so einen Einfall...«

Die Senatorin hatte ihren Willen durchgesetzt. Irlen hatte ermüdet nachgegeben und erlaubt, daß Doktor Kerkhoven kam, trotzdem er sich nach dem schweren nächtlichen Anfall bedeutend besser fühlte als vorher und wieder Hoffnung schöpfte. Der junge Arzt überraschte ihn durch sein ungewöhnlich stilles und rücksichtsvolles Benehmen. Von Mal zu Mal empfand er seine Gegenwart wohltuender; es ging von dem Mann etwas Friedlichmachendes aus, eine geheimnisvolle Ruhe, wie er sie noch bei keinem Menschen gespürt hatte.

Er konnte nicht umhin, zu beichten, wie er den Brief des Doktor Ahrens ungelesen vernichtet hatte. Kerkhoven sagte lakonisch: »Ich werde an das Institut schreiben.« Nach zwei Tagen bekam er die Antwort. Bezeichnung. Die Therapie nach dem derzeitigen Stand der Forschung war angegeben; gegen private Behandlung sei nichts anzuwenden; zum Zweck zweifelloser Feststellung wurde überdies empfohlen, eine Punktation der Nackendrüsen vorzunehmen. Er hielt das Papier lange in der Hand. Dreimal nacheinander murmelte er den schwierigen lateinischen Namen. Trypanosomiasis gambiense. »Hm«, sagte er dann, »hm«, und sein Gesicht erlosch.

Er holte das vorgeschriebene Medikament aus der pharmakologischen Abteilung der Klinik, weil er sich zugleich erkundigen wollte, ob die Anwendung nicht bedenklich sei wegen der Wirkung auf die Augen. Es wurde lange beraten, ein älterer Assistent sah in seinen Heften nach und schrieb ein gleichwertiges Präparat auf, das schädliche Folgen nicht befürchten ließ, er bezog sich dabei auf die Veröffentlichungen des Instituts für Tropenkrankheiten in Hamburg. Als Kerkhoven zu Irlen kam, war Marie bei ihm. Er hatte sie schon das vorige Mal getroffen, zwischen Tür und Angel, und sich ihr vorgestellt. Es war nicht recht erfindlich, warum sie sich in eine Abwehrstellung gegen ihn verschanzt hatte, vielleicht weil er ihr so ungeschlacht und in der äußeren Erscheinung vernachlässigt vorkam. Als er ins Zimmer trat, stutzte sie über den sonderbaren Ausdruck seiner weit vor sich hinsehenden Augen; während sie sich erhob, um die Herren allein zu lassen, bemerkte sie, daß auch Irlen ihn gespannt ansah. Im Hinausgehen hörte sie ihn sagen: »Also Sie haben Bescheid aus Berlin, Doktor?« Sie beschloß, im Vorgarten auf Kerkhoven zu warten.

Zwischen zwei Ulmen langsam auf und ab schreitend, den Strohhut am Band über den Unterarm gehängt, wiederholte sie sich im Innern Wort für Wort, was er über Afrika gesagt hatte, gerade als der Doktor kam. »Es hat nicht dieselben Gesetze wie die andern Kontinente, seine Menschen, seine Tiere, seine Pflanzen, seine Ströme, seine Berge, alles ist aus der Regel heraus. Es gibt Geologen, die behaupten, Afrika sei ein auf die Erde gestürzter fremder Stern, der sich als Fremdkörper in unsern Planeten hineingebohrt habe. Das hat viel für sich. Alles ist überdimensioniert, Leben und Tod über das Maß, das wir ertragen. Ich will Ihnen gelegentlich Aufnahmen von Felsformationen zeigen, rätselhafte Phänomene, man sieht, wie die Natur spielend in Stein vorläufig probiert, was sie später in lebendiger Gestalt gegeben hat, alle Riesen der Fauna und Flora...« Sie hatte noch den Klang seiner Stimme im Ohr, die zugleich hell und heiser war, sie sah, wie die Finger der erdbraunen Hände ineinander verschränkt waren und wie beim Sprechen die Spitzen des gelbblonden kurzgestutzten Schnurrbarts unmerklich zitterten (der Schnurrbart hatte an dem Weißwerden der Haare nicht teilgenommen, darüber mußte sie sich beständig wundern).

Wie ist es nun mit ihm und den Frauen, sann sie, während sich ein leidenschaftlicher Ernst in ihren Zügen malte, offenbar sind wir ihm bloß Menschen, weiter nichts, er beurteilt uns kühl, ohne Neugier, ohne Voreingenommenheit und Befangenheit. Eigentlich sehr anziehend, sehr befreiend, und daß ich bei ihm sein darf, daß ich ihn, wie es scheint, nicht störe, spricht vielleicht ein wenig für mich ... Ich wag' es ja kaum zu denken ... trotzdem ... Sie lächelte in ihren Gedanken und hatte schier vergessen, weshalb sie Posten ging, als Kerkhoven aus dem Haus trat. Rasch schritt sie auf ihn zu. »Wollen Sie mir nicht sagen, was es für eine Krankheit ist, an der Onkel Irlen leidet?« redete sie ihn ohne Umschweife an. Kerkhoven blickte auf sie nieder, als ob sie ihm nur bis zum Nabel reiche und nicht bis über die Schulter, wie es doch tatsächlich der Fall war. »Gewiß, Frau Bergmann, ich kann es Ihnen schon sagen«, erwiderte er mit sichtlicher Überwindung, »es ist die afrikanische Schlafkrankheit.« Ein leichter Schauer lief über ihre Schultern. Sie schloß einen Moment die Augen und sagte leise: »Ich kann mir nichts darunter vorstellen. Ist es ... besteht Gefahr ... ich meine Lebensgefahr?« Kerkhoven starrte auf einen Baumwipfel (es schien, als blicke er auch über den Baum hinüber, genauso wie über Marie) und antwortete: »Leider kann ich Ihnen nur mit dem dienen, was ich ad hoc gelesen habe. Gefahr? Wenn Sie mich ins Gesicht hinein fragen: ja. Was man fürchten muß, ist die Zerstörung des gesamten Nervensystems. Der Erreger ist einer der tückischsten Parasiten, die wir kennen, der Träger eine Stechfliege, die glossina palpalis. Da haben Sie alles, was ich weiß.« – »Und gibt es ein Mittel, hilft es, ist es möglich, ihn zu retten?« Sie suchte seinen Blick, es gelang nicht. Es fiel ihr plötzlich auf, wie unendlich schüchtern dieser Mann war. »Ich habe von Heilungen gehört«, erwiderte er bedächtig, und seine bartlosen Lippen hoben sich über sehr großen, aber etwas schadhaften Zähnen (die beiden Vorderzähne standen ziemlich weit auseinander), »der Prozeß ist jedenfalls langwierig. Man kann noch nicht beurteilen, was der Körper an Widerständen aufbringt. Davon hängt es ab.« Marie atmete tief. »Glauben Sie«, fragte sie stockend, »daß Sie allein ... daß ... ich meine ... Sie werden mir ja offen antworten ...« – »Sie wollen wissen, ob man einen Konsiliarius zuziehen soll«, unterbrach sie Kerkhoven freundlich, »das wäre zu erwägen. Es hätte, in diesem Fall, keinen Zweck, aber man könnte es in Betracht ziehen. (Er schaute sich wie hilfesuchend um.) Sehen Sie, Frau Bergmann, wenn es zum Beispiel mein Bruder wäre, würde ich es unterlassen, und zwar aus Schonung für die besondere Natur des Patienten. Verstehen Sie mich recht, wenn ich Bruder sage, so ist das ... in diesem Fall ... nicht gänzlich aus der Luft gegriffen. Der gelehrteste Mediziner, sei er, wer er sei, bleibt da schließlich außen ... bleibt am Rande. Verstehen Sie, was ich sagen will: am Rande...«

Er deutete mit dem Zeigefinger schwerfällig die Kontur ihres Kopfes an, um das »am Rande« zu illustrieren. Marie schaute ihm erstaunt nach, als er wie jemand, der nicht liebt, daß man seinen Rücken sieht, zur Gartenpforte schritt.


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