Jakob Wassermann
Etzel Andergast
Jakob Wassermann

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Vierzehntes Kapitel

Es war ein Zustand schwerster Erschöpfung. Nervenzusammenbruch. Das ist natürlich eine medizinische Vokabel wie jede andere; daß sie über den eigentlichen Vorgang im Organismus nichts Entscheidendes aussagte, war niemand besser bewußt als Kerkhoven, der sich dieser wie jeder Hilfsannahme nur bediente wie ein Bildhauer der geometrischen Punkte am unbehauenen Marmor. »Bei dem ist's wie im Krieg«, sagte er zu Marie, »alle paar Wochen schafft man ihn verwundet hinter die Front. Und die Widerstandskraft... was er aushält... man kann nur staunen.« – »Ist es gefährlich?« erkundigte sich Marie. – »In einem solchen Fall besteht die Gefahr im Vorstadium, der Ausbruch gehört schon zum Heilungsprozeß«, antwortete Kerkhoven; »es ist, wie wenn das explosive Gas in einer Flasche noch rechtzeitig den Stöpsel hinaustreibt und dadurch verhindert, daß das Gefäß zerspringt.«

Selbstverständlich hatte er Etzel gleich im Hause behalten und in der Hofkammer, die er schon vor Wochen zu seiner Aufnahme bestimmt, zu Bett bringen lassen. Er hatte telefonisch eine seiner bewährtesten Krankenschwestern berufen und genaue Anweisungen wegen der Pflege erteilt. Den Morgen darauf veranlaßte er, daß Etzels sämtliche Habseligkeiten aus der Motzstraße geholt wurden, die Schwester und das Hausmädchen brachten alles möglichst geräuschlos in den beiden Räumen unter, die er nun bis auf weiteres bewohnen sollte. Er merkte nichts davon, am ersten Tag schlief er nämlich fünfzehn Stunden, am zweiten sogar sechzehn, es war ein steinerner, dickwandiger Schlaf, in einem tiefen Brunnen, Urschlaf, in dem die Sinne starben, das Gehirn erlosch und das pulsende Herz in seinem Zauberdunkel zum Alleinherrscher des Leibes wurde. Als er dann im Zimmer, wo er lag, die gewohnten Dinge um sich sah und im andern Zimmer durch die offene Tür die wohlbekannten Rücken seiner Bücher, ordentlich in Regale gestellt, war er maßlos verblüfft und schien eine Zeitlang ernstlich an seinem Verstand zu zweifeln. Er nahm seine Nasenspitze zwischen Daumen und Zeigefinger und grübelte zunächst einmal darüber nach, wo er sich befand und was mit ihm geschehen war. Die Schwester Agathe erklärte ihm lächelnd, was es mit der Herbeischaffung seiner Wäsche, Kleider und sonstigen Besitztümer für eine Bewandtnis hatte. Der Professor habe es verfügt. Der Professor wünsche und habe angeordnet, daß er sein bisheriges Logis verlassen und hier, in der Wohnung des Professors, bleiben müsse. Der Professor werde seine Gründe dafür haben. Sich seinem Beschluß zu widersetzen, sei nicht ratsam. Sie erinnere sich jedenfalls nicht, daß jemand es versucht hätte. Suprema lex regis voluntas. Sie konnte Lateinisch.

Etzel erwiderte nichts. Er war noch genauso verblüfft wie vorher und wußte nicht, wie er sich das alles zusammenreimen sollte. Er hatte das Gefühl, als hätte ihn im Schlaf wer aufgehoben und nach einem andern Weltteil getragen. Das war einerseits angenehm und bedeutete Entlastung, andrerseits lehnte er sich als gegen einen Akt der Willkür innerlich dagegen auf. Der tägliche Lebensrhythmus geht ins Blut über, auch des ungern gelebten Lebens; setzt er plötzlich aus, so entsteht eine Art Tod. Das gestern Gewesene, von dem auf einmal keine Brücke mehr zum Heute führt, bekommt ein anklägerisches Gesicht. Der Mensch ist ehern an sein Tun und dessen stetige Folge geschmiedet, auch um sich loszulösen, braucht er die Illusion des allmählichen Zeitverlaufs. Als Kerkhoven kam, wagte ihm Etzel zunächst nicht in die Augen zu sehen. In seiner Haltung war Trotz. Kerkhoven begriff sofort, was in ihm vorging. Auf Auseinandersetzung ließ er sich erst gar nicht ein. Mit Worten war hier nichts zu gewinnen. Wo Wille gegen Wille steht, handelt es sich um Kampf und Unterwerfung; das lag nicht in Kerkhovens Plan, auch war es auf die Dauer fraglich, wer Sieger bleiben würde, denn in dieser Hinsicht war der junge Mensch allen überlegen, die er kannte, vielleicht zählte er sogar zu den seltenen Genies des Willens, denen es bestimmt ist, einer Zeit ihren Stempel aufzudrücken; vielleicht; es hing vom Gang der Dinge ab, vom Nichtversagen eines bislang noch unbekannten Sinnesorgans, von einem wahrscheinlich genau bemessenen Vorrat an Zellenenergien. Solche Charaktere haben ihre von Generationen her aufgespeicherten Reiz- und Kraftquellen, in dieser Beziehung sind sie gleichsam Selbstversorger, und man kann sie weder aushungern noch mürbe machen. Um seiner habhaft zu werden, mußte man andere Mittel anwenden als die in der Praxis und Erfahrung scheinbar bewährten, man mußte in die schaffende Natur eindringen, ganz tief, bis in jene zweite Existenz hinab, die unter der Oberflächenexistenz ruht wie die Wurzelwelt unter dem Erdboden. Also nichts von Behandlung, nicht die billige ärztliche List, die eine Schwäche ausnützt, um Einfluß zu erlangen, nicht das Inquisitorium, das durch Aufgraben des Verborgenen die Persönlichkeit zersetzt und Triebe lähmt, die vielleicht in der Einheit der Kreatur viel weniger verderblich wirken, als wenn dem Bewußtsein die Mittel geboten werden, sie argwöhnisch zu überwachen. Seiner »habhaft« werden! Was für ein Wort überhaupt! Bedurfte es denn noch der besonderen Bemühung? Hier war ein grundeinfaches Verhältnis, fast elementar; was war anderes nötig, als es nach seinem Gesetz sich entfalten zu lassen? Sein, das war alles. Dasein. Umfassen und sich mit keiner Regung wehren gegen das Umfaßtwerden. Das andere Leben aufnehmen, ohne es anzutasten. Es bis in seine entlegensten Abgründe, mit allen seinen Bedingnissen und Verheißungen erkennen, ohne es zu vergewaltigen. Das andere Leben ist der rocher de bronze. Je höher man es wertet, ein je reinerer Spiegel wird es für das eigene Ich, ein je kostbarerer Besitz für die Welt. Was ließ sich da nicht gestalten, aus einem Menschen wie diesem hervorbringen! Das war es ja, was er im Gespräch mit dem alten Heberle angedeutet und was dieser resigniert als Phantasma bezeichnet hatte: »Zwei, drei Dutzend Seelen, die man herausheben kann aus der Luft von Ansteckung und Gefahr.« Wenn er dieses außergewöhnliche Individuum quasi sicherstellte; es, soweit es menschenmöglich war, dem blinden Zugriff des Schicksals entzog, eines Schicksals, das immer weniger Ausleselust an den Tag legte und immer mehr ein Molochvergnügen an der Massenvernichtung zu finden schien; wenn es ihm gelang, diesen Menschen (vorläufig den, nachher würde man sehen) herauszuführen aus Wirrnis und Irrtum, aus körperlicher Erschütterung (die ernst genug war), aus einem geistigen Leiden (von dem sich, wie die Welt nun einmal aussah, Besserung auf dem Weg der Selbstheilung kaum erhoffen ließ), hatte er dann nicht Ersprießlicheres geleistet, als wenn er Hunderten und Hunderten von bereits Gebrochenen und zu Boden Getretenen half, sich für kurze Zeit wieder aufzurichten und ihre unfruchtbare Existenz mühselig und freudlos noch ein Stück weiter zu schleppen?

Ich gebe diesen Gedankengang wieder, ohne ihn gutzuheißen oder abzulehnen. Eine krisenhafte Lebensstimmung ist unschwer aus ihm zu erkennen. Von ihr wissen wir ja längst. Ihre ersten Anzeichen liegen weit zurück. Kommt freilich noch jener geheimnisvolle Umschichtungsprozeß hinzu, den jeder Mann um sein fünfzigstes Jahr erfährt und von dem behauptet wird, daß er eine Folge innersekretorischer Veränderungen sei. Damit ist aber wenig gesagt und nichts erklärt, Kerkhoven war der letzte, der sich mit der bloßen Pathologie eines solchen Vorgangs zu begnügen vermochte, seine Beobachtungen waren auch nicht auf die eigene Person beschränkt, die interessierte ihn nur insofern, als sie ein Glied in der Beweiskette darstellte. Er ahnte ein verborgenes Gesetz, das zu finden den kommenden Geschlechtern vorbehalten war und das wahrscheinlich erst formuliert werden konnte, wenn sich einmal das Wesen des höheren Menschen als morphologischer Begriff von der Gattung sondern ließ, denn nach seiner Überzeugung handelte es sich um nicht mehr und nicht weniger als um einen Gestaltwandel, dessen somatische Andeutungen nur an Vorläufern und nur in bestimmten Perioden erkennbar waren, auf den Stationen, die er die Rangierbahnhöfe der menschlichen Existenz nannte.

Er fragte Etzel, ob er Lust habe, sein Privatsekretär zu werden. Das war der Plan, den er lange zuvor gefaßt hatte. Etzel war überrascht. Er wurde rot und blickte Kerkhoven mißtrauisch an. War das nicht ein freundschaftliches Manöver, um seinen miserabeln Umständen aufzuhelfen? Kerkhoven durchschaute den Gedanken und lächelte. Es falle ihm nicht im Traum ein, ihm eine Sinekure zu verschaffen, sagte er, dergleichen könne er sich nicht leisten. Sei es denn erwiesen, ob er ihn brauchen könne? Zunächst müsse der Versuch gemacht werden. »Ich habe keine Ahnung, wie Sie sich das vorstellen, Meister, und was ich für Aufgaben hätte«, erwiderte Etzel. – »Das ist rasch erklärt. In der Ordination hätten Sie nur in gewissen Fällen zu tun, zur Aufnahme stenographischer Protokolle. Das müßte ich mit Doktor Römer unten besprechen, schon damit keine Kompetenzkonflikte entstehen. Im allgemeinen sollen Sie möglichst viel in meiner Nähe sein. Arbeit gibt es im Überfluß. Es sind Stöße von Aufschreibungen zu ordnen, die Briefbeantwortung ist rückständig, die Registratur verwahrlost, die Krankengeschichten müssen durchgesehen und nach bestimmten Gesichtspunkten zusammengestellt werden, ebenso meine Publikationen in verschiedenen Fachzeitschriften; Material und Notizen für ein Buch, das mir am Herzen liegt, will ich seit Jahren redigieren und finde nicht die Zeit ... Sie sehen, mehr als genug. Bisher hat mir jemand gefehlt, dem ich Vertrauen schenken kann und der kapiert, worauf es ankommt. Ich entschließe mich doch so schwer zu Menschen. Wenn alles andre klappt, scheitert es zuletzt am Atmosphärischen.« – Etzel sah stumm vor sich nieder. Noch immer konnte er den Verdacht nicht loswerden, als sei das ganze Anerbieten eine Falle für ihn, eine Kerkhovensche Falle zwar, aber trotzdem eine Falle. Plötzlich sah er Kerkhoven an. Und Kerkhoven sah ihn an. Und sie verstanden einander. Mit seiner bedeckten Stimme fuhr Kerkhoven fort: »Natürlich beabsichtige ich nicht, Sie in eine subalterne Stellung zu locken. Subaltern wird sie schon durch ihren Famuluscharakter. Ich weiß, wen ich vor mir habe. Sie sind nicht zum Gehilfen geboren. Nebenbei: wozu Sie geboren sind, das ist vorläufig ein dunkles Rätsel für mich. Ich nehme an, auch für Sie. Das hat sein Gutes, und es hat sein Schlimmes. Aber darüber brauchen wir uns ja jetzt keine grauen Haare wachsen zu lassen. Um offen zu sein: ich biete Ihnen eine Zuflucht. Sie sind stark mitgenommen von allerlei Unwetter, und ich sage: Da ist mein Haus, Andergast, betrachten Sie es als das Ihre. Bringen Sie sich einstweilen in Sicherheit darin, Sie haben es dringend nötig, es könnte sonst übel mit Ihnen enden. Der unheilvollen Freizügigkeit muß ein Riegel vorgeschoben werden. Das Bedenkliche ist nämlich, daß sie dem Gesetz des beschleunigten Falls unterliegt. Jeder Pflichtendienst ist ein solcher Riegel. Sie müssen sich disziplinieren. Vielleicht befriedigt es Sie. Vielleicht vertragen wir uns bei der gemeinsamen Arbeit. Vielleicht öffnet sich unversehens ein Weg in die Zukunft dabei. Das kann man nicht wissen. Ich werde nie etwas von Ihnen fordern, aber ich werde alles von Ihnen erwarten. Das ist eine Erschwernis, gewiß, aber warum soll es denn bequem sein. Ihre Zeit gehört nach wie vor Ihnen, es gibt kein Vertrauen im Zwang, aber was Sie mir freiwillig von ihr überlassen, fällt dann doppelt ins Gewicht. Was meinen Sie also zu dem Vorschlag?«

Etzel erhob sich, blickte Kerkhoven lächelnd an, und in soldatischer Haltung sagte er nur das eine Wort: »Meister.« Es klang wie ein Gelöbnis.

Etwas ängstlich gespannt wartete Kerkhoven auf den Moment, wo Etzel zum erstenmal ausrücken würde. Er war darauf gefaßt. Eines Tages wird er für längere oder kürzere Zeit verschwinden, sagte er sich, da nicht anzunehmen ist, daß er die Schiffe hinter sich verbrennt. Aber es geschah nicht. Daraus schöpfte er Hoffnung, obwohl ihm die innere Verstörtheit des jungen Menschen keineswegs verborgen blieb. Er beobachtete ihn, wenn er stumm vor sich hin brütete: das Gesicht schwermütig verdunkelt, der Blick erloschen, die Lider entzündlich gerötet. Zusammengekauert dasitzend glich er einem Gnom, der aus der Erde gekrochen ist, verstoßen von den Seinen. Er ist sehr zu schonen, ging es Kerkhoven durch den Kopf. Er hütete sich, Fragen zu stellen. Alles kam auf mittelbare Einwirkung an. Alles hing davon ab, ihn zu halten. Wenn er es nicht vermochte, war der Prozeß verloren. Aber das war ja gerade seine eigentümlichste Kraft, und er war ihrer immer sicherer geworden wie ein geübter Turner, der die Überlegenheit seines Körpers spürt. Doch mit der Kraft allein war es nicht getan. Man muß listig sein wie ein Gott, wenn man einen Menschen »halten« will. Jeder schlägt verzweifelt um sich, bevor er sich fügt. Jedes Gemütsleiden ist eine Form der Anarchie. Die herrenlose Seele sehnt sich nach dem Herrn, aber wenn er sich in seiner Macht zeigt, rebelliert sie. Kerkhoven glaubte erkannt zu haben, daß das, was die Psychologen und Zeitkritiker Krankheit der Jugend nannten, verschlagene Sehnsucht nach Gehorsam und Befehl war, die sich in manchen bis zur Ekstase steigerte. In ihrem Innern haßten und fürchteten sie eine Freiheit, die sie zu einer erbarmungslosen Einsamkeit verurteilte. Ebenso wußten sie in ihrem Innern, daß das Ideal des Kollektivs, das sie in ihrer Angst vor dem Überfluß an Freiheit aufgerichtet hatten, nichts anderes bedeutete als die Summe dieser erbarmungslosen Einsamkeiten, deren religiöses Sinnbild die Maschine war.

Etzels ganzes Wesen schien ihm zuzurufen: befiehl, damit ich gehorchen kann! Aber genügte der Entschluß? Mußte man dazu nicht begnadet sein? Es handelt sich ja nicht um den erstbesten. Es war, wie wenn einem die Führung und Leitung eines wunderbar begabten Kronprinzen anvertraut wird. Wie tief und weit läßt sich da von einem Punkt aus wirken. Sichtbar, spürbar. Das war es ja: das Verlangen, das Selbstgeschaffene mit seinen Augen zu sehen, nagte oft an Kerkhoven wie physischer Hunger. Dem Arzt seines Ranges entzieht sich das Bild der eigenen Leistung, weil ihm die menschliche Natur immer weiträumiger, die Grenze zwischen Gesundheit und Krankheit immer unfaßbarer, der Begriff der Heilung immer problematischer wird. Ein komplizierter Knochenbruch, der glücklich verheilt, eine Magenexstirpation, eine Sympathektomie, das ist etwas, darauf kann man hinweisen, da schenkt man einem Menschen das Leben, wenn es gelingt. Er kann keinem das Leben schenken, er kann nur das fehlerhaft gerichtete Bewußtsein korrigieren. Dabei wird nichts zur Erscheinung; was er tut, gleicht dem Gehen, Tasten, Lesen eines Blinden, je tiefer die Erkenntnis dringt, je mehr. Mit jedem einzelnen ein Ringen Brust an Brust, bis man ihm neuen Odem eingeblasen hat, und wenn er hernach wieder aufrecht schreitet, wenn das Uhrwerk der Seele wieder funktioniert, verliert er sich freudlos in ein erneutes Dasein, und die Erinnerung an seine »Abwesenheit« bleibt eine Wunde, die sich nie ganz schließt. Das sind noch die Seltenen. Die vielen, die ihm bleiben, die Immerwiederkehrenden, die nicht mehr ohne ihn sein können, geben sich dem Leiden mit entherzter Inbrunst hin, sie leben nicht, sie sterben nicht, sie vegetieren in den Stufungen dazwischen, Monate, Jahre, Jahrzehnte, und sind im Grunde seine Ankläger und die Zeugen seiner Ohnmacht ... An einem dieser Tage wurde er aufgefordert, im Rahmen eines öffentlichen Vortrags, der im September stattfinden sollte, über jugendliche Psychoneurosen zu sprechen. Er hatte wenig Lust dazu. Etzel sollte den Absagebrief schreiben, er zögerte damit und fragte, warum Kerkhoven die Gelegenheit zu einer Aufklärung in seinem Sinn von der Hand weisen wolle. Kerkhoven erwiderte, er halte es für verfehlt, in einer Zeit der allgemeinen Selbstauszehrung der Persönlichkeit das psychogene Gespenst eigens an die Wand zu malen und unter dem Vorgeben, Wissen zu verbreiten, den Menschen das Gruseln beizubringen. Etzel schüttelte den Kopf. Er sagte, man könne eine höhere Absicht damit verbinden. Den Teufel an die Wand malen, gut; aber die Wissenschaft sei ja nicht die Kirche, die den Teufel braucht, es sei doch ein herrlicher Anlaß, den Menschen die Teufelsfurcht auszureden, da es ja ein ganz minderwertiger Teufel sei, an den sie glaubten. Vom echten wahren Teufel wüßten sie sowenig wie vom echten wahren Gott, von beiden ahnten nur die Auserwählten was, für die sei es dann auch kein Aberglaube mehr. Kerkhoven sah nachdenklich drein. »Hm«, sagte er »ich kann mir schon denken, worauf Sie hinaus wollen. Ist auch ein Standpunkt. Müßte man überlegen.« Etzel lächelte.

Er hatte unter den Papieren Kerkhovens ein Blatt mit folgendem Inhalt gefunden: »Menschen sind wie Sterne, bewegen sich in vorgeschriebenen Bahnen wie Sterne. Die Astronomie lehrt, Sternenbahnen zu berechnen. Ähnlich könnte ich mir eine Mathematik der Schicksale und der menschlichen Handlungen denken. Immer kreisen um einen Zentralkörper Planeten, um den Planeten die Trabanten. Asteroiden geistern wild durch die Systeme, Meteore durchbrechen zigeunerisch die Ordnung. Die Frage ist: Wo bist du gebunden? Wo bindest du? Gibst du Licht, oder borgst du Licht? Davon hängt der Rang ab, den du einnimmst. Es ist das Bestimmende.«

Diese Worte machten tiefen Eindruck auf Etzel. Er zeigte Kerkhoven das Blatt und sagte: »Die Astrologen müßten Sie zu ihrem Hohepriester ernennen, wenn sie das lesen, Meister.« – »Möglich«, antwortete Kerkhoven, »obwohl es nicht mehr damit zu schaffen hat als eine algebraische Gleichung mit einer Zauberformel.« – »Untersucht man seine Erlebnisse«, sagte Etzel finster, »so kommt man darauf, daß man nur ein einziges hat. Und das Gesetz, unter dem es steht, läßt sich auf keine Weise ergründen. Ich kann ja auch nie, nie, nie mein eigenes Gesicht sehen. Nie kann ein Mensch erfahren, wie er wirklich aussieht. Das Bild im Spiegel ist wie ein Buchstabe aus einem Satz. Zehntausend Spiegelbilder von mir sind immer noch nicht Ich. Warum ist man sich übrigens in jedem Spiegel so zuwider?« – »Weil man sonderbar übertriebene Vorstellungen von sich hat«, entgegnete Kerkhoven, »in jedem Fall; auch wer sich verachtet, hat sie.« – »Drum«, sagte Etzel. Über dieses gelehrige »Drum« mußte Kerkhoven laut lachen. Und in seinem Lachen klang ein so warmer Ton von Freude mit, daß Etzel betroffen aufschaute. Es war, gleichnisweise gesprochen, die Freude des Gärtners, der trotz der Ungunst von Boden und Witterung seine Mühe belohnt sieht. Er fühlt es aus jeder Frage, die der junge Mensch an ihn richtete, an jedem seiner Blicke; es war eine neue Art von Zutraulichkeit, scheu, vorsichtig-abwartend, eigentlich ein beständiges unmerkliches Entgegenkommen.

An einem Abend Ende der Woche, in ziemlich später Stunde, hatte er Etzel einige Briefe diktiert, dann ging er lange Zeit in Gedanken versunken auf und ab. Das Mädchen brachte schwarzen Kaffee, und als sie einander gegenübersaßen, sagte Kerkhoven zwischen zwei Schlucken: »Ich vermute, da draußen in der Siedlung haben sich recht unerquickliche Dinge abgespielt.« Etzel war auf die Frage, denn eine Frage war es, längst gefaßt. Daß der Meister bis jetzt damit zurückgehalten hatte, stellte ihn in seinen Augen außerordentlich hoch. Er hatte auf diese Weise jeden Widerstand in ihm besiegt. Er war selbst erstaunt, wie natürlich und in der Ordnung es ihm schien, daß Kerkhoven das Schweigen endlich brach. Er, Etzel, hätte das Stichwort nicht geben können, es war noch zu frisch alles, es führte zu weit, und er war seiner noch nicht unbedingt sicher. Den kleinen silbernen Kaffeelöffel zwischen beiden Zeigefingern balancierend, die Augen hinter der Brille gesenkt (er hatte vergessen, sie nach dem Schreiben abzunehmen), erzählte er von Anfang bis zu Ende, was ihm mit den fünf jungen Menschen passiert war. Kerkhoven hörte sehr aufmerksam zu. »Merkwürdig, äußerst merkwürdig«, murmelte er, als Etzel fertig war. – »Hatte was riesig Abgefeimtes, das Ganze, finden Sie nicht, Meister?« – »Ich weiß nicht, ob man es moralisch beurteilen soll. So was kann nur ein Mensch machen, der ... wie soll ich sagen ... der keine Wirklichkeit in sich hat.« – »Eben. Das ist es eben. Und derselbe Mensch steht mitten drin in einer Wirklichkeit, in einer großen Wirklichkeit. Einer grundlegenden Wirklichkeit. Jede echte Gemeinschaft hat etwas Grundlegendes.« – »Das ist richtig.« – »Mit allem kann man spielen, nur nicht mit dem, womit man einen Grund legen will«, fuhr Etzel mit funkelnden Augen fort, »sonst wankt die ganze Welt.« – »Nehmen Sie denn an, daß Nell spielt?« fragte Kerkhoven verwundert. (Er sah sie einen Augenblick körperlich vor sich, eine vibrierende, flimmernde, enthusiastische Persönlichkeit, die blitzenden Augen, den beweglichen Mund mit den kleinen Zähnen, den etwas zu starken Hals, die geistreichen Gebärden.) – »Schlimmer noch«, würgte Etzel hervor, »schlimmer. Sie zahlt mit falschem Geld. Liebe, Begeisterung, Hoffnung, Vertrauen, alles mit falschem Geld. Nicht weil sie es will, sondern einfach weil sie nicht anders kann. Nicht weil sie es weiß, nein, sie hat keine Ahnung, sie betrügt sich mit sich selbst, und die an sie glauben, sind in ihrer Seele, absolut genommen, um alles betrogen, was es noch Heiliges auf der Welt gibt. Man soll mir nicht sagen, daß sie nicht dahinterkommen. Das ist wahr und nicht wahr. Ins Geheimste dringt es ja doch hinein. Der Tropfen Gift enthält den Tod. Es ist wahr, sie liegen vor der gütigen Fee auf den Knien und beten sie an. Aber dann, eines Tages, ergeht es einem so wie mir. Dann ist alles aus. Dann bleibt einem nur Ihr mathematischer Trost, Meister. Nell, der Himmelskörper. Wenn man einen Stein in den luftleeren Raum wirft, beschreibt er eine parabolische Bahn, nicht wahr? Das ist dann der Trost.« So aufgewühlt hatte ihn Kerkhoven noch nie gesehen. Mit seltsam verschlossener Miene blickte er in sein verstörtes Gesicht. »Das und das zweite dazu, beides zusammen kann man nicht aushalten«, flüsterte Etzel. – »Welches zweite?« – »Sie sieht doch den bösen Geist Lorriners in mir. Sie ist überzeugt, ich bin schuld an Lorriners Zusammenbruch.« Er warf den silbernen Löffel, den er noch immer hielt, in der geballten Faust jetzt, mit einer schaudernden Gebärde auf den Tisch. »Das war lange vorher. Als ich ihr die Backfischillusionen über Emma Sperling rauben mußte.« Er berichtete, wie dies zugegangen war. Kerkhoven wußte nur ungenau Bescheid über die dunklen Beziehungen zwischen Lorriner und der Tänzerin. Er setzte sie ihm auseinander. Hastig, wie man auf der Flucht redet. Und was ihm dann Nell durch die Blume zu verstehen gegeben. Als gälte die Beschuldigung nicht im entferntesten ihm. Als wolle sie, um den unbekannten Verbrecher ausfindig zu machen, bloß seinen Beistand anrufen. Verflucht schlau, was? Und trotzdem nicht schlau genug. Klar, daß sie nur ihn im Auge hatte. Die Anklage lautete geradezu auf Mord. Oder so gut wie auf Mord. Nell argumentierte offenbar so: ob man jemand mit dem Beil erschlägt oder ihn mit einer raffinierteren Waffe zur Strecke bringt, läuft auf eins hinaus; hat man den Feind auf die gewünschte Manier unschädlich gemacht, dann sorgt man dafür, daß er in einem Irrenhaus verschwindet. Warum nicht. Ist alles schon dagewesen. Kommt auch in Detektivromanen häufig vor. Zuerst, als sie ihm das alles mit ihrem United-States-Lächeln unter die Nase gerieben, habe er das Gefühl gehabt, wie wenn sich das Telefonfräulein in der Nummer geirrt hat. Falsch verbunden. Schluß. Alsbald aber... Er stockte und strich mit nervösen Bewegungen die feuchten Haare aus der Stirn. – »Alsbald? Sprechen Sie nur«, drängte Kerkhoven sanft. – »Die Geschichte hat nämlich ihre Richtigkeit.« – »Wie denn? Wie meinen Sie das?« – Genau so meine er's. Wortwörtlich, wie Nell sich's gedacht habe. Er sei ja zu dem Zweck systematisch vorgegangen. Von Anfang an. Steter Tropfen höhlt den Stein. Genau das habe er durch unablässiges Bohren bei Lorriner bewirkt. Er habe ihn tatsächlich über seine Schranken gehetzt, den Beschränkten. Sozusagen seinen Aggregatzustand verändern wollen und ihn damit in den Wahnsinn getrieben. In der wahren Bedeutung des Wortes: Wahn-Sinn. Es könne schon stimmen, was der arme Lüttgens eines Tages behauptet habe, vor dem Andergast müsse man sich in acht nehmen, er sei das personifizierte Ekrasit und sprenge Seelen in die Luft. – »Damit hängt wohl auch das rätselhafte Gerede Lorriners vom feurigen Ofen zusammen«, sagte Kerkhoven leise, »ich konnte mir nicht erklären...« – »Selbstverständlich! Das war es ja«, brach Etzel aus, wobei sich seine Stimme gleichfalls nicht über ein Flüstern erhob, »weil er nicht in den feurigen Ofen kriechen konnte, das habe ich nämlich von ihm verlangt, hat er es vorgezogen, sich ... wie soll man sagen ... sich geistig aus dem Staube zu machen.« – »Der feurige Ofen, versteh' ich recht, war also ein Pressionsmittel?« – Etzel nickte. – »Und die blutige Attacke von seiner Seite so etwas wie ein Befreiungsversuch?« – Etzel nickte. – »So ist das. Ich fange an, zu begreifen.«

Kerkhoven stand auf, verlöschte die Schreibtischlampe, zog die schweren roten Stoffvorhänge über die Fenster und kehrte wieder auf seinen Platz zurück. »Eine laienhafte Vorstellung natürlich, daß derartige Zerwürfnisse den Ausbruch einer Demenz veranlassen können«, sagte er, indem er den Kopf in den Nacken legte und die Augen halb schloß. »Nicht einmal eine Beschleunigung ist wahrscheinlich. Das wäre so, als wenn jemand in einem lecken Boot aufs Wasser rudert und sich einredet, er sei gesunken, weil er einen zu dicken Anzug angehabt hat. Das glauben Sie auch nicht im Ernst, Andergast. Dazu wissen Sie zuviel auf dem Gebiet. Sollten Sie wirklich keine Ahnung davon haben, was Sie zu einem so unerbittlichen Verfolger Ihres Freundfeindes gemacht hat?« – Etzel schien angestrengt nachzudenken. Offenbar ahnte er es nicht. – »Ist Ihnen bewußt«, fuhr Kerkhoven fort, »daß Sie mich seit dem Tag, wo ich bei Ihnen in der Motzstraße war, nicht ein einziges Mal mehr nach ihm gefragt haben?« – Ja, das sei ihm bewußt, aber ehrlich gestanden habe er erwartet, der Meister werde von selber reden. – Kerkhoven konnte sich eines Lächelns nicht enthalten. (Immer mit halbgeschlossenen Augen und zurückgelehntem Haupt, wodurch die Stirn erschreckend groß erschien.) »Jetzt lügen Sie, liebes Kind«, sagte er freundlich, »es ist die erste Lüge, die ich von Etzel Andergast höre. Warum wollen Sie nicht zugeben, daß Sie Angst hatten? Angst vor dem Namen, vor der Erinnerung, vor der Frage, vor meiner Antwort?« – Etzel schwieg. Wieder dachte er angestrengt nach. »Warum denn Angst?« fragte er gedrückt. – Kerkhoven richtete sich langsam auf. Sein Gesicht war blasser als gewöhnlich. Das scharfe Deckenlicht ließ die Backenknochen stärker hervortreten und machte den kurzen tatarischen Kinnbart zu einem schwarzen Farbenfleck. »Es gibt einen Fall in meinem Leben«, begann er, »wo ich als Arzt dem Tod zuvorgekommen bin. Es war ein moralisch-geistiger Zwang allerstärkster Art. Es galt eine Agonie abzukürzen und außerdem ihn, den Freund, vor etwas zu bewahren, das weit ärger als der Tod war. Das ist nun bald fünfzehn Jahre her, Andergast, und es lebt außer mir kein Mensch auf dieser Erde, der davon weiß oder wußte. Nicht einmal meine Frau. Sie sind jetzt der einzige. Über die Folgen, die sich daran knüpften, kann ich nicht sprechen, es handelt sich um Dinge, die von den uns bekannten Naturvorgängen in gewisser Weise abweichen. Vielleicht kommt einmal ein Tag ... nicht ausgeschlossen, daß ich es Ihnen ... nun, ich will sagen, daß ich in eine ähnliche Lage nie wieder gekommen bin, nie wieder habe ich es gewagt, dem Schicksal vorzugreifen, selbst im Felde nicht, wenn einer in der tollsten Schmerzenswut drum gefleht hat, niemals ist aus irgendwelchen andern Gründen die Versuchung an mich herangetreten. Bis vor fünf Wochen. Bis zu dem Abend, an dem ich Jürgen Lorriner in die Anstalt gebracht habe.«

Etzel saß kerzengerade. Sein Gesicht hatte einen Ausdruck so gespannten Lauschens, daß es beinahe idiotisch aussah. Er murmelte ein paar unverständliche Worte. Kerkhoven beachtete sie nicht. Er fuhr fort: »Ich blieb damals die ganze Nacht in der Anstalt. Nicht um zu schlafen. Geschlafen habe ich nicht in dieser Nacht. Um neun Uhr hatte ich Sie fortgeschickt, wie Sie sich erinnern werden. Unterm Gehen fragten Sie mich, weshalb ich so still wäre, ob ich was gegen Sie hätte. Nein, ich hatte nichts gegen Sie. Trotzdem stand es an dem Abend für mich fest, daß Sie sich entscheiden müßten. Zwischen mir und... jenem wählen. Und zwar binnen vierundzwanzig Stunden. Hatte das Gefühl: es geht ums Ganze. Um zehn ging ich mit dem Assistenten Merk zu Lorriner. Er war ruhig. Er hockte in der Zimmerecke wie ein hölzerner Götze. Merk nahm eine traumatische Demenz an. In den Tagen nachher glaubten wir ja auch das Bild des Korsakowschen Syndroms vor uns zu haben. Meine jüngeren Herren retten sich noch oft in die Typik der üblichen Benennungen. Jedenfalls war Aussicht auf erfolgreiche Behandlung. Nachdem Merk sich entfernt hatte, forderte ich den Patienten auf, zu Bett zu gehen. Es dauerte fünfunddreißig Minuten, bis er sich dazu entschloß. Nun forderte ich ihn auf, zu schlafen. Es dauerte weitere fünfzig Minuten, bis er schlief. Da hatte ich ihn also vor mir liegen. Da war der Mann Lorriner und die res publica Lorriner. Ich hatte vor mir die Sache Lorriner kontra Andergast sowie die Sache Lorriner-Andergast kontra Kerkhoven. Verwickelter Fall. Ich war Ankläger und Richter zugleich. Die Situation hatte etwas sehr Einfaches, ich möchte sagen Mythologisches. Es war eine schöne Nacht, das Fenster war offen, durch die Gitter sah ich den Mond, er hing wie ein gelber Lampenschirm am Himmel. Ich erwähnte das, weil mir zumute war, als hätte ich den Nachthimmel und den Mond seit Jahrzehnten nicht gesehen. Es war ein Gefühl von Alleinsein im Universum. Der Mann Kerkhoven und der Mann Lorriner allein im Universum. Die Verhandlung konnte beginnen. Die Anklage stützte sich auf gewissenhafte Erhebungen. Die Voruntersuchung hatte erdrückendes Beweismaterial ergeben. Gegenstand der Anklage: bewußte Verbreitung einer Krankheit, die verheerender ist als die asiatische Pest, weil sie den gesamten geistigen und sittlichen Bestand unserer Welt bedroht. Sie tritt unter den verschiedenartigsten Formen auf, sowohl als offene Raserei wie auch als unterirdischer Brand. Als Blutrausch und als Schizophrenie. Als Generationspsychose wie als Affektepilepsie. Sie ist ansteckender als jede andere bekannte Seuche und verwandelt die von ihr Betroffenen in unzurechnungsfähige Maniaken. Ihr äußeres Kennzeichen ist der Haß. Ein Haß, der allen Kitt zerbricht, alle Bindungen löst, die menschlichen und die göttlichen, und an finsterer Wut ohne Beispiel in der Geschichte ist. Ihre größte Gefahr, daß ihr am widerstandslosesten die Jugend erliegt. Mittels der Bezauberung durch gewisse Worttoxine bewirkt sie eine völlige Anästhesie des Herzens und eine Erschütterung der lebenswichtigsten Grundgefühle.« Er schwieg ein paar Sekunden und preßte die Hand vor die Augen. »Es war auch ein Verteidiger zugegen«, fuhr er fort; »er wendete ein: Wir haben es mit einem einzelnen zu tun. Einem zufälligen Repräsentanten, der selber Opfer ist, bewußte Übertragung ist zu leugnen, die Ansteckung geht vom Charakter aus, an dem er unschuldig ist. Das Argument war leicht zu entkräften. Wenn es mir gelingt, einen virulenten Bazillus zu isolieren, der etwa die Ausstrahlungskraft eines Radiumatoms hat, werde ich mich doch nicht besinnen, ihn unschädlich zu machen. Gewöhnliche Bakterien sind schon imstande, durch die harte Schale der Vogeleier zu dringen, die geistig-seelischen Infektionen sind viel unaufhaltsamer, ihre Keimträger spotten jeder Vorkehrung. Den Tod, den sie in sich tragen, kann man nur durch den Tod abwehren, den man ihnen gibt. Sie verstehen, Andergast. Sie verstehen mich. Ich riskierte nichts. Der Entschluß genügte. Wir haben alkalische Gifte von augenblicklicher Wirkung. Chemisch kaum nachweisbar. Minimale Dosis, Morphiumspritze dazu, die Prophylaxe ist vollzogen ...« Er erhob sich schwerfällig, Etzel zu gleicher Zeit mit ihm. Sie sahen einander an. Kerkhoven breitete die Arme zur Seite und ließ sie mit dumpfem Geräusch wieder an die Hüften fallen. Er ging auf und ab, auf und ab, die rechte Hand im Nacken. Er sagte: »Es kam nicht dazu. Der Mann Joseph Kerkhoven konnte nicht. Der Mann Joseph Kerkhoven kann das überhaupt nicht. Ob es für ihn spricht oder gegen ihn, lasse ich dahingestellt. Was unterscheidet mich von dem Menschen, der den Entschluß in die Tat umgesetzt hätte? Dieses Ich, das festgefrorene, unentrinnbare prästabilierte Ich. Vielleicht wäre es geschehen, wenn meine Nase um zwei Millimeter länger oder kürzer wäre oder wenn ich im Gangliensystem meines Gehirns einen Zentralfaden weniger oder mehr hätte. Wer kann das wissen ...« – Etzel machte ein paar Schritte und trat ihm in den Weg. Er legte beide Hände sacht auf Kerkhovens Arm. Seine Lippen zuckten. Er sagte: »Die Sache Lorriner-Andergast legen wir zu den Akten, Meister. Ja?«

Kerkhoven sah auf die Uhr. Halb drei. »Teufel, Teufel«, rief er, »höchste Zeit, sich in die Koje zu begeben.« Im selben Moment klopft es leise. Durch die Tür zum Speisezimmer trat Marie ein. »Verzeih, Joseph«, sagte sie schüchtern, »ich will nicht stören, aber es ist doch schrecklich spät. Ich konnte nicht schlafen, hatte ein bißchen Herzklopfen, und wie ich ins andere Zimmer ging, hörte ich dich sprechen. Du mußt doch auch mal ruhen, Joseph. Seien Sie mir nicht böse, Herr von Andergast«, wandte sie sich an Etzel, »ich bin sonst keine besorgte Henne, aber der Mann treibt Raubbau mit seiner Gesundheit. Wirklich, er sündigt geradezu.« Sie trug einen langen Schlafrock aus blaugrünem Samt, der ihrer Gestalt etwas Blumenhaftes verlieh. Wie sie so auf der Schwelle stand, in zaghafter Haltung, von der Ungehörigkeit ihres Eindringens überzeugt, die sprechenden blassen Augen in dem blassen Gesicht vorwurfsvoll auf ihren Mann gerichtet, erinnerte sie entfernt an die Figur des Engels in der Verkündigung von Lorenzo di Gredi. (Blume, Engel; der Leser wird denken, es sei des Guten zuviel, und den Verfasser einer gerührten Vorliebe beschuldigen; das mag sein, schon weil es wohltuend ist, nach all den harten und trostlosen Erörterungen eine freundliche Stimme zu vernehmen. Außerdem hatte ihr unerwartetes Erscheinen zu dieser Stunde etwas Befreiendes und Unwirkliches.) Kerkhoven ging auf sie zu und sagte: »Du hast recht, Marie. Es ist ein Unfug. Wir waren aber gerade im Begriff, die Sitzung aufzuheben. Geh nur, Liebste. Ich komme noch einen Moment zu dir hinüber.«

Etzel glaubte die Spur eines schmerzlichen Spottes auf Maries Lippen wahrzunehmen. Mit diesem Eindruck verließ er das Ehepaar. Er sagte sich: ich fürchte, der Meister vernachlässigt die Frau ein wenig, es sieht mir ganz danach aus.

Am andern Mittag war Marie bei Tisch. Bisher hatte Etzel mit Kerkhoven allein gegessen, wenn er sich nach der Hausfrau erkundigte, hieß es, sie sei zu Bett. Aber erst seit Etzel im Hause war, hielt sie sich von den gemeinschaftlichen Mahlzeiten fern, sonst hatten sie ihr die einzige Gelegenheit geboten, eine halbe Stunde mit ihrem Mann zu verbringen, es mußte ihr schon recht elend gehen, wenn sie darauf verzichtete. Sie nahm es auch geduldig hin, daß alle zehn Minuten eine telefonische Nachricht kam, von Doktor Römer unten oder von der Anstalt oder von einem Patienten, zu einer gemütlichen Unterhaltung war Kerkhoven zu benommen, oft hörte er kaum hin, wenn sie sprach, dann machte sie aus ihren Händen ein Schallrohr und rief ihn laut beim Namen, wie wenn man jemand über die Straße hinweg anruft. Er schreckte empor, lächelte beschämt und beugte sich über den Tisch, um abbittend ihre Hand zu küssen, die sie ihm resigniert überließ. Das war die Regel. Trotzdem freute sie sich seiner Gegenwart. Seit Etzel wiederhergestellt und gewissermaßen Mitglied der Familie geworden war, legte sie auf dieses Beisammensein zu dreien keinen Wert mehr. Der fremde junge Mann als täglicher Tischgast hätte sie täglich in eine fremde Gesellschaft versetzt. Sie wäre längst nach Lindow gefahren, wenn ihr nicht jede Ortsveränderung eine Mühe gewesen wäre und sie sich nicht vor dem Aufenthalt auf dem Gute gefürchtet hätte.

Heute hatte sie sich schon beim Erwachen wohler gefühlt als an den Tagen vorher, es war herrliches Hochsommerwetter, die trockene Wärme machte sie ganz glücklich. Um elf Uhr war sie in die Stadt gegangen, um Besorgungen zu machen, und hatte zu ihrer freudigen Überraschung Unter den Linden Tina Audenrieth getroffen (geborene L'Allemand, wir wissen von ihr), die sie seit sechs Jahren nicht gesehen; im letzten Jahr war sogar der Briefwechsel zwischen ihnen eingeschlafen. Sie hatten einander viel zu erzählen gehabt, zwei Stunden waren nur so verflogen; »beinah hätt' ich sie zum Essen mitgebracht«, schloß sie ihren lebhaften Bericht. – »Schade, daß du's nicht getan hast«, sagte Kerkhoven, »ich hätte sie gern wiedergesehen, sie war mir ja immer besonders angenehm.« – »Ich glaube, ihr habt sogar mal einen kleinen Flirt gehabt«, erwiderte Marie. – »Ja, einen winzig kleinen, äußerst puritanischen. Ist sie immer noch so sehr gehalten, so sehr Dame?« – »Ich fürchte. Ich hoffe. Du kannst dich ja bald davon überzeugen. Sie will in Berlin bleiben und bei ihrer Jungverheirateten Tochter in Dahlem draußen wohnen. Wir haben verabredet, daß sie im August für eine Woche zu mir nach Lindow kommt. War' schön, wenn's wahr wäre. Wird ja nicht wahr sein.« – »Warum nicht? Warum so skeptisch?« – »Dinge, auf die man sich freut, treffen selten ein. Außerdem, Tina ... du weißt ja ... sie ist ein Pflichtenathlet.« Ein Schatten flog über ihr Gesicht, dann erhellte es sich wieder. »Richtig, noch etwas wollt' ich dir erzählen. Kennst du eine Miß Eleanor Marschall?« Kerkhoven und Etzel sahen beide wie auf Kommando verwundert empor. »Sie war gestern bei mir. Sie berief sich auf die Bekanntschaft mit dir. Ich soll einem internationalen Komitee von Frauen und Müttern beitreten. Irgendwo in Afrika soll ein Jugendneuland gegründet werden. Ich sagte ihr, daß mir so was gar nicht liegt, wer bin ich denn, die Frau von Joseph Kerkhoven. Nun, ist das nicht genug? fragte sie. Nicht genug, um den Namen öffentlich für mich auszunützen, mußt' ich ihr antworten. Schließlich, um sie loszuwerden, hab' ich ihr versprochen, mit dir darüber zu reden.« – »Du kannst ihr ruhig den Gefallen tun«, sagte Kerkhoven, »es hat keine Bedeutung.« – Etzel schüttelte stumm den Kopf. Kerkhoven lächelte. Marie sah fragend von einem zum andern. »Natürlich hielt sie mich für eine hoffnungslose Kleinbürgerin«, fuhr sie fort; »erst den Mann um Erlaubnis bitten; ein so rückständiges Wesen ist ja nicht ernst zu nehmen. Ich konnte ordentlich riechen, wie sie mich verachtete. Aber eine interessante Frau. Alles knistert an ihr, und sie sagt einem kaltblütig haushohe Schmeicheleien. Ich hab' das ganz gern. Hierzulande wird man in der Beziehung nicht verwöhnt, alle Menschen glauben, sie verstoßen gegen die sittliche Weltordnung, wenn sie einem nicht Wahrheiten sagen, die man um keinen Preis zu hören wünscht. Übrigens erkundigte sie sich auch nach Ihnen, Herr von Andergast. Sie schien zu wissen, daß Sie bei uns wohnen.« Etzel verbeugte sich, ohne eine Bemerkung zu machen.

Am Nachmittag gegen sechs Uhr ließ er durch das Mädchen bei Marie anfragen, ob er einige Minuten mit ihr sprechen dürfe. Die gnädige Frau erwarte ihn, wurde ausgerichtet. Sie saß in ihrer kleinen Bibliothek am offenen Fenster, das einen schönen Ausblick auf den Platz der Republik und eine unermeßliche Fläche grüner Baumwipfel gewährte. Die Atmosphäre war wie mit Goldstaub gesättigt, ein Flugzeug schwebte mit dünnem Geklapper über dem Brandenburger Tor. Dieses Bild blieb seinem Gedächtnis für immer eingegraben: die dunkle Silhouette der Frau gegen die rosiggoldne Luft, das endlos hingebreitete grüne Blättermeer im Rahmen des hohen Fensters, das Gesicht mit dem eigentümlichen Bernsteinschimmer der Augen, das sich ihm freundlich-fragend zukehrte. Und noch etwas, wovon er mehr wußte, als daß er es wahrnahm, Kerkhoven hatte ihm eine Andeutung gemacht, an der Gestalt merkte man freilich kaum eine Veränderung: aber das bloße Wissen erfüllte ihn mit einer scheuen Ehrfurcht, wie er sie einer Frau gegenüber noch nie verspürt hatte. Deshalb sprach er auch mit leiser Stimme, als ihn Marie zum Sitzen aufgefordert und sich erkundigt hatte, was ihn zu ihr führe. Sie hatte gedacht, er habe irgendeinen Wunsch wegen des Quartiers, sie erinnerte sich, daß der Dusche-Hebel im Gästebad nicht funktionierte und schon lange hätte gerichtet werden müssen; sie hatte es anzuordnen vergessen, überhaupt machte sie sich Vorwürfe, daß sie den jungen Mann noch nicht einmal gefragt, ob er mit seiner Unterkunft zufrieden sei, das wenigste, wozu sie als Hausfrau verpflichtet war. Nun, es ging eben in allem und jedem bergab mit ihr, nicht der einfachsten Aufgabe war sie mehr gewachsen, geschah ihr schon recht, wenn sie sich durch den Gast mahnen und beschämen lassen mußte. So war sie nicht wenig verwundert, als ihr Etzel den Grund seines Besuches auseinandersetzte. Sie hatte sich an das Gefühl ihrer Unzulänglichkeit in allen häuslichen Dingen schon so gewöhnt, daß sie fast enttäuscht war, als die erwartete Bestätigung ausblieb. Natürlich war das eine fixe Idee von ihr; wenn sie auch seit dem Beginn ihrer Schwangerschaft den nüchternen und langweiligen Trott des Haushalts noch nüchterner und langweiliger empfand als sonst und körperliche Schwäche wie auch eine gewisse Stumpfheit des Gemüts (an der sie mehr litt als an allem andern) ihre Willenskraft und Arbeitslust lähmten, besaß sie doch so viel Erfahrung, so viel Überlegenheit, daß ihr die Aufrechterhaltung der Ordnung keinerlei Schwierigkeiten bereitete. Sie hatte nie zu den Frauen gehört, die ihre häuslichen Lasten zur Schau tragen und durch laute Klagen und stumme Dulderblicke den Eindruck erwecken wollen, als seien sie zu Größerem geboren, als Speisezettel zu machen und Rechnungsbücher zu führen. Dergleichen haßte sie, solchen Geschöpfen ging sie in weitem Bogen aus dem Weg; wenn sie das Materielle und Äußerliche der Existenz nicht spielend meistern konnte, was war sie dann denen wert, die davon den Nutzen haben sollten, und was war eine Leistung wert, die erst durch Schweiß beglaubigt und durch das schlechte Gewissen der andern bezahlt werden muß? So erlernte sie das »Spiel«, obschon es manchmal ermüdend genug war und die dabei nötige gute Miene einige Selbstüberwindung kostete. Es war auch nicht bloß Glück oder Zufall, daß sie ihre Leute seit Jahren hatte; sie liebten sie und sahen ihr alle Wünsche von den Augen ab.

Wunderlich, was der junge Mensch da redete. Warnung vor Eleanor Marschall. Marie dürfe sich auf keine Weise mit ihr einlassen. Bestechende Eigenschaften könnten nicht geleugnet werden, allein ohne die gäbe es ja keinen zureichenden Anlaß für einen Schritt, der, er sei sich darüber klar, sehr mißdeutet werden könne. Er habe ernstlich überlegt, ob er zu einer so ungewöhnlichen Demarche berechtigt sei; so heiße es ja in der Diplomatensprache, er finde kein besseres Wort dafür; doch habe er sich gesagt, er sei es dem Meister schuldig und er sei es der gnädigen Frau schuldig. Der Meister nehme solche Dinge zu leicht; er denke zu groß; er stehe zu hoch, als daß er sich um das Gekrabbel unter ihm viel kümmern könne, es dringe einfach nicht zu ihm hinauf. Auch spürten so lautere Naturen gar nicht das Zweideutige und Zweifelhafte einer Person wie Neil Marschall, die durchaus kein schlechter Mensch sei, durchaus nicht, die aber zwischen echt und unecht, heilig und unheilig, wahr und unwahr nicht zu unterscheiden wisse, und das sei gefährlicher und verhängnisvoller, als wenn einer ausgesprochen schlecht sei. Er habe das am eigenen Leib erfahren, er kenne sie, er kenne sie gut. Wahrscheinlich brauche sie den Meister zu einem bestimmten Zweck, sie handle nie ohne bestimmten, fast immer sehr edlen Zweck, und deshalb trachte sie zunächst, die gnädige Frau für sich zu gewinnen; sei man aber einmal von ihr eingefangen, dann käme man schwer wieder los, sie habe eine tolle Kraft im Beherrschen und Festhalten.

Marie hörte sich das alles stillverwundert an. »Aber lieber Herr von Andergast«, sagte sie, als er geendet hatte, »Sie machen sich überflüssige Sorgen. Beruhigen Sie sich. Bis mich jemand einfängt, wie Sie's nennen, hat es gute Wege. Es gibt da nicht viele Lockungen.« – Etzel betrachtete sie neugierig. »Interessieren Sie sich denn nicht für Menschen?« fragte er. – »Doch. Aber mehr auf Distanz. Mehr als Zuschauer.« – »Ist das nicht ein Luxusstandpunkt?« – Marie lachte leise vor sich hin, als hätte sie den Einwand erwartet. »Ganz gewiß«, antwortete sie, »warum soll ich mir den Luxus nicht erlauben? Oder finden Sie, daß ich nicht das Recht dazu habe?« – Er hatte die dunkle Empfindung, ihr zu nahe getreten zu sein, und murmelte etwas Entschuldigendes. – »Macht nichts«, spottete Marie, »ein kleiner Nasenstüber. Das tut nicht weh.« – Komisch, dachte er, das nennt sie schon Nasenstüber. In ihrem Ton war eine Ablehnung, die ihn verdroß, eine Müdigkeit, die ihm Mitleid einflößte. Ich bin ihr entschieden unsympathisch, sagte er sich und überlegte, welche seiner Eigenschaften ihr mißfielen. Vermutlich waren es nicht einzelne Eigenschaften, sondern seine ganze Person. Dem ließ sich schwer abhelfen. Soviel er wußte, waren Frauen in solchem Zustand reizbar und launenhaft, das hatte er zu bedenken, darauf war Rücksicht zu nehmen, auch um des Meisters willen, vielleicht gelang es ihm zu anderer Zeit, Gnade vor ihren Augen zu finden. Wenn es sich aber herausstellte, daß er ihr als Hausgenosse unerwünscht, als Mensch zuwider war, dann konnte seines Bleibens hier nicht länger sein, dann mußte er seine Siebensachen zusammenpacken und sich trollen, und zwar schleunig, sonst hielt sie ihn am Ende für einen Kleber und Schmarotzer. Doch wie sich darüber vergewissern? Er konnte ihr nicht in seiner gewohnten Manier zu Leibe rücken. Er hatte Angst vor ihrem Spott, vor ihrem hintergründigen Lächeln, sogar vor ihren Gedanken. Sie schüchterte ihn ein, alles, was er sagte, erschien ihm als Verstoß, er war wütend über seine Unbeholfenheit, und während er sich mit etwas finsterer Eile verabschiedete, kam er zu dem Schluß, daß diese »Demarche« kein besonders geistreicher Einfall gewesen sei.

Bei der ersten Gelegenheit, die sich bot, sprach er mit Kerkhoven über den in ihm aufgetauchten Zweifel. Kerkhoven sagte: »Grillen, mein Lieber, die müssen Sie sich aus dem Kopf schlagen. Es war die Idee meiner Frau, Ihnen das Logis anzubieten, daraus können Sie ersehen, wie falsch Ihre Vermutung ist.« Etzel war keineswegs überzeugt, aber er tat, als wäre er es. Und so war auch Kerkhoven nicht sicher, ob Marie, die wenig Verstellungskunst und noch weniger Verstellungslust besaß, sich ihre Abneigung nicht zu deutlich habe anmerken lassen. Als sie ihm berichtete, daß Andergast bei ihr gewesen, nickte er und erwiderte, leider habe Etzel den Eindruck gewonnen, daß er ihr als Gast nicht angenehm sei; er trage sich mit der Absicht, das Haus wieder zu verlassen, was sehr zu bedauern sei, da er doch eben erst begonnen habe, sich mit der Neuordnung seines Lebens zu befreunden. Marie sagte verstimmt, sie könne sich nicht erinnern, ihm Grund zur Beschwerde gegeben zu haben, sie sei im Gegenteil ganz besonders nett mit ihm gewesen, einen wie wunderlichen Anlaß er sich auch für seinen Besuch ausgedacht habe. Sie betonte das Wort »ausgedacht«, weil sie der Meinung war, daß er sich lediglich von verstandesmäßigen Erwägungen leiten ließ und niemals von einem Gefühl. Kerkhoven wußte von dem Anlaß nichts, er hatte an eine bloße Höflichkeitsvisite geglaubt; als ihm Marie erzählte, was der junge Mann von ihr gewollt, lachte er hellauf. »Wenn ein Mensch nie aus seinem Charakter herausspringt, wirkt er auf die Dauer wie ein Witz«, sagte er. Es gab kein besseres Mittel, Marie aufzuheitern, als wenn er lachte. Da vergaß sie alles, was sie bedrückte, es wurde ihr leicht ums Herz, am liebsten hätte sie seine Hand gepackt, um ihm zu danken. Die freudige Aufmerksamkeit, mit der sie ihm zuhörte, als er ihr die ernste, durchaus nicht aus der Luft gegriffene Ursache von Etzels Warnung erklärte, war der stumme Teil dieses Dankes. Sein Auge allein bewirkte plötzlich, daß sie innerlich schwankend wurde und sich fragte, ob sie mit ihrer Empfindung gegen Etzel Andergast im Recht sei.

Ja, es ist wahr, sie hat sich steif und hochmütig benommen, nicht bloß dies eine Mal, schon immer. Was mag der Grund sein? Der wirkliche, nicht der, den sie sich vormacht? Sehr einfach: sie gehört nicht mehr zur Jugend, sie lebt nicht mehr richtig mit. Schmerzliche Betrachtung, aufrüttelnde, da sie bis vor kurzem noch den Glauben in sich genährt hat, sie sei nur durch Ungunst der Umstände von der lebendigen Welt abgeschnürt und es bedürfe eines geringen Anstoßes, vielleicht eines Anrufs nur, damit die unverbrauchten inneren Kräfte wieder in Fluß kämen. Hat sie sich darin getäuscht? Ist sie auf einer der vielen kleinen Haltestellen des Lebens liegengeblieben, ohne es zu merken? Kann einem das überhaupt geschehen? Natürlich kann es, weiß man denn von sich selber, wo man steht? So ist sie also fertig mit ihren kaum sechsunddreißig Jahren? Unversehens, sozusagen über Nacht? Von Jahr zu Jahr hat sie sich damit vertröstet, daß das Entscheidende erst noch kommen werde, der große Aufschwung, die große Wende, und wenn der Todeszug der Tage den unveränderlich ermattenden Rhythmus einhielt, hat sie insgeheim ihre letzte Hoffnung auf eine physiologische Kulmination gesetzt, als ob die Natur etwas schenkte, wenn der Mensch es ihr nicht abringt und seinen Preis dafür zahlt. Auch diese Frist ist wohl schon vorüber, obgleich sie in jeder Hinsicht eine Verspätete ist wie alle, die frühreif waren und ihre Existenz zu früh gesichert, ihre Kämpfe zu rasch ausgekämpft haben. Ja, sie ist lässig geworden, hat keine Kühnheit mehr, kein Brio, keine Spannung, ist nur stundenweise gehoben und tätig erglüht, läßt sich gern fallen, ist leicht ermüdet, schnell überdrüssig, von einem nicht sehr widerstandsfähigen Körper schlecht bedient. Schmerzlichste Betrachtung. Alles ist ja erwiesen durch den einen Fall: Ein Mann wie Joseph nimmt einen jungen Menschen in sein Leben auf, schenkt ihm grenzenloses Vertrauen, wird von ihm nicht nur als Meister angesprochen, sondern geht auch mit ihm um wie der Meister mit seinem erwählten Jünger; dafür muß er ausreichende Gewähr haben, triftige Gründe, es kann kein sanguinischer Traum sein, es muß einer dahinterstehen, der solche Erwartungen auch zu erfüllen vermag, oder Kerkhoven ist nicht Kerkhoven. Und sie? Sie tut, als ginge es sie nichts an, spielt die zweifelnde Beobachterin, stellt sich abseits, um sich überheblich zu verschließen. Das ist nicht mariehaft, ganz und gar nicht, Gott weiß, woher es kommt, es ist wie ein Unkraut in ihr, man muß es ausjäten.

Als sie am andern Nachmittag von der Stadt nach Hause kam, begegnete ihr Etzel im Flur. Er grüßte ehrerbietig und wollte vorbeigehen, sie hielt ihn auf. Er verneigte sich, um ihre Hand an die Lippen zu ziehen, aber statt ihm die Hand zu überlassen, nahm sie seine und drückte sie. Die Geste, mit der sie auf eine Förmlichkeit verzichtete, die nicht selbstverständlich genug war, um bloße Förmlichkeit zu sein, erfreute ihn sichtlich, seine Augen leuchteten auf. Sie erkundigte sich, ob er sich in seinem Quartier wohl fühle, ob er Wünsche habe, er solle sich mit allem an sie wenden, jetzt könne sie sich wieder um das Hauswesen kümmern, in der letzten Zeit sei es ihr gar zu schlecht gegangen, zu nichts habe sie sich aufraffen können, hoffentlich trage er ihr das Versäumte nicht nach. Er schüttelte eifrig den Kopf, bestürzt über die Annahme, er könne neben allem, was man ihm gewährt, noch Forderungen stellen; zuerst dachte er, es seien liebenswürdige Redensarten, aber von dieser Meinung kam er gleich wieder ab, jedenfalls klangen sie bei ihr anders als bei andern, nichts war leer und äußerlich, was sie sagte, es hatte alles einen bestimmten Schliff und eine eigentümliche Wahrheit. Als sie ihn fragte, ob er eine Tasse Tee mit ihr trinken wolle, verneigte er sich abermals in seiner überförmlichen Art, und wieder leuchteten die Augen. Marie wunderte sich über sich selbst, die Einladung war ihr bloß so herausgerutscht, sie hatte ein wenig Angst vor einem neuerlichen Beisammensein, wozu sollte es führen, es war schwer, sich mit ihm zu verständigen, er fing jedes Wort auf wie einen Ball, den man zurückwerfen muß, unter allen Umständen, auch wenn er dem Partner an den Kopf fliegt. Ein Sport, der eher anstrengend als vergnüglich war, sie liebte es nicht, auf dem Qui vive zu stehen. Es begann auch gleich so. Offenbar glaubte er, ihr ungewohntes Entgegenkommen sei weniger auf ihren eigenen Impuls aus auf den Wunsch Kerkhovens zurückzuführen, der ihn auf diese Weise überzeugen wollte, daß er sich ohne Grund über Maries Kälte beklagt hatte. Dies ließ er durchblicken, und obwohl es nur eine zaghafte Andeutung war (als sei es ihm ein peinlicher Gedanke, daß man sich ihm gegenüber Zwang auferlege), errötete Marie vor Unwillen. »Müssen Sie denn um jeden Preis gerade das Unmögliche sagen? Muß das sein?« fragte sie. Und dann ruhiger, spottend: »Halten Sie mich für eine kleine Hausgans, die von ihrem Eheherrn Vorschriften über ihr Tun und Lassen bekommt wie ein Angestellter von seinem Chef?« Als er erstaunt und beschämt den Kopf senkte, tat er ihr leid. Lächelnd suchte sie ihm begreiflich zu machen, daß es nicht ganz taktvoll sei, ihr einen Beweggrund zu unterschieben, den sie nicht widerlegen könne, auch nicht widerlegen wolle, weil sie ihm durch Verteidigung das Recht zur Anklage einräume. Stehe es denn schon so mit ihm, daß er überall Verschwörung und heimliche Abrede wittere, nichts von der Freiheit und Einsicht der andern erwarte, alles nur vom Zweck? Sei das seine Erfahrung? Er warf den Kopf zurück und sagte kurz und schroff: »Ja.« Da sah sie ihn erschrocken an. Er hatte, während sie redete, immerfort auf ihren Mund geschaut. Im Fall und Fluß der Stimme war etwas außerordentlich Beruhigendes, man hätte stundenlag lauschen mögen. Ihr war es ja nichts Neues, daß ihr die Menschen auf den Mund starrten, wenn sie sprach; es irritierte sie stets, diesmal besonders, und um seinem naiv zudringlichen Blick zu entkommen, betrachtete sie angelegentlich ihre auf den Knien gefalteten Hände. Nun hatte er Zeit, die schöne, klare Stirn und die jugendliche Linie des Halses zu bewundern, überhaupt die jugendliche Grazie der ganzen Erscheinung, das reizvoll Schmiegsame und Gelassene des mädchenhaft wirkenden Körpers. Sie sah nicht wie eine Mutter von drei Kindern aus, von denen eines nahezu erwachsen war. Daß sie die Frau des Meisters war, Gefährtin, Vertraute, allernächster Mensch, fast eines Fleischs und Bluts mit ihm, erfüllte ihn immer mit der nämlichen ehrfürchtigen Scheu, es ließ sie ihm unnahbarer erscheinen als eine Königin, in solcher Weise konnte eine Königin gar nicht unnahbar sein, es erweckte den halb knabenhaften, halb mystischen Wunsch in ihm, sie zu schützen, als sei er der Oberst einer imaginären Leibwache. Von ihr mußte viel über das vergangene Leben des Meisters zu erfahren sein, schon oft hatte ihn verlangt, mehr davon zu kennen, als er durch Kerkhovens spärliche Mitteilungen wußte; wenn er den Weg des Mannes überschaute, von der Kindheit an, würde sich manches Unerklärliche enträtseln lassen, seine große Macht über Seelen, seine seltsam unschuldige und dämonische Weisheit, das herrliche Gleichmaß seines Charakters, die zauberische Mischung von Dumpfem und Hellem, von Nüchternheit und Besessenheit, von Erdverhaftung und Flug. (Die Vorstellung des gläubigen Jüngers, übersehen wir das nicht.) Ein solches Wesen läßt sich erst begreifen, wenn man sein Wachstum kennt, ohne Hintergrund und Wurzel ist kein Mensch faßbar, wird jeder ein bißchen zum Gespenst. Marie direkt zu fragen, wagte er nicht, er fürchtete, sie würde sein wahrhaftiges Bedürfnis für unschickliche Neugier halten, das hätte er ihr nicht verzeihen können, spürte er doch in allen Nerven, bis zur Qual fast, ihren Argwohn, ihre vorsichtige Zurückhaltung. Um sie mitteilsam zu machen, mußte er ihr Zutrauen gewinnen, das war schwer, es standen ihm keine Mittel dafür zu Gebote. So schien es ihm wenigstens. Vielleicht wenn er wider seine sonstige Gepflogenheit auf alle Absicht verzichtete, auf Künste und Listen, wenn er zwecklos wurde, wie sie gesagt hatte, unwollend, vielleicht dann? Aber das war auch nicht leicht, die Art, in der man mit Menschen umgeht, ist wie ein um den Leib gegossener Panzer, entledigt man sich seiner, so ist man hilflos wie ein Kind bei der Geburt, einzig dem Meister gegenüber war es möglich gewesen, ein einziges Mal, und was hatte das gekostet. Es war ein erlösendes Gefühl, als Marie, wie wenn sie seine verworrenen und trotzigen Gedanken erraten hätte, plötzlich selbst von Kerkhoven zu sprechen anfing; sie hatte freilich nichts weniger im Sinn, als ihm Aufschlüsse zu geben und sich über Josephs vergangenes Leben auszulassen, sie wollte im Gegenteil von ihm Aufschluß haben, über manches, was sie an dem ungewöhnlichen Verhältnis beunruhigte und beschäftigte; alles, was Joseph ihr darüber gesagt hatte und was sie aus dem Brief an Sophia von Andergast wußte, hatte immer nur die eine Seite der Beziehung beleuchtet, und ein wirkliches Gespräch, bekennend, das Verborgene großmütig eröffnend, war aus seinem und ihrem Leben verschwunden. Wenn der junge Mensch da in seiner Frische und seinem Enthusiasmus das Vermutete, Geahnte, Stückwerk ihres Denkens, zum Bilde fügen konnte, brauchte sie nicht mehr in furchtloser Grübelei und, geben wir es endlich zu, in geisterhafter Eifersucht viele Stunden ihrer Nächte hinzubringen. (Sie hatte dafür einen ungemein malenden Ausdruck, sie nannte es: sich das Herz abessen.) Ihr Instinkt hatte sie nicht betrogen. Vom ersten Wort an wurde alles wundervoll klar.

Dies war nun ein Band. Selbstverständlich konnte das Thema nicht an einem Nachmittag erschöpft werden. Zum Schluß hieß es: »Sie kommen doch wieder?« – »Wie Sie befehlen, gnädige Frau. Wann?« – »Sagen wir übermorgen.« – »Um dieselbe Zeit?« – »Ja. Es ist mir die liebste Stunde. Gewöhnlich fühl' ich mich erst gegen Abend halbwegs menschlich. Sind Sie denn frei?« – »Ich kann's in jedem Fall einrichten.« – »Gut. Wir haben ja noch viel zu reden. Sind grade am Anfang, nein?« – »Es kommt mir auch so vor, gnädige Frau.« – Und er richtete es ein. Er gehörte zu denen, die, bei beliebig langen Pausen, jedes Arbeitspensum bewältigen können, weil sie durch Intensität den regelmäßigen kleinen Fleiß ersetzen. Zudem kann man den Tag ausdehnen so lang man will, so früh beginnen wie man will, vier Stunden Schlaf genügen. Der verabredete Tag war ein Mittwoch, dann vergingen drei Tage, ohne daß sie einander sähen, am Sonntag brachte er ihr ein Buch, von dem er das vorige Mal gesprochen hatte, am Montag sagte ihm Kerkhoven, seine Frau wolle nach Lindow hinaus, sie leide unter der Hitze in der Stadt, wahrscheinlich werde sie bis zum Spätherbst draußen bleiben. Als Etzel zu Marie kam, lag sie abgespannt auf dem Langsofa im kleinen Eckzimmer; ihrer Absicht, aufs Gut zu fahren, erwähnte sie nicht. Sie hatte die Lust verloren. In dieser Unentschlossenheit spürte er einen geheimen Widerwillen, über dessen Natur sie sich wahrscheinlich keine Rechenschaft gab; es mußte etwas sein, wovor sie sich fürchtete und was ihr schmerzliche oder widerwärtige Gefühle einflößte, so daß sie lieber den Aufenthalt in dem ihr unbehaglichen Stadthaus ertrug, dessen ganze Atmosphäre sie unglücklich machte. Sie konnte keinen Augenblick vergessen, wieviel Leid und Not und Jammer täglich in ihm zusammenströmte, das im einzelnen Ungewußte blieb darum nicht unempfunden, es sickerte durch die Wände, zwischen denen sie immer und immer allein war. Und doch konnte sie sich nicht aufraffen, trotzdem ihre Augen vor Ergriffenheit feucht wurden, wenn sie von ihrem Lindower Garten sprach, den sie Jahr um Jahr betreut und um dessentwillen sie mit wissenschaftlicher Akribie botanische Studien getrieben hatte; trotzdem ihre Buben draußen waren, denen sie fehlte, wie sie ihr fehlten. Das alles wußte Etzel bereits. Teils hatte sie es ihm gesagt, teils hatte er es aus Andeutungen erraten. Was war da los? Er wagte eine schüchterne Frage, sie schloß abweisend die Lider, ohne daß es ihr völlig gelang, eine winzige Genugtuung darüber zu verbergen, daß er fragte. (Es gab also einen Menschen, der es überhaupt bemerkte! Aber Geständnisse fordern, Vertraulichkeiten austauschen, wo denken Sie hin, so weit sind wir noch lange nicht.) Er begnügte sich mit ihrem Schweigen, weil es so beredt war und weil er erkannt hatte, daß Verschwiegenheit ein Grundzug ihres Wesens war. Ein verschwiegener Mensch hat etwas ästhetisch Tröstliches, fand er, es geht eine Wirkung von ihm aus wie von einem schönen, stolzen Tier. Zum gemeinsamen Abendessen sagte er ab, dafür schickte er ihr einen Korb mit frischen Reseden, zwischen denen drei große Schwertlilien standen. Kerkhoven sagte: »Nett, riesig nett, das gefällt mir von ihm, auch darf man dein Verdienst dabei nicht übersehen, Marie, du hast ihn ja zum Ritter erzogen.« – »Meinst du?« erwiderte Marie zweifelnd und sah nachdenklich auf die Blumen herunter. Gegen zehn Uhr, Kerkhoven mußte die Nacht in der Anstalt verbringen, klopfte es zaghaft an der Tür, Etzel trat ein und fragte ebenso zaghaft, wie sein Pochen gewesen, ob er ihr eine Viertelstunde Gesellschaft leisten dürfe. Marie schüttelte verwundert den Kopf. »So spät? Ich sollte längst im Bett liegen. Ich bin müd. Aber weil Sie ein so schlechtes Gewissen haben, was sich ja auch gehört, mag's ausnahmsweise sein.« Da begann er schon wieder mit ihr zu streiten und sagte, von schlechtem Gewissen sei keine Rede; erstens; und zweitens sei schlechtes Gewissen etwas Häßliches und in diesem Fall etwas Undiskutables, damit behaftet würde er sich gar nicht in ihre Nähe trauen. »Ach Gott«, spottete Marie, »was für ein aufgeregter Querulant. Ich bitte tausendmal um Verzeihung, junger Herr. Ich hoffe nicht, daß Sie bloß deswegen zu nachtschlafender Zeit hereingekommen sind, um noch mit mir zu kabbeln und unangenehm zu sein.« Er schaute sie verblüfft an. Nein, das sei nicht der Grund gewesen, sagte er mit jenem spitzbübischen Lächeln, das sie gern an ihm hatte, ganz was anderes. Also was? Er solle gestehen. Nun, er möchte, daß sie morgen nachmittag mit ihm nach Wannsee zu einer Wasserpartie fahre, er habe sich alles genau zurechtgelegt, es würde sie bestimmt nicht ermüden, sei es auch nicht die große Natur, jene, die einem die Illusion verschaffe, daß man sie für sich allein besitze, Landschaft sei es doch; er habe den Meister gefragt, ob er ihr den Vorschlag machen solle, der Meister sei entzückt gewesen und habe die Idee glänzend gefunden. Marie überlegte. Es war verlockend. Flucht aus dem Gefängnis. Ein bißchen verdroß es sie, daß er sich zuvor mit Joseph beraten hatte. Glaubte er, dessen Gutachten oder gar Erlaubnis einholen zu müssen? Das sah ja wirklich nach Gefangenschaft aus und als habe man sich an den Wärter zu wenden, der den Torschlüssel verwahrte. (Unsinn, rief sie sich zu, ärgerlicher Unsinn! »Wir wollen sehen«, sagte sie zu dem gespannt Wartenden, »ich kann's noch nicht versprechen. Ich gebe ihnen bis Mittag Bescheid.« Dann schickte sie ihn fort. Am andern Nachmittag, bei strahlendem Wetter, fuhr sie mit ihm über die Avusbahn hinaus.

Hier klafft eine Lücke, die noch auszufüllen ist, denn jeder wird fragen, was es mit jenen Anfangsgesprächen auf sich hatte, die Marie so viel Wissen und Beruhigung gaben, daß sie alles in einem andern Licht sah. Diese Gespräche, die sich ausschließlich um die Person Joseph Kerkhovens drehten, waren aber nicht bloß der Auftakt ihrer Verständigung mit Andergast, sie bildeten für lange Zeit auch deren Grundton, ja in den ersten Wochen die einzige Brücke, die sie zueinander führte. Es war in der Tat ein unerschöpflicher Stoff. Wenn Etzel einmal begonnen hatte, konnte er nicht fertig werden. Er erstaunte Marie durch den Reichtum seiner Beobachtungen, die Tiefe seiner Anschauung, das Feuer seiner Bewunderung. Wenn man lange neben einem Menschen lebt, wird der Blick für ihn stumpf, es scheint fast, daß die allzu genaue Kenntnis seines Charakters sein Bild in ein tötendes Einzelwissen zerstäubt, erst vom Fremdwerden aus kann man es wieder erneuern, erst durch die Augen der Welt es wieder sehen lernen. Etzel war für sie die Welt, und sie wußte auf einmal, wie weltlos sie gewesen und geworden war, er war der Fremde, der eine Ferne schuf, aus der sich Joseph erhob wie ein Berg, dessen Höhe und Masse man nur von weitem beurteilen kann. Sie lauschte beglückt. Sie ließ sich hinreißen. Er schenkte ihr den Mann wieder, so kam es ihr vor, den sie aus ihrem Sinn nahezu verloren hatte. Mit Schrecken erkannte sie, wie wenig sie von seiner wirkenden Gegenwart wußte, wie flüchtig sie von der Strahlung berührt war, durch die er Menschen verwandelte und Menschen auferstehen ließ. Selbst eine Vergangene, das war nun einmal ihre resignierte Vorstellung von sich, hatte sie auch ihn zum Vergangenen getan und die Glocken nicht gehört oder nicht hören gewollt, die zu seiner Wiedergeburt läuteten. War es so? Man mußte prüfen, man mußte abwarten. Vielleicht stand das richtende Ja oder Nein diesem erglühten Jünger zu, dem Fremden, dem man sich aber trotzdem nicht verraten und ausliefern durfte. Was für ein Mensch das war; wie starker Wein, wie aufwühlender Wind. Das Zeugnis, daß er mit allen Fibern und jedem Blutstropfen lebte, ja lebte, lebte, lebte, konnte man ihm nicht verweigern.

Dabei hatte er eine sachlich-nüchterne Art, von Kerkhoven zu sprechen, namentlich wenn er ihn bei der Arbeit schilderte. Er schien alles nur von handwerklichen Gesichtspunkten aus zu betrachten und stellte es so klar und präzis dar, daß man das Gefühl hatte, er selber sei in dem Handwerk vollständig zu Hause. Durch den Mangel an Überschwang wirkte das unbedeutendste Detail glaubhaft, und jene eisige Unerbittlichkeit der Folgerung und Kritik, die Marie immer so fatal gewesen war, weil sie so schlecht zu ihrem Begriff von Jugend, von junger Männlichkeit paßte (sie sah allmählich ein, daß sie in dieser Beziehung wie in mancher sonst gründlich umzulernen hatte), zeigte ihr jetzt ein anderes Gesicht, nicht eben ein liebenswertes, aber eines, das respektiert werden mußte, gerade von ihr, der alle Flunkerei, alles wesenlose Sichbegeistern so unleidlich war. Dieser Andergast verstand sich auf die bezeichnenden und unterscheidenden Züge, das Einmalige, das eine Figur heraushebt aus der Umgebung, sie in ihrer kleinsten Lebensäußerung unverwechselbar macht. Sonderbar, daß das Charakteristische zum Lachen reizt; vielleicht nennt man es deswegen treffend. Ja, es »trifft«; als Junge habe ich immer lachen müssen, wenn ein Schütze ins Schwarze der Scheibe traf. Aus ähnlichem Grund brach Marie in ihr ansteckendes Jungmädchengelächter aus, wenn Etzel eine Redewendung, eine Geste Kerkhovens, sein verträumt-zerstreutes Über-Leute-Wegschauen, das skurrile Nebeneinander von wuchtiger Schwere und eiliger Beweglichkeit bezwingend richtig wiedergab und der mächtige Mann deutlich wie im Blitzlicht dastand. Immer bei gewahrtem Abstand und mit einer fast heiligen Scheu, alles mit der großen Liebe gesehen, der Spaß verstand sich am Rande. Die Wahrnehmung kleiner Schwächen an großen Menschen entlastet vom Druck der Verpflichtungen, die sie einem durch ihr Dasein auferlegen. Etzel hatte jetzt häufig Gelegenheit, den Meister in der Ordination und im Verkehr mit den Anstaltspfleglingen zu beobachten; er hatte sogar Aufzeichnungen darüber gemacht, die er Marie vorlas, wobei er versicherte, das Wesentliche sei in Worte nicht zu fassen, sei überhaupt nicht wiederzugeben, so elementar sei bisweilen Wirkung und Eindruck. In den allerletzten Tagen hat sich folgendes ereignet. Der Meister wird aus der chirurgischen Klinik angerufen, er soll zu einem jungen Menschen kommen, der seit Wochen dort liegt und über heftige Knie- und Hüftschmerzen klagt, für die eine organische Ursache nicht zu finden ist. Er geht hin, sieht sich den Menschen an, es ist ein siebzehnjähriger Junge, spricht eine Weile mit ihm, dann sagt er zu ihm: Kommen Sie morgen um elf in meine Sprechstunde, und zwar zu Fuß. Der Kranke schaut ihn entsetzt an und antwortet: Das kann ich nicht, ich kann ja nicht einmal vom Bett aufstehen und mich anziehen. Der Meister lächelt und sagt im ruhigsten Ton: Sie werden sicher aufstehen, Sie werden sich auch ankleiden, Punkt elf Uhr melden Sie sich bei mir. Assistenzarzt und Pfleger schütteln die Köpfe, lassen durchblicken, der Meister bemühe sich umsonst, ausgeschlossen, daß der Mensch dazu zu bringen sei. Am andern Tag um elf ist der junge Mann im Wartezimmer. Er ist zu Fuß gekommen. Auf Krücken. Er hat zweieinhalb Stunden zu dem Weg gebraucht, aber er ist gekommen. Der Meister unterhält sich lange mit ihm, vermeidet es aber, von seinem Leiden zu sprechen, beim Abschied sagt er: Morgen kommen Sie wieder, aber ohne Krücken. Dasselbe Entsetzen, dieselben Beteuerungen des Unvermögens, der Meister bleibt ungerührt, streicht ihm nur freundlich über die Wangen. Am nächsten Morgen erscheint der Mensch tatsächlich ohne Krücken. Diesmal hat er drei Stunden gebraucht, aber er ist da. Am dritten Tag legt er den Weg in anderthalb Stunden, am vierten in vierzig Minuten zurück, was fast die normale Zeit ist. Erinnert das nicht an die Wunder, von denen in der Bibel erzählt wird? Steh auf und wandle! – »Ja, aber was ist mit ihm? Was lag denn vor?« fragte Marie gespannt und interessiert. – Das habe sich erst nach und nach ergeben, fuhr Etzel fort, die Hauptgeständnisse habe man ihm nur in der Tiefenhypnose entreißen können. Sechzehnjährig ist er zu Verwandten nach Berlin gekommen, in das Haus eines von ihm sehr geliebten Onkels. Bürgerliche Familie in der Auflösung. Das Übliche, viel Verkehr, viel Betrieb, alles lebt von der Hand in den Mund und mit der Devise: nach uns die Sintflut. Der junge Mensch, halbes Kind, merkwürdig unverdorben, blickt fassungslos in einen Abgrund wohlanständiger Verkommenheit. Was andern seines Alters kein Achselzucken mehr wert ist, wirft ihn über den Haufen. So was gibt es. Im Jahr neunzehnhundertachtundzwanzig gibt es das noch. Die Zerrüttung, die Verwilderung, der Betrug jedes an jedem, er wird nicht fertig damit. Was ihm besonders zu schaffen macht, ihn überhaupt nicht zur Ruhe kommen läßt, sind die zerstörten unglücklichen Ehen, die er kennenlernt, all diese zahme Raserei, die Frechheit des Scheins, die unsinnige Gier. In ähnlichen Worten hat er seine Empfindungen später zu Papier gebracht. Gott mag wissen, warum ihn gerade das so verstörte, vielleicht durch eine religiöse Veranlagung, vielleicht ist er in einem Gefühlskreis aufgewachsen, wo solche Erfahrungen nicht hindringen konnten, das meint auch der Meister, die Eltern, beide tot, sollen in einer vorbildlichen Ehe gelebt haben. Da geschieht es eines Tages, daß ihn die junge Frau seines Onkels verführt. Der Mann ist verreist, sie kommt heimlich in sein Zimmer, das alles hat er genau geschildert, mit einer selbstquälerischen Lust am einzelnen sogar, unter Tränen und Schluchzen. Natürlich will er die Frau nicht verraten, der Onkel hängt an ihr, liebt sie über alles, er kommt und kommt nicht darüber weg, die Sünde frißt an ihm, das seelische Leiden, das ist ja der gewöhnliche Weg, setzt sich in körperliches um, das heißt, der Körper erklärt sich bereit, Schmerzen zu haben und die Innenlast dadurch zu erleichtern. Er hat einen Posten, wo er den ganzen Tag stehen muß, das ist der gegebene Vorwand, in den Beinen und Hüften melden sich die unerträglichen Schmerzen, die in Wirklichkeit gar keine sind. Der Meister sagte ein Wort, das Etzel zu denken gab, nämlich man ersehe aus dem Vorgang, daß das Gewissensorgan in jungen Menschen viel entwickelter und geschärfter sei, als man zugeben wolle, und daß zu keiner Zeit so zahlreiche und schwere Gewissenskonflikte bei der Jugend aufgetreten seien wie in dieser, die man doch einer besonderen Roheit und Gefühlskälte beschuldige. – Ja, das sei wahr, meinte Marie, wenn es sich wirklich so verhalte, sei es fast ein Trost; wie stehe es aber mit der Heilung, damit sei doch wenig getan, daß man die Ursache aufdecke, was geschehe mit einem solchen Menschen, was erwarte diesen Siebzehnjährigen, der an der Schwelle des Lebens dauernd geschädigt worden sei, was habe er gewonnen, wenn er Ursprung und Sitz der Verletzung kenne und man überlasse ihn dann seinem Schicksal? Das eben sei der springende Punkt, stimmte Etzel kopfnickend zu, an der Stelle sei man bisher vor dem Unüberwindlichen gestanden, aber Kerkhoven gehe jetzt einen neuen Weg, er, Etzel, könne natürlich nicht sagen, ob nicht schon andere denselben Weg gingen oder gegangen seien, für Kerkhoven sei es immerhin terra incognita, er müsse sich langsam vortasten, ganz von vorn beginnen. Habe der Meister nie mit ihr davon gesprochen? – Nein, nie. – Komisch; er äußere sich wohl selten über seine Pläne gegen sie? – Ja, selten. Um was handle es sich denn, wenn er darüber reden dürfe. – Es handle sich um Erweckung der Vorstellungskraft. Bei der Mehrzahl der Menschen sei die Vorstellungskraft entartet und krankhaft geschwächt, bei vielen gänzlich erstorben. Der Meister habe erkannt, daß seelische Zerrüttungen und Gemütsdepressionen oft auf einem kaum nachweisbaren, aber gleichwohl flagranten Defekt beruhten, einer Verkümmerung oder Verkrüppelung der Phantasie. – »Und wie will er dem Übel beikommen?« fragte Marie mit großen Augen. – »Die Versuche sind noch im Anfangsstadium«, erklärte Etzel; »es werden da sehr merkwürdige Messungen vorgenommen; Gedächtnisprüfung; es gibt Grade der Sinnesempfänglichkeit; die Familiengeschichte spielt eine Rolle; vieles, vieles. Der Meister glaubt an eine Heilbarkeit nur vor der Erstarrung im Berufsleben. Er greift auf die Disziplinen des Ignaz von Loyola zurück. Den hält er für einen der tiefsten Seelenkenner, die je gelebt haben. Selbstverständlich übernimmt er nur, was ihm brauchbar erscheint. Alles ist so einfach, zum Lachen manchmal, als ob man Wilde vor sich habe. Der Betreffende muß sich eine Form einprägen, einen Gegenstand, ein Gesicht, ein Tier, ein Bild so lange anschauen, bis er es vollständig besitzt. Er muß es in seine Sinne nehmen und jederzeit genau beschreiben können, auch wenn man ihn aus dem Schlaf weckt. Ein bestimmter Vorgang wird inszeniert, er muß ihn mit allen Einzelheiten in der Erinnerung aufbewahrende länger er es kann, je mehr Umstände ihm gegenwärtig sind, je höher steht er auf der Stufe der Konzentration. Er muß weg von sich selber, weg von seinen persönlichen Interessen, den überflüssigen Ballast ausräumen, mit dem sein Geist und seine Seele angestopft sind. Es ist ein psychisches Fasten, Entfernung von Wucherungen. Der Meister sagt, er sei sich vollkommen bewußt, daß das uralte Mittel und Erkenntnisse seien, kultische, bei uns vergessen und verachtet, auch Loyola habe dort angeknüpft, wo er und ein paar andere Heutige die Überlieferung wieder aufnähmen. Er hofft bald so weit zu sein, durch die Resultate beweisen zu können, daß die Methode richtig ist. Er drückt sich ja immer so bescheiden aus. Wenn man einen Menschen zur reinen Anschauung erziehen könnte, was ja nur eine Idee und realiter unmöglich ist, sagt er, könnte man neun Zehntel der gesamten Schulmedizin über Bord werfen; auch die Ursache fast jedes Verbrechens, behauptet er, liegt darin, daß der, der es begeht, es sich nicht einbilden kann ...«

Marie sah Etzel schweigend und mit einer gleichsam selbstvergessenen Neugier an. »Ich verstehe eins nicht recht«, sagte sie, die verschränkten Arme auf die Knie stützend und sich zu ihm vorbeugend, »diesen Beruf zu ergreifen, ist doch nicht Ihre Absicht, soviel ich weiß, wenigstens hat es mir Joseph gesagt ...«

– »Nein, es ist nicht meine Absicht.« – »Warum aber dann ...«

– »Sie meinen, warum ich dann in dem Fach herumdilettiere?« – »Nicht gerade das. Es könnte ja eine Liebhaberei sein ...« – »Ich hab' keine Liebhabereien, gnädige Frau.« – »Wirklich nicht? Armer Mensch. Aber ich wollte fragen, warum Sie sich dann mit solcher Verve an Joseph angeschlossen haben. Lenkt Sie das nicht von Ihrem Ziel ab?« – »Ich habe auch kein Ziel, gnädige Frau.« – Marie richtete sich auf und steckte den kleinen Finger ihrer Rechten zwischen die Lippen, was bei ihr ein Zeichen höchster Verwunderung war. »Wie, kein Ziel? Sie müssen doch einen Beruf im Auge haben? Sie studieren doch. Sie sind doch eine aktive Natur. Mehr als das, Sie sind doch ...« – »Ich weiß, was Sie sagen wollen, Frau Marie. Aber ich kann Ihnen darauf nicht antworten. Das ist ja meine schwache Stelle. Die partie honteuse. Ich sehe tatsächlich nicht zehn Schritt nach vorwärts. Es gibt Staatenlose, geächtete Leute, Freiwild, die gehören nirgends hin und dürfen nirgends bleiben, so gibt's auch Beruflose, die sind vielleicht noch übler dran, denen ist noch schwerer zu helfen. Ich habe keine Ahnung, nicht die allerleiseste, was mit mir los ist, wozu ich Talent habe, wo ich nützen kann, wo ich in Reih und Glied treten und was damit gewonnen sein soll. Ein unhaltbarer Zustand. Seh' ich ein. Die Sache wird mir auch allmählich unheimlich. Was soll ich aber tun?« – »Wie kommt es dann, ich muß immer wieder dasselbe fragen, daß Sie sich Joseph Kerkhoven zum ... zum Vorbild, oder soll ich sagen zum Führer gewählt haben? Warum nennen Sie ihn Meister? Das ist doch sehr ungebräuchlich ... einem Arzt gegenüber. Wie ist Ihnen das eingefallen? Worin ist er denn Ihr Meister?« – Etzel zog die Brauen zusammen, die glatte Stirn wurde runzlig. »Das ist so zu verstehen: Baumeister; Wegmeister. Als ich zum erstenmal seine Hände sah, wußte ich, in die kann man ruhig sein Schicksal hineinlegen. Sie sind wie ein Safe. Ich träume nicht viel. Mit meinen Träumen ist's nicht weit her. Aber einmal träumte mir, es war kurz nachdem ich ihn kennengelernt, ich hätte um mein Leben zu rennen, und plötzlich, noch außer Atem, steh' ich im Hohlraum zwischen seinen Händen, das war ein fabelhaftes Gefühl von Sicherheit. Wenn man die beiden Hände nebeneinander betrachtet, sehen sie aus wie die Zwillingssöhne seiner Stirn. Und dann: in seinem Kopf ist eine Ordnung wie in einem Planetarium. Fehlerlos. Alles auf dem richtigen Platz. Alles in seiner Folge und seinem Rang. Wo gibt es das noch? Es kommt nicht mehr vor. Einzigartig. Man muß ihn beneiden, man muß ihn hassen.« – »Wieso denn hassen?« rief Marie, und ihre Augen wurden vor Erstaunen rund. – »Wenn die magische Strahlung nur eine Sekunde aussetzt, muß man ihn hassen.« – »Das kann ich nicht begreifen.« – »Seien Sie froh. Es ist ... es hat nämlich was Unmenschliches.« – »Sie sind absurd, Etzel.« – Er schüttelte heftig und mit finsterer Miene den Kopf. Dunkel ahnte Marie, was in ihm gärte. In seiner eisigen Selbstsicherheit konnte er völlig unberechenbar werden und das verleugnen, was ihm am heiligsten war. So empfand sie es. Es machte sie ängstlich. Das Unberechenbare an einem Menschen erfüllte sie mit Angst. Als er bei einer späteren Gelegenheit in das andere Extrem fiel und mit einer Leidenschaftlichkeit, die etwas Fanatisches hatte, von der rettenden Tat sprach, die Kerkhoven an ihm vollbracht (»hat mich einfach gepackt und aus dem Dreck gezogen wie ein Riese, ja, wie ein gewaltiger Zauberer, her mit dem Zwerg, untern Sauerstoffapparat mit ihm, ins Reinigungsbad, nie werd' ich das vergessen, nie, nie«), da war ihr auch dabei nicht ganz geheuer, sie war nah daran zu sagen: Still, still, nicht so wild, nicht so krampfig, gelassener, gelassener ... Das war an dem Tag, wo sie seiner Bitte Gehör schenkte und auch ihrerseits von Kerkhoven erzählte, den früheren Jahren, als er noch um sich und seine Bestimmung rang; von seiner ersten Ehe mit Nina und was Nina für eine Frau gewesen; von ihrer ersten Ehe; von Irlen und Irlens Freundschaft und Irlens Krankheit und Irlens Tod und wie dieser Abgeschiedene gleich einem Schicksalsgott noch immer über ihrem und Josephs Leben stehe; die schweren Jahre bis zu Ninas Tod; die schweren nachher; und wie jeder Sturm ihr Zueinandergehören befestigt, wie keine Mühsal und Finsternis, kein Glück und Gelingen nur eines betroffen, immer zugleich beide im geschlossenen Ring, als wär's von Anfang der Zeiten so gefügt. Etzel hörte zu wie ein Kind. Er verwandte kein Auge von ihr. Sie sprach ganz gebärdenlos. Ihre Haltung war von der größten Einfachheit. An den »blassen Blumen« schienen die Bilder aus der Vergangenheit sanft und klar vorüberzugleiten. Die Stimme bewahrte ihre gleichmäßig hinfließende Melodie; auch darin war Haltung. Der Hauch von Schwermut über den Worten wurde gemildert durch das oft wiederkehrende helle Lächeln und die phantasievolle Lebhaftigkeit der Rede. »Wunderbar haben Sie das erzählt«, murmelte er nach einem langen Schweigen und nickte in seiner Weise vor sich hin, der Weise eines uralten Mannes, der viel erlebt hat. Dann kam der erwähnte Ausbruch.

Nicht immer geht es so friedlich zwischen ihnen zu. Weit gefehlt. Seine Manieren sind es, durch die er Maries Geduld auf harte Proben stellt. Nicht als ob er unhöflich wäre. Er befleißigt sich sogar einer gewissen dressierten Artigkeit, die sie als Tanzstundenreminiszenz bezeichnet, obgleich er nie eine Tanzstunde besucht hat. (Gott bewahre.) Er verbeugt sich tadellos; er weiß, was sich schickt; er beobachtet die gesellschaftlichen Formen, aber er tut es mit einer Art von aufgeblasener Überlegenheit, als ob er sich das bißchen Theater auch noch leisten könne. Das ist es eben, was Marie ärgert. An den inneren Manieren gebricht es ihm. Sie sagt es ihm ohne Scheu. Sie nimmt sich kein Blatt vor den Mund. Schon gar nicht, wenn sie erzürnt ist. Da blitzen ihre Augen, und ein Temperament kommt zum Vorschein, das niemand in ihr vermutet hätte. Sie versucht, ihm zu erklären, was ihr an seinem Benehmen auf die Nerven fällt. Er will es nicht einsehen. Er bockt. Er ist rechthaberisch. Er ist präpotent. Er verträgt auch sonst keinen Widerspruch. Wenn er sich herbeiläßt, ihn anzuhören, macht er von vornherein ein besserwissendes Gesicht, zieht die Stirn kraus und schockelt traurig mit dem Kopf. Marie unterbricht sich dann mitten im Satz und starrt ihn wortlos an. Groß. Verblüfft. Das bringt ihn zur Besinnung, er erschrickt, kriegt rote Ohren und wetzt betreten auf seinem Stuhl. »Sie sind furchtbar streng mit mir, Frau Marie, viel strenger als der Meister«, sagt er kleinlaut. Worauf sie schlagfertig entgegnet: »Ein Mann sieht halt nicht die Bäume, eine Frau sieht wieder nicht den Wald.« Sie hat bald heraus, daß er bei all seiner Freiheit und frühen Erfahrung voller kleiner Vorurteile und Verbohrtheiten steckt; es ist das, was sie die Orthodoxie der Ketzerei nennt. Natürlich weiß sie, er ist kein Ketzer, eher alles andre, sie weiß schon, wer und was er ist, sie spürt sein spezifisches Gewicht und eine nicht zu formulierende Besonderheit, aber hat nicht jede Geistesrichtung ihren Aberglauben, und sind nicht alle Eiferer im Grunde Pedanten? Er ist bei alledem naiv, ja, das ist er, treuherzig in seiner schonungslosen Offenheit, das versöhnt mit ihm. Sonst könnte sie ihn kaum aushalten. Sie verhehlt es ihm nicht. Sie hat nicht viel übrig für eine Aufrichtigkeit, um die sie nicht gebeten hat. Sie gibt ihm zu verstehen, es stünde ihm zuweilen besser an, bescheiden abzuwarten, bis man ihn um seine Meinung fragt. Muß er immer mit der Tür ins Haus fallen, gleichviel, was für Verlegenheiten daraus entstehen? Hat der Konvent, dessen Mitglied er ist, durch einen Ukas Zartsinn, Rücksicht, Takt, Finesse ein für allemal abgeschafft? Sie wägt und erwägt. Sie will gerecht sein. Sie will nicht verallgemeinern, sie will in ihm den einzigen Etzel Andergast sehen, nicht was ihm die Generation aufgebürdet hat und was er der an Art und Unart schuldig zu sein glaubt. Er interessiert sie über die Maßen. Auch das verbirgt sie nicht. Es ist Botschaft von draußen, die sie durch ihn empfängt. Der Bote soll sie nicht enttäuschen, es soll ein angenehmer und umgänglicher Bote sein. Er ist es nicht, wenigstens nicht immer. Entschlossener Mensch, mutig und unerschrocken, gewiß, das sind Eigenschaften, für die sie viel übrig hat, sie entsprechen ihr, sie flößen ihr Achtung und Zutrauen ein, doch fehlt es an Zucht, es ist alles noch so roh. Geistig vollkommen unbestechlich, ist er nicht fähig, eine Schwäche zu entschuldigen, ein Zugeständnis auch nur zu begreifen. Immer hart auf hart. Immer in Fechterpositur, auch wenn weit und breit kein Feind zu erblicken ist. Er erinnert an die Ritter der alten Zeit, Gipfel des Ungemütlichen, die in der Rüstung zu schlafen pflegten. Er atmet in verdünnter Luft und liebt zu fliegen, auf dem Boden bewegt er sich täppisch wie der Raubvogel, der nicht gehen kann. Sie will ihm helfen, er entzieht sich der Hilfe. Er kapiert nicht, was sie an ihm anders haben möchte. Es ist so wenig, dennoch weigert er sich, es anzunehmen. Vielleicht versteht er ihre Sprache noch nicht. Er ist mißtrauisch gegen ihr Idiom. Etwas Unprivates ist an ihm, etwas abstoßend Unverbindliches wie an einem, der nie ein Heim gehabt, nicht Vater noch Mutter, nicht Bruder noch Schwester. Sie muß an Josephs Wort von der entbehrten Zärtlichkeit denken, viel öfter, als sie wünscht, muß sie daran denken. Etwas reizt, etwas quält sie an dem Wort. Vermutlich dasselbe, was sie an dem Menschen reizt und quält. Er ist von einer Kälte, die brennt. Manchmal, wenn er aus dem Zimmer gegangen ist, empfindet sie diese Kälte als physischen Schmerz, und er dauert sie, wie einen ein Krüppel dauert. Wenn er seine Ideen auskramt, wie es hie und da geschieht, hat sie ein zusammenziehendes Gefühl in der Magengegend; alles gefrorener Wille. Man müßte ihn auftauen, sagt sie sich, auf den Ofen legen. Sie läßt sein Verhältnis zur Welt nicht gelten. Lebensverachtung, Todesverachtung sind ihr ein Greuel. Barbarisch schilt sie es, neudeutsches Heidentum heißt sie es. – »Ich weiß, Sie sind eine Humanistin«, höhnt er, »wir lehnen den Humanismus ab.« Fertig. Der Humanismus ist erledigt. – »Unglückliches Volk«, sagt sie, erschüttert von dieser Mitteilung und faltet die Hände. – »Der Beweis liegt auf der Straße«, fügt er großartig hinzu. – Und sie: »Wirklich? Tut er das? Natürlich nur, wenn Blut fließt. Rotes Blut? Ist es noch rot bei euch? Oder ist es schwarz wie Tinte?« – Möglich, daß er sich aufspielt. Man streitet oft aus Pietät für eine Überzeugung, die man schon aufgegeben hat, oder weil man dem Gegner nicht das Recht zugesteht, sie anzugreifen. Eine Frau; eine solche Frau; zu fein; zu zart; zu gepflegt; zu kultiviert; was weiß sie denn, was kennt sie denn? Es ist ihm nie ganz behaglich, wenn er mit ihr über dergleichen Dinge disputieren soll. Er hat dabei ein Gefühl wie der Matrose auf einem Schiff, wenn ihn ein Passagier aus der ersten Kajüte in die Unterhaltung zieht; man muß ihm ja die gewöhnlichsten Seemannsausdrücke erklären. Er hält ihre Teilnahme, ihre Wißbegier für ein Amateurvergnügen, bestenfalls für die soziale Nervosität, von der nach und nach die Gesicherten ergriffen werden. Solang sie auf den Rücksichten besteht und auf den Formen herumreitet, kann er ihr nicht sein Herz auf den Tisch legen. Am Ende würde sie dann das Lorgnon nehmen und es mit einem luxuriösen Gruseln betrachten. Nein, er muß sich umstellen. Er muß immer ein bißchen simulieren. Sie ist ein außergewöhnliches Wesen, täglich überrascht sie ihn durch eine neue Seite ihres Charakters und Geistes, aber vielleicht will sie ihn doch nur einfädeln und ihren Zeitvertreib mit ihm haben, ihr Leben scheint ja nicht ausgefüllt zu sein, und ehrgeizig ist sie auch, allerdings in einer sublimen, unpersönlichen Weise, wie er es an Frauen nicht kennt. Marie errät seine Gedanken, durchschaut seine Vorbehalte. Sie kann ihm nicht beweisen, daß er unrecht hat. Welcher Beweis wäre zulässig? Welcher ginge nicht wider den Stolz? Es sind Verdächtigungen, gegen die sie sich nur wehren kann, wenn sie sich schweigend treu bleibt. Soll sie vielleicht um ihn werben? Er ist imstande, sich das einzubilden. Sie muß Zurückhaltung üben, sonst könnte er sie mißverstehen. Sie hat ähnliches schon erfahren. Sie gibt sich zu unbefangen, das wird mißverstanden, Männer sind maßlos eitel. Es ist vorgekommen, daß aus ihrer natürlichen Freundlichkeit Folgerungen gezogen wurden, vor denen sie entsetzt war. Da sie niemals mit falschen Karten spielt, vergißt sie, daß die wenigsten Menschen an ehrliches Spiel glauben. Darum Vorsicht. Kaum nimmt Etzel ihre ungewohnte Kühle wahr, da erkundigt er sich schon besorgt, ob er ihr Anlaß zur Unzufriedenheit gegeben habe. Aha, das Hündchen beginnt schon reuig zu wedeln. Sie weicht aus, sie will sich nicht auf Erörterungen einlassen, er gibt aber nicht nach und ist so bemüht um sie, so aufgeschlossen, so gelehrig, daß sie ihm alles verzeiht; er hat wirklich eine ursprüngliche Liebenswürdigkeit. Man darf ihn nur nicht übermütig werden lassen, man muß ihn kurzhalten. Für ihn ist es etwas Neues: daß man sich bemühen muß, ernstlich bemühen, um die gute Meinung einer Frau nicht zu verscherzen. Daß man sich nicht ohne weiteres in die Wolle setzen kann, weil man sich einer halbwegs angenehmen Visage erfreut und gelegentlich zu schwadronieren versteht. Langsam dämmert ihm die Erkenntnis, mit wem er es zu tun hat. Es ist ihm zumute, als habe er einen weltentlegenen verzauberten Garten betreten, in dem die unerwartetsten Entdeckungen zu machen sind. Dies darf er sich nicht als Verdienst anrechnen, er ist auf gut Glück hineingestolpert, nun muß er erst sehen, wie er sich zurechtfindet. Es ist eine unbekannte Welt, von dornigen Hecken umgeben. Großes Erstaunen: das also ist Joseph Kerkhovens Frau! Sitzt in klösterlicher Unzugänglichkeit und hütet den heimlichen Teil seiner Existenz. Nicht als dienstbarer Geist, nicht als Haushälterin mit dem Schlüsselbund, wie er sich das vielleicht vorgestellt hat: als Herrin. Der Herr und die Herrin. Seltene Sache. Verdammt noch mal, der Mann hat auch das verstanden. Auch das hat ihm das Schicksal gewährt ... Eines Tages ereignet es sich in Kerkhovens Wartezimmer, daß zwischen zwei politischen Gegnern, jungen Leuten, die einander zufällig dort treffen, ein bösartiger Wortwechsel entsteht, in dessen Verlauf der eine den Revolver aus der Tasche zieht und den andern niederknallt. Wildwestszene unter haßgeladenen Hysterikern. Bei dem Gespräch, das sie darüber führen, hat Marie wie in einem Traum den Eindruck, als ob Etzel immer weiter von ihr fortgleite und sich schließlich in Dunst auflöse. Vergeblich jedes Wort. Er ist so weit weg, daß sie schreien müßte, um von ihm gehört zu werden, da schweigt sie und sitzt mit bestürztem Gesicht da. Sie hat das gewisse Frieren, das sie überfällt, wenn ein Tag ohne Lichtblick ist und ohne Ende scheint. Etzel denkt, er habe wieder irgend was verbrochen, und fragt mit schuldbewußter Miene nach der Ursache ihres Schweigens. Sie schüttelt den Kopf. Sie bittet ihn zu gehen, sie sei müde. Er gehorcht zögernd, am andern Tag fängt er wieder davon an. Sie müsse ihm unbedingt sagen, weshalb sie gestern so verstimmt gewesen sei. Sie lächelt. Verstimmt? Das sei nicht der richtige Ausdruck. Seine Ahnungslosigkeit rührt sie beinah. Prüfend irrt ihr Blick über sein Gesicht, legt einen langen Weg über Fenster und Wände zurück und bleibt endlich auf dem Smaragd an ihrem Finger haften. Leise sagt sie und stockt nach jedem Satz, sie habe nicht viel Hoffnung, sich ihm verständlich machen zu können. Sie hat einmal in einer Welt gelebt, die noch nicht bis zum Kern durchfault war von der Lüge, noch nicht in die Adern hinein vergiftet von der Raserei aller gegen alle. Es ist einmal ein Gott gewesen, der mit milder Hand Früchte austeilte, auch für die Verzweifelten, die Gnadenlosen, für die Letzten der Letzten noch. Es hat Bilder und Gebilde gegeben, mit denen der Mensch reich war, weil sie ihn erfüllten, und Zeichen, die über aller Wut und Verwirrung unverlöschbar am innern Himmel leuchteten. Sie klagt nicht um dieses Vergangene. Es mußte wohl vergehen. Die Uhr war abgelaufen. Was sie nicht ertragen kann, ist der Gedanke, daß ihre Existenz keine Berechtigung mehr hat. Es ist etwas Gesetzloses daran, etwas Gespensterhaftes. Sie schämt sich dieses Zustandes. Sie schämt sich brennend. Sie fühlt sich gedemütigt. Sie schämt sich, wenn sie unter Menschen geht, sie schämt sich vor ihren Kindern und vor sich selbst. Und nicht bloß deshalb, weil sie dieses finster gewordene, gänzlich entwertete Leben nicht mitleben kann und als Weib, als Frau und Mutter mit doppelt gebundenen Händen dasteht, viel mehr noch, weil sie sich den Mächten verschuldet fühlt, von denen sie alles empfangen hat und die nun auch in ihrer Seele zu sterben beginnen. Sind es nur noch abgelebte Schatten, jene, die Führer, die Götter, die Sterne ihrer Jugend, oder ist das, was sie umgibt, ein Schattenreich? Sie verstummt erschrocken. Was redet sie denn, sie schließt sich auf, sie stellt sich zur Schau, wie unbesonnen! In dem leidenschaftlichen Verlangen nach Schönem zieht sie eine Mappe mit Reproduktionen venezianischer Bilder auf ihre Knie und schlägt sie auf. Etzel rückt näher zu ihr hin, als wolle er ebenfalls die Bilder betrachten, aber es ist die unwillkürliche Bewegung des Schwachsichtigen, er möchte ihre Züge näher haben, ihre Mienen genauer sehen, denn zu erstaunlich war es ihm, dies alles aus ihrem Mund zu vernehmen. Ungeduldig breitet er die Hand über das aufgeschlagene Blatt, sie soll sich jetzt nicht mit solchen Dingen beschäftigen, sie soll nun auch ihn anhören. Sie tut ihm den Gefallen, es hat wenig Zweck, aber sie stellt sich erwartungsvoll. Er sagt, sie sei das Opfer eines Trugschlusses. Es gibt keinen Bruch zwischen den Zeiten. Es gibt den Einschnitt nicht, den nur die Phantasie vorspiegelt, wenn sie uns um Gegenwart und Augenblick betrügt, was ihr heimtückisches Bestreben stets ist. Das Epochengefühl ist ein Bastard des Kalendergefühls, biologische Unhaltbarkeit, historischer Irrglaube. Alles Schaffende und Geschaffene ist in sich bezüglich. Alles Lebendige ist unendlich und unsterblich. Der Tod ist ein Denkfehler. – Das sei nur ein rebellisches Wort, wirft sie ein, was sollen ihr so verwegene Aphorismen, »eure Welt nimmt mich doch gar nicht auf.« – »Grund genug, sie zum Teufel zu schicken, wenn es wahr wäre. Es ist aber nicht wahr. Sie selber werfen ihr ja den Handschuh hin.« – »Ja, weil mir vor ihr graut.« – »So was zu sagen ist ihrer gar nicht würdig, Frau Marie.« – »Warum nicht? Eigentlich seid ihr lauter Mörder. Wer nicht selber mordet, läßt es zu, daß gemordet wird. Und das ist vielleicht noch ärger. Blutig oder unblutig, Mord muß sein. Soll einem da nicht grauen? Haben Sie vergessen, wie Sie gestern über den Rowdy gesprochen haben, der einem andern Menschen einfach den Schädel durchlöchert hat, weil ihm seine Gesinnung nicht genehm war? Ich hab' meinen Ohren nicht getraut. Als ob man an so einer Scheußlichkeit herumdeuteln könnte. Als ob es da ein Für und Wider gäbe. Als ob dieser Schrecken aller Schrecken auch noch kommentiert zu werden verdiente. Soziales Phänomen ... Um hochtrabende Tiraden seid ihr nie verlegen, wenn ihr uns einreden wollt, daß Anstand und Ehre überholte Begriffe sind. Wie ich diese Bereitwilligkeit hasse, jeden Sadismus, jede Bestialität mit dem schäbigen Mantel der Psychologie zuzudecken, diesen unausrottbaren Landsknechtsrespekt vor dem, was ihr Männer die Tat heißt, und von dem keiner ganz frei ist, der edelste nicht, wie ich das hasse, wie ich es hasse!« – Etzel will sie beschwichtigen, denn sie ist völlig außer sich, ihr Gesicht flammt. »War die Politik nicht von jeher ein unmenschliches Geschäft, Frau Marie? Wir haben sie nicht erfunden. Wir haben ihr nur die Tartüffmaske abgerissen.« – »So, habt ihr das? Ich gratuliere. Ich kann den Vorteil nicht sehen. Ob verderbte Greise hinter Polsterstühlen um Seelen schachern und Blutverträge schließen oder ob gerissene Desperados und grüne Jungens die Straße mobilisieren und den Terror predigen, wo ist da die Errungenschaft? Wo ist die Idee? Es sei denn, das ôte-toi que je m'y mette soll eine Idee vorstellen. Politik ... Das ist es ja, was einem das Herz erstarren läßt. Woraus besteht sie denn, eure Politik? Aus Geschwätz. Und wie gesagt aus Mord. Ein herrliches Paar, um damit in die Zukunft zu schreiten. Finden Sie nicht?« – »Jeder von uns steht in der Kette, Frau Marie. Der Eimer wird in der Kette weitergegeben.« – Das Wort bewegt sie durch seine Demut. Sie sieht ihn lange schweigend an. Endlich sagt sie, was sie schmerze, sei die vergeudete Kraft, all das vertane Seelengut, das später einmal, beim großen Überschlag fehlen würde; der politisch gerichtete Mensch sei zu innerer Verdorrung verurteilt, der ausschließlich sozial gestimmte nicht weniger, den Grund könne sie nicht angeben, es sei ein Gefühl, aber ein unerschütterliches, er solle einmal darüber nachdenken, auch sein eigenes Leben werde es ihm beweisen, zumindest an einem Beispiel, von dem sie zufällig Kenntnis habe. – Er hebt mit einem Ruck den Kopf. Was bedeutet das? Was meint sie? Wovon hat sie Kenntnis? – »Ich denke an Ihre Mutter, Etzel«, sagt sie mutig. – Er macht einen Katzenbuckel und blitzt sie böse an. Gib acht, Marie, du greifst in Heißes, verbrenn dir nicht die Finger. Aber Marie fürchtet sich nicht. Diese Sache hat sie schon lang gegen ihn auf dem Herzen. Oft hat sie sich schon vorgenommen, ihm ins Gewissen zu reden. Sie gesteht ihre Indiskretion, als sie vor Monaten den Brief Josephs und den Brief von Sophia von Andergast heimlich gelesen hat. Er preßt die Lippen aufeinander, sein Gesicht verfinstert sich. Marie beugt sich zu ihm vor, die Unterarme auf den Schenkeln, die Hände wie Schalen geöffnet, eine Haltung, die Freundschaft und Vertrauen ausdrückt und um Freundschaft und Vertrauen wirbt. Ihr Wesen ist verändert, keine Härte mehr, keine Bitterkeit, keine Kampflust mehr in den Augen, die Züge sind weich, ein anziehendes, fast verführerisches Lächeln verschönt sie. »Ich will gar nicht wissen, was vorgefallen ist, ich bin gar nicht neugierig danach, aber so darf es nicht bleiben, Etzel. Ist denn die Mutter eine Frau, die man stehenläßt wie eine abgedankte Geliebte? Was können Sie ihr vorzuwerfen haben, das sie nicht schon allein dadurch abgebüßt hat, daß Sie es ihr vorwerfen? Haben Sie mir nicht neulich von der Verkümmerung der Phantasie gesprochen? Nun, wie war's, wenn wir uns ein wenig bei der eigenen Nase zupfen würden? Ich weiß von Ihrer Mutter wenig. Ich weiß nur, daß es mir weh tut, an sie zu denken. Der Brief an Joseph damals ... ich konnte ihn nicht vergessen. Wann haben Sie ihr zuletzt geschrieben? Sie wissen es nicht mehr? Vielleicht überhaupt nicht? Versprechen Sie mir, daß Sie es tun werden. Morgen noch. Nein, heut noch. Wollen Sie mir das versprechen?« – Er wendet sich ab, er murmelt vor sich hin, er zerrt an seiner Krawatte, er windet und dreht sich, dann nickt er. – »Gut«, sagt Marie befriedigt, »geben Sie mir die Hand darauf.« Er schaute sie halb störrisch, halb scheu bewundernd an, atmet tief auf und gibt ihr die Hand.


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