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Es erwies sich, daß der Freund ebenfalls in bedrängter Lage war; mit seinem Stellungsgeber in Streit geraten, hatte er seinen Posten verlassen müssen und einen andern noch nicht gefunden. Wir lebten nun in folgender Art: Tagsüber schliefen wir in seinem Zimmer in Oberstraß, des Abends suchten wir ein Kaffee auf der Bahnhofstraße auf, wo der Freund einen Oberkellner kannte, der ihm Kredit gewährte. Dort tranken wir Milchkaffee und aßen eine Unmenge von Weißbroten, unsere ganze Mahlzeit für die Dauer von vierundzwanzig Stunden. Wir blieben bis spät in die Nacht sitzen, vertieft in Gespräche, dann gingen wir nach Haus, er legte sich in sein Bett, ich auf eine entliehene Matratze, und so sprachen wir weiter, bis der Morgen graute. Das Erlebnis in Freiburg hatte nicht aufgehört, mich innerlich zu quälen. Der Freund merkte, daß ich ihm etwas verbarg, denn bisher hatte ich es noch nicht über mich gewinnen können, ihm davon zu berichten, sondern als Ursache meiner Flucht einen gleichgültigen Zank angegeben. Mit Feinheit und Geschicklichkeit wußte er mir endlich das Verschwiegene zu entlocken, und nun drehten sich viele unserer nächtlichen Unterhaltungen um dieses eine Thema.
Der an sich unbedeutende Vorfall führte uns ins Allgemeine und Schicksalhafte und wieder zurück ins begrenzt Persönliche meiner Existenz; nachdem wir solcher Art viele Wege miteinander gegangen waren, öffnete sich plötzlich ein Abgrund zwischen uns.
Ich gestand ihm, was ich nicht verwinden konnte, was zu erkennen und zu benennen ich bisher auch von mir abgewendet hatte: ich fühlte mich als Mitglied einer Nation, gleichgeordnet als Mensch, gleichberechtigt als Bürger; da mich aber ein Beliebiger ohne zureichenden Grund, und ohne daß es möglich war, ihn dafür zur Verantwortung zu ziehen, als untergeordnetes Wesen behandeln dürfte, so beruhe entweder mein Gefühl auf einem Irrtum, oder die Übereinkunft, von der es gefügt gewesen, sei Lüge und Betrug.
Er erwiderte, die Feindseligkeit habe nicht mir gegolten, sondern meiner Abstammung, der Zugehörigkeit zu einem Fremdkörper innerhalb der Nation; ein Argument, auf das ich gefaßt war, und auf das ich nur mit Scham und Empörung antworten konnte.
Angenommen, diese Fremdlinge sind eure Gäste, sagte ich, warum tretet ihr dann die Gebote der Gastfreundschaft, die zugleich Gebote der Menschlichkeit sind, mit Füßen? Angenommen aber, sie sind euch lästige Eindringlinge, warum duldet ihr sie und macht euch der Heuchelei humaner Verträge schuldig? Besser offener Kampf als das Wohnen unter einem Dach in scheinheiligem Frieden und heimlichem Haß.
Die Juden gehören nun einmal dazu, sagte er rätselhaft; wie es ist, gehören sie dazu.
Wie, sie gehören dazu? wende ich ein, und ihr traktiert sie dennoch als Ratten und Parasiten?
Wer läßt sich so etwas beifallen? entgegnete er; das tun die politischen und sozialen Unheilstifter. Die aufgeklärten Deutschen wissen, was sie den Juden zu verdanken haben und ihnen in Zukunft auch noch werden danken müssen.
Die Juden, die Deutschen, diese Trennung der Begriffe wollte mir nicht in den Sinn, nicht aus dem Sinn, es war die peinvollste Überlegung, darüber mit mir selbst ins klare zu kommen. Worin besteht das Trennende? fragte ich. Im Glauben? Ich habe nicht den jüdischen Glauben, du hast nicht den christlichen. Im Blut? Wer will sich anmaßen, Blutart von Blutart zu scheiden? Gibt es blutreine Deutsche? Haben sich Deutsche nicht mit französischen Emigranten vermischt? Mit Slawen, Nordländern, Spaniern, Italienern, wahrscheinlich auch mit Hunnen und Mongolen, als ihre Horden deutsches Gebiet überfluteten? Kann man nicht vorzügliche, ja vorbildliche Deutsche von nachweisbar undeutscher Abkunft nennen, Künstler und Feldherrn, Dichter und Gelehrte, Fürsten, Könige sogar? Und die zwei Jahrtausend alte Existenz der Juden im Abendlande sollte nicht ihr Blut berührt haben, wenn es nun schon fremdes Blut sein soll, Luft, Erde, Wasser, Geschichte, Schicksal, Tat und Anteil nicht, wenn man selbst physische Vermischung ausschließt? War auch ihr eigenes Gesetz dagegen und der Widerstand der Völker, konnten sie sich dem natürlichen Gesetz entziehen? Sind sie von anderer moralischer Beschaffenheit? Von anderer menschlicher Prägung?
Er antwortete, es sei vielleicht so. Es scheine ihm, als seien sie von anderer moralischer Beschaffenheit, von anderer menschlicher Prägung. Das gerade sei vielleicht der kritische Punkt.
Ich darauf: Er werde doch nicht behaupten wollen, daß der Freiburger Versicherungsmann nicht unter der Gewalt eines kleinlichen, boshaften, gedankenlosen Vorurteils gehandelt habe?
Das räume er ein, aber was auf einem niedrigen Niveau geschehe, sei nicht maßgebend für die Anschauung auf dem höheren. Übergriffe der Exekutive bewiesen auch nie etwas gegen die Legislatur.
So hege er also die Meinung, ich sei von anderer moralischer Beschaffenheit und anderer menschlicher Prägung als er?
Statt der Antwort fragte er mich sehr ernst, sehr feierlich, ob ich mich, Hand aufs Herz, wirklich als Jude fühle. Ich zögerte. Ich wollte wissen, worauf die Frage abzielte.
Er lachte und sagte, da sehe er schon, wie schwer es mir werde, mich zu bekennen. Der Begriff Jude sei gar nicht leicht zu umgrenzen.
Sicherlich, entgegnete ich, so wenig wie der Begriff Deutscher.
Er fragte, ob meine Mutter zweifellos Jüdin gewesen sei? Ob in der Vergangenheit der Familie kein Fall von Kreuzung bekannt oder nur der Verdacht davon vorhanden sei? Als ich jenes unbedingt bejahte, dieses lächelnd verneinte, schüttelte er den Kopf und sagte, mein Fall sei außerordentlich interessant; es sei ein ganz besonderer Fall.
Ich ließ ihn nicht entschlüpfen. Ich wollte Aufschluß haben über das, was er »meinen Fall« nannte. Ich bot ihm Behelfe. Ich sagte: Es ist nicht entscheidend, daß ich mich unter Deutschen als Deutscher fühle. Dem Deutschen steht es frei, dies als eine Prätension zu betrachten, eine begründete oder unbegründete, je nachdem. Er kann sie erfüllen oder nicht erfüllen, je nachdem. Erfüllen: gnadenhalber, ausnahmsweise, befristet oder unbefristet, weil ich ihm durch eine Leistung Respekt oder Sympathie abringe, aus Lässigkeit, Vergeßlichkeit, aus Zwecksucht. In einen Gesellschaftsverband aufgenommen werden, nur weil die sonstige Abwehr eingestellt ist, ist verletzend und entwürdigend, letzten Endes für beide Teile.
Er gab es zu. Ich fuhr fort: In aller Unschuld war ich bisher überzeugt gewesen, ich sei deutschem Leben, deutscher Menschheit nicht bloß zugehörig, sondern zugeboren. Ich atme in der Sprache. Sie ist mir weit mehr als das Mittel, mich zu verständigen, und mehr als das Nutzprinzip des äußeren Lebens, mehr als zufällig Gelerntes, zufällig Angewandtes. Ihr Wort und Rhythmus machen mein innerstes Dasein aus. Sie ist das Material, woraus eine geistige Welt aufzubauen ich, wenn schon nicht die Kraft, so doch den unmittelbaren Trieb in mir spüre. Sie ist mir vertraut, als sei ich von Ewigkeit her mit diesem Element verschwistert gewesen. Sie hat meine Züge geformt, mein Auge erleuchtet, meine Hand geführt, meinen Fuß gelenkt, meine Nerven in Schwingung versetzt, mein Herz fühlen, mein Hirn denken gelehrt; sie hat mir das Gesehene, in Phantasie und Urteil Gesammelte durch Geschichte, Fluß des täglichen Seins, Spiel der Lebensläufe, Erlebnis der großen Werke zur Anschauung Gewordene in einmalige, unwiderrufliche Gestalt verdichtet: Ist das nicht gültiger als die Matrikel, als schematisiertes Bekenntnis, als eingefleischtes Vorurteil, als eine Fremdlingsrolle, die durch Furcht und Stolz auf der einen Seite, auf der anderen durch Aberglauben, Bosheit und Trägheit besteht?
Ja und nein, entgegnete der Freund. Diese Argumente erhellten meine besondere Situation; im allgemeinen lägen die Dinge ganz und gar nicht so.
Ich will mich aber nicht auf meine besondere Situation berufen, warf ich ein, und ich will mich nicht in ihr begnügen.
Prüfen wir jenes Allgemeine zuerst, sagte er. Die Juden als Gesamtheit haben sich niemals mit den Interessen der Wirtsvölker selbstlos zu identifizieren vermocht. Innerhalb des Staates haben sie sich in eine soziale und religiöse Isolierung zurückgezogen, ein starrer, erstarrter Block in der strömenden Bewegung. Solange die erzwungene Isolierung dauerte, hatten sie den Schein des Martyriums für sich; seit sie aufgehoben ist, liegt der Mangel an Willen und Fähigkeit zutage. Es steckt in ihnen ein ungesunder Hochmut der Tradition noch heute. Noch heute pochen sie auf die ihnen und nur ihnen allein offenbarte Lehre, bewußt oder unbewußt, und halten alle andere Lehre für Irrtum und Lüge. Namentlich gegen das Christentum mußte sich ihr unauslöschlicher Haß richten, denn ihm gegenüber empfanden sie wie eine Mutter, die aus ihrem Schoß den Verräter geboren hat, Verräter des Volkes, Verräter der Menschheit, Verräter Gottes. Was kann solchem Haß gleichen? Wodurch könnte er gemildert werden? Nur er vielleicht erklärt die Widerstandskraft, die Geduld, die Leidensüberwindung, die beispiellose Vitalität des Stammes. Rache für das Erlittene zu üben, keimt wahrscheinlich als Beschluß seit Geschlechtergedenken in ihrer Seele, wuchert in ihrem Zellgewebe sozusagen; was vermag dagegen der andersgeartete Einzelne? Was beweist er dagegen? Dergleichen Instinkte wirken unterirdisch fort und sind durch keine Übereinkunft gutmeinender Aufklärer, nicht durch den Schmerz der Abgelösten, nicht durch das Vorbild der Verwandelten aus der Welt zu schaffen.
Dies zu hören war mir bitter. Ich hielt ihm vor, das sei ja der ganze Jammer des versteinerten Mißverständnisses und der böswilligen Hetze, doch er nahm es nicht an. Er erwiderte, ich sei wie so viele das Opfer eines Kulturblendwerkes. Wie lange ist's denn her, sagte er, daß die Juden aus der Barbarei niedriger Lebensformen getreten sind? Das achtzehnte Jahrhundert sah sie noch in verstockter Abkehr und düsterer Verkrochenheit. Für den greisen Goethe noch war der Jude ungefähr dasselbe, was dem Amerikaner heute der Nigger ist, trotz Nathan dem Weisen, trotz Spinoza und Moses Mendelssohn, trotzdem die junge Romantik, die sich um ihn erhob, von jüdischen Einflüssen durchsetzt war, trotzdem er gegen die historische und institutive Ehrwürdigkeit der Religions- und Volksgemeinschaft sicher nicht unempfindlich war. Die Kindheitseindrücke des Frankfurter Judenghettos zeigten sich stärker. Die Juden weisen immer auf die Bedrückungen und Verfolgungen hin, wenn verwerfliche Züge aus ihrem Gesamtverhalten gebrandmarkt werden. Kein Jude erträgt ein objektives Urteil über Juden, geschweige denn ein abfälliges, auch über einzelne, auch über Entartete nicht, sobald das Judentum als solches im geringsten mitbelastet wird. Dieser Fehler rächt sich insofern schwer, als sich zwischen schönfärbender Apologie und häßlicher Verleumdungstaktik kaum ein Kompromiß finden läßt. Alle Lobredner weisen mit Emphase auf die unbedingte Sittenreinheit und Gesetzestreue der Juden hin, als ob kein Jude zu irgendwelcher Zeit ein Wässerchen getrübt habe. Dabei waren zum Exempel unter den Räuberbanden, die zwischen 1750 und 1820 die Gegenden Mitteldeutschlands und des Niederrheins unsicher machten, Juden in erklecklicher Menge, Diebe, Hehler und Späher. Die Shylocks aller Grade will ich nicht erwähnen, die mitleidlosen Wucherer und Aussauger, die Spekulanten ohne Gewissen. Absurd wäre ja die Meinung, als ob Millionen Menschen, die sich in heikler sozialer Lage durch die Jahrhunderte winden, fast schutzlos, an Leben und Eigentum stets gefährdet, als ob die mehr und tiefer denn ihre Wächter und Quäler zu makelloser Führung verpflichtet, als ob die Verbrecher unter ihnen verabscheuenswertere Verbrecher wären als die anderen. Gerechterweise muß man ja das Gegenteil behaupten. Dies ist auch nicht der Vorwurf, der zu erheben ist. Die Anklage geht von höherer Warte aus. Sie betrifft das Unvermögen zu seelischer Wandelbarkeit. Geistige Wandelbarkeit ist ihnen ja in außerordentlichem Maße eigen, in gerade verhängnisvollem Maße. Seelisch sind sie in ihrer Gesamtheit, als volkhafte Figur, bis an diesen Tag geblieben, was sie in grauer biblischer Vorzeit waren.
Der Freund verfocht seine Ansichten mit einer beinahe imperativen Autorität. Ich entsinne mich, daß ich mich der Logik und Kraft seiner Argumente nicht entziehen konnte. Niemand wird erwarten, das Gespräch sei hier im Wortlaut angeführt. In Wirklichkeit war es eine lange Folge von Gesprächen, und ich gebe davon den Extrakt, die Legende. Er war unerbittlich; ich, der auf den Grund der Dinge kommen wollte, liebte ihn um dieser Unerbittlichkeit willen, obwohl ich dunkel empfand, daß er sich in unserem gemeinsamen Ringen um die Wahrheit über mich stellte, daß er die Herrschaft an sich riß, und daß die wesentliche Erkenntnis, zu der wir endlich gelangten, ihn nicht befreite und erlöste wie mich, dem sie ein Tor öffnete und ein Ziel zeigte, sondern, daß er in heimlichem Hader und dunkler Gespanntheit mehr und mehr mein Widersacher wurde.
Die sogenannte Emanzipation bildet zweifellos Epoche im Dasein der Juden, führte er aus, der Humanisierungswille des neunzehnten Jahrhunderts beendete ihr Pariatum. Jedes neue Jahrzehnt knüpfte festere Bande zwischen ihnen und uns. Äußerlich nur, zugegeben; solche des bürgerlichen Zusammenschlusses, wirtschaftliche, vaterländische sogar, in jedem Fall gesetzlich sanktionierte, vielfach auch in freiem Ermessen, schönem Vergessen, sittlicher Einsicht entstandene. Bedingungslos wurde die Beziehung, bedingungslos menschlich, nur gegen Ausnahmsindividuen. Woran liegt die Schuld? Ist es deshalb, weil sie sich trotz alledem als Juden zu bewahren suchten? Warum aber? Solange sie Geachtete waren, war es ihr Recht, ihre Pflicht, ihr Schutz, ihre Waffe, das Mittel zur Selbstachtung und Selbstaufrichtung, sich zu verschließen, an der engen Gemeinschaft zu bauen, eine halb imaginäre, halb schwärmerische und um desto süßere, verführerische, tragisch-erhöhende Volkheit zu pflegen. Doch nachdem ihnen die Wege zur Gemeinschaft mit uns geebnet waren, veränderte sich wohl ihr geistiges Antlitz, ihre Spiritualität mit erstaunlicher Schnelligkeit; mit erstaunlicher Schwung- und Spannkraft machten sie unsere Notwendigkeiten zu den ihren, ihre zu den unseren, schmiegten sich den Forderungen des Staatswohls an, der öffentlichen Meinung, der Mode, widmeten ihre wunderbaren Talente der Kunst, der Wissenschaft, der sozialen Entwicklung, aber in ihrem Grund blieben sie Juden. Ich sage nicht, daß sie hätten Christen werden sollen. Das haben viele getan, aus Utilitätsgründen, oder weil sie sich nicht mehr verkettet fühlten, oder auch aus Überzeugung. Die Frage ist nur, ob sie Christen werden können, anders als im oberflächlichen Sinn, wie es ja die Mehrzahl der Christen selbst ist. Die Frage ist, ob sie deshalb aufgehört haben, Juden zu sein und dies in einem tieferen Sinn; man weiß es nicht, man kann es nicht kontrollieren. Ich glaube an ein Weiterwirken der Einflüsse. Judentum ist wie ein intensives Färbemittel; die geringste Quantität reicht hin, um einer unvergleichlich größeren Masse seinen Charakter zu geben oder wenigstens Spuren davon. Nicht zu leugnen, daß sie, wieder in einem gewissen Sinn, Deutsche geworden sind. Aber es steht dem etwas entgegen. Was mag es sein? Ist es das eigentümliche Beharren der Seele oder der Sinne im Kontrast zur Flüssigkeit, Mobilität, Vielgesichtigkeit des Geistes? Es beweist und erklärt zu wenig. Macht der Tradition ist es nicht, oder nicht ausschließlich, oder nicht mehr. Tradition wird überwunden und jeweilig gemildert durch das Diktat des Lebens; bildet als Disziplin einen wohltätigen Damm gegen Maßlosigkeit und Individualisierungsgier, hütet als politische Maxime Scheunengut und bewahrt die Nation vor überstürzten Neuordnungen. Aber gerade die Maßlosigkeit, gerade die Individualisierungsgier, gerade die Sucht nach Neuordnungen muß man den Juden zum Vorwurf machen. Was ist es also?
Ich antwortete ihm, seine Gefahr und sein Unrecht läge in der Verallgemeinerung. Es gäbe solche und solche Juden. Alle Gesamturteile seien schief und führten zur Vergewaltigung, zur Verzerrung, zur Ausnützung im Dienste von Parteiinteressen. Warum nicht menschlich den Menschen sehen, nur den Menschen? Oft rufe man durch Mäkeln erst die Fehler hervor, und in der Wiederholung entstehe die Übertreibung. Man möge den Juden Zeit lassen, viele unter ihnen seien ihres Rechts zu atmen kaum bewußt, Verscheuchte, Verschüchterte, Umklammerte; immer, neuer Zustrom aus trüben Behältern trübe die gereinigten wieder, viele seien gequält durch den latenten Haß, und ihre Entschlossenheit, sich zu opfern, treibe sie bis zur Selbstaufgabe; viele seien berauscht durch die ungewohnte Fülle von Raum- und Entfaltungsmöglichkeit: und wenn man ein jüdisches Tribunal imaginiere, so würde dort keiner freigesprochen, den ein christliches oder deutsches für schuldig erklärt. Aber ich spürte bei alledem, daß meine Parade den Hieb nicht fing, weil mein Standpunkt gegen den des Freundes ein zu niedriger war. Erst weit später, im Verfluß jahrzehntelanger Kämpfe, konnte ich mir seine Frage beantworten, dieses »Was ist es also?«, von dem ich sogar die Berechtigung geleugnet hatte, und das mich doch zur Aufrichtigkeit und Selbstdurchforschung gebieterisch trieb.
Seit man ihre Geschichte kennt, haben sich die Juden als das auserwählte Volk bezeichnet. Auch in allen ihren Mythen findet sich der Glaube an ihre Auserwähltheit und die Verkündigung davon. Ohne daß man die Zulänglichkeit oder Unzulänglichkeit der Gründe untersucht, auf welche sich dieser Glaube, diese Verkündigung stützt, ob auf die offenbarte Lehre, ob auf das Verhältnis zu den geliebten Dingen, ob auf das historische und mythische Schicksal, ist doch klar einzusehen, daß eine mit solcher Hartnäckigkeit durch die Jahrtausende festgehaltene Überzeugung einerseits ganz außerordentliche Pflichten nach sich zieht, die von der Gesamtheit niemals restlos erfüllt werden können, ferner ganz außerordentliche sittliche und moralische Spannung erzeugt, die wieder durch ihre notwendigen Entladungen eine Existenz voller Katastrophen schafft; und daß andererseits ein solches Axiom, wenn es als selbstverständliche Voraussetzung vor eine Existenz und an ihren Anfang gestellt ist, die sittliche Entwicklung lähmt, und an ihre Stelle den sittlichen Quietismus setzt, der zu Überheblichkeit und zum Pharisäertum führt.
Es ist die Tragik im Dasein des Juden, daß er zwei Gefühle in seiner Seele einigt: das Gefühl des Vorrangs und das Gefühl der Brandmarkung. In dem beständigen Anprall, in der Reibung dieser beiden Empfindungsströme muß er leben und sich zurecht finden. Es hat sich mir bei fast allen Juden, denen ich begegnet bin, bestätigt, und es ist der tiefste, schwierigste und wichtigste Teil des jüdischen Problems.
Man besitzt aber, einfach und menschlich betrachtet, ebensowenig einen Vorrang dadurch, daß man Jude ist, wie man gebrandmarkt ist dadurch, daß man Jude ist.
Mir wurde klar, daß ein Volk nicht dauernd auserwählt sein kann und sich nicht dauernd als auserwählt bezeichnen darf, ohne die gerechte Ordnung in den Augen der übrigen Völker zu stürzen. Der auserwählte Einzelne ist stets in der Lage, die Verantwortung für sein Tun und Lassen zu übernehmen; im auserwählten Volk aber maßt sich der Einzelne nach und nach eine Rolle an, die ihm nicht zukommt, der er nicht gewachsen ist, und bei der er überredet wird, die Vorteile der Gesamtposition für sich geltend zu machen, die Verantwortungen hingegen auf die Gesamtheit abzuwälzen. Selbst den Fall gesetzt, ein Volk sei auf Grund einer einmaligen grandiosen Leistung berechtigt, sich dauernd als auserwähltes Volk zu bezeichnen, wie wäre ein solcher Anspruch gegen die Kritik, gegen die veränderten Forderungen neuer Menschheit zu verteidigen und zu sichern? Wie wäre es möglich, den Komplex »Volk« abzugrenzen? Genügte das bloße Bekenntnis zu einem Glauben, um auserwählt zu sein? Das wäre schlechthin unsinnig Und unsittlich.
Die Idee der Auserwähltheit hat, für ein Volk, Berechtigung nur innerhalb einer zeitlichen Begrenzung. Sowie sie aber aus der historischen Bedingtheit gerissen und gewissermaßen ins Unendliche gerückt wird, entsteht die Versündigung, während die persönliche Auserwähltheit im Unendlichen steht, im Unendlichen besteht.