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Mary Redmayne ging an jenem Morgen ins Dorf, um auf der Post Briefmarken zu kaufen. Sie sah den jungen Mann im Sportanzug kaum an, der auf der Bank vor dem Roten Löwen saß, aber sie wußte wohl, daß er zugegen war. Die verschiedensten Geschichten hatte sie schon über ihn gehört.
Zuerst hatte er ihr leid getan, aber jetzt war er ihrer Meinung nach rettungslos verloren. Außerdem war sie böse auf ihn, weil er ihren Vater geärgert hatte. Mr. Fane hatte tatsächlich die Kühnheit besessen, bei dem Colonel um ein Zimmer in Monkshall anzufragen.
Als sie aus dem Dorf zurückkam und in den kleinen. Weg einbog, der nach dem Park von Monkshall führte, saß er auf einem Drehkreuz und versperrte ihr den Weg. Er rauchte eine Zigarette und sah melancholisch durch seine große Hornbrille ins Leere.
Einen Augenblick blieb sie stehen und hoffte, daß er sie nicht gesehen hätte. Dann zögerte sie und überlegte, ob sie nicht einen Umweg machen sollte. Aber er erhob sich bereits nachlässig und nahm seine Mütze ab.
»Bitte sehr!«
Mit einem freundlichen Lächeln sah er sie an, aber sie ärgerte sich über ihn.
»Wenn ich Sie nach Hause begleiten sollte, würde Ihr Vater dann nach mir schießen oder die Hunde auf mich hetzen?«
Sie sah ihm gerade ins Gesicht.
»Soviel ich weiß, sind Sie Mr. Fane?«
Er verneigte sich ein wenig übertrieben, und ihr stieg das Blut in die Wangen, weil sie sich über seine Unverschämtheit ärgerte.
»Unter diesen Umständen, Mr. Fane, zeugt es nicht von gutem Geschmack, daß Sie eine Unterhaltung mit mir anknüpfen.«
»Ihrer Meinung nach mag das nicht schicklich sein; aber warum soll man einer schönen jungen Dame nicht sagen, daß sie vorzüglich aussieht. Haben Sie schon bemerkt, wie wenig schöne Menschen es auf der Welt gibt? Ich stand einmal an einer Straßenecke ...«
»Ja, und jetzt stehen Sie mir im Weg«, unterbrach sie ihn heftig.
Sie war nicht in der besten Stimmung, denn die Erlebnisse in dem alten Haus hatten sie nervös gemacht, und gerade die letzte Nacht war schrecklich für sie gewesen. Sie hatte nicht schlafen können und überall Geräusche und auch dieses geheimnisvolle leise Orgelspiel gehört. Vor allem aber hatte sie etwas gesehen, was ihre Angst noch viel mehr gesteigert hatte: Eine Gestalt war über den Rasen unter ihrem Fenster geeilt und wieder verschwunden.
Mr. Fane sah sie scharf an, und sie ärgerte sich um so mehr, als er nicht sicher auf den Füßen zu stehen schien.
»Hat Ihr Vater Sie gern?« fragte er in liebenswürdigem Ton.
Sie war über seine Worte so verwundert, daß sie zuerst nicht antworten konnte.
»Wenn er Sie gern hat, kann er Ihnen nichts abschlagen, meine liebe Miss Redmayne. Wie wäre es, wenn Sie ihm sagten: ›Ich kenne einen jungen Mann, der ein Quartier in Monkshall sucht –‹«
»Lassen Sie mich bitte vorbeigehen«, sagte sie, zitternd vor Aufregung.
Er trat höflich beiseite. Sie ging durch das Drehkreuz und entfernte sich rasch. Erst als sie den halben Weg zum Hause zurückgelegt hatte, schaute sie sich einmal um lind entdeckte empört, daß er ihr folgte. In respektvoller Entfernung allerdings, aber immerhin war er ihr nachgegangen.
*
Kurz nachdem Mrs. Elvery und Mr. Goodman zum Golfplatz gegangen waren, erschien auf dem Rasen vor dem Hause ein Mann. Er sah ziemlich grobschlächtig aus und hatte eine Lederschürze umgebunden. Unter dem Arm trug er eine Anzahl beschädigter Schirme. Nachdem er sich heimlich umgesehen hatte, ging er über den Rasen und stand gleich darauf in der offenen Haustür, von wo er Cotton beobachtete. Der Butler räumte das Schreibzeug weg, das Veronika hatte stehenlassen. Als er den Mann bemerkte, fragte er barsch:
»Was wollen Sie denn hier?«
»Haben Sie irgendwelche Schirme auszubessern oder Rohrstühle zu flechten?« fragte der Fremde mechanisch.
Cotton wies ihn hinaus. »Machen Sie, daß Sie fortkommen! Wer hat Sie denn überhaupt hereingelassen?«
»Der Wärter unten am Parktor sagte, daß Sie hier etwas auszubessern hätten«, brummte der andere.
»Dann gehen Sie zum hinteren Eingang. Sie wissen doch, wo die Küche ist. Machen Sie, daß Sie von hier vorn verschwinden!«
Aber der Mann rührte sich nicht.
»Wer wohnt denn hier?«
»Colonel Redmayne, wenn Sie es durchaus wissen müssen. Die Küche ist dort hinten um die Ecke. Erzählen Sie mir hier weiter keine Geschichten und scheren Sie sich fort.«
Der Mann mit der Lederschürze sah sich befriedigt im Zimmer um.
»Alles nett und schön eingerichtet.«
Cotton wurde rot vor Ärger.
»Können Sie nicht verstehen, wenn ich Ihnen sage, daß Sie sich fortscheren sollen? Die Küchentür ist dort um die Ecke!«
Der Mann in der Schürze kümmerte sich nicht um Cottons Worte und trat weiter ins Zimmer.
»Wie lange wohnt er denn schon hier – ich meine Mr. Redmayne?«
»Zehn Jahre«, sagte der Butler außer sich. »Ist das alles, was Sie wissen wollen? Wenn Sie jetzt nicht bald verduften, setzt es noch eine Tracht Prügel!«
»Zehn Jahre«, wiederholte der Mann und nickte. »Ich möchte diesen Colonel zu gern einmal sehen.«
»Ich werde Ihnen eine Empfehlung an ihn mitgeben«, entgegnete Cotton ironisch. »Solche Herumtreiber wie Sie schätzt er sehr!«
In diesem Augenblick trat Mary atemlos ins Zimmer.
»Schicken Sie den jungen Mann fort«, sagte sie erregt und zeigte auf Ferdie, der hinter ihr herkam. Sie hatte den Mann mit der Lederschürze noch nicht bemerkt.
»Was für einen jungen Mann, Miss Mary?« fragte Cotton und trat ans Fenster. »Ach, das ist ja der Herr, der gestern kam. Er war recht liebenswürdig.«
»Das ist mir ganz gleich«, erwiderte sie und stampfte mit dem Fuß auf. »Sie sollen ihn fortschicken!«
»Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?«
Erstaunt betrachtete sie den Mann, mit der Lederschürze, der sie angesprochen hatte. »Nein, das können Sie nicht!« rief Cotton.
»Wer sind Sie denn?« fragte Mary.
»Ich repariere alte Schirme und Stühle.« Er sah sie nachdenklich an, aber sein Blick erschreckte sie.
»Er kam unaufgefordert in dieses Zimmer, und ich sagte, daß er zur Küche gehen solle«, erklärte Cotton. »Wenn Sie nicht gekommen wären, hätte ich ihn hinausgeworfen.«
»Es ist mir ganz gleich, wer er ist, aber er soll Ihnen helfen, diesen niederträchtigen jungen Mann fortzuschicken«, sagte Mary verzweifelt. »Er –«
Plötzlich schwieg sie, denn Fane stand am offenen Fenster und sah sie von dort aus ruhig an.
»Guten Tag allerseits. Wie geht's?«
»Wie dürfen Sie es wagen, mir hierher zu folgen«, rief sie außer sich und stampfte wieder wütend mit dem Fuß auf den Boden. Aber er ließ sich dadurch nicht im mindesten stören.«
»Sie sagten mir, ich solle Ihnen aus dem Weg, gehen, deshalb folgte ich Ihnen. Das ist doch vollkommen klar.«
Es wäre nun am besten für sie gewesen, wenn sie das Zimmer schweigend verlassen hätte, aber er reizte sie so sehr zum Widerspruch, daß sie blieb.
»Verstehen Sie denn nicht, daß mein Vater und ich Sie nicht hier sehen wollen? Es liegt uns nichts daran, Ihre Bekanntschaft zu machen.«
»Sie kennen mich nicht«, erwiderte er verletzt, »und Sie wissen nicht einmal, daß ich mit Vornamen Ferdie heiße.«
»Sie haben sich mir aufgedrängt, obwohl ich Ihnen klar und deutlich gesagt habe, daß ich nichts mit Ihnen zu tun haben will –«
»Ich will aber hier im Hause bleiben«, unterbrach er sie. »Warum sollte ich das auch nicht?«
»Sie brauchen kein Zimmer hier, Sie haben eins im Roten Löwen, und dorthin gehören Sie auch!«
Der Mann mit der Lederschürze mischte sich wieder ein.
»Aber nun hören Sie doch«, sagte er. »Die Dame wünscht nicht, daß Sie bleiben, also gehen Sie.«
Fane kümmerte sich nicht um ihn.
»Ich gehe nicht in den Roten Löwen zurück«, erklärte er ungerührt. »Das Bier schmeckt mir dort nicht. Ich durchschaue die ganze Geschichte.«
Eine Hand legte sich auf seine Schulter.
»Wollen Sie jetzt ruhig sein und fortgehen?« sagte der Mann mit der Lederschürze.
Mr. Fane drehte sich um. »Unterstehen Sie sich! Ich warne Sie, in Gegenwart einer jungen Dame –«
»Also machen Sie hier keine langen Redensarten, und gehen Sie.«
Fane packte den anderen plötzlich am Handgelenk und warf den großen, kräftigen Mann mit einer kurzen Bewegung zu Boden.
»Das ist Jiu-Jitsu«, sagte Fane lächelnd.
Er hörte einen ärgerlichen Ausruf, und als er sich umwandte, stand er Colonel Redmayne gegenüber.
»Was hat das alles zu bedeuten?«
Aufgeregt setzte ihn seine Tochter von dem Vorgefallenen in Kenntnis.
»Bringen Sie den Mann in die Küche«, wandte er sich an Cotton. Als die beiden gegangen waren, fragte er Fane: »Nun, was wollen Sie?«
Colonel Redmayne sprach ruhig und liebenswürdiger, als Mary erwartet hatte.
»Ich möchte ein Zimmer bei Ihnen haben«, entgegnete Fane kühl.
Mit Mühe hielt sich der Colonel zurück, um nicht ausfallend zu werden.
»Ich sagte Ihnen doch schon, daß Sie nicht hier wohnen können. Das habe ich Ihnen bereits gestern erklärt. Ich habe kein Zimmer für Sie, und ich will auch nicht, daß Sie in meinem Haus wohnen.«
Der Colonel wies mit einer Kopfbewegung zur Tür, und Mary verließ das Zimmer schnell.
Redmayne wurde wütend.
»Glauben Sie denn, daß Sie sich einfach ins Haus drängen können? Sie sind doch ein abscheulich betrunkener Kerl, ohne Anstand und ohne das geringste Taktgefühl: Sie scheinen mit Ihrem Geld nichts Besseres anfangen zu können, als sich von morgens bis abends zu betrinken.«
»Ich dachte, Sie würden mir trotzdem ein Zimmer geben«, erklärte Ferdie, ohne sich einschüchtern zu lassen.
Redmayne drückte auf die Klingel, und gleich darauf erschien Cotton im Zimmer.
»Zeigen Sie diesem Herrn den Weg ins Freie, und begleiten Sie ihn aus dem Park hinaus.«
Es schien zuerst, als ob Fane Schwierigkeiten machen wollte, und der Colonel atmete erleichtert auf, als der junge Mann dann doch gehorchte und die Begleitung des Butlers ablehnte.
Fane hatte das Haus gerade verlassen, als der Mann mit der Lederschürze aus den Büschen trat und ihm den Weg versperrte. Ein paar Sekunden standen sich die beiden gegenüber und betrachteten sich schweigend.
»Ich kenne nur einen, der mich mit dem kurzen Griff so zu Boden schleudern könnte, und ich wollte Sie mir doch noch einmal genauer ansehen.«
Ferdie Fane verzog keine Miene, und der andere trat zurück.
»Sie sind es wirklich! Seit zehn Jahren habe ich Sie nicht gesehen, und ich hätte Sie auch nicht wiedererkannt, wenn Sie mich nicht so an der Hand gepackt hätten«, sagte er und atmete schwer.
»Ja, ich spiele meine Rolle gut.« Ferdie Fane schien, vollkommen nüchtern zu sein. Seine Stimme klang stahlhart. »Sie haben viel mehr gesehen, als Sie sehen sollten, Mr. Connor!«
»Ich fürchte mich nicht vor Ihnen«, erwiderte Connor düster. »Versuchen. Sie ja nicht, mich hier fortzujagen. Sie arbeiten wieder mit Ihrem alten Trick. Sie spielen hier einen betrunkenen jungen Mann!«
»Connor, ich gebe Ihnen jetzt eine Gelegenheit, wie sie sich Ihnen im Leben nicht wieder bietet«, entgegnete Fane mit Nachdruck. »Ich rate Ihnen, entfernen Sie sich so schnell wie möglich aus diesem Haus. Sind Sie heute abend noch hier, dann sind Sie ein toter Mann!«
Keiner von beiden sah Mary Redmayne, die oben aus dem Fenster schaute und die Unterredung angehört hatte.