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Zweites Kapitel.
Am Rande des Abgrundes

Wir gehen etwa zwei Jahre vor Beginn unserer Erzählung zurück.

Das Haus Jansen & Sohn zu L. erstellte sich seit Jahren des besten Renommees in der kaufmännischen Welt. Vor über fünfzig Jahren begründet, hatte es manche schwere Handelskrise siegreich überstanden, ohne je in Erfüllung seiner Pflichten auch nur eine Sekunde zu zögern.

Auf Tag und Stunde wurden die fälligen Zahlungen geleistet, selbst zu Zeiten, in denen diplomatische oder kriegerische Verwickelungen, die prompte Erledigung derartiger Geschäfte manchen soliden Kaufleuten schwere Sorge bereiteten.

Das Haus war vom Großvater auf den Vater, vom Vater auf den Sohn vererbt, der es zur Zeit leitete und seinen größten Stolz darin sah, die soliden Prinzipien, denen es sein Aufblühen verdankte, nach jeder Richtung hin zur Geltung zu bringen.

Da war es erklärlich, daß der Kaufherr Jansen sich allgemeiner Achtung erfreute.

Es gab kein bürgerliches Ehrenamt, für welches man ihn nicht in Vorschlag brachte; doch er pflegte dergleichen Anträge mit Entschiedenheit abzulehnen, weil er der Ansicht war, daß nur da ein Geschäft gut gedeiht, wo der Letter sich ganz seinen Pflichten hingeben kann, ohne durch Nebenämter von der Berufspflicht abgelenkt zu werden.

Dennoch sollte auch Jansen erfahren, daß selbst strenge Reellität und eiserner Pflichteifer nicht immer vor Gefahren schützen, daß auch der ehrenhafteste Charakter mitunter ohne sein Verschulden in eine Situation versetzt werden kann, welche seine Redlichkeit auf eine harte Probe stellt.

Jansen befand sich allein in seinem Privatkomptoir, das durch eine Glasthür von dem Hauptkomptoir geschieden, nur eine sehr dürftige, aber praktische Einrichtung aufwies. Ein altes braunes Ledersofa, zwei ebensolche Sessel, ein großer Schreibtisch, neben demselben ein Regal, in welchem sich die wichtigsten Skripturen befanden, und die Ausstattung des Privatkomptoirs war fertig, wenn wir nicht noch ein Portrait hinzunehmen wollen, welches in Oelmalerei den Großvater Jansens, den Begründer der Firma, darstellte und das an der Wand über dem Schreibtische seinen Platz gefunden hatte.

Auch das Komptoir, in welchem wohl dreißig Angestellte fleißig arbeiteten, zeigte keinerlei Luxus und wich in diesem Punkte vorteilhaft von ähnlichen Einrichtungen ab.

Was das Auge des Uneingeweihten vielleicht verletzt hätte, trug, mit kaufmännischen Blicken gemessen, nicht wenig zum Renommee der Firma Jansen & Sohn bei.

Nicht glänzend polierte Tafeln und Diener in Livree sprechen für die Solidität einer Handelsfirma, sondern solide Einfachheit, sowie der Ernst und Fleiß der Bediensteten.

Nun an Ernst fehlte es heute in dem Komptoir von Jansen & Sohn wahrlich nicht; ja, es herrschte dort ein fast drückendes Gefühl, wenigstens wagte kaum einer der zahlreichen Arbeiter von seinem Buch aufzublicken.

Ebenso wurden nur selten einige Worte im Flüsterton unter dem Komptoirpersonal ausgetauscht.

Alle fühlten es, daß dem Hause eine Krise bevorstand, die vielleicht die Grundpfeiler desselben erschüttern konnte.

Kein Mensch hatte dem Personal davon gesprochen, auch der alte Disponent nicht, der bereits über vierzig Jahre seine Stellung bekleidete und überhaupt wie jeder Kaufmann kein Freund von vielem Geschwätz war; und dennoch fühlten alle, daß irgend etwas vorgehe, geeignet, der Firma Gefahr zu bringen.

Ja, doch etwas war dem Personal bekannt.

Die Firma Moellner & Komp, in New-York, bei der das Haus Jansen & Sohn bedeutend engagiert war, hatte falliert: drei Wechsel, auf genannte Firma gezogen, und von ganz beträchtlicher Höhe, waren bereits zurückgegangen, und in den nächsten Tagen mußten wieder zwei Wechsel fällig werden.

Glückte es bis dahin nicht, Außenstände in entsprechender Höhe aufzutreiben, so war der Ruf und die Existenz des Hauses Jansen & Sohn ernstlich gefährdet.

Die Leute hatten es von dem Kassendiener erfahren, der nächst dem Disponenten am besten in die Geheimnisse des Hauses eingeweiht war, aber minder vorsichtig in seinen Andeutungen zu Werke ging.

Der Disponent trug dieselbe Ruhe wie stets zur Schau; kein Wort, kein Blick deutete darauf, daß er irgend welche Besorgnisse hegte.

Wie an jedem andern Tage überflog er die eingelaufenen Briefschaften und gab sie dann, je nach dem Wohnort der Absender, mit kurzen Randbemerkungen versehen, dem betreffenden Korrespondenten zur Beantwortung, prüfte die für die Post bestimmte Korrespondenz und unterzeichnete jedes einzelne Schriftstück mit dem Namen der Firma in denselben festen Schriftzügen wie seit Jahren.

Kurz nichts verriet an dem wackern Alten irgend welche Aufregung oder Besorgnis.

Jordan gehörte aber zu jenen alten Kaufleuten, die durch Ruhe und Besonnenheit leicht imstande sind, einer drohenden Gefahr die Spitze abzubrechen.

Nicht so ruhig war der Chef, der bereits seit einer Stunde, von Sorgen gepeinigt, in dem Privatkomptoir weilte, bald die Ziffern des Debet und Kredit in den mächtigen Hauptbüchern verglich, dann wieder in unruhigen Schritten das Komptoir durchmaß, sinnend und grübelnd, um einen Ausweg aus der allerdings fatalen Situation zu finden.

Endlich schien auch er seine Ruhe wiedererlangt zu haben.

Er ergriff die auf dem Schreibtische befindliche kleine Glocke und läutete.

Gleich darauf trat der Disponent Jordan ein.

Jansen deutete mit herablassender Handbewegung auf einen der braunen Ledersessel; der Prokurist ließ sich in denselben nieder.

»Sie wissen, Jordan,« begann Jansen ohne weitere Einleitung, »daß wir bei Moellner & Komp, stark engagiert sind. Wir hatten in den letzten Tagen bereits einen Ausfall von 400,000 Mark, und es wird unter allen Umständen noch ein Papier von gleicher Höhe am 16. an unserer Kasse präsentiert werden. Es ist ja anzunehmen, daß, wie mir telegraphisch mitgeteilt wird, Moellner & Komp, sich schnell und für die Gläubiger vorteilhaft arrangieren werden, so daß der Verlust uns nicht allzu schwer trifft. Das ist aber für uns bedeutungslos. Es handelt sich für uns einfach darum, für den fälligen Wechsel Deckung zu schaffen. Wir haben heute den 7.; es sind also bis zum 16. noch neun Tage. Und nun wollte ich Sie fragen, ob Aussicht vorhanden ist, während dieser Zeit aus den Eingängen so viel zu erübrigen, um das Geschäft glatt abzuwickeln?«

»Herr Jansen,« erwiderte Jordan, der bis dahin seinen Chef mit keinem Worte unterbrochen hatte, »das ist leider direkt unmöglich! Das Fallissement von Moellner & Comp. trifft uns gerade in der bedenklichsten Zeit. Wir können in den nächsten vierzehn Tagen nur auf etwa 100,000 Mark rechnen, und ich habe die bei der Bank deponierte Summe bereits zur Deckung der ersten Wechsel abheben lassen. Es wäre nur möglich, Zahlung zu leisten, wenn irgend einer Ihrer Freunde –«

»Nein, mein lieber Jordan,« unterbrach Jansen fast unwillig, »solche Freundschaftsdienste liebe ich nicht; sie sind der erste Schritt zum Ruin des solidestem Hauses, denn jeder Eingeweihte an der Börse weiß doch wohl einen Unterschied zwischen einem Geschäfts- und einem Gefälligkeitspapier zu machen; das weisen doch schon die Geschäftsabschlüsse aus. Wenn man sich erst an der Börse erzählt, Jansen & Sohn hat von Neumann oder Richter ein Gefälligkeitspapier erhalten, dann ist's mit dem Renommee der Firma vorüber. Ich werde also wohl auf andere Weise Rat schaffen müssen. – Noch eins. Haben Sie unser ganzes Depositum von der Bank abgehoben?«

»Nein, Herr Jansen; es können etwa noch 100,000 Mark vorhanden sein.«

»Gut. Gehen Sie wieder ins Comptoir, lieber Jordan; wir hatten überhaupt keine Konferenz. – Sie verstehen mich.«

Mit einer höflichen Verbeugung verließ der Disponent das Privatcomptoir, in welchem Jansen allein zurückblieb.

»Ein trefflicher, wackerer Mensch dieser Jordan,« sprach er für sich, »und dennoch kennt er die hiesigen Verhältnisse nicht so genau, wie er glaubt. Ich hätte ja gern seinen Rat befolgt und die Gefälligkeit eines befreundeten Hauses in Anspruch genommen; aber das ist nicht so leicht. Vor etwa zwanzig Jahren befand sich mein Vater in einer ähnlichen Situation, fand jedoch nur gute Worte; jeder, an den er sich wandte, bedauerte, selbst so stark engagiert zu sein, daß er bindende Verpflichtungen für die nächste Zeit nicht eingehen könnte.

Ja, wenn man meine Verbindung mit Moellner & Comp. nicht wüßte, da wäre das ein leichtes. Aber unter diesen Umständen ist es ja kaum einer soliden Firma zu verdenken, wenn sie sich nicht in eine solche Gefahr begiebt.

Und dennoch muß Rat geschafft werden; denn zwischen heute und zwei Monaten gehen über eine Million Mark ein. Und wenn es mir nur glückt, jetzt die fehlenden 300,000 Mark zu beschaffen, so läßt sich der amerikanische Verlust, der kaum 50 Prozent betragen dürfte, schon verschmerzen.

Und doch kenne ich nur einen Ausweg, einen einzigen, – mir schaudert's, wenn ich an ihn denke. Aber ich muß mich entschließen, die Zeit drängt, denn glückt es nicht, den Sturz aufzuhalten, würde ich das Glück meines einzigen Kindes unter den Trümmern des Hauses Jansen & Sohn begraben. Das soll und darf nicht geschehen, nimmermehr! Noch stehe ich auf festen Füßen und ich will handeln.

Reinhold ist ein braver junger Mann; er hat mir, als ich ihn vor Jahren ins Haus nahm, unter Thränen des Dankes geschworen, mir diese Wohlthat nie zu vergessen, und diese Zusicherung oft wiederholt. Er ist geschickt, – und was verlange ich denn auch von ihm? Ein paar Federstriche, die ihm nie Gefahr bringen können; denn in wenigen Wochen ist alles vorüber. Und das einzige, wodurch er mir seine Dankbarkeit beweisen kann, ist Verschwiegenheit für das ihm geschenkte Vertrauen.« – – – – – – – – – – – – – –

In der ersten Etage des Hauses der Firma Jansen & Sohn sah es nicht so einfach aus wie in den Comptoirräumen. Hier machte sich ein fast blendender Luxus bemerkbar; blendend und gediegen, so daß das Auge des Beschauers mit Wohlgefallen auf jeden einzelnen Gegenstand der kostbaren Ausstattung haftete. Schwere seidene Vorhänge und Portieren schmückten Fenster und Thüren; prächtige Möbel und Nippes zeugten von dem Reichtum ihres Besitzers, wenige aber gewählte Kupferstiche und Oelgemälde von dem Kunstsinn und Geschmack desselben.

Von überraschender Pracht waren besonders die Gemächer, welche der reiche Kaufherr für seine einzige Tochter bestimmt hatte. Bei der Neueinrichtung seines Haushaltes, die er vornahm, als Ella aus der Pension wieder ins Vaterhaus zurückkehrte, fügte er sich willig den Anordnungen der über alles geliebten Tochter und, um derselben den Aufenthalt im Vaterhause angenehm zu machen, brach er dabei völlig mit seinem Sparsamkeitssinne. Sein Kind mußte ja trotz des Reichtums das liebste entbehren, was einem Kinde aus Erden beschieden ist, die Mutterliebe.

Ella war kaum dem zartesten Kindesalter entwachsen, als man die Frau des reichen Kaufherrn zur letzten Ruhestätte trug.

Wohl bot sich Jansen wiederholt Gelegenheit, ein Weib heimzuführen, aber aus Liebe zu seinem Kinde hatte er alle derartigen Anträge schroff abgelehnt.

Ella brachte aus der Pension, in die sie der Kaufherr geschickt hatte, weil er einsah, daß ein Kind, und besonders ein Mädchen ohne weibliche Pflege nicht gedeihen kann, eine liebgewonnene Freundin mit, die Tochter unbemittelter Eltern, welche Jansen auf die Bitten seiner einzigen Tochter hin gern aufnahm.

Ella hatte im Augenblicke keine Ahnung davon, welche Gefahr dem Vaterhause drohte. Dennoch war auch ihr Gemüt nicht frei von Kummer; ja, das junge, anmutige Mädchen, das von vielen Altersgenossinnen ihres Reichtums wegen beneidet wurde, mußte in der letzten Zeit schwere kummervolle Tage durchleben; sollte sie doch einem ungeliebten Manne die Hand reichen. Vergebens hatte sie den Vater flehentlich gebeten, von seinem Verlangen abzustehen, aber Jansen, dessen Sinn unter dem Einfluß der Tochter wie Wachs schmolz, und der nur darauf bedacht war, jeden ihrer Wünsche zu erfüllen und ihr den kleinsten Kummer zu ersparen, blieb in diesem Punkte fest.

Und von seinem Standpunkt aus hatte er auch wohl Recht, wenn er bei der getroffenen Wahl verharrte. Der junge Helwig, der Sohn eines mehrfachen Millionärs, den er zum Schwiegersohn erkoren, war ein schöner, stattlicher Mann in der Mitte der zwanziger Jahre. Frei von jeden Extravaganzen, welche die Söhne reicher Eltern häufig als einzigen Lebenszweck betrachten, hatte er sich in dem renommierten Geschäft seines Vaters reiche Kenntnisse erworben und galt trotz seiner Jugend bereits in den Börsenkreisen als einer der tüchtigsten Kaufherrn der Stadt.

Helwig durfte in den ersten Häusern L.'s um die Hand der Tochter anhalten, ohne befürchten zu müssen, abgewiesen zu werden.

Das war es, was Jansen veranlaßte, als der junge Mann um Ellas Hand anhielt, ihn im bejahenden Sinn zu antworten. Aber auch das Vermögen des jungen Mannes hatte ihm seinen Entschluß wesentlich erleichtert; denn Jansen war ein zu solider Kaufmann, um nicht zu wissen, daß trotz dem und alledem der Besitz doch wesentlich zum Glück und Wohlbefinden des Menschen beiträgt. Und glücklich wollte er seine Tochter machen.

Er konnte ja nicht ahnen, daß sie den anerkannt hübschen jungen Mann ausschlagen würde. Trotz aller Liebe zu seiner Tochter war er eben Kaufmann, er rechnete mit Ziffern, nicht mit Gefühlen. Gewiß berührte es ihn unendlich schmerzlich, als er Ellas Weigerung vernahm; aber er hatte einmal sein Wort gegeben, und ein Wortbruch galt ihn für die größte Schmach eines Mannes.

Vergebens bat und beschwor er Ella, sich seinen Wünschen zu fügen; vergebens führte er immer und immer wieder an, daß Helwig jung, hübsch und reich, jedes andere Mädchen durch seinen Antrag beglückt haben würde. Ella blieb bei ihrer Weigerung.

Gewiß war Helwig reich, jung und hübsch; indessen die Liebe richtet sich nicht nach Regeln, auch nicht nach Schönheitsregeln; sie kennt nur Neigung und Abneigung und ist sich ihrer Neigung kaum bewußt, und, um mit dem Dichter zu sprechen, sie kommt und ist da.

Und in wenigen Tagen sollte ihre Verlobungsfeier mit dem ungeliebten Manne stattfinden.

Der Gedanke daran trieb das unglückliche Kind fast zur Verzweiflung. Sie beneidete jetzt das ärmste Mädchen, dem es gestattet war, frei nach ihrem Herzenswunsch zu wählen. Sie empfand keine Freude an all der Pracht, an all dem Luxus, der sie umgab; sie vergaß fast, daß die reinste, uneigennützigste Liebe, die eines Vaters, diese Feenräume geschaffen. Wie ein Vöglein kam sie sich vor, das man in einem prächtigen goldenen Bauer gefangen hält, dem man die auserlesensten Leckerbissen zusteckt, um ihm seine Gefangenschaft minder drückend zu machen. Aber das Vöglein senkt dann das Köpfchen, es singt nur selten und, wenn es singt, so klagt es in weichen, ergreifenden Tönen um die verlorene Freiheit.

Und Ella war dem gefangenen Vöglein gleich. Auch sie sollte ihre Freiheit verkaufen, ihr Gefühl verleugnen, Liebe heucheln, wo sie nur Abneigung empfand.

O, sie durchlebte, umgeben von Pracht und Luxus, bange, trostlose Stunden; und selbst die Freundin, der sie sich anvertraute und die sie wie eine Schwester liebte, vermochte nicht, ihr Trost zu spenden.

Zudem war der Vater, an dem sie trotzalledem mit abgöttischer Liebe hing, in den letzten Tagen ernster gewesen als je, und während er sonst, wenn er bei der Tochter weilte, nur Wohlwollen und innige Liebe zur Schau trug, zeigte er sich jetzt einsilbig, wortkarg, überhörte auch wohl häufig Fragen der Tochter, die zu beantworten ihm sonst höchste Lust schien.

Gewiß, er grollte dem bedauernswerten Mädchen darüber, daß sie sich seinem Willen nicht fügen mochte. Einen anderen Grund konnte Ella für die auffallende Veränderung in seinem Benehmen nicht finden.

Hätte sie einen Blick in das Privatcomptoir ihres Vaters werfen und Zeugin einer Unterredung werden können, wie sie soeben dort stattfand, sie wäre über des Vaters Benehmen sehr schnell im klaren gewesen. – – – – – – – – – –

Eine Stunde etwa, nachdem der Disponent Jordan das Privatcomptoir seines Chefs verlassen hatte, läutete er abermals. Gleich darauf erschien der Diener.

»Rufen Sie mir Herrn Thümler,« gebot Jansen kurz.

Der Diener verließ das Privatcomptoir, Und gleich darauf trat ein junger Mann ein, der sich höflich verneigte und in devoter Stellung der Befehle des Chefs zu harren schien.

Es war Reinhold Thümler, ein junger Mann, den Jansen als Waisenknabe vor Jahren ins Haus genommen und bis heute in liebevollster Weise unterstützt und bevorzugt hatte, dem er auch infolgedessen ein seltenes Vertrauen schenkte.

Reinhold war jetzt etwa anfangs der zwanziger Jahre Und auf den ersten Blick von zartem, fast mädchenhaftem Aeußern; auch trug er eine auffallende Sauberkeit zur Schau. Alles an ihm war glatt, das blonde Haar, selbst der kleine blonde Bart, welcher die schmale Oberlippe beschattete.

Wie er so seinem Chef gegenüberstand, um nach dessen Verlangen zu fragen, hätte man fast glauben sollen, daß es keinen anspruchsloseren, bescheideneren Menschen auf der Welt gebe. Und das glaubte auch Herr Jansen, denn er bemerkte die stechenden, lauernden Blicke nicht, die Reinhold, wenn er sich unbeobachtet wußte, seinem Chef zuwarf.

Dieser saß noch einige Minuten über einen mächtigen Folianten gebeugt, dann aber schlug er das Buch zu, stand auf, trat zu Reinhold und reichte ihm die Hand.

Ueberrascht blickte dieser empor, denn bis zu einer derartigen Vertraulichkeit hatte sich sein Chef und Wohlthäter, trotzdem er ihm viel gutes erwiesen, bisher noch nicht verstiegen.

»Setzen Sie sich, lieber Reinhold,« begann Jansen, »ich habe mit Ihnen über eine wichtige Angelegenheit zu sprechen.«

Reinhold gab mit fast unverhofftem Staunen dem Wunsch seines Chefs nach und dieser fuhr fort:

»Sie wissen wohl, Reinhold, daß es nicht meine Art ist, über Wohlthaten, die ich einem Menschen erwiesen habe, zu sprechen, denn es ist, so lange man nicht durch schweren Undank dazu bewogen wird, eines edlen Menschen unwürdig. Heute aber muß ich –« er schritt bei diesen Worten zur Thür und verschloß dieselbe, um jeden unberufenen Besuch fernzuhalten –, »muß ich Sie daran erinnern, daß ich Sie einst in mein Haus nahm, nicht um Ihnen Wohlthaten zu erweisen, sondern um durch väterliches Wohlwollen Ihren Schmerz um den Verlust Ihrer wackeren Eltern zu lindern.«

»O!« beteuerte Reinhold mit, wie es schien, vor Schmerz vibrierender Stimme, »wie könnte ich je vergessen, was Sie, verehrter Herr, an mir gethan. Täglich, stündlich gedenke ich der Wohlthaten, mit denen Sie mich überhäuften, und mein sehnlichster Wunsch ist es nur, einmal Gelegenheit finden zu können, meinem väterlichen Gönner, wenn auch nur zum kleinsten Teil, die Dankesschuld abzutragen.«

»Ich wußte das,« erwiderte Jansen ruhig, »und deshalb allein habe ich beschlossen, Ihnen heute in einer wichtigen Angelegenheit mein Vertrauen entgegen zu bringen; denn ich fühle es. Sie können und werden dasselbe nicht mißbrauchen.

Doch hören Sie,« fuhr er nach kurzer Pause fort, »Sie haben mich oft und noch eben erst Ihrer Dankbarkeit versichert. Würde sich diese auch dann bewähren, wenn meine äußeren Verhältnisse sich plötzlich änderten, wenn ich eines Tages nicht mehr der reiche Kaufherr Jansen wäre?«

»Niemals,« versicherte Reinhold, »könnte das Gefühl der Dankbarkeit, welches ich für Sie in meiner Brust trage, verstummen! Und, jetzt darf ich es ja sagen, oft wünschte ich mir schon im Stillen, Sie würden plötzlich arm und hülflos, damit ich Gelegenheit fände, Ihnen die mir erwiesene Liebe zu vergelten.«

»Ihr Wunsch geht vielleicht schneller in Erfüllung, als Sie glauben,« erwiderte Jansen mit einem schweren Seufzer. »Doch das ist nicht die rechte Dankbarkeit, wenn man seinen Freund in der Not unterstützt. Nein, ein wirklicher Menschenfreund sucht vor allem dahin zu wirken, den Nächsten vor Not zu bewahren. Und einen solchen Dienst, Reinhold, verlange ich jetzt von Ihnen.«

Fast ungläubig blickte der junge Mann auf seinen Chef.

»Herr Jansen,« erwiderte er, »was ich vernommen, erfüllt mich mit Entsetzen; allein, wie sollte ich, ein völlig mittelloser Mensch, imstande sein –«

»Hören Sie mich ruhig an,« unterbrach Jansen, während seine Stimme fast bis zum Flüsterton herabsank. »Es wird Ihnen bekannt sein, daß ich bei Moellner & Comp. fast über meine Kräfte engagiert war. Hielt es schon schwer, die letzten Wechsel zu honorieren, so ist ferner noch in wenigen Tagen ein weiterer Wechsel von 400,000 Mark fällig. Wird das Papier nicht honoriert, so hat die Firma Jansen & Sohn aufgehört zu existieren, trotzdem in wenigen Wochen über eine Million an Außenstände eingehen müssen.«

»Schrecklich! Entsetzlich!« sprach Meinhold, diesmal mit wirklicher Teilnahme, mehr für sich. »Aber was soll ich, der ich selbst kein Vermögen besitze, beginnen, um hier Hilfe zu schaffen? Wie kann ich es?«

»Sie können es,« erwiderte Jansen langsam und den jungen Mann scharf fixierend, »Sie können es,« wiederholte er mit bewegter Stimme, »denn von Ihnen, Reinhold, den ich stets wie einen Sohn gehalten habe, kann ich ja wohl auch ein Opfer verlangen, wie es nur der Sohn dem Vater zu bringen imstande ist. O, Reinhold,« fuhr er eindringlich fort, »Sie sind der einzige, dem ich in dieser schrecklichen Lage Vertrauen schenken darf. Denken Sie, ein Vater spräche zu Ihnen; denken Sie auch daran, was aus meiner unglücklichen Tochter werden sollte, der die niederen Sorgen des Lebens bisher nicht bekannt sind, und die ebenfalls gewöhnt ist. Sie wie einen Bruder zu behandeln, und Sie werden mir meine Bitte nicht abschlagen.«

Bei Erwähnung der Tochter des Kaufherrn flammte es plötzlich in den bis dahin teilnahmslos blickenden Augen Reinholds in heller Glut auf.

»Sagen Sie, was ich thun soll!« rief er laut, fast die nötige Vorsicht vergessend gegenüber dem nur durch eine Glasthür von ihnen getrennten Comptoirpersonal. »Ich bin bereit, alles zu unternehmen, wenn es mir nur glückt, Sie und Ihr Fräulein Tochter dem drohenden Verderben zu entreißen.«

»Nur wenige Federzüge sind es, mit denen Sie meinen Untergang verhindern können,« erwiderte Jansen leise, fast beschwörend, während er ein. Papier seinem Portefeuille entnahm und es dem jungen Mann zeigte.

Reinhold hatte verstanden. Die Röte auf seinem Antlitz war plötzlich gewichen, fast zitternd starrte er auf das verhängnisvolle Papier.

»Sie führen die Korrespondenz mit diesem Hause seit Jahren; Sie kennen den Namenszug genau und es fehlt Ihnen nicht an Gewandtheit,« sprach Jansen in bittendem Ton. »Nur wenige Wochen und die Angelegenheit ist geordnet. Das Papier wird vernichtet und kein Mensch hat eine Ahnung davon, was in dieser unglückseligen Stunde geschehen ist.«

Jansen bot, von Angst getrieben, seine ganze Ueberredungskunst auf. Er flehte zu seinem Untergebenen wie zu einem Gott, aber Reinhold war noch immer unschlüssig.

Da plötzlich vernahm er Ellas Stimme, welche, Einlaß begehrend, an der Thür pochte.

Wiederum übergoß sich sein Gesicht mit Purpurrote. Er ergriff das verhängnisvolle Papier, ging zum Schreibtisch und eine Minute später bereits gab er das Papier seinem Chef zurück.

Dieser warf einen Blick darauf und konnte nur mit Mühe einen Ausruf des Erstaunens zurückhalten. Ein schwerer Seufzer entrang sich seiner Brust; dann aber sprach er bewegt:

»Ich werde Ihnen diesen Dienst nie vergessen. Und nicht wahr, Ihrer Diskretion bin ich sicher?«

Dann öffnete er die Thür, die nach dem Hausflur führte, und begrüßte Ella, welche vor einem Ausgange sich verabschieden wollte.

Das freundliche, anmutige Mädchen reichte auch Reinhold die Hand, wechselte auch mit ihm einige Worte. O, sie ahnte nicht, in welcher Gefahr der Vater schwebte. Dieser aber konnte nun sein Töchterlein herzlich willkommen heißen; er hatte für die nächste Zukunft nichts zu fürchten; die Firma Jansen & Sohn war gerettet!


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