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Vor den Kulissen.
Die Menschen spalten sich überhaupt in zwei Klassen, von denen die eine durch den eignen Gedanken, durch die Überzeugung zur That gedrängt werden kann, die andre durch den Glauben an einen fremden Gedanken zur That gestachelt werden muß. Im ersten Falle, d. h. in der Möglichkeit von innen heraus zu einer Handlung getrieben zu werden, die unmittelbare Folgen für das Allgemeine hat, befinden sich die sogenannt bevorrechtigten Klassen der Gesellschaft zu jeder Zeit, sie sind stets als ein aktiver Posten anzunehmen, während die andern Schichten, also das Volk im banalen Sinne des Wortes, immer als passiv und geschoben zu betrachten sind. Daher ist die scheinbare Aktivetät des Volkes eine ruckweise, intermittierende, sie hört auf, sowie die Kraft, die eine Bewegung erzwingt, in ihren Anstrengungen eine Pause macht. Diese Spaltung ist eine faktische, die durch den Verlauf aller Revolutionen bewiesen wird, sie ist es überall, wo es bevorrechtigte Kasten gab, – ob sie aber auch nur nach irgend einer Richtung hin eine berechtigte, das ist eine andere Frage. Man spricht mit Recht über Unreife, Dumpfheit, Stumpfsinn und Trägheit des Volkes, es hat aber unsres Wissens noch niemand die Frechheit gehabt, dem Volke den Beruf und die Fähigkeit abzusprechen aus dieser Unreife und dieser gezwungenen Passivität empor zu kommen. Eine strikte Anerkennung der hohen Fähigkeit, die im Volke schlummert, liegt sogar in all den Mitteln, die von seiten der aktiven Partei angewendet werden, dem Volke Bildung und alles, was zum eignen Gedanken führt, zu erschweren, ja gradezu vorzuenthalten. Dies Bestreben richtet sich selbst und ist leider in der Praxis oft die Apologie jedes beliebigen Versuchs, diese Schranken zu brechen. Wage man es doch abzuleugnen, daß man die Bildung des Volkes fürchtet; wage man es zu sagen, daß die Volksschulen, von der geringsten Dorfschule bis zur besten Universität hinauf, wirklich die Tendenz der Aufklärung durch die Wissenschaft verfolgen! Über aller Aufklärung hängt das Damoklesschwert der verschiedenen Prärogative, bald des Purpurs, bald der Kutten. Man sage, aber ohne die läppische Berufung auf jene himmlische Kabinettsordre ohne Datum, man sage, wie sich überhaupt wissenschaftliche Klarheit mit Prärogativen verträgt! Diese Lücken zeigen nur allzudeutlich, daß hinter dem Zwange die Furcht, hinter jener pomphaften Berufung auf antediluvianische Pergamente das sich bewußte Unrecht maschiniert. Die unveräußerlichen Rechte sind Schneeflocken vor dem Willen des Volkes, wenn es sie zerschmelzen lassen wollte, – das weiß alle Welt, drum sind die Prahlereien auf Rechnung ihrer Ewigkeit so widerlich lächerlich, – aber man weiß auch ebenso gut, daß das Volk jetzt nicht wollen kann. Und es soll nicht wollen, drum muß es träg und dumpf bleiben, drum darf der Gedanke keinen Tummelplatz haben, drum wird er nicht mit Gedanken, sondern mit Eisen, Schwertern, Richtbeilen, Fesseln und Kerkerriegeln bekämpft. Diese Waffen sind ein selbstredendes Armutsattest seiner Gegner, wären sie im stande, durch gleiche Mittel über ihn zu siegen, so griffen sie nicht zu brutalen. Sie gestehen damit ihre Unfähigkeit und ihr Unrecht zu und unterliegen auf diese Weise quand même. Mit Bajonetten oder Offenbarungslehren macht man keinen Gedanken tot, im Gegenteil besitzt er oft die Macht, die letzteren als Spielwerk darzustellen und die ersteren der Faust, die sie gegen ihn führen will, zu entwinden. Es liegt auf der Hand, daß das Volk sich aus keinem andern Grunde nicht klar werden darf, als weil es sich hernach nicht mehr schieben ließe und sich außerdem über die schönen Sachen, durch die man es jetzt regieren kann, lustig machte. Es wäre dann entschieden nicht mehr gouvernable im heutigen Sinne. Solang es sich in dieser Lage befindet, kann es im Kampfe nur mitzählen wie eine Kugel oder wie ein Felsstück, das man auf den Gegner schleudert. Zur Zeit der äußeren Ruhe aber ist es eine gefährliche Masse, eine Mine unter allem Bestehenden, durch welche eine Partei zu gelegner Zeit die andere in die Luft zu sprengen sucht. Das Volk leidet immer, es mag sich von denen oder jenen brauchen lassen, und hat faktisch nie einen Nutzen gehabt, weil ihm das Selbstbewußtsein, der belebende Gedanke nicht im Nu eingegossen werden konnte, und die zur Herrschaft Gekommenen es auch nach einer Umwälzung viel bequemer fanden, nach wie vor das Monopol und die Prärogative, an denen sie nun selbst teilnahmen, aufrecht zu erhalten. Das Volk ist so durch dauernden Betrug bis heute eine immense Reihe von Nullen geblieben, durch die sich bald diese, bald jene Zahl eine ungeheure Bedeutung verschafft. Es gibt nur eins, was in Wahrheit die Interessen des Volkes vertritt: – das Dringen auf wirklichen Volksunterricht, auf Volksbildung. Ohne diese zu besitzen, ist ihm aller andre Besitz ein geborgtes, unnützes Gut, das ihm jeder Augenblick wieder entreißen kann.
Wir haben es vorläufig nur mit der aktiven Klasse zu thun. – Vor dem Jahre 1848 und namentlich je näher man diesem Zeitpunkte kam, war sie in Deutschland in zwei große Heerhaufen geschieden, zwischen denen aber so sehr viel Feldwachen und Vorposten durcheinander aufgestellt waren, daß eine wirkliche Unterscheidungslinie gar nicht existierte. Nur ein sehr geringer Teil der Konservativen, – denn man hieß ja damals konservativ oder liberal, – war ehrlich genug, sich konservativ zu nennen, und dieser war dort zu finden, wo es am meisten intensiv Liberale gab: in Baden, Bayern, Württemberg und in der preußischen Rheinprovinz; – Österreich kam erst in zweiter Linie. Im übrigen galt das »liberale« Banner für das ehrenvollere. Wer einigen Anspruch auf Talent oder auch nur gewöhnliche Begabung machte und nicht grade ein Sproß irgend einer durch großen Besitz und altaristokratische Familientraditionen bekannten Sippe war, gab sich entschieden einen mehr oder minder liberalen Anstrich. Im äußersten Falle sagte er wenigstens, daß er liberal sei. Wir könnten Namen für unsre Behauptung durch die ganze Hierarchie der Gesellschaft hindurch aufzählen, auch Könige würden nicht fehlen. Man schämte sich gegen die Zeit zu sein und wollte es nie zugestehn. Diese Konservativen, die gern liberal hießen, verliefen sich in die völlig ansichtslose Richtung und aus dieser erst stieg allgemach und stufenweise jene Partei der verschiedenen Landtagsoppositionen empor, in der alte Burschenschafter den Sauerteig bildeten. Das waren die offiziellen Liberalen, denen noch ab und zu gern von oben einige gnädige Worte zugewendet wurden. Die deutsche äußerste Linke von damals zählte, wie die von heute, nicht zur deutschen, ja fast nicht zur europäischen Gesellschaft; ihre Spitzen waren im Kreise der Emigration zu suchen, und mit diesen fehlte in der Heimat die eigentliche Partei der Kampflust. Man reizte sich nicht erwähnenswert, man kitzelte sich kaum und kam glatt aneinander vorüber. Konservative und Liberale vertrugen sich genau wie Menschen, die ein dreißigjähriger Friede müde gemacht, der Unbefangne konnte die Blasen, die entsetzlich einzeln aufstiegen, im Notfalle für optische Täuschung und das Ganze für ein organisches Ganzes halten. Es ging zu wie auf Universitäten, auf denen der Du-Komment herrscht, man sagte jedem »Guten Morgen«, wenn's auch Nacht war und vergaß über der Gemütlichkeit ziemlich alles. –
Da schied plötzlich ein elektrischer Strom das scheinbare Ganze unversöhnlich in seine Bestandteile. Der krankhafte, versimpelte Zustand, der das Blut stocken machte und in dem die Trägheit über den Gedanken zu siegen schien, wurde aufgehoben durch jene heilsame vielversprechende Reaktion, die man eine Revolution zu nennen beliebt, obgleich ihr fast kein einziges revolutionäres Bewußtsein half: man öffnete die Augen und wählte seine Fahne. Im ersten Schreck und weil man eben glaubte, ein umgeworfener Thron bedeute wirklich eine Revolution, lief alles der »liberalen« Fahne zu. – Komische Gestalten mitunter, wie man sie später in Bürgerwehren sah zum Ergötzen aller Karikaturenliebhaber. Die eifrigsten dieser Springinsfelde aus dem Richterstande, die in ihrem Eifer natürlich recht viele forcierte Tollheiten begingen, findet man jetzt als Staatsanwälte wieder. Sie gleichen jenen Verbrechern, die nach Sibirien geschickt werden, aber Begnadigung zu hoffen haben, wenn sie eine gewisse Anzahl von Zobelfellen abgeliefert: bei ihnen gilt es, politische »Verbrecher« zur Bestrafung zu bringen, um eigne Märzthaten zu verwischen. – Man flaggte schwarz-rot-gold pêle mêle durcheinander, die Büreaukratie, die ihr lebenlang nur Egoismus, aber nie eine Gesinnung besessen hatte, wollte plötzlich auch gesinnungstüchtig sein und kam dadurch ganz aus dem Geleise, ja die Gutsbesitzer versicherten in öffentlichen Blättern, daß ihre Gemeinden sich musterhaft führten: – alles nur Angst und Katzenjammer, Phrasen ohne Ziel und Ende. Metternich war vom Schauplatze verschwunden, die Sündflut brach herein, – man glaubte nun mit einemmal an die Forderungen der Zeit. Geheimräte setzten sich zu Handwerkern auf die Bierbank und versicherten, daß sie stets für die Volksrechte gestanden, daß nur das »System« ihre Bemühungen unfruchtbar gemacht; Regierungsräte patrouillierten mit der Bürgerwehrbinde und dem Regenschirme in Reih' und Glied neben Kopisten oder gar neben Juden, kurz, es ging auf einmal alles, jeder suchte den andern glauben zu machen, daß die Ständegleichheit seit lang ein von ihm gefühltes Bedürfnis sei. Diese allgemeine Vermischung dauerte indes nur einen Moment. Man that dem Volke den Gefallen, sogar offiziell zu erklären, daß es eine Revolution gemacht habe, und das Volk freute sich darüber wie ein Kind, schoß Kobolde und ließ sich von Eigennützigen, Schwärmern und Beschränkten, die selbst glaubten, es wäre was Rechtes geschehn, Floretten sagen. Die offizielle Anerkennung der »Revolution« aber war nichts als der erste Beweis, daß die Feinde des Fortschritts bereits das Wesen der Bewegung erkannt hatten. Sie nahmen durch die »Anerkennung« die Zügel wieder in die Hand und schlugen damit der Volkssouveränität ein Schnippchen. Von da ab ward die Reaktion wieder eine krankhafte, obgleich andrerseits die Zersetzung durch den elektromagnetischen Strom nun erst gründlich in Schuß kam. Die Gesellschaft des neunzehnten Jahrhunderts zog die Kinderschuhe aus und trat in die Unterscheidungsjahre, erhielt somit nach dem preußischen Landrechte die Erlaubnis, sich, unabhängig von Papa und Mama, selbst eine Religion zu wählen. Und das geschah denn auch. – Vor 1848 konnte man in jeder Versammlung, in jedem geselligen Zirkel die verschiedensten Richtungen harmlos durcheinander gemengt finden, ohne daß es für anstößig galt; nach dem März aber, als das Associationswesen in eine neue Phase trat, hörten die gemischten Gesellschaften plötzlich auf. Die Purifikation wurde hartnäckig und konsequent durchgeführt, so daß im Jahre 1850 jede Gesellschaft herzlich langweilig geworden ist, weil es nur noch zufälligen und kleinlichen Widerspruch gibt. Die ernstlich politischen Parteien haben sich nach Napoleons Prophezeiung geschieden, sie sind entweder kosakisch oder republikanisch, denn die bei weitem größte Partei, die konstitutionelle, ist an sich bedeutungslos und trägt den Stempel des Überläufertums zu der siegenden Richtung an der Stirne; – die Gesellschaft dagegen, insofern sie sich nur amüsieren will, schließt sich unter »Ihresgleichen« ab und wärmt die Ständeunterschiede schroffer als je auf. Jeder Zirkel hat seinen esprit de corps, ja seinen eignen Jargon, seine eigne Terminologie und seine eigne Moralität. Es geht Fremden, die sich durch einen Zufall mitten unter eine Zahl solcher in ihren Gefühlen und Gesprächen Eingeübter versetzt sehn, oft wie es ihnen gehen muß, wenn sie in eine vielgliedrige Familie kommen, die abgeschlossen auf dem Lande lebt. Die Leute lachen, ohne daß er weiß warum, sie sprechen halbe Worte aus, die wie Signale wirken, sie betonen dies und das auf eigentümliche Weise, erröten oder werden betrübt über Dinge, die sonst nirgends das Schamgefühl verletzen oder Nerven unsanft berühren. Sie haben ihre stereotypen Familienwitze und Beziehungen, Worte haben neue Bedeutungen gewonnen, der Fremde muß erst in die Mysterien eingeweiht sein, ehe er sich einigermaßen bewegen kann. Das ist die Form des geselligen Verkehrs von 1850. Man muß gestehn, daß sie entsetzlich kleinstädtisch ist und zudem ein komplettes Spioniersystem voraussetzt: es gilt immer zu wissen, an was der oder jener glaubt, damit man nicht sich und seine andern Gäste durch eine Einladung, die man einem Reaktionär oder einem Republikaner gibt, kompromittiert. Jene guten großen Häuser, in denen jeder, der auf Bildung Anspruch machen konnte, gern gesehn war, sind seit 1848 in Deutschland fast ganz eingegangen; allenthalben herrscht Splitterwirtschaft und Cliquenunwesen. Was soll daraus werden? Jedwede Intoleranz zeugt von Beschränktheit. Alles hat ein Recht auf Duldung, nur die Dummheit und die Lüge nicht, denn beide sind unnatürlich. Toleranz und Indifferentismus aber zu einem und demselben Begriffe zu stempeln, oder doch um einigermaßen der Logik Genüge zu thun, die Toleranz als einen Ausfluß des Indifferentismus darzustellen, das ist wieder eine jener Erfindungen der gemeingefährlichen Partei, die alles zur größeren Ehre Gottes zu thun vorgibt. Sie eskamotiert hier wie immer die natürliche Beleuchtung und läßt nur nach ihrem Belieben gebrochene Lichtstrahlen auf die Sachen fallen, so daß diejenigen, die sich von der Blendscheibe täuschen zu lassen gewöhnt sind, alles sehn können, nur das nicht, worauf es ankömmt. Wenn wir gegen diese Leute intolerant sind, fallen wir nicht etwa in ihren Fehler, sondern bleiben uns konsequent: sie sind die Ritter der Lüge, und die Lüge darf keine Duldung finden. – Die gemischte Gesellschaft von 1850 würde nicht eine harmlose Milchsuppe mit Gries oder Reis sein, sie würde ihre Versöhnung nicht in quietistischem Indifferentismus suchen, sondern die einmal zur Besinnung gekommenen widerstrebenden und widerspenstigen Elemente würden ein frisches, warmes Leben möglich machen, sie würden einander richtiger würdigen lernen als es bisher geschehn und der Kampf um Vernichtung jeder der eignen diametral entgegengesetzten Idee würde nicht ewig auf Überrumpelung und Faustdrescherei ausgehn. Es ist auf keiner Seite Selbstvertrauen genug, beide Parteien mögen den Gedankenkampf nicht bis ans Ende führen, um nicht möglicherweise die Partie zu verlieren. Man schlägt sich lieber: – eine verlorne Schlacht, ein Putsch, der fiasco macht, beweist weder etwas für noch wider: so bleibt immer noch einige Hoffnung. Daß indes die Initiative dieses feigen Verfahrens von seiten der Vergangenheitsfreunde ergriffen worden ist, steht unzweifelhaft fest und entschuldigt ihre Gegner zwar, aber rechtfertigen kann es ihr Auftreten dennoch nicht. Die rechte Waffe des Gedankens ist die Agitation durch Schrift und Wort, nicht aber durch Pike und Sense. Man lasse doch den Fürsten die Schmach ihrer » ultima ratio«, durch die sie sich selbst der Vernunft gegenüber als verteidigungslos und geschlagen zu erkennen geben. Man habe Achtung genug vor der Zukunft des »Volkes«, es nicht zur Maschine herab zu würdigen und zu mißbrauchen wie Könige ihre Soldaten mißbrauchen. Die unbewußte, nicht von innen heraus motivierte That steht immer als rechtlos da und ihre Notwendigkeit kann jeden Augenblick in Zweifel gezogen werden: einer andern aber ist das Proletariat in seiner jetzigen Lage nicht fähig. Heldenmütig verteidigte Barrikaden geben allerdings schöne Illustrationen für Bilderbücher, sind aber zugleich der Beweis, daß die Barbarei noch auf beiden Seiten gleich groß war und vom Siege der einen Partei so wenig Heil zu erwarten stand als von dem der andern. Um es mit einem Worte auszusprechen: der Fanatismus, der nichts ist als die Sublimation des blinden Glaubens an dies oder das; der Fanatismus, der Spanien entvölkerte und aus Robespierre und Marat die scheußlichen Heiligen der bornierten Republik machte, der Fanatismus, das störrige Pferd mit den verbundenen Augen, rennt in der Welt herum, tritt nieder und schmettert um sich her. Von ihm geht das Geheul nach Thaten aus, das der Haufe nachbrüllt, ohne zu wissen wozu. Da kommen dann solche jammervolle Thaten heraus wie die lahmgebornen Putsche der Neuzeit. Mit welchem Rechte wollen diese fanatischen Freiheitler, die selbst zu brutaler Waffe greifen und blutige Drohungen ausstoßen, ihre Gegner der Brutalität zeihen? Wie wollen sie es, sie, die stets die Guillotine im Munde haben? Sie schlagen sich selbst, wie sich die Fürsten selbst schlagen, wie alle Gemeinheit und Gedankenlosigkeit verurteilt und abgethan ist. Es gibt nur eins, was siegen wird und siegen muß, das Volk, das gebildete Ganze, das der Brutalität der Bluse grade so bestimmt ein Ende macht wie der Brutalität der Kronen. Jetzt halten sie einander das Gleichgewicht; die Kronen sind nur darum etwas schwerer, weil mehr alter Schmutz an ihnen ist.
Schon die alten Eleaten wußten, daß das Seiende nicht zu nichts werden kann, und doch bildet man sich heute ein, Parteien vernichten zu können durch Akte. Sie sind seit je nur durch Assimilation vom Schauplatze verschwunden. Das neuerdings beliebte Schachtelwesen, das Absondern Gleichgesinnter, Gleichgestellter zu stabilen Phalanxen, und wieder das Anfeinden en masse hindert die Assimilation, schiebt also die Entscheidung aufs neue hinaus. Wer den Willen, das Bewußtsein und den Mut des Rechten in sich trägt, schließt sich nicht einseitig ab und verschließt vor allem nicht dem Gegner das Ohr. Dieser Mut, dies Bewußtsein fehlt in der Neuzeit fast ganz und damit ist das entweder freche oder ängstliche Auftreten aller Richtungen motiviert. Die Spitze des Mutes ist Energie, markige, entschiedne Begriffsbezeichnung und Gerechtigkeit; die Spitze der Furcht ist tobendes Schimpfen und hyperbolisches Phrasenspiel. Das ist ein Kriterium, das nie täuscht.
Man glaubt an die Revolution von 1789, feiert in der Geschwindigkeit die Versailler Feste und fürchtet die Revolution von 1792, die ja doch der Analogie wegen nicht ausbleiben kann. Das ist die Charakteristik von 1850 in wenig Worten. –
– Wie überall hatten die Vorgänge der letzten beiden Jahre auch in Hehlenried Spuren hinterlassen und das Gesicht der dort empfangnen Gesellschaft je nachdem verändert. Zuerst war sogar der Magistrat der nächsten Stadt wiederholentlich eingeladen worden, den Dorfbewohnern standen zu allen Tageszeiten der Park und die Galerie im Erdgeschosse des Schlosses, die des Sehenswürdigen viel enthielt, offen; später wurden Beschränkungen gemacht und in dem Augenblicke, in dem wir den Faden unsrer Erzählung wieder aufnehmen, im Mai des Jahres 1850, waren die Parkthore fest gesperrt und die Zahl der Gäste eine stets gleiche von bestimmter Färbung. Nur eine Ausnahme wurde gemacht und diese fiel nicht auf oder ließ sich doch entschuldigen.
Hehlenried galt für das gastfreiste und angenehmste Haus in der ganzen Gegend, und dies schon darum, weil man dort in jenem vornehmen, unbeschränkten Stile lebte, den große Mittel und eine geistreiche, lebensverständige Frau vom Hause allein möglich machen. Nirgends Zwang, nirgends Ecken, überall ein prächtiges Sichgehnlassen, denn das Starre, Exklusive wird ja von denen, die mitten darin sind und für Pairs gelten, nicht empfunden. Ein solches Haus gleicht nach außen einem Igel, innen aber ist's ein weicher Muff. – Hehlenried vereinte mit all diesen Vorzügen außerdem noch den Reiz seiner prächtigen Lage und äußerst geschmackvoller Gesellschaftsräume, von denen namentlich die für die schöne Jahreszeit bestimmten ihresgleichen suchten.
Das Schloß hatte eine Langseite und zwei Flügel. Der Hauptteil machte Front nach Süden, und außer ihm war früher nur der östliche auch nach außen gewahrt und beschützt worden; daher kam es, daß der westliche, seit lang' verwahrloste, der tief in den Park hineinragte, dicht von Bäumen eingeschlossen und dem Verfalle nahe gekommen war. Er enthielt die Spukräume, die in alten Häusern ja nie fehlen dürfen. Cecile hatte Sinn für schöne Aussicht, und gerade dieser Flügel bot eine solche; sie hatte ferner Sinn für das Angenehm-Bequeme, das aus einer leichten Verbindung des Garten- und Stubenlebens sprießt, so daß man weder weite Strecken bis zu einem schattigen Platze in Sand und Sonnenhitze wandern muß, noch auch von einem plötzlichen Regengusse durchweicht werden kann, ehe man ein Dach erreicht. Auch zu diesem Zwecke ließ sich der Spukflügel benutzen. Geschickt und entschlossen wie sie nicht bloß im Plänemachen, sondern auch in der Ausführung derselben war, hatte sie denn wenige Jahre nach ihrer Verheiratung den westlichen Flügel ihres Wohnsitzes zum Glanzpunkte des Hauses und zum Lieblingsplatze aller, die je nach Hehlenried gekommen, umzuschaffen gewußt.
Der Schutt, das Geröll, die Erde und faulen Baumäste, die das Souterrain füllten und von außen bis in die halbe Fensterhöhe des Parterres ragten, wurden fortgeräumt, Bäume, die zu dicht heran standen, ausgehauen und so ein großer freier Platz gewonnen, den nach der einen Seite breitschattige Eichen und Linden, nach der andern eine mit Marmor gepflasterte Terrasse längs des Gebäudes begrenzte. Im Innern fanden sich in geschloßner Reihe sechs große gewölbte Zimmer, ins Geviert gebaut und die ganze Tiefe bis zu dem an der Hofwand hinlaufenden Korridor einnehmend. Diese schöne, mehrere hundert Fuß lange Enfilade hatte die Gräfin in einen einzigen Raum verwandeln lassen, was darum auf weniger Schwierigkeiten stieß, weil die Bogen in alter Weise sich auf Gürte stützten, die ihrerseits auf den Hauptmauern ruhten, ohne die Querwände besonders zu benutzen. Gewagter war es, daß ihrem Plane gemäß auch die Gartenwand angegriffen werden mußte. Man umging indes das Gefährliche dadurch, daß man Sandsteinsäulen und gußeiserne Streben einzog und die offnen Bogen auf diese lehnte. So stellte denn das ganze Erdgeschoß eine Art eingerückter Veranda vor, an den Enden durch Säle mit großen Bogenfenstern, in der Mitte durch riesige Thüren, mit buntem Glase ausgesetzt, geschlossen. Von außen glich das Gebäude, wie wir sagten, einer nordischen, dem Klima angepaßten Veranda, an deren Pfeiler im Sommer die üppigsten Schlingpflanzen ihre Blüten hingen, im Innern aber war es mit verschwenderischem Salonluxus ausgestattet. »Meine Galerie«, pflegte Cecile Hehlen zu sagen, »ist der Mikrokosmus aller Salons in der Welt.« Und der Anblick rechtfertigte dies pretensiöse Wort. Kostbare Gemälde an den Wänden, die ebenso kostbare Tapeten, selbst für Kunstwerke zu rechnen, bedeckten; Fresken in den Bogenfeldern des Plafonds; Statuen in den Nischen und Büsten auf den Simsen, musikalische Instrumente, ein Billard, Spiele aller Art; Stühle, Kauseusen und Kissendivans von allen Formen; kurz die Kunst, der Zeitvertreib, die Bequemlichkeit und die Pracht hatten hier ein Ganzes geschaffen, das nach allen Richtungen hin vollendet war.
Hiezu kamen noch die beiden auf drei Seiten geschlossnen Eckräume, in deren einem die Rüstsammlung des Grafen aufgestellt war. Es gab der Waffen nicht so viele und interessante als in Wien und Dresden, aber sie waren ebenso geschmackvoll geordnet als in Wien und ebenso gut gehalten als in Dresden. Sie bildeten Trophäen zwischen lebensgroßen Familienbildern, die fast alle nach den alten verblichenen Originalen neugemalt waren und die Lücken, die sonst in dem großen Raume gewesen wären, füllten. Auch das Mobiliar dieses Saales zeigte alte Formen, die Stühle waren mit goldgepreßtem Leder überzogen, auf den Marmortischen standen Humpen und daneben lagen Folianten, Chroniken und Wappenbücher. An dem einen Pfeiler lehnte ein Gepanzerter, der mit der Hand nach dem in polierter Gipsmasse künstlich aus der Wand vortretenden Stammbaume der Hehlen zeigte. Der Baum gab einen trüben Anblick. Der dürren Zweige waren viele und die Vögel, die nach alter Weise auf den Ästen saßen und die Schnäbel aufsperrten, mochten wohl ein Trauerlied singen. Allenthalben waren Kreuze auf den Schildchen vermerkt und die leeren, die sich bis hoch zum Plafond hinauf verloren, hatten alle Aussicht leer zu bleiben, denn es gab nur ein besetztes Feld über dem Zusammentreffen der beiden grünen Hauptäste, und dies trug einen weiblichen Namen. Ein zweites, das daneben existiert zu haben schien, war durch einen heftigen Stoß, der die Masse in Strahlenlinien gesprengt, ausgebrochen. Hier hielt sich der Graf stundenlang auf, die Gräfin dagegen betrat den Raum schon seit Jahren nie mehr.
Ihr gewöhnlicher Aufenthalt war am entgegengesetzten Ende der Reihe, in dem zweiten Ecksaale, der eine auserlesene Bibliothek und reiche Sammlungen an Mosaiken und andern Kunstsachen enthielt. Ein großer runder Tisch, umgeben von weichen Lehnstühlen, trug immer die neuesten Gedankenschätze in vier Sprachen, man kam aus embarras de richesse kaum dazu, das Gebotne richtig zu würdigen und zu genießen.
Diese Galerie stand im Sommer jedem Besucher offen, der im Hause empfangen wurde. Es war hergebrachte Hausregel, daß sich jeder placierte, wo und wie es ihm gefiel und that, was ihm beliebte oder wozu er einen Partner fand, auch wenn weder die Dame noch der Herr vom Hause zugegen waren. So wenig es einem Fremden oder Proskribierten möglich gewesen wäre, auch nur in die Nähe der Galerie zu kommen, so bereitwillig und ohne Gene bot sie ihre Schätze den Bekannten. Und man benutzte diesen Ton so gern, daß Hehlenried eigentlich der Vergnügungsort für die ganze Umgegend war. Jeder bewegte sich in der That wie zu Hause und in seinem Eigentume und schien dadurch den Besitzern die größte Freude zu machen.
Daß ein solcher Hausstand enorm kostspielig sein mußte, sah jeder ein, aber die einen meinten: sie sind kolossal reich! die andern zuckten die Achseln und sagten: wie lang wird's wohl noch gehn? Jedenfalls ließ man sich dadurch nicht abhalten, die Gastfreundschaft eher zu mißbrauchen als zu vermeiden. Man spielte Billard oder Whist, die Damen wußten immer eine Neuigkeit, die Mädchen warfen Reifen, auch politisiert wurde dann und wann heftig. Die Gräfin war stets die Seele von allem und alle Welt konnte nicht umhin, ihre Liebenswürdigkeit und ihre wahre Vornehmheit anzuerkennen. Es versteht sich von selbst, daß dieses Urteil nur von denen gefällt wurde, die sie als Gäste bei sich sah und gegen die sie liebenswürdig sein wollte. Kam sie herunter, denn sie war oft tagelang nicht sichtbar, so ging sie von Gruppe zu Gruppe, hatte für jeden ein Wort, einen Scherz, eine freundliche Frage und konnte stets mit dem Bewußtsein weiter gehn, daß sie die Männer entzückt, die Frauen gewonnen und die jungen Leute stolz gemacht habe.
Nur auf Einen übte sie diesen zauberhaften Einfluß nicht aus, obgleich in den Augen der Welt die Frage zur Entscheidung vorlag, ob er Cecile oder ihrer Tochter die Kur mache. Dieser Eine war Craw-Gillen, dessen Besitzung nur eine Wegstunde von Hehlenried lag, und der fast Nachmittag für Nachmittag herüber geritten kam. War große Gesellschaft, so zog er sich in die Bibliothek zurück und las oder schrieb; waren die Damen allein, so setzte er sich zu ihnen unter die Bäume und las ihnen eigne oder fremde Arbeiten vor. Er war der Gräfin trotz aller seiner Sonderbarkeiten unentbehrlich geworden, so wie er sie nicht missen zu können schien, und doch war das Verhältnis, in dem sie zueinander standen, ein gezwungnes. Es lag etwas zwischen ihnen, beide Teile trugen etwas, das sie nicht in ein Geständnis zu fassen wußten oder nicht gestehen wollten, und offne Geheimnisse zwischen Engbekannten sind unüberwindliche Hemmnisse innigen Verkehres. Jeder kennt das was den andern drückt und fühlt sich immer wieder in der Idee verletzt, wenn dieser sich nicht dazu verstehn will, freiwillig mit seinem Kummer hervorzutreten. Es wird ihm unmöglich gemacht, eine Eröffnung zu veranlassen, und er ist somit genötigt das, was ihn am wärmsten interessiert und was immer auf seiner Zunge schwebt, zu unterdrücken. So zwingt er sich Fremdes zu sagen und dieser Zwang prägt sich peinlich in seinem ganzen Wesen aus. – Die Leute, denen diese Spannung nicht entgehen konnte, interpretierten sie nach ihrer Weise falsch, d. h. so gut sie es verstanden, und hielten es für ihre Pflicht, unter der Hand durch halbe Worte den Grafen aufmerksam zu machen. Man wußte auch, daß dieser einmal nach Sauseneck zu Craw gefahren war, um ein ernstes Zwiegespräch mit ihm zu halten. Da Craw aber nach wie vor ins Haus kam und mit dem Grafen auf dem besten Fuße stand, sagten die Böswilligen: er hat ihn überredet, daß seine Bemühungen der Tochter gelten! Die Überklugen rechneten dagegen aus, daß Craw höchstens zweiunddreißig Jahre alt sei, während die Gräfin, so schön sie auch noch war, fünf bis sechs Jahre älter sein mußte, und behaupteten apodiktisch: er muß die Tochter wollen und wird sie bekommen.
Sie hatten insgesamt unrecht.
Der Mai des Jahres 1850 bestätigte, wie wohl jedem noch erinnerlich, die früher von uns aufgestellte Behauptung, daß der Mai gar nicht der »Mai« in aller Form sei, und brachte erst gegen sein Ende einiges Farbenspiel und einigen Duft. Revolutionär ist der Frühling doch immer, und Kommunist und Sozialist dazu. Die Verfassung, die der Winter oktroyierte, wird im Freien verbrannt, die Veilchen konspirieren und die Siringentrauben bilden reizende Associationen. Kommunist aber ist er auch, denn er erkennt absolut die Heiligkeit des Eigentums nicht an. Er besät alle Wiesen und Felder mit seinen Lieblingsblumen, übersteigt jede Mauer auf einer Leiter von Epheu oder andrem Schlingkraut, ja er legt sich ohne weiteres auf Zinnen und Dächern Gärten an, in denen er Pechnelken, Mauerpfeffer, Gelbveigel und Hauswurz zieht. Das ist sein Geschmack, und sein Moosrasen ist glatter und gleicher als er je vor irgend einer Cottage gesehn worden. Der Frühling ist die Apologie des Kommunismus wie der revolutionären Ideen überhaupt, sie haben alle irgend etwas von ihm. Dessen kann sich die Reaktion nicht rühmen; es hat denn auch kein Dichter je einen Frühlingsgedanken mit konstitutionellen und despotischen Gelüsten in Verbindung bringen können. Es ist sogar wahrscheinlich, daß die zweifarbige Reaktion des letzten Jahres den Winter betrunken gemacht hat, so daß er seine Abmarschzeit verschlief und den Frühling zurückdämmte. Warum denn nicht? Es läßt sich das ja ebensogut glauben, als daß die preußische Demokratie daran schuld ist, daß sich der König irgend einmal den Fuß verstauchte. Ähnliches ist gesagt worden!
Das beste ist, daß der Frühling endlich kam, die Sperre aufhob und trotz aller Ordonnanzen und Preßgesetze Zeitblumen und Zeitlieder massenhaft ausstreute, so daß seine besten Gedanken bald Gassenhauer waren. So gelang die Revolution; wer oder was wollte denn dagegen sein? Die Gesamtheit war von ihr durchgeistet, der Winter hatte keine Mittel zum Kampfe und verschwand durch Assimilation von der Bühne. Das geschieht Jahr für Jahr und doch haben wir noch immer nicht gelernt wie man eine totale Revolution zu Ende führt, so daß der Jubel und die Freiheit eine allgemeine und allgemein genießbare wird. Die Menschen sind verzweifelt langsam und schwerfällig im Begreifen.
Mit der Mairevolution wurde Hehlenried nun gar ein Paradies und sein Schatten und seine Nachtigallen ein Bedürfnis für Craw-Gillen, der selbst eine Nachtigall im Herzen trug, einen Singvogel, von dem man nie wußte, ob er jubelt oder klagt. –
Im Garten war eine Gesellschaft von Herren und Damen. Craw kam, wechselte einige Worte mit dem Grafen und setzte sich dann in die Bibliothek. Die Gräfin war noch nicht unten, hatte aber sagen lassen, daß sie kommen würde. Vor dem Platze, den sie gewöhnlich einnahm, wenn sie las, lag ein prachtvoll gebundenes Buch aufgeschlagen; eine Stelle darin war bezeichnet. Sie lautete:
»Die Welt krankt nur an einer einzigen Krankheit, alles andere Unwohlsein hat seine Wurzel in ihr. Diese Krankheit, die noch keinen offiziellen Namen hat, soll hiermit getauft werden, sie ist der – Retrospektivismus oder, um menschlicher zu reden, die Manie, das goldne Zeitalter hinter uns zu suchen. Das ist eine fixe Idee, ein Irrsinn, und der, dem es gelänge, diese Krankheit zu heilen, wäre der erste wahrhaft große Wohlthäter der Menschheit, er wäre der einzige von allen, die man bisher gepriesen oder sogar angebetet, der einen Gedanken gefunden, auf den sich etwas gesundes Ganzes, etwas, das nicht einer Kaste, nicht einer Nation, sondern der Gesamtheit, von einem Pole zum andern, Erlösung und Freiheit brächte, aufbauen ließe.«
»Es ist so«, sagte er vor sich hin. »Dieser Gedanke birgt die Erlösung.«
»Und wenn es so wäre, mit welchem Rechte entzieht sich der Verfasser dieses Buches dem Blicke und dem Danke der Menschheit?« sagte eine Stimme spöttisch hinter ihm.
Von den Zimmern der Gräfin führte in der Mauer eine Wendeltreppe nach der Bibliothek, die Dame war durch die Tapetenthüre eingetreten, der Vertiefte hatte sie nicht bemerkt und so konnte sie über seine Schulter weg den Passus lesen und seinen Ausruf hören.
Aus der jugendlich elastischen Hebe, als die wir Cecile kennen lernten, war in der Zeit eine Juno geworden. Sie war immer noch schön, aber trotz ihres gewinnenden Wesens von einer kalten, fast abweisenden Schönheit. Wer ihr ins Auge sah, wenn sie Freundliches sagte, konnte sich nie darüber täuschen, daß in ihrer Brust kein Feld für weiche Regungen war. Ihr Wesen zog an, aber in gewisser Nähe mußte ihre Person wieder abstoßen, weil ihr Charakter aufgehört hatte bildungsfähig zu sein, weil er fest, hart und schroff geworden war wie ein Kristall. Es gab nichts mehr, was sie hinreißen konnte, es gab auch keine Frage mehr in ihrem Gesichte, – aber sie war nicht gelöst worden, man hatte sie beiseite geworfen; daher statt der Milde und Versöhnung, statt des Aufgehens in Frieden und Liebe das unerschütterliche Überlegtsein, der Egoismus, das Prädominieren der Stirn über alle andern Teile des Gesichtes. Sie war mit sich und dem Leben fertig, sie war eine Statue, an die kein Meißel mehr paßte, weil sie nirgends eine Lücke bot.
Craw stand auf und verbeugte sich.
»Nein, bleiben Sie sitzen«, sagte die Gräfin, »ich habe mit Ihnen über Ihr Buch zu sprechen und setze mich auf einige Minuten zu Ihnen. – Warum verbergen Sie Ihren guten Namen hinter ein so abgeschmackt bürgerliches Pseudonym? Warum thun Sie das in einem Augenblicke, wo man den Adel für so heruntergekommen hält, daß er kein einziges tüchtiges Talent aufzuweisen hat und der Rotüre das Feld räumen muß? Ich erkannte Ihre Arbeit auf den ersten Seiten schon, las das Werk seit gestern durch und finde es nun unverantwortlich, daß Sie sich nicht demaskieren wollen.«
»Mir unbegreiflich, daß Sie so klein denken können. Als brauchten Menschen wie Sie und ich ein Gerüst von eisernen Hosen und alten Wappenschildern, um etwas zu sein. Ich schämte mich, wenn ich der Vergangenheit, an der ich nichts gethan, das Geringste verdankte; und Sie … nun, Gräfin, was wären Sie ohne die Vergangenheit, ohne das Wappengerümpel, auf das Sie noch pochen? Sie mit Ihren Anlagen, Ihrem Geiste, Ihrer Kraft, Sie wären in jeder Lage eine Erscheinung geworden, die das Glück ihrer Umgebung notwendig bedingt hätte, wäre das ›standesgemäß‹ nicht überall verführend und hindernd aufgetreten. So ist's im Leben, was aber haben die Ahnen erst gar mit dem Gedanken zu thun? Was kümmert der Verfasser die Leser?«
»Sie sind inkonsequent und spielen die Debatte rasch auf ein anderes Feld, weil Sie fühlen, daß Sie unrecht haben. Ich verurteile Sie nicht nach meinen Ansichten, sondern nach den Ihren. Bei mir ist es höchstens Neugier, daß ich nach dem Verfasser eines Buches, das mich interessiert, frage, bei Ihrem Kampfe für Ständegleichheit aber müßte es von Wirkung sein, Freunden und Gegnern zu zeigen, daß es auch dort Gedanken gibt, wo die modernen Schreiber nur Hohlheit suchen. Sie belehren diese Leute dann ganz in Ihrem Sinne praktisch durch Ihren Namen und haben einen Grund mehr für sich.«
»Ich hoffe meine Behauptungen auch so zu beweisen und bin bescheiden genug, weder Kränze noch Katzenmusiken für mich zu beanspruchen …«
»Nun, lassen wir das und kommen wir auf den Gedanken zurück, den ich, wie Sie sehn, angestrichen habe. Mit dem anderen zusammen predigt er nichts als den Umsturz, die Vernichtung der Zivilisation, den Untergang der Gesellschaft und den Tod des Rechts. Nennen Sie das Erlösung?«
»So werden viele denken, die mein Buch lesen, und sie werden noch hinzusetzen, er ist ein Atheist und einer, der keine Religion hat. Warum Sie diese beiden Punkte ausließen, weiß ich. Für den Haufen aber sind sie wesentlich, weil er nicht überlegt, daß ›Gott‹ ein so vieldeutiges und vielfach gedeutetes Wort ist, daß man sich in acht nehmen muß, es zu brauchen. Christen, Juden, Heiden, Wilde, alle haben einen andern Begriff dafür, ja jede christliche und christlich philosophische Sekte denkt sich etwas anderes dabei, aber da sie sich nun alle etwas denken können, muß auch für den pure Vernünftigen etwas Denkbares darin liegen. Freilich kein irgendwo orthodoxer Begriff, sondern eben ein pur vernünftiger. Verloren kann der Gedanke nicht gehn, da er einmal da ist, und somit ist der ›Atheismus‹ nur im Sinne des rohen Haufens, dessen Gottesbegriff der Vernünftige nicht anerkennen kann, möglich, sonst aber Unsinn. Bewußt oder unbewußt, persönlich oder nicht persönlich, das sind Glaubensnüancen, mit denen die Vernunft nichts zu thun hat und um derentwillen man sie nicht des Atheismus beschuldigen kann. Das Schlimme ist nur, daß man aus Schonung, und um die Blöden zu düpieren, ein solches vieldeutiges Wort, dessen orthodoxer Begriff die Sittlichkeit geradezu negiert, so oft ohne Interpretation braucht. – Mit dem Worte Religion geht es nicht besser. Die Glaubenslehren – schon ein wahnsinniges Wort, denn was heißt ›glauben lehren‹ anders als das Urteil eskamotieren und nicht zu Beurteilendes, Unverständliches und Unverständiges an seine Stelle setzen? – Die Glaubenslehren können das praktische Leben nicht fördern, sondern, wie sie immer gethan haben, nur stören, weil sie Phantasien an die Stelle des Urteils setzen. Das nennt man Religion. An dieser hängen wir freilich nicht, und doch wollen wir eine Religion. Wir verbinden mit dem Worte also wieder einen andern Begriff als der Haufe. Und so ist es mit den von Ihnen genannten Dingen auch. Bewahre uns der Himmel, daß wir die ›Errungenschaften‹ der Menschheit, Kunst, Wissenschaft, Zivilisation und so fort verdammen und beseitigen wollten, wenn wir der Tradition Kampf bis zum Messer erklären! Das ist ja eben der Unterschied zwischen den Nihilisten und uns, die wir ein gebildetes Volk wollen. Uns fällt es nicht ein, den Stamm umzuhauen, um die dürren Blätter, die ja ohnehin abfallen müssen, bequemer abzupfen zu können. Die Tradition steigt aber mit dem Leimtiegel auf die Äste und klebt das tote Laub aufs neue fest. Das ist gegen die Verabredung, wir sehn uns also genötigt, die Tradition auf alle Weise zu zerstören. Jeder Blätterjahrgang hat auch einen Jahrring an dem Baume angesetzt, dieser Niederschlag ist das Resümee alles Nutzbaren und Guten aus der Vergangenheit, er bezeichnet ein Vorwärtskommen in der organischen Entwickelung, aber die Blätter an sich kümmern uns nichts. Sie sind krumm und lahm, von Raupen zerfressen und vom Hagel zerfetzt, sie sind vor allem dürr und abgestorben, also fort damit! Den Stamm aber, dessen Jahrringe ein unlösliches Ganzes bilden, behalten wir ganz bestimmt. Die Tradition fanatisiert für borniertes Konservieren, die bodenlose Negationswut für die Destruktion ohne Sinn und Verstand. Beide Parteien leiden am Retrospektivismus. Die erste sucht das Gute in dem was ist, die zweite in dem was war; die eine stützt sich auf das historische Recht, die andere auf das ursprüngliche Menschenrecht, von dem sie glaubt, daß es wirklich schon irgend einmal Form gewonnen hatte. Darin liegt die Thorheit, darin die Verwirrung und Verwickelung unsrer Zustände. Man erfand als Antithese ein historisches Unrecht, und der Kampf der Partei, die der Zukunft sonst am nächsten steht, ist nichts als ein Kampf der Rache für angebliche historische Beleidigungen. Das ist ebenfalls Tradition; diese Partei klebt so gut alte Blätter am Lebensbaume fest wie die andre, ja beide zerren sogar über denselben Zweigen, über denen, auf deren Holz sie sich schaukeln. Es wird brechen und beide kopfüber hinunterstürzen. Das ist der Retrospektivismus. Es ist nicht wahr, daß es jemals fertige Menschen gab, das goldene Zeitalter ist eine schurkische Lüge und wer da sagt, daß es jetzt bemerkenswert und andauernd schlechter um die Menschheit stehe als vor tausend Jahren, der spricht so gut als es die meisten verstehn, aber er sagt darum doch eine grenzenlose Narrheit. Es gibt Ebbe und Flut, wir haben vielleicht jetzt Ebbe, aber das Meer bleibt immer das Meer. Der Mensch trat als Raubtier auf, das erste Recht war das des Stärkeren, Kultur, Kunst, Zivilisation, all' die Dinge, die ihn unsrem Begriffe von Mensch näher bringen, sind allmähliche Errungenschaften des Gedankens, das Ziel liegt vor, nicht hinter uns, wir haben nicht zu rächen, sondern zu bauen, zu gestalten, zu werden. Der von der Tradition sanktionierte Irrtum der Jahrhunderte nach dem Auftreten der Kritik und der Philosophie, besteht darin, daß man den Urmenschen als vollkommen im höchsten und letzten Sinne annahm, daß man seinen Fall erfand, um das sogenannte Böse, das sich mit der Schöpfung durch Akt eines absolut guten Wesens schlechterdings nicht vertragen konnte, herzlich lahm zu erklären, daß man endlich diesen fabelhaften Urmenschen als den Mittelpunkt alles Menschlichen auffaßte und von ihm aus die verschiedensten Richtungen als Radien, zentrifugal, divergierend darstellte. Der Unsinn ist kolossal, so kolossal, daß er alle Systeme zu haltlosen Seifenblasen macht. Die Unglücklichen flattern an der Peripherie herum und können, da sich das Leben einmal nicht zurückleben läßt, natürlich den Weg zur Vollkommenheit nicht finden. Statt nun aber einzusehn, daß ihre Auffassung eine verschrobne und in ihrem eignen Sinne ›gottlose‹ ist, statt zuzugeben, daß die Strahlen alle von der Peripherie nach dem Zentrum zustreben, also grade die entgegengesetzte Richtung verfolgen und in der That mitunter das Zentrum verfehlen können, wodurch das ›Böse‹ erklärt ist, statt dieser allein richtigen Annahme amüsieren sie sich damit, nicht ihren eignen Verstand, sondern ganz liebenswürdig die Fähigkeiten der ganzen Menschheit für impotent zu erklären. Weil sie sich verfahren haben und nicht stolz genug sind, eine Albernheit auf die einzig mögliche Weise, durch ein Geständnis gut zu machen, hängen sie ihr Etikett: ›Der Mensch ist von Natur vernagelt, weil sein Stammvater gesündigt hat!‹ der ganzen Menschheit an den Kopf. Gegen Dummheit kämpfen Götter selbst vergebens. Wissen Sie nun, welchen Retrospektivismus ich verdamme?«
»Es ist wohl möglich, daß ich's weiß, wenn ich's auch mehr durch Ihre Gesten, Ihr Mienenspiel und Sie selbst verstanden habe, als durch den Strudel Ihrer Worte. Sie halten immer alle Menschen für empfänglich für alles und behandeln sie wie Schwämme, die saugen müssen …«
»Gut, aber sie saugen nur bis sie voll sind, drum muß so viel Traditionelles ausgepreßt werden; so viel Totes muß heraus, daß das Lebendige wieder Platz hat. Ich begegne damit dem, was Sie sagen wollten, um gegen die Negation überhaupt zu streiten.«
»Sie sind aber doch rein negativ wie alle andern, auch wie jene, die Sie unter Ihre Gegner zählen; es ist nichts, was Ihnen nicht verjährt und tot schiene. Damit hört Ihr Streben ja von selbst auf und Sie bleiben an der Peripherie sitzen, ohne Ihr Zentrum, das Sie natürlich leer annehmen, jemals erreichen zu können.«
»Ich negiere alles und muß es thun, weil ich Eins setze, das alles rekonstruiert, – die Sittlichkeit. Diese bildet den Brennpunkt, in dem sich alle Strahlen sammeln und weiß glühen werden; sie ist es, die alle Richtungen anzieht und wie eine dämonische Gewalt als Gewissen und wahrer Stolz mit jedem Menschen in magnetischen Rapport tritt; sie ist es, die all unser Streben, trotz der guten Lehren der Peripherie-Schnapphähne, zu einem zentripetalen macht. In ihr liegt eine unvermeidliche Anziehungskraft.«
»Lieber Craw, Sie sind doch ein unverbesserlicher Schwärmer. So lang mit offnen Augen unter den Menschen umherzustreifen und noch an die Anziehungskraft der Sittlichkeit – ich weiß, was Sie darunter verstehn – zu glauben, das ist wirklich unglaublich. Wofür halten Sie die Leute denn? Nehmen Sie ihnen den Glauben an Gott, Teufel, König und Henker, so geht das Raubtierleben im Nu wieder an.«
»Sagt das die Geschichte wirklich? – Es ist ein Graus, was die Geschichte schlecht studiert wird; man kopiert sie nur, ohne ihre Gedanken zu fassen. Es steht auf jeder Seite mit großen Lettern, daß jede neue Bewegung nur dadurch um sich griff, daß sie einen religiösen Charakter annahm: und jede religiöse Phase enthält einen Splitter der Sittlichkeit. Das Christentum, ehe es in die Hände des verschwäbelten Johannes und des spitzfindigen Paulus fiel, trat einfach als Sittengesetz auf und so der philosophisch verhedderten Zänkerei des damaligen Judentums gegenüber, und siehe da, das Volk lief ihm nach und hing der neuen Lehre an. Als die Kirche zu verfallen begann und sich der heutige Katholizismus entwickelte, gewann jede neue Sekte im Volke rasch riesenhaften Anhang, weil sie stets strenge, oft sogar unvernünftig strenge Sittenregeln adoptierte. Die älteren Kirchengeschichtsschreiber erkennen das immer und überall an, nur in neuerer Zeit will man uns wieder überreden, daß der ›heilige Geist‹ nie vom Papsttume gewichen. Diese Leute haben die Quellen ihrer eignen Historie nie gründlich untersucht, oder sie vergessen, daß wir sie auch kennen, und glauben, uns so mit ihren Lobpsalmen abfinden zu können. Die Askese ist nichts als eine Ausartung des sittlichen Gefühles. Man entsagte Erlaubtem, weil man sah, daß andre Unerlaubtes, Unsittliches trieben, und kam auf die Formel für diesen Unfug durch die katholische Lehre von den überflüssigen Verdiensten der Heiligen, die anderen angerechnet werden dürfen. Man sieht, welche Streiche vollführt wurden und vollbracht werden mußten, als man müßig an der Peripherie lag und gern etwas denken wollte. Vorwärts ging es nicht, also zurück, kreuz und quer. Ihnen war ja, wie ich schon sagte, das Rückwärts wie uns das Vorwärts im Zentrum. – Aus allem geht aber hervor, daß die wahre Sittlichkeit, die das Rechte aus keiner einzigen Rücksicht thut, eine Anlage des Menschen ist, die sich äußern möchte, aber so lang nicht äußern kann, so lang es oktroyierte Rücksichten gibt.«
»Prächtig, aber welche Mittel sollen denn diese Rücksichten fortschaffen, alles ist versucht worden, alles fehlgeschlagen.«
»Das ist wieder Retrospektivismus. Diese Verzweiflung bemerkt gar nicht, daß die ganze Gesellschaft dem wilden Jäger gleicht, der auf seinem rasenden Geisterrosse, den Kopf rückwärts in den Nacken gedreht, vorwärts, immer vorwärts dahinjagt, fort über Felsen und Wald, ohne halten zu können und ohne zu wissen, wohin der wilde Ritt führt. – Ferner irren Sie, Gräfin, wenn Sie meinen, daß wirklich ›alles dagewesen‹ ist. Man wird mir meinen Satz, daß die Sittlichkeit alles andere überflüssig mache, gern stehn lassen, aber den Mythus von Ikarus mit den geschmolzenen Flügeln hervorsuchen und sagen: ›Sieh', so geht es, wenn man der Sonne zu nahe kömmt, man ertrinkt; die Erbsünde hat den Menschen unfähig gemacht, rein sittlich zu sein!‹ Das ist immer der Refrain und die Entschuldigung für jede Dummheit und jede Gemeinheit. Daß aber in der ganzen Sache gar keine Logik steckt, wird klüglich übersehn. Es ist gar nicht auf die Unmöglichkeit des hohen Fluges zu schließen, sondern auf die unzureichenden Mittel. Hätte Ikarus nicht Flügel von Wachs gehabt, so wären sie nicht geschmolzen; das ist die Pointe, nicht das andere.«
»Nun aber Ihre neuen Mittel!«
»Für Europa gibt es noch zwei unversuchte, ein neues Barbarenvolk, die Russen, und wenn auch dies nicht hilft, – der Sieg der Frauen über das Vorurteil, das sie fesselt.«
»Sie haben doch wenigstens eine Antwort, – ich will Sie nächstens fragen, in welcher neuen Weise Sie Russen und Frauen zu verwenden gedenken, jetzt aber ist es Zeit geworden, daß wir nach den anderen draußen sehn …«
»Das heißt«, sagte Craw lachend, »jetzt ist der Moment gekommen, in dem Sie wieder so sehr Herrin Ihrer selbst sind, daß Sie jedem das Seinige zukommen lassen können, ohne überflüssig eine Miene zu verziehn. Glauben Sie denn, ich wüßte nicht, daß ich diese halbe Stunde meinen Atem und meine Gedanken ganz gutmütig nur darauf verschwendet habe, Sie Atem schöpfen zu lassen? Sie haben fast nichts gehört und nur dazwischen gesprochen, um mich nicht heiser zu machen. Ihre Dialektik pflegt eine andere zu sein, wenn Sie nicht, wie jetzt, zerstreut sind. Gestehn Sie, daß es gutmütig von mir war weiter zu sprechen, ohne recht gehört zu werden!«
»Sie träumen! Was ist das wieder für ein Einfall, oder sollte es ein Ausfall sein? Sie lernen dergleichen Allwissenheiten wohl von Ihrem vertrauten Freunde, dem Sekretär meines Mannes, dem Apoll von Belvedere mit der Schreibfeder hinter dem Ohre, dem süßen, sanften Zuckerplätzchen, das auf der Zunge der kleinen, dicken Else, der Amtmannstochter, zu zergehn wünscht? Begriffe ich doch nur, wie Sie, der Sie wenigstens Mann genug sind, eine Meinung zu haben, die Sie nach allen Seiten Angriffen bloßstellt, mit dieser saft- und kraftlosen Schönheitsbrühe umgehn mögen. Wären Sie Maler, so würd' ich einen Grund finden, aber so wie die Dinge liegen, macht mich diese rührende Zärtlichkeit oft an Ihnen irre.«
»Sie kennen ihn ja gar nicht …«
»Er ist der Sekretär meines Mannes, das genügt; und Sie sollten längst gefühlt haben, daß es mir peinlich sein muß, meinen täglichen Gast mit einem Menschen intim verkehren zu sehn, der in meines Mannes Diensten steht, Sie wären mir so viel Rücksicht schuldig, sollt' ich meinen.«
Es entging Craw nicht, daß sie ihn fixierte und zu erkennen suchte, ob er den Sekretär in der That für einen Bediensteten hielt, den man nach Belieben entfernen oder behalten konnte. Er gab ihr den forschenden Blick zurück und sagte: »Heeren ist wirklich ein großer Liebling von mir und er verdient meine Neigung. Er ist ein Mensch, dessen Reinheit und Güte die verkehrtesten Verhältnisse nicht beflecken konnten. Man ließ ihn faul sein, hetzte ihn dann wieder durch gehäufte Thätigkeit ab und schickte ihn endlich, mit großen Summen ausgerüstet, in alle Welt, so daß nichts natürlicher scheinen kann, als daß er ein wüster Bursche werden mußte. Merkwürdigerweise vertrug seine Natur diese Proben. Willenlos erzogen, jeder Laune eines Unbekannten gehorchen müssend, zeigte er doch Kraft und Charakter, als es galt Mann zu sein; was ich für Phlegma nahm, war Ruhe, was ich anfangs für Talentlosigkeit zu halten geneigt war, trat als Ernst in ein anderes Licht. Heeren ist ein wahres Wunder nicht bloß an Körperschönheit, wie Sie annehmen, sondern durch und durch edel und klar; er ist rein wie ein Kind in allem, was er denkt und tief wie ein Mann in allem, was er fühlt …«
»Er langweilt sich wie eine verlassene Kokette, hat Appetit wie eine Raupe und verdeutscht den Amtmannstöchtern Rousseau's Nouvelle Héloise; ferner affektiert er, ein großer Blumenfreund zu sein, verwechselt aber alle Namen; gibt sich auch für einen Gemäldekenner und behauptet, die Kleopatra, die hier nebenan hängt, könne aus einigen Dutzenden von Gründen nicht von Domenichino sein, – er weiß das jedenfalls besser als Schadow, der mir ihre Echtheit garantierte, – und endlich ladet er sich alle Augenblicke seine ganze Wohnung voll Dorfkinder, die er hernach in den Park führt, als wäre alles sein eigen.«
»Ei, Sie wissen ja viel mehr von ihm als Sie anfangs sagten. Ehrlich gestanden, begreife ich nicht, wie dieser ausgezeichnete Mensch Ihnen so fern bleiben konnte, nachdem er Ihnen in den verhängnisvollen letzten Jahren die größten Dienste geleistet hat und durch seine Persönlichkeit, sowie durch sein anspruchsloses Auftreten bei so großen Verdiensten Ihre Achtung erworben haben muß. Zudem haben Sie keinen wärmeren Freund …«
»Wie wollen Sie das wissen?« fragte die Gräfin rasch und wieder jeden Zug seines Gesichtes belauernd.
»Das hört sich ja wohl an der Weise, in der er von Ihnen trotz der üblen Behandlung, die Sie ihm angedeihen lassen, stets zu sprechen pflegt. Er ist so sehr jung, daß ihn Ihr Benehmen reizen müßte, zumal er eine Art von Treibhauspflanze ist, die bis zum einundzwanzigsten Jahre schon durch alle Schulen geschossen war und dem Leben gehörte, wo andere noch Kinder sind. Ich habe an dem Jungen meine Freude gehabt und habe sie noch, so daß ich inniger zu ihm stehe, als ich's zu einem jüngeren Bruder könnte. Sie sollten ihn an sich ziehn und statt die Leute über ihn zu hören, selbst forschen, dann würden Sie sehn, wie sonderbar ich die Rücksicht finden muß, die Sie von mir verlangen. Vergleichen Sie ihn doch mit den langaufgeschossnen Junkersöhnen, die Sie um sich und Ihre Tochter dulden, diese beiden Stetterwitz, der blonde Kalkenstein, der steife Wetterheimb, der jeden Satz mit ›Ja, ja‹ anfängt, – das sind wohlerzogne Dummköpfe und eingebildete Narren …«
»Derartige Vergleiche verbiete ich mir ein für allemal! Verstehn Sie mich recht, ich wünsche nie, daß ein Mensch, der unter irgend einer Form in meinem Hause Dienste thut, mit jungen Leuten auf eine Stufe gestellt wird, deren Eltern eine angesehne Stellung einnehmen. Mein dümmster Gast ist mir lieber und überhaupt mehr wert als mein klügster Diener.« Sie sagte das sehr heftig und so stark accentuiert, daß Craw betroffen wurde.
»Sie werden mich trüb machen und ich werde dann lustig sein müssen, um mich zu betäuben. Sie stürzen mich in ein moralisches Kali causticum-Bad, das ist unfreundlich!«
»Werden Sie nur trüb, d. h. lustig und witzig, werden Sie immerhin ein wenig Teufel, dann kann ich Sie draußen brauchen. – Geben Sie mir den Arm, ich habe der Gesellschaft einen überaus interessanten Besuch anzukündigen.«
Ihre Bewegung war wieder vorüber, sie hatte ihr konventionelles Lächeln auf den Lippen, drapierte ihren Shawl um die Schultern, setzte den leichten Hut, den sie vorher auf den Tisch gelegt, wieder auf den Kopf und schritt stolz und sicher an Craws Seite hinaus, wo eine kleine Anzahl von Damen und Herren auf der Terrasse versammelt war.
Zwei ältere Damen durchblätterten ein Album, eine junge Frau wand einen Kranz, zu dem ihr die Blumen von einem Herrn von Stetterwitz gereicht wurden. Er hatte aus dem Salon ein Kissen geholt, es auf die Steine geworfen und saß nun mit dem Körbchen voll Wiesenblumen zu Füßen der hübschen Blondine. Die Gruppe wäre recht artig gewesen, wenn der unglückliche Herr nicht überaus lange Beine gehabt hätte, die er auf seinem niedrigen Sitze gar nicht unterzubringen wußte. Eine zweite einzelne Dame, dem Aussehn nach ein älteres, sehr »vornehmes« Mädchen, gefiel sich ein wenig seitwärts in einer emanzipierten Stellung, d. h. in der verschränkten Lage ihrer unteren Gliedmaßen, die – wir wissen nicht warum – verpönt ist. Sie hielt die Belagerung dreier junger Leute aus, die höchst animiert waren, und ihr ein Versprechen abzudringen suchten, das sie halb nachlässig, halb kokett zu verweigern schien. Hiezu kommt noch ein Mann im Mittelalter mit einem Ordensbande im Knopfloche, dessen reservierte Gesichtszüge, auf denen ein dauerndes Lächeln balancierte, ihn als einen vormärzlichen Diplomaten erkennen ließen, – und endlich eine Gruppe zum Teil sehr junger Herrn, die mit dem Brauen einer Bowle Maitrank beschäftigt waren. – Damit sind die Fremden vollzählig. Der Diplomat, ein Baron Stockhausen, erklärte in Ermanglung anderer Beschäftigung, daß er im Besitze des allein richtigen Maitrankrezeptes sei, und daß er den Herren »einmal« bei sich beweisen wolle, wie ihr Verhältnis von ? Champagner zu ? Zeltinger ein durchaus ketzerisches sei. Sie wußten indes, daß dies »einmal« nie kommen würde, da der edle Baron sich einer großen Sparsamkeit befleißigte, und genossen darum lieber hier, was sich ihnen bot. Graf Wetterheimb, ein bonnenser Student, der sich Extraferien machte und auf eine weitläufige Verwandtschaft mit den Hehlen hin für gut gefunden hatte, sich auf einige Wochen in Hehlenried nieder zu lassen, spielte den Wirt. Der Graf selbst war zwar unten, aber übler Laune oder, wie er sagte, krank; er ging etwa fünfzig Schritte der Terrasse gegenüber, unter den Bäumen, auf und nieder, wobei er sich auf den Arm seiner Tochter zu stützen schien.
Hugo war sehr alt geworden, seine Haare waren fast weiß und sein Gesicht zeigte keine Spur mehr von Frische. Er konnte jetzt für den Vater seiner Frau gelten, die in der letzten Zeit nur ein wenig an Fülle verloren hatte, sonst aber immer noch gesund, ja sogar blühend aussah. Es schien, als ob aller Kummer, der über sein Haus gekommen, nur an ihm die abspannende Kraft geprobt hätte, während er Ceciles Lebensbewußtsein gesteigert. Er war geschwächt und zerknickt, sie schien gestärkt und allem, was da kommen konnte, überlegen. Diese verschiedene Wirkung ist natürlich. Menschen ohne höheren Trieb, ohne großes Bewußtsein kommen, solang der Organismus frisch und zu jeder gewöhnlichen Thätigkeit bereit ist, leichtfertig über alles hinweg. Es gibt keine Pausen in ihrem Leben, denn der Organismus hilft sich sogleich durch Schlaf. In dem Momente aber, in dem die Organe durch das ewige Einerlei der an sie gestellten Forderungen schlaff werden und lässig fungieren, tritt Hypochondrie, Müdigkeit, die keine Hilfe im Schlafe findet, und jene Ängstlichkeit ein, die den geringsten Kummer schon riesenhaft auf dunklem Hintergrunde ausmalt und über möglichen Details die Möglichkeit der Rettung überhaupt vergißt. Hugo war, was die meisten wenig begabten Menschen in seiner Lage werden, bis zum vierzigsten Jahre ein Philister im Genusse gewesen, er war abgebraucht durch immerwährenden, leidenschaftslosen und ungenialen Genuß, er hatte sich treiben lassen wie eine Mariendistel in einer holländischen Grube: – wenn ihr die Wärme nicht mehr stromweise zuschießt und das lose Zellengewebe anfängt trocken und holzig zu werden, gibt es kein Mittel, die Pflanze zu halten. Er versank in sich selbst, wie die üppigen Blätter jener Distel in der Sonne zusammenkriechen, trauern und endlich sterben. – Mit Cecile war es anders. Sie hatte eine starke, straffe Natur, sie war rastlos thätig, ihr Plänemachen, ihr geistiges Arbeiten bot Wechsel, sie war leidenschaftlich und hatte früh ihre Kraft im Bewältigen und Anhetzen dieser Leidenschaften geprobt, sie war in anderer Weise blasiert als ihr Mann. Das, was man Gemüt nennt, war in ihr untergegangen, es hatte weder in ihrem Familienkreise, noch in der Sphäre, in der sie sich bewegte, Nahrung gefunden, sie war in mancher Beziehung degradiert, ja verloren, aber grade darum bildete sie ein Ganzes, grade darum war sie von Stahl. Ihr Organismus trug sie, sie konnte nicht erliegen, denn sie war zu allem fähig. Sie war geworden, was sie an der Seite eines grobsaitigen Mannes werden mußte. Die Stirn dominierte alle andern Züge, sagten wir oben, und damit ist alles gesagt.
Überraschend war zwischen diesen beiden Personen, von denen die eine aus Mangel an jener Spannkraft, die mitunter auch über das Maß des Gewöhnlichen zu greifen vermag, die andere aus übermächtiger Energie an innerem Werte verloren hatte, die Erscheinung ihrer Tochter. Hätte sie nicht Mund, Nase und Stirn von ihrer Mutter gehabt, wäre in dem Gesamtausdrucke ihres Gesichtes nicht viel gewesen, was an ein Bild erinnerte, das ihren Vater sehr jung darstellte, – so hätte man nicht geglaubt, daß dies zarte sanfte Wesen mit den großen braunen Augen, den schlichten braunen Haaren und dem anspruchslosen, fast kindlichen Betragen die Tochter Cecile Hehlens sei. »Luise hat nichts von mir als ein Stück Gesicht!« pflegte ihre Mutter zu sagen. »Sie liebt blasses Mondlicht wie ich ein buntes Feuerwerk; sie pflückt Vergißmeinnicht wie ich tropische Blüten breche, nur mit dem Unterschiede, daß sie sich fast aus dem Tode ihrer Blume ein Gewissen macht; – sie ist schrecklich, eine deutsche Jungfrau ohne Feuer und Leben. Freilich wird sie mir nie Sorge machen, denn sie ist gehorsam und einfach, aber sie wird sich, wenn sie erst verheiratet ist, zu Tode langweilen; ich habe also auch keine Freude von ihr zu erwarten.«
Die Gräfin war ihr eben so gram als der Graf an ihr hing. Ihm machte sie Freude. Wenn sie ihn mit ihren schwimmenden Augen mild und liebevoll ansah, vergaß er auf einige Zeit, daß er nichts geworden war als ein dunkler Planet, der sich im Sonnensystem seiner Frau bewegte und alles Licht von ihr empfing. Er besaß gar keinen Einfluß, gar keine Autorität mehr, sie hatte in den letzten Jahren, je mehr er den Kopf verloren, desto fester die Zügel ergriffen und ihn fast mit Verachtung in den Hintergrund geschoben. Eine Menge von Dingen war dabei wirksam gewesen. Ihr hatte nie der geringste Vorwurf gemacht werden können, ihr Ruf war in tausend Abenteuer, aber in keins, das sie kompromittierte, verwickelt, während ihm die allergewöhnlichsten Streiche nachgesagt wurden. Jedes Verzeihen gibt ein Übergewicht, und eine Reihe von erhaltenen Verzeihungen raubt endlich jeden Anspruch auf Geltung. Wird eine gewisse Summe überschritten, so stehen alle früher getilgten Schulden wieder als Schuld da, der Posten ist erdrückend, er macht jede neue Schenkung unmöglich. Das Verhältnis ist gelöst, der unversöhnliche Spalt wird nur vom »guten Tone« übergipst, weil man sich nicht scheiden kann, sondern sich scheiden lassen muß. Das macht peinlichen Eklat; die Gesellschaft ist durch den Schein zufrieden gestellt, wird aber durch den Eklat verletzt, es bleibt also nichts übrig, als dem Scheine zuliebe zu Grunde zu gehn, wenn man sich nicht über die Gesellschaft zu stellen weiß. Und es ist ein Zugrundegehn, wenn das höher berechtigte Dasein ein beschränktes, vegetatives wird. Cecile betrog sich über ihren Zustand, weil sie sich selbst hatte; der Graf täuschte sich darüber, weil er nicht dachte und weil seine blühende Luise um ihn war. –
Sie opferte sich ihm auch jetzt, so nannten es wenigstens die andern, obgleich es ihr gewiß kein Opfer war, die Bowlenbrauer, den Diplomaten und die andern Schwätzer zu missen, um ihrem Vater als Stütze zu dienen. Sie sprach nie viel, aber sie plauderte doch ab und zu heiter und tröstlich für den niedergeschlagnen Mann, so daß er wohl ein Recht hatte, Luise seinen Engel zu nennen.
Als Cecile erschien, veränderte die Gesellschaft einen Augenblick das Gesicht. Der Gehilfe der Kranzwinderin wickelte seine Beine in einen Knäuel zusammen, auf dem er in die Höhe schnellen konnte, – er glich jenen Figuren, die aus Vexierdosen springen, wenn man den Deckel öffnet; die Herren von der Bowle salutierten mit Glas und Kelle; der Diplomat a. D. versicherte, daß er mit Schmerzen auf den Moment gewartet, der Dame vom Hause ein Wort über seine tiefe Ergebenheit zu sagen, und die Damen versuchten sogleich ihre Königin in Beschlag zu nehmen. Indes liefen ihnen diesmal die Kavaliere der Emanzipierten den Rang ab.
»Gnädigste Gräfin«, rief der eine, ein Herr von Friedelstedt, »es ist ein Glück, daß Sie endlich erscheinen, Komtesse Grasenapp will sich durch keine Vorstellungen, keine Bitten bewegen lassen, dem für morgen projektierten Kirchturmrennen beizuwohnen, es gelingt Ihnen gewiß, ihren Widerstand zu besiegen, ja Sie haben sogar die Verpflichtung …«
»Ei, das wäre!«
»Gewiß! Wenigstens wäre es billig, wenn Sie unsre Bemühungen um eine Preisrichterin unterstützten, da Sie so spät, erst vorgestern, erklärt haben, daß Sie Ihr herkömmliches Amt diesmal nicht übernehmen könnten. Und eine Dame muß es doch sein, wie überhaupt die Gegenwart der Damen die Reiter erst kühn und waghalsig macht …«
»Versteht sich! Die steeple-chase ersetzt das Turnier; im Pferderennen liegt die Romantik des neunzehnten Jahrhunderts, und wo bleibt die Romantik ohne Damen?«
»Das wollt' ich ja eben sagen, Baron Craw. Da Sie meine Ansicht unterstützen, darf ich auch hoffen, daß die Gräfin nachgibt.«
»So werden Sie brauchbarer, als wenn Sie philosophieren, Craw«, sagte die Gräfin halblaut.
»Sie überlegen schon, dann haben wir gesiegt.«
»Wie nun aber, wenn sich seit vorgestern meine Meinung geändert hätte, wenn ich unter anderem ohne Ihre neue Aufforderung und ohne Baron Craws ›geistreiche‹ Bemerkung wirklich die Absicht hätte, unter gewissen Bedingungen mein Ehrenamt selbst zu verwalten?«
»Das wäre großartig liebenswürdig!« riefen die Herren. »Sagen Sie uns nur die Bedingungen; wenn Sie nichts weiter geben als sechs Fuß Hecke, einige Graben und hundert Schritte Moorboden nebst einer Schwimmpartie durch den Bach, so sind sie im voraus angenommen!«
Die Herren schienen in der That sehr glücklich über diese Wendung und kümmerten sich nicht weiter um die Emanzipierte, die ein arg verdrießliches Gesicht machte und offenbar bereute, zu lang unerbittlich geblieben zu sein.
»Meine Proposition weicht nur wenig, aber freilich wesentlich von Ihrem Plane und der ausgesteckten Trace ab. Statt nämlich morgen schon zu reiten, wünsche ich eine Frist von zwei Tagen; statt die Felsecke und das Steingeröll links am Dorfe zu umgehen, wird es in die Bahn gezogen … Das scheint Ihnen bedenklich? Ich werde Ihnen hernach erzählen, bei welcher Gelegenheit mein Mann, freilich vor längerer Zeit, diese Passage nicht – abgeklettert, wie es in Ihrem Belieben steht, sondern Fanfaro genommen hat. – Einen Ehrenpreis setze ich natürlich aus. Ritte Herr von Friedelstedt allein, so wär's, um die Romantik glänzen zu lassen, jedenfalls eine Bandschleife, da die andern Herren aber weniger romantisch sind, mag's etwas anderes sein. Ich bekam heute eine schön ziselierte Vase oder vielmehr, ich gewann sie … lieber Wetterheimb, wollen Sie Karl oder einem andern Diener sagen, daß er das Kistchen, das in meinem Boudoir auf dem Spiegelkonsol steht, herunterbringt! … Ich glaube, daß selbst Ihnen, Herr von Friedelstedt, dieser Preis lieber sein wird, zumal der Gegenstand ebenfalls romantisch ist. – Nun aber zur Hauptsache, die Ihnen zugleich auch das Mysteriöse meines Vorschlags aufklären wird.«
Sie stand im Augenblicke fast am Rande der Terrasse, wohin sie in der Absicht vorgegangen zu sein schien, ihren Mann hören zu lassen, was sie sagte. Wenigstens blieb er ihr gegenüber stehn. Die Herren standen ihr zu beiden Seiten, die Damen ein wenig zurück in der Mitte, so daß sie den Mittelpunkt der Gruppe bildete und durch die Pause, die sie in ihrer Rede machte, nach allen Richtungen hin ein Ereignis ankündigen konnte.
»Wir bekommen noch heute einen höchst interessanten Besuch. Erst vor einer Stunde erhielt ich die bestimmte Nachricht von seiner Ankunft. Ein überaus origineller, bedeutender Mann …«
»Mehemed Ali vielleicht? Oder der verstorbene Lord Byron?« fragte Craw mit einer Verbeugung.
»Hätten Sie noch Paskiewitsch geraten, so wären Sie wenigstens auf einen Landsmann verfallen. In wenigen Stunden trifft von Paris aus Herr Tetarskoff hier ein.«
Der Graf starrte seiner Frau sprachlos in ihr marmorruhiges, nur von einem leichten Lächeln geschmücktes Gesicht, während Luise ihre Augen erstaunt auf Craw heftete, der plötzlich bleich geworden war und Wetterheimbs Arm ergriff, um seine Erschütterung nicht zu verraten.
»Herr Tetarskoff?« fragte der Diplomat. »Es gibt Grafen Tetarskoff, ich speiste bei einem solchen, als ich in Petersburg attachiert war. Gehört er zu dieser Familie?«
»Kein Zweifel! Aber Sie wissen ja, daß es in Rußland nicht gebräuchlich ist, die Titel, wie bei uns, immer vorzusetzen.«
»Ist er alt oder jung?« fragte die Emanzipierte.
»Kaum eins oder das andere. Er ist sehr liebenswürdig und erwies uns in Paris, als wir zuletzt dort waren, alle erdenkbaren Gefälligkeiten. Er ist leidenschaftlicher Reiter, wie er mir wenigstens versicherte, und da es ihn doch wohl zu sehr angreifen würde, schon morgen von der Partie zu sein oder ihr wenigstens zuzusehn, hielt ich's für meine Pflicht, mein Bestes zu thun, dies Vergnügen für ihn aufzusparen. Herr Tetarskoff, – denn wir dürfen ihn nicht anders nennen als er selbst, – ist ein außergewöhnlicher Mensch, wie Sie bald finden werden, wundern Sie sich also nicht, daß ich seinen Besuch als etwas Ungewöhnliches ankündige.«
Craw hatte sie mit höchster Spannung beobachtet, aber er konnte weder einen Farbenwechsel, noch eine Alteration in der Stimme wahrnehmen. Sie sprach vollkommen leicht und ruhig.
»Er kommt wirklich, und schon heute, ohne alle Vorbereitungen?« rief der Graf mit einem halb kläglichen, halb erschreckten Ausdrucke.
»Nun lieber Hugo, du lebst wohl bereits so sehr deinen heraldischen Forschungen, daß du glaubst, unser Haus sei nicht jeden Augenblick zur Aufnahme jedes Gastes, also auch eines Tetarskoff, bereit.« Sie heftete bei diesen spöttisch gesprochenen Worten ihre Augen brennend auf ihren Mann, der noch immer nicht zu begreifen schien, daß er schweigen oder seine Freude äußern solle. »Wirklich, mein Mann macht mir da ein schönes Kompliment, zum Glücke sorg' ich dafür, daß er sich täuscht.«
Des Grafen Blicke hingen ebenso ungläubig an ihrem Gesichte als die Craws. Sie schien es indes müde zu sein, irgend etwas zur weiteren Beruhigung Hugos zu thun und überließ ihn seinem Schicksale. Ein Diener hatte unterdes das Kistchen gebracht, die Neugier der Anwesenden wurde gefesselt, und so die Bestürzung des Grafen der Aufmerksamkeit entzogen. Er verlor sich in den Gängen und kehrte wahrscheinlich auf einem Umwege nach seinen Zimmern zurück, denn Luise kam bald darauf allein zu den andern, die sich um die prachtvolle Vase versammelt hatten. Sie war von Silber und vergoldet, so daß der Wert des Materials den Kunstwert unterstützte.
»Ich weiß indes nicht, wie Sie dazu kamen, diesen ›Gegenstand‹ einen romantischen zu nennen«, sagte Craw. »Die Vase ist bestimmt nach einem antiken Modelle gearbeitet, und wenn ich nicht irre, die In Quarto-Ausgabe eines Folio-Originals in Bronze, das ich im bourbonischen Museum in Neapel sah.«
»Wie es nun schon mitunter geht. Alle Welt weiß oder könnte wissen, wenn sie sich die Mühe gäbe, Sie so genau anzusehn als ich, daß Baron Craw durch und durch klassischen Geschmack hat und äußerst vertraut mit antiker Kunst und den Alten überhaupt ist, daß er aber trotz alledem, sowie er selbständig auftritt, durch und durch Romantiker ist. So ist denn auch die Vase … Ah, nun werden Sie triumphieren, denn ich fühle, daß die Anwendung, die ich gern mit einem kleinen Seitenhiebe verbinden wollte, nicht recht klappen will. Die Vase selbst ist klassisch, aber die Weise, in der ich sie erhielt, ist romantisch, denn wie gesagt, sie scheint viel Wert zu haben und doch kostet sie mich fast nichts. Man spielte sie aus, und ich gewann sie. Das ist so gut wie ein Geschenk von einer unbekannten Macht und versetzt in die Zeit der Romantik, in der es noch Zwerge und Feen gab, die ihre Lieblinge über Nacht mit allerlei schönen Spielwaren überraschten. Sie sehn, ich helfe mir heraus. – Meinen die Herren nun nicht, daß es sich lohne, da die Ehre des Sieges noch durch dies hübsche Spielzeug geputzt wird, den Ritt über das Geröll zu versuchen? Wenn Herr Tetarskoff hört, daß die Partie ihm zu Gefallen verschoben worden, nimmt er gewiß teil, und ich bin eine zu gute Patriotin, als daß ich wünschte, daß ihm der mögliche Sieg durch leichte Bahn und Mangel an Bewerbern gar zu spielend zufiele, denn, ich wiederhole es, er ist ein berühmter Reiter.«
»Aber, gnädigste Gräfin, wir halten es insgesamt für unmöglich, in irgend einer Gangart die Wand und das Geröll zu passieren, ohne den Pferden oder uns Schaden zu thun.«
»Sagen Sie das nicht zu laut, ich bin überzeugt, wenn mein Mann in der Nähe wäre, könnte er die Lust nicht überwinden, eine Geschichte, die er noch vor wenig Jahren täglich mindestens einmal erzählte, aufzutischen und darüber seine Gicht für zehn Minuten zu vergessen.«
»Wir kennen sie nicht, und Sie versprachen uns den Beweis für die Möglichkeit des Rittes durch eine Geschichte zu liefern.«
»Hören Sie also. – Wir lebten hier nach meines Vaters Tode sehr einsam und hatten lange Zeit fast keine andre Unterhaltung als den Spott, den wir selbst mit einem höchst närrischen Subjekte trieben, das als Schloßkaplan seit vielen Jahren schon im Hause war. Dies sonderbare Männchen, eine Figur, von der Hoffmann gewiß Wunder berichtet hätte, trieb aus Langweile fast ebenso verwirrte Studien wie Baron Craw. Unter anderem wollte er einen Schlüssel zu der antebabylonischen Sprache finden und suchte ihn bei Zigeunern und anderem Gesindel, das sich in den Forsten, die sich vor zwanzig Jahren noch bis dicht an den Park erstreckten, niedergelassen hatte. Man wollte sie hier nicht dulden und beschloß sie aufzugreifen. Sie erfuhren indes das Vorhaben irgendwie, nahmen den Kaplan, der ohne Arg zu ihnen kam, gefangen und hielten ihn als Geisel zurück. Er schrieb einen Zettel, den zwei Männer brachten, die mich im Parke anfielen, als Hugo, – damals mein Bräutigam, – mich auf eine Viertelstunde verlassen, um sich eine Jagdflinte zu holen. Mein Ruf nach Hilfe zog indes einen Menschen herbei, der früher im Schlosse gearbeitet hatte, aber über den Tod seiner Frau verrückt wurde und spurlos verschwand. Ein zartnerviger Proletarier, Craw, das ist Wasser auf Ihre Mühle! Das beste war, daß er zu rechter Zeit kam, die Schurken zu verjagen und mich zu sichern. Hugo tobte, bot von allen Dörfern noch denselben Abend Hilfsmannschaften auf, umstellte den Wald und trieb die von allen Seiten Gedrängten, denen noch dazu die Fortschaffung der Weiber und Kinder, sowie ihres Gefangenen, den sie nicht aufgeben zu wollen schienen, Schwierigkeiten machte, endlich an der ›Wand‹ zusammen. Sie zogen sich in das Geröll zurück und fingen an zu kapitulieren. Als ihr Versprechen, abzuziehn, nicht angenommen wurde und sie nicht bloß den Kaplan, sondern auch die beiden Leute ausliefern sollten, die mich belästigt hatten, versuchten sie in der Verzweiflung zur Offensive überzugehn, schlugen an einem Punkte auch die Bauern, die sich vor den wilden Gestalten fürchteten, zurück und hofften schon zu entwischen, als Hugo, der sie von der Seite umgangen hatte, mit den Schloßleuten auf sie eindrang und sie zurückwarf. Nur die Männer hatten diesen Ausfall gewagt, sie wußten, daß man ihnen die zurückbleibenden Weiber baldigst nachsenden würde. Indes schienen sie auch für den Fall des Mißlingens Befehle zurückgelassen zu haben, denn kaum stürzten die Flüchtigen wieder zwischen die Felsstücke, so zerrten die Weiber den unglücklichen Kaplan auf die Wand und machten Anstalten, ihn den Abhang hinunterzurollen. Sie drohten nun ganz bestimmt, den Armen zu opfern, wenn man sie nicht ziehen ließe. Hugo war aber einmal im Kriegsfeuer und wollte von Bedingungen nichts wissen. Er sah, daß er einer Bande gegenüberstand, welche, wie sie an mir schon bewiesen, doch wohl andere Elemente berge als harmlose Zigeuner; er wollte sie vernichten und ließ plötzlich von den Förstern und Jägern Feuer auf sie geben. Einige fielen, die andern stürzten mit Geschrei auf den Kaplan los … da sprengte Hugo (ohne irgend Schaden zu nehmen) quer über das Geröll, bald von Stein zu Stein setzend, bald über die losen Steine hin und von der Seite die Wand hinauf, aber in einem Nu, rasch wie ein Blitz, so daß die Bande vor Schreck und Staunen starr wurde und in die Knie sank. Diese Tollkühnheit hatte sie entwaffnet. Man brachte die ganze Sippschaft gebunden hier herein und transportierte sie samt den Verwundeten über die Grenze. – Seit jener Zeit ist durch den Steinbruch die Schwierigkeit um die Hälfte geringer, die großen gedrängten Stücke sind weggeräumt, und nur die lose Partie erfordert einige Vorsicht. Es ist eine Kinderei, ich würde Luise mitzureiten erlauben, wenn es irgend paßte.«
Die Herren schüttelten immer noch bedenklich den Kopf.
»Und der Kaplan, was wurde mit ihm?« fragte die Kranzwinderin, die viele Romane gelesen haben mochte, an deren Ende getreuer Bericht über das Verbleiben aller gegeben wird.
»Der Kaplan erholte sich nie wieder von diesem Abenteuer, er erzählte fürchterliche Geschichten, die zugleich unendlich lächerlich waren, so daß man zur selben Zeit das Haar zu Berge steigen fühlte und doch recht herzlich lachen mußte. Sie hatten ihn behandelt, wie Don Quichotte von den Maultiertreibern behandelt wurde, allen möglichen Unfug mit ihm getrieben, kurz ihn als ihren Hofnarren betrachtet. Er versicherte in dem halben Delirium, das ihn seit jener Zeit nie verließ, daß ihn im Himmel ein Platz bei den Märtyrern erwarte, denn er sei fast bis zum Tode an den Hals gehenkt worden, weil er sich geweigert, Tag für Tag Paare zu trauen, zu trennen und wieder anderwärtig zu verbinden. Das traurigste für ihn war, daß die saubre Gesellschaft, bei der er nicht ganz so gut weggekommen wie Daniel in der Löwengrube, mit dem er sich auch verglich, nicht einmal aus Zigeunern bestand, die er suchte. Es gab nur zwei gelbe Familien darunter und diese waren oder wurden wenigstens wie Leibeigne behandelt von verlaufnem Gesindel, das erst Zuflucht bei ihnen gesucht, sie dann unterdrückt und selbst korrumpiert hatte.«
»Es ist wirklich gut, daß die Forsten gelichtet worden sind, Karl Moors böhmische Wälder sind zu nahe. Das mag auch der Grund dafür sein, daß die Forstkulturen allenthalben so ins Arge geraten sind. Reine Furcht vor Räubern. Man schlägt die Stämme nur der Sicherheit wegen und aus Menschenliebe zusammen«, sagte Craw. Als er aber zu sehn glaubte, daß Cecile ernst wurde, brach er ab.
Eine Anekdote erzählt immer eine weitere, verwandte, und das Thema der Räubergeschichten von dem berüchtigten antiken Fichtenbeuger bis zu Crotinus ist mindestens ebenso unerschöpflich als das unerschöpfliche der Gespenstergeschichten. Man verlor sich auf diesem Felde, und alle, mit Ausnahme Luisens und des Diplomaten, steuerten bei. Darüber ward es Abend, die Gesellschaft zog sich in die Galerie zurück, wo Thee serviert wurde, und blieb, durch die Erwartung und das Vertrauen auf den Mondschein, den der Kalender versprach, zurückgehalten, über die gewohnte Zeit. Tetarskoff war noch nicht gekommen. Endlich sah man einen schweren Reisewagen, mit vier Postpferden bespannt, die Parkecke schneiden und hörte bald darauf das Posthorn im Schloßhofe.
Cecile schloß bei dem ersten Tone für einen Moment die Augen, wie man unwillkürlich zu thun pflegt, ehe man die Würfelpunkte beim letzten entscheidenden Wurfe zählt. Craw schickte einen Diener ab, um nachzusehn, ob es der Erwartete sei, und befahl ihm für diesen Fall, seine Ankunft dem Grafen zu melden.
»Lassen Sie nur, es ist alles zu seinem Empfange bereit! Heeren wird ihm sagen, daß Hugo unwohl ist und daß ich ihn bitten lasse, sich sobald als möglich zu uns zu bemühn.«
Der Diener brachte die Nachricht zurück, daß der Wagen allerdings Herrn Tetarskoff gehöre, daß er selbst aber am Anfange des Dorfes ausgestiegen sei, um die Gegend besser genießen zu können. Er kam zu Fuß nach.
»Dann kömmt er durch das große Parkthor«, sagte Cecile zu Craw, »ich fürchte, daß es schwer sein wird, ihn heute noch in unsern Kreis zu bringen, wenn wir ihn erst ruhn lassen, da es nun einmal später geworden ist, als ich gehofft. Ich muß eine Intrige einfädeln, um ihn zu fangen, denn ich möchte um jeden Preis mein Versprechen, ihn heute noch vorzustellen, halten. Für Sie ist die Mission zu wenig verwickelt, Baron Stockhausen, Sie behalt' ich in Reserve. Aber Sie, lieber Craw, geben wohl Luise Ihren Arm und gehen mit Wetterheimb bis zur Platane links oben, von da übersehn Sie die Pforten und können sich ihm jedenfalls irgendwie in den Weg manövrieren. Er ist groß, hager und trägt eine Brille, Kleider können nicht angegeben werden, das ist alles, was ich Ihnen zu sagen weiß. Ihr Scharfsinn mag das übrige thun und einen Vorwand finden, ihn, wie er kömmt, in die Galerie zu bringen, ich habe meinen Plan.«
»Könnten Sie Ihren Steckbrief nur wenigstens in der von dem österreichischen Ministerium beliebten Weise durch einige genauere Merkzeichen vervollständigen, damit ich Ihnen nicht durch die Gewalt meiner Überredung irgend einen hungrigen Strolch, dessen Augen durch Nachtstudien schwach geworden sind statt des Erwarteten bringe«, sagte Craw scheinbar obenhin.
»Bah, ich unterscheide eine Person von Stande auf zwanzig Schritt von einem Rotürier«, bemerkte Wetterheimb.
»Am Gesicht, an der Haltung, am Mienenspiel?«
»Nein, an der Wäsche.«
»Ah, dann macht also die Wäscherin die Person zu einem Menschen von Stande. Ein gutes Kriterium, ganz unleugbar!«
»Aber das österreichische Ministerium …?« fragte der Diplomat.
»Ei, die weisen Herren setzten als ›besondres‹ Kennzeichen in den Steckbrief, den sie hinter Kossuth erließen, daß er – verheiratet sei. Ich besitze ein Exemplar dieses Dokuments, kann Ihnen also im Falle des Zweifels den authentischen Beweis liefern. Sie müssen gestehn, daß dies ›besondre‹ Kennzeichen sehr genau ist.«
Die Gräfin rief, während dies von den Herren besprochen wurde, Luise zu sich und setzte dem jungen Mädchen den dichten Feldblumenkranz auf den Hut, den die hübsche Blondine vorher gewunden, und der jetzt müßig auf dem Marmortischchen lag. Diese unerwartete Freundlichkeit machte das Kind erröten und erhöhte seinen friedlichen Reiz. Luise küßte der Mutter die Hand, und diese sah ihr mit einem Ausdrucke, der sich nicht enträtseln ließ, nach.
»Komtesse Luise übertrifft sich heute selbst an Anmut und Schönheit!« sagte ein Stetterwitz.
»Ja, sie ist ganz artig, aber wie eine Statue«, sagte die Gräfin. »Man möchte sie unter eine Glasglocke stellen, denn es ist schade, wenn Staub auf sie fällt, sie hat nicht den Mut, ihn abzublasen.«
»Sie sind entsetzlich ungerecht gegen Ihre Tochter«, sagte eine von den älteren Damen. »Das liebe Kind, denn Luise ist ja noch ein Kind, meines Wissens noch nicht sechzehn Jahre …«
»Doch wohl nahe an achtzehn; nicht wahr, liebe Gräfin?« warf Komtesse Grasenapp ein.
»Sie sollte wenigstens kein Kind mehr sein, denn sie ist nur ein Jahr jünger als Sie meinen und schon ein Jahr älter als Frau von Rüttberg glaubt.«
»Immerhin ist sie eine kindliche Erscheinung.«
»Eine akkordiöse, wohllautende«, sagte der romantische Friedelstedt.
»Ich glaube, daß sie tiefer empfindet und geistig mehr entwickelt ist, als Sie meinen«, bemerkte die junge Frau.
»Leider teilt sie sich nie mit«, sagte die Grasenapp.
»Ich fürchte, Sie behandeln meine Tochter noch wie eine von den nébuleuses in Grandvilles Etoiles, wenn Sie fortfahren. Lassen Sie das ›Kind‹, ich werde für die Kleine denken.« –
Man thäte den Gesellschaften unrecht, wenn man ihnen einen Vorwurf daraus machte, daß es stets eine Person ist, die, wäre es auch unter Pairs, den Vorsitz übernimmt, – und man thäte ihnen zu viel, wenn man glaubte, daß Bescheidenheit die anderen bewegt, ihre Ansprüche herabzustimmen. Es entwickelt sich ein solches Verhältnis rasch und überall, weil es Bedürfnis ist. Auch die geistreichsten Menschen können, nur wenn sie zu zweien sind, gleiche Rechte beanspruchen, der dritte machte, wenn die Unterhaltung eine solche bleiben soll und es nicht auf das Auskämpfen eines wichtigen Streitpunktes ankömmt, das Gleichwiegen, das harmlose Hin- und Herschnellen des Gedankens schon unmöglich, wenn nicht sogleich stillschweigend für einen oder den anderen eine gewisse konventionelle Obmacht kreiert würde. Nur die Debatte, die endlich durch den Sieg ein Resultat erzielen soll und will, kann vielköpfig sein, die Unterhaltung, das fühlte auch schon Boccaz, verlangt einen Mittelpunkt, sonst gibt sie kein Bild, zerfährt und flattert ohne Versöhnung auseinander. Eintönig muß sie darum nicht werden, und wo sie es dennoch wird, ist es die Schuld der Anwesenden. Die Sonnenbeleuchtung wirkt und spiegelt sich allenthalben, aber der Saum einer violetten Wolke färbt sich kupferfarben, der einer grauen weißgelb und nur auf einer so dunklen, daß man sie schwarz nennen könnte, schlagen sich die Strahlen ohne alle Mischung in scharfen, glänzend goldnen Reflexen nieder. Über trüben, milchflockigen Himmel breitet der Sonnenuntergang einen dumpfen, rostfarbnen Ton, durch den sich einzelne Safranstreifen ziehn; Dünste und Rieselregen durchlaufen vom Kerne aus alle grauen und lila Schattierungen, bis sie am Rande in jene warmen, bräunlichen Tinten verwaschen werden, die in der Dekorationsmalerei von so großer Wirkung sind. Die Sonne läßt der Grundfarbe, dem Lokaltone, stets sein Recht, sie gießt nur eine neue Tinte an. Man kann sehn, daß blauschwarzes Tuch in scharfem Sonnenlichte saftig grüne Scheine bekömmt: die Strahlen mischen Gelb unter die gegebne Farbe, aber sie vertilgen das Blau nicht, sie verändern nur seine Wirkung für das Auge. – So geht in Gesellschaften die Beleuchtung stets von einem Punkte, von einer Person aus, wenn sie harmoniös bleiben sollen, und es sind auch hier nur die völlig farb- und lichtlosen Partien, die gedankenlosen Menschen, die schwarzen Wolken, an denen sich die Wirkung des Lichtes ohne alle Beimischung zeigt, sie empfangen alles, was sie haben, alle Bedeutung von der Sonne, während die anderen nicht allein nichts von ihrem eignen Wesen verlieren, sondern noch so viel dazu erhalten, als nötig ist, um dem Ganzen den Charakter einer Einheit, eines übereinstimmenden, versöhnten Bildes aufzuprägen. Man malt in letzter Zeit oft Mond- und Fackelbeleuchtung durcheinander und schafft auf diese Weise künstliche aber geschmacklose Bilder, die ebenso unedel sind als der Versuch, den feuerspeienden Vesuv bei Mondschein zu malen. Abgesehn davon, daß es nie gelingt, und die Töne stets verfehlt sind, macht auch die schreiende Spaltung in dem Ausdrucke des Dargestellten einen widerwärtigen Eindruck, der uns nicht zur Anerkennung der dargebotenen Mühe und Farbenmischerei kommen läßt. Eine zerfahrene Gesellschaft in demselben Zimmerraume ist ebenso widerwärtig als ein zwiespältiges Bild in abgegrenzter Umrahmung. Auch sie bedarf einer gleichmäßigen Beleuchtung, es ist also wirklich eine Erfindung des wahren guten Tones, daß man sich willig dem Einflusse einer Sonne hingibt, ohne sich selbst darum aufzugeben. Und wir meinen gezeigt zu haben, daß ein solches Aufgeben nicht nötig ist und die Individualität sich wahren läßt, ohne darum dem Totaleindrucke schaden zu müssen. Es sind die Reflexe, die das Wesen der Beleuchtung markieren, ohne daß den Lokaltinten Eintrag geschieht. Dies Bedürfnis ist so natürlich, daß es bei einiger Gewandtheit und Lebenserfahrung namentlich der Hausfrau immer gelingen muß, die um sie Versammelten in einen Zauberkreis einzuschließen und gewissermaßen zu durchgeisten.
Cecile verstand diese Kunst vollkommen, und es war die Schuld ihrer gewöhnlichen Umgebung, nicht die ihre, wenn es mitunter schien, als beleuchte sie nicht bloß, sondern leite. Ihr Regiment artete dann freilich in eine fremde Sphäre hinüber, sie regierte mechanisch durch unsichtbare Fädchen, die sie an alle, die sie lenken wollte, anzuheften wußte.
So war es ihr gelungen, heute die Anwesenden dergestalt zu spannen, ihnen so eigentümliche, hohe Begriffe von dem erwarteten Gaste beizubringen, daß sie überzeugt sein konnte, man würde auch das nach dem Salongeschmacke Bizarrste, das man sonst gewiß für mauvais genre gehalten, an ihm gutheißen. Ein Mensch wie er konnte alles thun, man hätte ihm sogar Grobheit verziehen. Man erwartete Überraschendes und wußte im voraus auch für das Überraschendste eine passende Entschuldigung. Das war ein Triumph, ein übergroßer, denn er triumphierte im Notfalle auch über geheiligte Formen.
Man hätte aus der dringenden Mühe, die sich Cecile nahm, dies Ziel zu erreichen, sehn können, daß ihr an einem solchen Resultate überaus viel gelegen sei. Sie lehnte sich nun auch stolz und lächelnd in ihre Ecke zurück und schien von keinem andern Gefühle als von der Ungeduld bewegt zu sein. Sie hatte für sich einen Hintergrund und für alles, was kommen konnte, eine Bühne geschaffen.
Endlich hörte man Stimmen und unterschied deutlich neben der Craws und Wetterheimbs eine fremde. Einen Augenblick später überschritt Luise die Schwelle, es gab eine kleine Pause, dann trat der Mann ein, der in völlig fremder Gesellschaft so viel lebhafte Gefühle warm hielt. Er schien sehr bewegt, als er sich dem glänzenden Kreise näherte, aber man konnte die Verwirrung, die sich einen Augenblick in seinem Gesichte abspiegelte, dem Einflusse des blendenden Lichtes, das von Kandelabern und Hängelampen aus seinen durch den Abendschimmer verwöhnten Augen entgegenströmte, zuschreiben, oder man konnte sie, wie hier geschah, damit erklären, daß es ihn bestürzt mache, unerwartet im Reiseanzuge einem auserlesenen Kreise gegenüber zu stehn. Das empfahl ihn sehr, und als er mit einem wohlturnierten Vorwurfe für die Gräfin, die ihn in so schlimme Lage gebracht, debütierte, d. h. als er eine Phrase sagte, die zwar jene Anklage enthielt, aber doch leicht und gewandt genug darüber hinglitt, um zeigen zu können, daß er trotz alledem nicht geniert sei, meinten alle Anwesenden, daß die Gräfin nicht zu viel versprochen habe.
Wetterheimb, in seiner Eigenschaft als Wirt, führte ihn in den Billardraum, Tetarskoff legte seinen Überrock ab, wischte die Gläser seiner Brille klar, und erschien nun in leichtem Kampagnakostüme, sehr einfach, aber sehr elegant, und wenn man den Staub an seinen Gamaschen abrechnete, stand seine improvisierte Salontoilette der keines der Anwesenden nach.
»Er hat sein Haar gefärbt, er will jung aussehn!« dachte die Gräfin, als er wieder herantrat. »Desto besser!«
Die Vorstellungsszene ging vorüber. Tetarskoff verbeugte sich kaltblütig und leicht, setzte sich dann neben die Gräfin, an deren Seite ein Stuhl für ihn bereit stand, und verlor sich mit ihr in ein Gespräch, das von beiden mit einer gewissen reservierten Artigkeit geführt wurde und recht eigentlich gar nichts für die anderen bot, obgleich trotz Craws Bemühungen, die Aufmerksamkeit durch eine allgemeine Unterhaltung von jenem Zwiegespräche abzuziehn, fast alle Ohren dem raschen Geplänkel der französischen Worte folgten.
»Denken Sie nur«, sagte die Gräfin endlich, »Herr Tetarskoff will trotz des Vergnügens, das wir eigens für ihn aufgespart, mein Haus für die nächste Woche nur als Absteigequartier betrachten und von hier aus schon morgen weiterreisen, um erst später länger hier zu weilen. Was ist zu thun? Weiter hinausschieben läßt sich das Rennen nicht mehr …«
»So geben wir Herrn Tetarskoff Urlaub bis Mittwoch früh, aber nicht länger!« sagte Luise.
Diesmal verlor die Gräfin doch ihre Fassung. Sie begriff nicht, woher Luise den Mut nahm, mit einem Fremden in dieser Weise zu sprechen. Außer Craw wich sie sonst jedem Herrn aus. Das war rätselhaft. Cecile sah Craw an, der ihre stumme Frage durch ein Achselzucken und einen boshaften Blick beantwortete, – sie war verlegen und wollte sich damit helfen, daß sie streng sagte: »Wir können nicht so über die Zeit unsres Gastes verfügen, wenn sie anderwärts dringender in Anspruch genommen wird.«
»Doch Mama«, sagte Luise einfach, »Herr Tetarskoff hat mir ein allerdings wahrscheinlich übereiltes Versprechen gegeben; ich weiß, daß es dir Freude macht, wenn deine Pläne nicht durchkreuzt werden, und du sollst die Freude haben, unsern Gast Mittwoch bei der Partie zu sehn.«
»Da haben Sie es nun, das kommt vom Versprechen ins Unbekannte hinein«, sagte Craw mit besonderer Betonung. »Ich bedaure nur, daß Sie so gut weggekommen sind.«
Luise hatte deutsch gesprochen, Tetarskoff, der versicherte, sehr wenig deutsch zu verstehen, bat sich eine Erklärung aus und sagte dann augenscheinlich unangenehm berührt, daß er folgen würde, weil er folgen müsse, daß es ihm aber schwer werde.
Luise war verstimmt, als sie den Erfolg ihres Machtspruches sah, und hielt nur mühsam die Thränen zurück, die ihr mit dem Gefühle, jemand etwas zu Leide gethan zu haben, zugleich der strenge kalte Blick der Mutter in die Augen preßte. Sie wich den Fragen der Damen nach der Art des verhängnisvollen Versprechens aus und schien sehr glücklich, als der Kammerdiener ihres Vaters ihr sagte, daß dieser sie zu sich bitten lasse. Cecile begleitete sie unter dem Vorwande, zu sehn, ob ihr Mann nicht Tetarskoff noch heute willkommen heißen könne, kam aber bald zurück. Sie hatte nur einige Worte mit Hugo gewechselt und Luise, nach dem Auseinandergehn der Gesellschaft, in ihr Schlafzimmer bestellt.
Auch Craw war verstimmt, er beobachtete Tetarskoff auf das peinlichste und schwieg den ganzen Abend über, so daß die Gräfin vollauf zu thun hatte, das Gespräch nicht stocken zu lassen, zumal bei einigen der Herrn die französische Konversation sehr zäh floß und dem Gaste zu Ehren diese Sprache ausschließlich beliebt wurde. Dieser war auch nicht so redselig, als man gehofft, – aber das war die Schuld der Reiseermüdung.
Das Resultat des Abends war, daß das Rennen nochmals um einen Tag hinausgeschoben wurde, und daß Tetarskoff versprach, zu rechter Zeit einzutreffen und, falls er ein passendes Pferd bekäme, selbst mitzureiten: Dies zu können, versicherte er aber morgen mit dem frühsten wieder aufbrechen zu müssen. Dabei blieb's.
Die Wagen fuhren vor, der Salon wurde leer.
»Sie versprachen uns eine Vorlesung, Craw, kommen Sie morgen. Ich habe gesagt, daß wir nicht zu Hause sein werden, hoffe also, da man mir das nicht glaubt, daß wir allein bleiben«, sagte Cecile, als Craw sich empfahl.
»Ob aber das, was ich habe, für morgen paßt?«
»Gleichviel! Ich will, daß der morgige Tag mir gehört. Nehmen Sie an, daß zwei schlagfertige Heere einander zur Entscheidung gegenüber ständen, daß aber beide wüßten, es könne morgen noch nicht losgeschlagen werden: da sucht sich denn gewiß jeder womöglich mit Dingen zu unterhalten, die dem Kampfe fern liegen, um für den schlimmsten Fall noch einmal die ganze Raserei des Lebens durchzukosten.«
»Ich werde kommen!«
»Ja, und geißeln sie Ihr Herz mit Dornen, damit Ihr Humor stichhaltiger ist als heute. Wenn Sie auch anfangen, langweilig zu werden, wer mag denn da hier ohne Reservelungen das Feld behaupten. Leben Sie wohl!«
»Gute Nacht! Sagen Sie Luisen nichts Böses …!«
Wetterheimb trat hinzu, man verbeugte sich gegenseitig und ging.