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Gestörtes Stillleben.
Mitten im Dorfe Hehlenried lag eine Hütte, die sich von den andern Wohnungen, denen sie sonst in Anlage und Bauart vollkommen glich, durch einen besondern Umstand unterschied. Während die benachbarten Häuser eine gewisse Einheit in Schmutz und vernachlässigter Haltung zeigten, war dieses schon von außen schroff in zwei Teile geteilt. Die Seite nach der Dorfstraße, also die vordere, konnte mit jedem anderen Gebäude der ganzen langen Doppelreihe in Bezug auf Unreinlichkeit wetteifern: vielleicht ersetzte sogar noch mehr bekritzeltes Papier die Stelle von Fensterscheiben, vielleicht war Anwurf und Tüncherei hier noch mehr verwahrlost. – Die Hinterseite der Hütte dagegen, von der Hausthüre, die wie auf dem Lande häufig in der Mitte einer Langseite angebracht war, in den Garten hinein, bildete einen auffallenden Gegensatz zu der vorderen Giebelfront. – Die Balken des Bindwerks waren mit frischer Holzfarbe angestrichen und die Mauerfelder dazwischen blank angeweißt; der Gang an der Mauer hin war durch Kies festgedämmt; es gab klare Scheiben in den Fenstern, die dadurch zwar nicht größer aber gewiß freundlicher wurden, und endlich breitete ein gutgehaltener Weinstock sein üppiges Laub an den Wänden bis zum Schaubendache hinauf. Ein breitästiger Holzbirnenbaum im Hintergrunde des Grasgartens, noch weiter zurück ein Bach, dessen schilfige Ufer ein Steg verband und jenseits Felder voller Ähren: – Das Bild war friedlich, anheimelnd und doch originell genug um malerisch zu sein.
Vorn heraus wohnte der Eigentümer des Gebäudes, die Hinterstube nebst einer kleinen Kammer war an den Drechsler Hennings vermietet.
Ohne Zweifel würden wir im Innern des Hauses Geschmack und Ordnung ebenso verschieden finden wie von außen, indes haben wir keinen Grund, unsern Besuch in der Hütte über das Gelaß des Drechlers auszudehnen.
Die Hinterstube war ein mäßig großer Raum, trotz seiner vielfachen und verschiedenartigen Bestimmung wohnlich gemacht durch das System, das bei Aufstellung und Verwendung des geringen Hausrates entscheidende Stimme gehabt, sowie durch die Sauberkeit, die in staublosem Geräte und reinlichen Dielen anerkannt sein wollte.
Zwischen den beiden Fenstern, die nach dem Garten sahen, stand die Drehbank; darüber hingen an dem Pfeiler in zierlicher Zusammensetzung die Werkzeuge. Im Winkel neben der Bank lehnte ein fertiges und mehrere halbvollendete Spinnräder, von denen noch einzelne, in der Arbeit begriffne Teile auf dem Werktische aufgeschichtet waren. An der zweiten, fensterlosen Wand neben der Kammerthüre war eine breite Bettsponde aufgeschlagen. Das Lager selbst bedeckte ganz gegen die Sitte der Gegend nicht ein Federsack in buntblumigen Überzuge, sondern eine gewirkte Wolldecke von blendender Weiße. Vorhänge hatte das Bett nicht. Dafür schweifte sich aber das Kopfende gefällig in die Höh' und zeigte im Lichte des flackernden Herdfeuers eine haut relief geschnitzte Tafel. Einige Fuß darüber hing ferner eine Zierde, die niemand unter dem Schaubendache gesucht hätte. Der lange Bord von gebeiztem Eichenholze, der eine Mappe mit Zeichnungen und eine doppelte Reihe deutscher und französischer Bücher trug, war ein Kunstwerk, dessen mühsame und feine Schnitzerei nichts zu tadeln ließ. Die Arabesken waren so geschmackvoll entworfen und mit so sichrer Hand ausgeführt, daß man nur daran zweifeln konnte, ob der Erfindung oder der Arbeit selbst die Palme gebühre. Überlegner noch, weil offenbar mit größter Liebe und höchster Anstrengung aller Kräfte ersonnen und ausgeführt, war eine rundgearbeitete Gruppe von Elfenbein, welche die freundliche Legende: – wie die christliche Muse der Musik, die heilige Cäcilie, durch ihren Kuß einem stummen Kinde die Sprache gibt, – darstellte. Dies kleine Meisterwerk bildete, unter einer Glasglocke vor Staub geschützt, die Kuppel des Büchergestelles. Ein Blick auf die Titel der Bände, die es umgaben, und unter denen unter anderem die hervorragendsten Dichtwerke jener Zeit ihren Platz gefunden hatten, bewies zur Genüge, daß die Statuetten nicht absichtslos zur Zugipfelung der kleinen Bibliothek benutzt waren. Sind es ja doch die Dichter, die für Gedanken und Gefühle, die in allen Herzen schlummern, für jedes stumme Sehnen das rechte Wort finden und in ihrer Weise den Stummen die Zunge lösen.
An der dritten Wand, die das Zimmer vom Hausflure trennte, stand ein Herdofen, auf dessen Platte eben an einem knatternden Feuer von Spänen das Nachtessen der Familie, – ein Gericht Kartoffeln, – mit Butter in einem flachen Tiegel schmorte.
An der letzten Wand endlich standen ein großer Schrank, zwei Stühle und eine Brandkiste zur Aufbewahrung von Wäsche.
Am Tische in der Mitte saß eine junge Frau. Der kleine, etwa zweijährige Knabe, den sie vor sich auf dem Tische sitzen hatte, trug ihre Züge, nur sah er gesund, frisch und freudig aus, während sie früh verblüht war und jener schleichenden Krankheit verfallen schien, die so gern die zartesten Menschenblumen knickt. Es lag etwas Trauriges in ihrem Lächeln, es war etwas Ergreifendes in der hastig innigen Weise, mit der sie ihr jauchzendes Kind an sich zog, wenn es von seinem Spiele aufblickte und die Arme der Mutter entgegen streckte. Und doch war über diese Wehmut wieder ein Schimmer sonniger Freude gebreitet, und doch war hohe Befriedigung der Ausdruck dieses Kopfes.
Es war der Kopf einer Mutter.
Wenn man einen weiblichen Kopf sieht, in dem über allen Kummer, über alle Sorge, über allen Jubel wie über allen Schmerz eine gleichmäßig ruhige und zugleich demütige Befriedigung liegt, ein Schleier, der das Dahinterliegende nur mit einer gewissen unbeschreiblichen Dämpfung erkennen läßt, so hat man allezeit nur einen richtigen Namen dafür. Ob schön, ob unschön, ob vorherrschend freudig oder trüb, wirft kein Gewicht in die Schale. Er gehört gewiß nicht einem Mädchen nach dem ersten Geständnisse des Geliebten, nach dem ersten Kusse wechselseitiger Liebe, – denn diese Befriedigung ist eine unruhige, sehnsuchtsvolle; ebensowenig gehört er einer Schwester, deren Bruder Triumphe errungen, denn diese Befriedigung ist eine stolze. Es gibt nur ein Wesen, in dessen Zügen diese weichste und vollste Befriedigung thronen kann; ein Bild, das sie zu malen wagt, bedarf keiner Unterschrift, denn jedermann muß ja wissen, daß so nur das Antlitz einer Mutter aussehn kann, die ihr Kind betrachtet.
Ein kaum zwei Wochen alter Hase, den Christian winzig klein im Garten gefangen, war der Gegenstand, der die Heiterkeit des Kindes hervorrief. Das Tier war unendlich zahm geworden und machte seine komischen Kapriolen, ohne sich im geringsten stören zu lassen. Es setzte sich auf die Hinterläufe, strich die Löffel glatt, leckte und putzte sich; dann kam es mit zwei Sätzen an das Kind heran, stellte sich wie ein Affe an ihm in die Höh' und trommelte mit den Vorderläufen auf seinem kleinen Arme. Es ließ nicht eher ab, knurrte sogar und zog allerliebst grimmige Gesichter, bis die Mutter dem Knaben ein Stückchen Brot in die Hand gab, das dieser nun den kleinen Bettelmann aufknabbern ließ. Das Häschen leckte nach jeder Portion mit seiner schmalen, warmen Zunge die Finger, die ihn gespeist, und sprang, wenn das Kind in seiner Freude aufschrie, eiligst davon, um in der Ferne seine Männchen zu machen. Dies Erschrecken, diese Flucht gab neues Vergnügen, neuen Jubel, und wenn Gertrud das Tier wieder an den Löffeln herbeizog, küßte sie oft, glücklich über die Seligkeit des Kindes, den Hasen mit dem Knaben zugleich.
»Pst!« rief sie ihrem eben eintretenden Manne entgegen.
Der Hase hatte sich wieder in Positur gesetzt und putzte seine schwarze Schnauze, die er kurz vorher in eine Tasse voll gewärmter Milch gesteckt hatte. Er pustete dabei, denn die Milch war ihm in die Nüstern gedrungen, sprang niesend im Kreise umher und gebärdete sich höchst possierlich.
Unwillkürlich vertiefte sich Hennings auch einen Augenblick in das anmutige, vielbewegliche Bild. –
Auch die besten Tiermaler erreichen nicht die Hälfte der Erfolge mittelmäßiger Menschenmaler. Sollte der Grund dafür wirklich nur darin liegen, daß der Gegenstand ein »unedler« ist? Darin sicher nicht. Das Tier ist Leben ohne Reflexion, aber es lebt und zeigt den Grad seiner Lebensthätigkeit durch mehr oder minder freie Bewegung. Die Bewegung ist sein Element und zugleich seine charakteristische Eigentümlichkeit. Nachbildungen, die ihm nur den Schein einer ewig gleichen Bewegung geben können, rauben dem Tiere also grade das, was schön und interessant an ihm ist, und können darum auch nicht befriedigen. Der Mensch dagegen ist Leben mit Reflexion, der Maler faßt die letzte Eigenschaft in der ersten ins Auge und bildet grade in dieser Weise das Charakteristische des Menschen nach. Er malt nicht einen Akt, nicht eine Handlung, also nicht die äußere Bewegung, sondern er malt den Eindruck, den ein Gedanke, ein Wort oder eine That auf eine oder mehrere Personen macht. Virginia ist in dem bekannten Bilde Fügers schon niedergestoßen, der Vater hält den blutigen Dolch in der Hand und droht dem erschrocknen Dezemvirn, das Volk ist von Entsetzen ergriffen, Frauen beschäftigen sich mit der Sterbenden, selbst die Liktoren fühlen etwas: das ist ein Bild, das seinen Eindruck nicht verfehlt, denn man wird den Wechsel der Bewegung nie vermissen. Schlachtbilder und Tierstücke werden Liebhaber finden, mehr als Liebhaber aber nie, weil ihnen Bewegung notthut. Vernet macht vielleicht eine Ausnahme, weil er seine Tiere wie Menschen behandelt, weil er sie individualisiert, aber auch damit ist das Letzte nicht erreicht. Ein anderes ist es mit den modernen Münchener Viehmalern oder mit Potter und verschiedenen Niederländern. Die »zivilisierten« Tiere, das »Vieh« mit einem Worte, ist nicht so prätentiös, elegante Bewegungen als Charaktermerkmal für sich zu beanspruchen. Eine wiederkäuende Kuh, ein Dutzend weidender Schafe, das geht zu malen, – aber ist das ein Bild? Wir mögen uns wohl dann und wann an den tölpisch steifen Sätzen einer Ziege oder der stattlichen Gestalt eines Mastochsen ergötzen, aber jeden Anklang an Grazie und Schönheit müssen wir beim »Wilde« suchen.
Und es gibt in der That nicht leicht ein reizenderes Schauspiel als im Buschwerk verborgen dem Atzen einer Rehfamilie zuzusehen.
Eine Waldwiese mit ihren gelben Ranunkeln und blaßroten Lychnisblüten, eingeklemmt zwischen breitästigen Buchen, deren Stämme sich bis zur Brust hinauf in Ahorn, Faulkirschen und Haselstauden verlieren; tiefer, flüsternder Schatten auf der einen Seite, so daß der Kuckuck hier das »Ave« zu läuten scheint, das den Tag zur Ruhe singt, – gegenüber aber ein grüner saftiger Sonnenblick, der jede Feder des Vogelharlekins Stieglitz auf einer silberbärtigen Distel oder zwischen Tannennadeln erkennen läßt, – darüber endlich blauer, tiefer Himmel, von leichtgehauchten Wolkensoffiten durchgittert: das ist die Dekoration. Man liegt still im Hag, am Rande auf einer Matte von Quendel, man träumt, denn zum Denken ist die Zeit zu süß: – da ertönt, statt der schrillen Schelle aus dem Souffleurkasten, ein eigentümliches Pfeifen, ein Naturlaut des Waldes. Kleines Gezweig knastert, die Blätter rauschen, und zwischen den Büschen streckt sich ein gekröntes Haupt hervor, das mit glänzenden rollenden Augen die Wiese und die Hecken auf der Gegenseite durchspäht. Man hält den Atem zurück und lauscht. Nun setzt der Bock mit einem weiten Bogensprunge, das Geweih an den Nacken zurückgelegt, über den Graben, sieht sich nochmals, aber keck und frei um, – wieder ertönt jenes Pfeifen, und im Augenblicke erscheinen die beweglichen Sterne, die drüben hinter den Blättern geleuchtet, hart am Graben. Das kleine gesprenkelte Kitzchen zagt vor dem Satze, es versucht in den Graben hinunter zu klimmen und mißt ängstlich die Tiefe. Aber der Vater wendet den Kopf zurück, das kleine Ding faßt Mut, springt, schwebt langgestreckt in der Luft und – gleitet auf den Knieen in die Blumen. Es klagt; die Mutter fliegt über das Hindernis und ist im Nu an der Seite des Kleinen. Sie wechseln einen Blick, das Kitzchen springt auf und umkreist schäkernd und neugierig die Alten. Es schnüffelt an den Halmen herum, versucht auch wohl ein Blatt Sauerampfer zu kosten, aber die Speise behagt ihm noch wenig. Es ist ein reizendes Spiel, daß es eine Hagerose abrupft und die Blütenblätter einzeln von seiner Schnauze wehen läßt. Indes kommt ihm der Appetit, da es die Eltern atzen sieht. Nun wirft sich's unter die Mutter auf die Kniee und saugt. Sie wendet den Kopf zurück und leckt dem Kleinen das Fell glatt. Der Bock sieht zu. – Man kann eine Bewegung der Freude nicht unterdrücken und richtet sich auf, um die halb von Gras verborgne Gruppe ganz zu sehn … Aber dies Geräusch ist dem Walde fremd, die Tiere spitzen die Ohren, der Bock stampft zornig den Boden, das Pfeifen ertönt, die friedliche Gruppe löst sich auf, die Ricke tritt eiligst den Rückzug ins Gebüsch an, das Kitzchen trippelt hinter ihr her, und der Bock, der sich vor dem blitzschnellen Verschwinden noch einmal schnaufend umwendet, deckt die Flucht. – Dies alles wird in so leichter, graziöser Weise ausgeführt, es ist so viel Anmut und Kraft in jedem Satze, daß man sich nicht abwenden kann. – O, die Tierwelt hat ihre Feierabende, ihre stillen Feste, und wer sich da nie zu Gast geladen, entbehrt einen Genuß und eine Anschauung, für die es keinen Ersatz gibt. Es ist eine Lücke in seinem Verständnis der Natur. Die Schwalbe, die sich auf unser Fenstersims setzt, ihr Liedchen herunterschwatzt, während wir am offenen Fenster stehn, überwindet instinktiv ihre Scheu, um an unsrem Betragen zu sehn, ob wir ihr wohl erlauben dürften, daß sie ihr Nest an unsre Mauer hängt: die Nachtigall, über deren Nest wir uns niederbeugen, sieht uns mit ihren schönen Kohlenaugen so ängstlich bittend ins Gesicht und harrt so geduldig aus, daß wir ihr ganzes stummes Gebet und das Versprechen der süßen, süßen Lieder, die ihre Kleinen bringen werden, verstehn lernen können. – – Aber wer wird sich mit Tieren beschäftigen, die Tiere sind »unedel!«
Wir haben uns so dareingefunden, die »Krone der Schöpfung« zu sein, daß wir uns mit einem herzlich abgeschmackten Märchen und unsrer selbstbewußten Rangstufe begnügen, ohne nach weiterem zu fragen. Der Glaube an Protoplasten und Theodidakten ist noch allenthalben rezipiert und wird teils aus Dummheit, teils aus Schurkerei und endlich aus feiger Rücksicht für den Glauben des Haufens von Theologen und Schulphilosophen ausgebeutet. Diese metaphysischen Saltimbanquerien, diese theosophischen Eiertänze, dies Haschen nach Strohhalmen, die am blauen Himmel wachsen sollen, Strohhalme, die man für bessere Stützen ausgibt als die Eichenstämme, die sichtbar und tastbar aus unsrer Erde aufsteigen, – worin hat es seinen Grund? Immer wieder darin, daß die jetzige Form der Gesellschaft erfunden worden, ein mißwüchsiges, auf unsittlicher Basis ruhendes Gebäude, das Anker aller Art, Notbrücken und Maschinerien in Unzahl braucht, um nur möglich geglaubt zu werden. Jeder Fortschritt der Wissenschaft, jedes neue Erkennen, reißt einen jener Pfeiler zusammen, auf denen das Bauwerk der zwischen Staat und Kirche gefangnen Gesellschaft ruht, und statt über den Sturz des Jammerpalastes zu frohlocken, wehrt sich die Menschheit gegen das Erkennen, – um die Gesellschaft zu retten. – Abgewendet wird dadurch ihr Fall nicht, aber verzögert und gefährlicher gemacht. Wer aus dem einstürzenden Hause nicht beizeiten herausgeht, wird von den Trümmern erschlagen werden. – Man ist wirklich in Versuchung an ein böses Prinzip zu glauben, wenn man sieht, wie zu allen Zeitaltern der Gedanke sich in nebelgraue Träume fortreißen ließ, statt in steter Weise seiner Aufgabe nach zu streben. Nur würde man bei dieser Annahme nicht umhin können, das Böse, das zu jenen Irrwegen verführte, grade im sogenannten Guten zu finden. – Zur Natur, zur Natur, immer wieder zur Natur! Nicht zurück, sondern vorwärts, denn sie liegt nicht hinter uns, sie breitet sich vor uns aus. Sie sucht sich selbst durch uns, sie will sich durch und in uns erkennen lernen, sie will sich ihrer in uns bewußt werden. – Nur inwieweit dies die Aufgabe der Erde, die ja nur ein Teil der Natur, inwieweit es die Aufgabe der »Krone der Schöpfung« sei, diese Erkenntnis zu vermitteln, könnte fraglich sein.
Die Weltseele, die schaffende Kraft der Natur, das Leben, »verkörpert« sich seit je in Gestalten, die der materiellen Entwickelungsperiode der äußeren Natur analog sind. Sie zeigte, – nach dem Bedürfnisse und den Bedingungen des Moments, ihre Fähigkeiten, erst einseitig, dann komplizierter, stets mit dem Möglichen und dem Bedürfnis, mit der »Stimmung« der Atmosphäre und der Mischung der Elemente Schritt haltend. Zuerst gab es nur belebte Massen, dann manifestierte sich das Leben in seinen einzelnen Eigentümlichkeiten als Stärke, Gewandtheit, Ausdauer, Schnelligkeit, Eleganz in der Bewegung, edlere Bildung der Form bis zur Schönheit. Ferner versuchte es in verschiedenen Elementen und unter verschiedenen Bedingungen zu leben; es entstanden Versuche, Kreuzungen und Verbindungen verschiedner Fähigkeiten. Schuppen, Federn, Felle und Häute von dichtem oder zartem Gewebe wurden je nachdem notwendige Aggregate; vom Knorpel bis zur Wirbelsäule, vom Gallert der Vorticellen bis zu dem feinsten und empfindlichsten Nervengeflechte, bis zu dem Gehirne des Menschen hinauf äußerte sich allmählich die ewig strebende Thätigkeit der Lebenskraft. In der Zeit, in der die rohen Urstoffe noch in wilder Fehde lagen, »schwebte der Geist Gottes über den Gewässern«, es war noch nichts Lebendiges in unsrem Sinne möglich. Aber als die Stoffe sich aus dem Chaos schieden, sich untereinander freundlich und feindlich suchten, als sie sich vereinten, trennten und abwogen, entwickelten sich aus Haß und Liebe die großen Bedingungen, die wir Naturgesetze nennen, als Notwendigkeiten aus der Entwickelung des Ganzen, – das Gleichgewicht gebar die Form und für die Äußerung des Lebens war eine bestimmte, begrenzte Erscheinung möglich. – Und wieder war es das Gleichgewicht im Zusammenfassen der in der Tierwelt getrennt verwendeten Richtungen und Fähigkeiten der Lebenskraft, das jenen denkfähigen Organismus möglich machte, den wir Mensch nennen. Die Organisation der Tiere hatte den Instinkt, ja in den höchsten Graden fast das Verstehen bedingt, und endlich glückte ein noch größerer Wurf, der Organismus des Menschen erlaubte den schaffenden Gedanken. Wie ein elektrischer Funke schlug er aus Nerv und Gehirn empor, leuchtete auf und vollzog den ersten großen Akt, als er sich selbst erkannte. Bis dahin war sein Wesen eine Übergangsphase vom Instinkt zu Verstand und Vernunft. – Die Vervollkommnungsreihe, die immer weitere Zuspitzung der Pyramide von den anorganischen Massen durch die Pflanzenwelt und das Tierreich bis zum Menschen hinauf, läßt sich zu deutlich erkennen, als daß man nicht auch ohne jede teleologische Marotte an ein endliches Ende, an eine Vollendung und Erfüllung, an ein völliges Lösen des großen Lebensrätsels denken dürfte. Es waren die enormsten Revolutionen nötig, Katastrophe mußte auf Katastrophe folgen, – die Erde gibt Zeugnis davon, – um die Lebenskraft der Natur bis zum inkarnierten Gedanken zu läutern; furchtbare Elementar- und Rassenkämpfe gingen jeder neuen Weltära voran, und in jeder dieser Ären war das von Stufe zu Stufe gesteigerte Sichselbstwollen, Sichselbstsuchen und Sichselbsterkennen der Natur in bestimmter Form zu seiner – für den Moment – höchsten Höhe gelangt. Die Weltseele wandert. Die Inkarnationen Wischnus in den Mythen der Inder, der Glaube an die Inkarnation der Gottheit als Messias, eine Erscheinung, die ohne wahrscheinlichen äußeren Zusammenhang in den verschiedensten Richtungen der Windrose im religiösen Volksbewußtsein lag und liegt, – diese Ideen sind nichts anderes als Mahnungen an oder Ahnungen von der Wanderung der Weltseele, die in ihrer eignen Schöpfungskette von Glied zu Glied vorschreitet. Es ist mehr als wahrscheinlich, daß nur ein Mißverständnis dieser Wahrheit zu der pythagoreischen und indischen Seelenwanderungslehre, sowie zu der erhabneren Anschauung der Druiden führte. Nicht die Seele des Einzelnen, nicht etwas, das für sich nicht ist, sondern die Lebenskraft der Welt, die Kraft an sich, wandert vorwärts und ist bis zum Menschen gekommen. Solang' ihre Summe eine geschaffne Reihe bewohnte, solang' diese Reihe der Ausdruck der Weltentwickelung war, blieb diese Verkörperung bildungsfähig, ging die Kraft aber in eine höhere Form über, so wurde die verlassne konstant oder schied, wenn die Bedingungen ihrer Existenz durch den Fortschritt der Weltbildung vernichtet worden, ganz aus. Den Geschlechtern, die eine Katastrophe überleben konnten, sich aber nach ihrem Verlauf überragt fanden, blieb so viel von der Kraft als diese von sich selbst wußte, so viel als diese von sich fordern konnte, als die Ära jener Verkörperungen die höchste Phase des Weltlebens war. Weder durch chemische Analyse noch durch mikroskopische Untersuchungen konnte ein Unterschied in Stoff und Wesen der Eichen, durch welche sich das tierische Leben fortpflanzt, entdeckt werden; die Ergebnisse blieben bei allen Gattungen dieselben. Es scheint also die lebensfähige Materie, das große Hauptgeheimnis der Natur, schlummernd, aber fertig und entwickelungsfähig im Ei zu liegen und nur auf das Erwecktwerden und die Erfüllung der Bedingungen zu warten, durch die es in der oder jener Gestalt zur Lebensäußerung werden und kommen kann. Könnte demnach irgend ein Tier das früher erwähnte Gleichgewicht an Kraft und Fähigkeiten, das für die Entwickelung der Lebensäußerung, die Mensch heißt, nötig ist, auf die Entwickelung und Geburt des zweckentsprechend zum Erwachen gebrachten Eies verwenden, so würde es einen Menschen zur Welt bringen können. Es ist dies nur unmöglich, weil die Bedingungen nicht erfüllt werden können. Jedenfalls aber lassen sich hierdurch und wieder durch Lücken in jenem Gleichgewichte auf menschlicher Seite abnorme Erscheinungen mancherlei Art, Mißgeburten nach abwärts wie nach aufwärts und anderes mehr rein physiologisch erklären. – – Für das im Text Gegebene ist diese Entdeckung von Wichtigkeit, weil sie die Entwickelung des Lebens zu irgend einer Form – bis auf den besondern Einfluß, den die Art seines Erwecktwerdens (Befruchtung) ausübt, – ganz in die Hände des in jedem einzelnen Falle mit dieser Entwickelung betrauten Organismus gibt. Hierdurch tritt die Annahme der Bildungsfähigkeit der Geschlechter zu gewissen Zeiten und das Konstantwerden wie die Notwendigkeit des Unterganges anderer aus der Reihe hazardierter Hypothesen. In den einen steigerten sich die Bedingungen der Entwickelung durch die in ihnen nach vorwärts strebende Gesamtkraft, in andern wurden sie fest, weil die Kraft in ihren Anforderungen an den Organismus weiter ging, als der fertige in seiner äußersten Spannung leisten konnte, und sie darum einen neuen, ihrer neuen Forderungen gewärtigen, bilden mußte – und in den letzten hörten sie endlich durch den Mangel der äußern Accedentien elementarischer Natur ganz auf. – – Die Physiologie wird uns noch viele Rätsel lösen. Haben wir einst das Leben, so haben wir mit ihm alles erklärt: aber freilich ist von der letzten Grenze des organischen Bildens der Natur bis zum Verständnis ihres dynamischen Wirkens noch eine furchtbare Kluft mit Erkenntnissen auszufüllen. – Nur Mut, der Gedanke erfüllt seine Sendung zuletzt doch, denn er ist ja selbst schon ein dynamisches Resultat organischer Thätigkeit.
Mit dem Menschen war, wie wir schon bemerkten, das Gleichgewicht, das Ebenmaß, und mit ihm Freiheit, Schönheit, kurz Vollendung der Form gefunden, – dagegen begann die Kindheit des Gedankens und mit ihr eine neue Schöpfungsperiode. Der Geist des Makrokosmos will und wird sich im Mikrokosmos erkennen lernen. Der Gedanke ist nun das Bildungsfähige; der Gedanke ist der Ausdruck, die Form, in der sich das Streben der Weltseele, der Kampf um Erkenntnis ihres eignen Wesens äußert. Er begann ganz in derselben Weise zu schaffen, in der die materielle Schöpfung ihrer Zeit verfahren war. Man hielt sich zunächst an die größten Massen, es brauchte der Klärung von Jahrhunderten, ehe auf Uranos und Gäa, auf Titanen, Giganten und halbtierische Ungestalten im Götterschaffen des Gedankens die Olympier folgen konnten; und wieder brauchte es Jahrhunderte, ehe dem Gedanken selbst sein Recht wurde. – Und hat er es denn heute schon voll und unverkürzt? Leider nein! Es ist noch immer der kleine Egoismus, der rein persönliche, der ihm die Schwingen kürzt und seine Größe in seiner Winzigkeit sucht. Wir sind erst groß, d. h. dem Ziele des Erkennens nahe, wenn wir aufhören uns einzubilden, daß die Welt uns zuliebe da sei, und daß wir in Protoplasten und Theodidakten zum Regiment der Erde berufen worden. Unser höherer Beruf ist der des fleischgewordnen Gedankens der Natur: das Erkennen der Natur, das Erkennen der Weltseele! Es ist nicht wahrscheinlich, daß es einer neuen vollständigen Umwälzung bedarf, um zu diesem Ziele zu gelangen, denn der Gedanke ist einmal gefunden. Der neue Akt des Weltdramas wird also nicht ein Sprung in eine schroff veränderte Wesenhaftigkeit, nicht eine neue Inkarnation der Weltseele sein müssen, sondern er wird durch das Vordringen und die Entschlackung des bildungsfähigen Gedankens sein Ziel finden können. Wie lang' es bis dahin dauert? Wie lang' die Kämpfe bis zum Gedanken gedauert? Wer weiß es! Unsre Jahrtausende zeigt der Sekundenweiser an dem Zifferblatte des Zeitmessers der Natur. – Der Kampf um reine Sittlichkeit, der Sieg der großen Ideen der Neuzeit wird der Menschheit den Frieden geben und zugleich die Vernichtung der Schranken, in die man die Vernunft von frühauf zwängt, mit sich bringen. Hierin liegt die Zukunft! – Und warum sollte nicht auch, wie sie so oft gethan, die vorschreitende Entwickelung der sogenannten »leblosen« Stoffe und die weitere Ausbildung der Atmosphäre zu einer höchsten Reinheit des Stoffes, der unsern Körper bildet, führen können? Sie müssen es sogar, denn wie der Gedanke in seiner ersten Roheit schon eine Thätigkeitsäußerung eines äußerst subtilen Organismus war, so verlangt der höhere Gedanke eine noch empfänglichere Organisation, bis endlich der höchste, letzte nur in edelster Form geboren werden kann. Die reine Materie fällt dann bewußt mit der Kraft in Eins, d. h. die Kraft äußert sich nicht mehr scheinbar als etwas Fremdes, sondern weiß sich, wie sie immer war, als eine notwendige Thätigkeit der Materie, und das große Rätsel des Lebens wird in einem Sichselbstbeschauen der Natur gelöst. Jener Moment erst wird den scheinbaren Dualismus in der Natur vernichten und die Identität des Stoffs und der Kraft, des Geschaffnen und Schaffenden Schaffen gleich Bilden aus Gegebenem; Ausbilden, Entwickeln des Gegebenen; einen andern Sinn hat das Wort nicht. Kraft = notwendige Wirkung des Seienden auf das Seiende., – denn die Natur ist eine eine und unteilbare, das Geschaffne schafft sich notwendig selbst und schafft mit dem Ganzen Hand in Hand weiter, – nachweisen und klarmachen …
Aber dies klingt wie ein orphischer Hymnus im Stile des neunzehnten Jahrhunderts, und wir sprachen eben noch von nicht mehr noch minder als einem – Hasen.
Hennings konnte bei seinem Eintreten nicht alles Geräusch vermeiden, auch wehte durch die Thüre, die er offen hielt, die Zugluft so scharf in das Zimmer hinein, daß der Hase wie das Kind aufmerksam wurde. Das Tier gab seine Beschäftigung auf, horchte, erblickte den Mann und verkroch sich scheu unter die Falten des Kinderröckchens. In demselben Augenblicke fuhr aber auch der Knabe in die Höh', um den Vater zu begrüßen …
»Wo ist Christian?« fragte der Mann, die Liebkosungen des Kindes nur zerstreut erwidernd.
»Bringst du ihn nicht heim? Du nahmst ihn ja mit und solltest doch wohl darauf achten, daß der arme, schwächliche Junge nicht so leicht angezogen der Abendkühle ausgesetzt bleibt.«
»Pah! Unsre Kinder müssen über Verkältungen, Schnupfenfieber und dergleichen vornehme Krankheiten erhaben sein! Übrigens hab' ich ihn schon vor mehr als einer halben Stunde nach Hause geschickt, und er hat sich wahrscheinlich nur irgendwo in der Nachbarschaft versteckt, weil es dem Burschen schwer aufs Herz fällt, daß er seinen Hans weggeben muß.«
»Den Hasen hergeben?« fragte die Frau mechanisch. Dann sagte sie schmerzlich: »Du willst den Kindern doch nicht ihre einzige Freude nehmen? Sieh nur, wie das Tierchen mit Richard vertraut ist, wie es spielt und an ihm herumklettert; sieh, wie selig das Kind über seine lebendige Puppe ist! Sollen denn unsre Kleinen gar keine Freude haben?«
Und die zarte Frau mit ihren üppigen, blonden Haarflechten und ihrem erregten Gesichte zog das schöne, heitre Kind, das den Hasen festhielt, an sich heran, als wolle sie die beiden Spielgenossen vor Trennung schirmen. Es gab aufs neue ein reizendes Bildchen, das den Mann fesselte und einen Strahl von Freude in sein starres Gesicht blitzen wollte. Aber der Lichtblick ging vorüber.
»Und doch muß die einzige Freude unsrer Kinder heute noch aus dem Hause«, sagte er hart und bitter. »Mendel Sack hat mich glücklicherweise noch zu rechter Zeit daran erinnert, daß wir ein Verbrechen begingen, als wir dies arme Ding vom Hungertode retteten.«
»Allerdings! Eine Art von Wilderei, die unter allen Umständen straffällig ist. Gottes Erde ist zwar der Stall dieser Tiere und der Himmel ihr Obdach; sie sind heute hier, morgen da, ohne sich um die Grenzen der Besitzungen zu kümmern, aber sie gehören dennoch ausschließlich dem ›gnädigen Herrn‹, der mich dafür, daß ich den kaumgebornen Hasen in meine Wohnung nahm und pflegte, ohne alle Umstände ins Zuchthaus bringen kann.«
»Wir haben ja gar nicht daran gedacht, den Liebling unsrer Kinder zu töten und zu essen. Wenn er groß und stark geworden, ist er kein Spielzeug mehr; dann lassen wir ihn frei. Bis dahin aber müßte er doch noch umkommen.«
»Und wer würde es uns glauben, daß wir nicht nach einem Sonntagsbraten lüstern waren oder das Tier verkaufen wollten, wenn es erst größer geworden? Der gnädige Herr wird lieber erlauben, daß sein Hase umkommt, als daß er hier bei uns bleibt.«
»Das Tierchen kann noch nicht ohne Milch sein, und es jetzt, nachdem wir es zum Leben gewöhnt, zu verlassen, wäre auch von uns grausam. Ich werde zum Förster gehn, ihn bitten, uns die weitere Aufzucht des Hasen zu überlassen, und versprechen, daß wir ihn später in die Försterei abliefern.«
»Du wirst nicht zum Förster gehn, du wirst keinen Menschen um eine Gefälligkeit anbetteln, du wirst uns nicht, wenn dem Tiere etwas zustoßen sollte, in den Verdacht bringen, die Scheinehrlichen gespielt zu haben! Hörst du das, Gertrud!« sagte er heftig und setzte bitter hinzu: »Gewöhne die Kinder nicht an Freuden, wären sie auch noch so gering; der Arme ist neben dem Reichen nicht für die Freude geschaffen.« –
Christian stand schon eine Zeitlang an der immer noch halboffnen Thüre und horchte. Als er jetzt eintrat, nahm Hennings den Hasen vom Tische, gab ihn dem Knaben und wiederholte den Befehl, das Tier augenblicklich ins Freie zu setzen.
»Fritz, Fritz, wie kannst du nur so hart sein!« sagte Gertrud, und ihre großen Augen füllten sich mit Thränen. Sie preßte das Kind, das zu weinen anfing, als es die Mutter in Thränen sah, fest an sich und entzog ihm so wenigstens den Anblick der Entfernung seines Tierchens.
»Drücke das arme Ding nicht, halte es bei den Ohren, die kleinste Quetschung tötet es augenblicklich!« rief der Vater dem Knaben nach, der während dieser Szene bald ihn, bald die Mutter, schweigend, aber mit einem häßlichen Lächeln, angesehn hatte.
»Und sterben soll es auch«, murmelte Christian draußen. »Diesen Braten wenigstens wird die Dame im schwarzen Kleide nicht bekommen.«
Gleich darauf verwehte der Wind einen kurzen, heisern Schrei, gleich dem eines klagenden Kindes, Christian warf etwas in den Bach, der zehn Schritt hinter dem Hause vorüberfloß, und kam dann in vollem Laufe in die Stube zurück. Er hatte nun doch ein Überrieseln von Schauer und Furcht empfunden. Aber das Gefühl verging, da ihn der Vater ein gutes, gehorsames Kind nannte, und als das karge Nachtessen aufgetragen wurde, war er das einzige Glied der Familie, das keine Verringerung seiner Eßlust zeigte.
Gertrud räumte schweigend den Tisch ab. Dann zog sie unter dem großen Bette zwei kleine Rollkasten hervor, die zur Aufnahme der Kinder bestimmt waren. Es wurde ihr schwer, sie hustete mehr als je. Sonst hatte Fritz ihr diese Arbeit abgenommen, heute schob er seinen Stuhl an die Drehbank zurück und versank, den Kopf in die Hand gestützt, in anscheinend schwere Gedanken. Gertrud wusch das Geschirr ab, die Kinder kamen ihm »gute Nacht« zu bieten, er küßte sie kühl und lehnte sich wieder in die alte Stellung, aus der er sich nur dann und wann erhob, um verdrießlich die düstre Lampe zu putzen.
Der kleine Richard schlief bald, und auch Christian schien eingeschlummert zu sein, aber man hätte bemerken können, daß er von Zeit zu Zeit vorsichtig den Kopf in die Höhe richtete und einen Blick nach dem sinnenden Vater hinüber warf.
Gertrud nahm ein Strickzeug und versuchte zu arbeiten, aber die Finger versagten ihr den Dienst; sie war an die gedrückte Stille, die sie umgab, nicht gewöhnt. Hennings pflegte sonst etwas vorzulesen, oder er kauerte auf den Rand des Kastens, in dem Christian lag, und sprach den Knaben in Schlaf.
»Fritz, du hast mehr Kummer als sonst«, sagte sie endlich, »warum weiß ich den Grund nicht? Bist du böse auf mich, Fritz?« Und sie nahm seine herunterhängende Hand auf.
»Mehr Kummer als sonst? Ich dächte der alltägliche genügte vollkommen.«
»Und doch waren wir glücklich dabei, recht glücklich. Wir hatten uns und unsre Kinder, unsre Hände nährten uns, grübeltest du über das, was du deine verlorne Erinnerung nanntest, so genügte ein Kuß von mir, ein Lächeln deiner Knaben, die Schatten zu verscheuchen, die ja doch nichts sind neben dem Glücke der Wirklichkeit. Du warst zufrieden, Fritz, und ich war es mit dir. – Freilich hat der Tod auch an unsre arme Hütte gepocht, aber du weißt ja, daß ich nicht gefühllos bin, und doch hab' ich mich über den Verlust des kleinen Engels, der nur sechs Tage lebte, leichter getröstet als du. Ich küsse die, die mir geblieben, seit jenem Trauertage doppelt und bete, daß sie uns bleiben. Aber du bist seit jener Zeit trüb und bitter, hart und bitter auch gegen mich. Glaubst du mir einen Vorwurf machen zu müssen?«
»Warum nicht gar!«
»Fritz, ich versprach dir alles zu ertragen was auch kommen möge, ich versprach zu dulden ohne eine Klage laut werden zu lassen. Ich fand auch nie eine Veranlassung dazu, nie bis heute. Wir waren arm, aber wir waren zufrieden und glücklich, ja wir konnten sogar stolz sein, denn wir verdankten alles uns selbst. Soll mir nun nach fünf Jahren herzlichsten Verständnisses deine Unfreundlichkeit Grund geben mein Wort zu brechen? Willst du selbst mir die erste Klage entlocken, und soll ich über dich klagen müssen? Das thäte doppelt weh!«
»Gertrud, du quälst mich. Ich bin nicht unzufrieden und habe keine Ursache meine Lage anders zu wünschen. Es gibt Ärmere als du und ich, und hab' ich Kummer, so gilt er diesen. Als wir die Stadt verließen, weil man sich zwischen uns drängen wollte, gaben wir beide freiwillig eine bequemere Zukunft auf. Du das Erbe einer eigensinnigen Alten, die ihre Einwilligung zu unsrer Verbindung nur in dem Wahne gab, daß diese Einwilligung einem Fluche gleichkomme; ich die Arbeit, die mir Ehre und Gut bringen konnte. Du nahmst den armen Mann statt des reichen; ich versperrte mir den Weg in die Gilde, weil mir die Hand ohne das Herz nicht feil war, du wurdest nicht die Frau des Senators und ich stieg, statt durchs Handwerk zur Kunst aufzuklimmen, zum Arbeiter hinab. Wir haben es gewollt. Durch Klagen beschuldigten wir uns nur selbst, und das wäre kindisch. Ich erkaufte mir das Recht, mich auf dem Grunde eines ›gnädigen Herrn‹ durch die Kraft meiner Arme und meinen Fleiß ernähren zu dürfen, und an Notwendigem hat es uns noch nie gefehlt. Was hätten wir denn also zu klagen?«
»Und doch bist du gedrückt!«
»Gertrud, bist du nicht krank?«
»O sieh doch nur, wie mich die bessere Jahreszeit stärkt. Ist es nichts als das, so sei wieder heiter und froh!«
Sie schmiegte ihre Wangen, deren Färbung freilich ihren Worten widersprach, an die Brust ihres Mannes und sah ihm so innig und liebevoll in die Augen, daß er nicht widerstehn konnte und die arme Frau herzlich auf Stirn und Lider küßte. Da sank sie an ihm hinunter und sagte mit einem schelmischen Ausdrucke um ihre Lippen:
»Mendel Sack hat dich gesucht; du sprachst mit ihm, hat er mein Geheimnis verraten?«
»Geheimnis? – Verraten?« sagte der Mann und streichelte das zarte Gesicht, auf dem jenes schelmische Lächeln wie ein Sonnenstrahl zuckte.
»Nun ja, mein Geheimnis, das einzige, das ich jemals vor dir gehabt.«
»So hast du, eitle Seele, ihm wohl den Rest deines wenigen Silbers verkauft, weil ich dir nicht mehr in meinem alten Kittel gefalle? Du weißt, daß es mir gleichgültig ist, womit ich esse, der Kinder wegen hätte ich aber gern die kleinen Löffel behalten: Zinn sieht zuletzt doch unreinlich aus, und wir müssen sie an die äußerste Reinlichkeit gewöhnen, da diese es gerade ist, die auch der Armut Anstand verleihen kann. Ist es das, was du dein Geheimnis nennst?«
Er strich der Frau freundlich das Haar zurück und ließ im Sprechen die gelösten, glänzenden Strählen mit einer Reminiszenz von hoher Freude durch seine Finger gleiten.
»Nein, nein guter Fritz, das ist es nicht, das würde ich ohne dein Wissen nicht thun. Das Geld für deinen Kittel hab' ich uns allen längst abgespart; du magst den Stoff kaufen, wenn du nach der Stadt gehst.« Und sie küßte ihm vergnügt die Hand, die er auf ihre Schulter gelegt. »Da ich eben hier neben dir kniee, wie eine Büßende«, fuhr sie fort, »will ich dir auch beichten, – aber du darfst nicht zürnen, weil ich hinter deinem Rücken und gegen deinen ausdrücklichen Willen etwas gethan, das du eine große Thorheit nennst. Ich habe nichts verkauft sondern heute wieder etwas gekauft, nämlich ein – – – Lotterielos!«
»Wie? Zerreiße es augenblicklich! Gehorche!« rief der Mann in seiner ganzen Heftigkeit aufbrausend. »Ich will arm bleiben, sonst brauchten wir dergleichen Zettel nicht um Vermögen zu erlangen. Ich dulde auch die Möglichkeit nicht in unsern Händen, die Möglichkeit mich selbst und die Meinigen von dem millionenfachen Fluche getroffen zu sehn, der auf den Reichen lastet. Gib mir auf der Stelle das Papier aus der Kanzlei des Teufels! Und schon öfter treibst du dies Spiel, schon lang' verbirgst du mir diesen Unfug, träumst Zahlen und hoffst auf Gewinn …«
»Fritz«, sagte die Frau weinend, »denke an die Kinder, denke, daß wir sterben können, und daß ihnen dann nichts und niemand den schweren Weg erleichtern wird. Lasse mir wenigstens die Hoffnung, die ohnehin so ungewisse Hoffnung …«
»Nein, und abermals nein. Meine Kinder sollen es nicht anders wissen, als daß jeder Kreuzer, der Segen bringt, ehrlich verdient sein muß; daß nur das unser rechtmäßiges Eigentum ist, was wir selbst erworben. Sie sollen nie ein andres Kapital haben als ihre Kraft, ihr Wissen, ihren Fleiß und wieder ihre Kraft. Ihr Geschick zur Arbeit und ihr Mut, dem Leben die Spitze zu bieten, müssen und werden ihnen forthelfen.«
»Und woher sollen sie Wissen nehmen, wenn wir tot sind oder nicht genug haben, ihnen eine andre Erziehung zu geben, als sie die Kinder unsrer Nachbarn erhalten? Woher wird der arme Christian die Kraft nehmen? Wird er je durch seine Hände so viel erwerben können als er zur Bestreitung des Unterhalts, zur Ernährung einer Familie braucht? Und ist er zum Handwerke zu schwach, hat er Talente, die ihn zu anderer Beschäftigung fähig machen, wie sollen wir ihm die Mittel dazu bieten?«
»Das wird sich alles finden! Je mehr Qual sie zu tragen haben, ehe sie zu dem bescheidensten Ziele kommen, je dornenreicher ihr Pfad sein wird, desto gründlicher werden sie die Leute hassen lernen, denen Geld und Zufälligkeiten über alles weghelfen. Dieser Haß wird die neue Erlösung zuwege bringen, er wird die neue Zeit gebären, und jeder Mensch, dem ein Funke dieses Hasses in der Brust glüht, ist ein berufner Apostel der Zukunft.«
»O sprich nicht so, Fritz! Ich willigte freudig ein mit dir arm zu werden, aber davon, daß wir darum unglücklich sein und andere hassen müßten, sagtest du damals nicht ein Wort. Welche Mutter wird die Hand dazu bieten, ihre Kinder zu finstern Rachegeistern zu erziehn? Wo wirst du ein Weib finden, das die Wesen, denen es alles, o Gott, von allem das Herrlichste und Schönste wünscht, ohne sich dagegen zu sträuben, selbst um die Möglichkeit des Glückes schon durch die Erziehung betrügen läßt? Und das soll ich einer Idee zuliebe thun, die mir fremd ist, die ich für Unrecht halte? – Das ist unnatürlich! Es kann auch von dir nicht mehr als eine unüberlegte Redensart sein. So würden wir ja unter dem Vorwande Menschen zu erziehen, Unmenschen ausbilden. Die Kinder sollen Liebe lernen, nicht Haß, damit sie selbst geliebt, nicht gehaßt werden. Ich habe dir in allem nachgegeben wie ein treues Weib, willig und ohne Murren, aber die Kleinen gehören der Mutter, und die Mutter wird sie schützen. Ich war fest, als ich mich dir gab, du wirst mich wieder fest finden. Auch das Gift, das du in der letzten Zeit unbedacht in Christians Herz geträufelt, werde ich wieder herauszuschaffen wissen; schlüge es Wurzel, dann wehe uns! Du meinst es gut, denn du bist wohl rauh, aber nicht böse, nur vergißt du ganz, daß du Mann bist und er ein Kind, das dich mißverstehn wird und ganz gemütlos werden müßte, wenn es deinen Lehren folgte. – Ich höre jetzt, wie damals als es den Kampf um unsre Vereinigung galt, nur auf die Stimme in meinem Herzen, die du in jener Zeit die ewig wahre Stimme der Natur nanntest. Ich werde ihr immer wieder gehorchen, dir widersprechen, das, was du säst, ausrotten …«
»Ah, und diese Stimme befahl dir auch in die Lotterie zu setzen?« unterbrach Hennings seine Frau, die in ungeahnter Weise beredt wurde, als sie für ihre Kinder sprach. »Das ist in der That ein ganz neues, sicher vortreffliches und vor allem überaus natürliches Mittel für die Erziehung und das Glück seiner Kinder zu sorgen! Und all dein Widerspruch, was liegt hinter ihm? Du willst deine Kleinen als Herren sehn, das ist dein liebster Traum. Ich fühle diese Absicht durch, auch wenn du vorgibst nur für ihr Gemüt, für ihr Herz zu kämpfen. Sieh doch selbst, durch welchen höhnischen Zischlaut unsre Sprache schon Herr und Herz unterschied. Du bist es, die ihnen Gutes zu thun meint, während dein Weg sie zum Bösen, zur Herzlosigkeit führt. Glaubst du denn, ich habe an das, was wir einst für die Kinder brauchen werden, noch nie gedacht? Wir werden genug haben, sie zu erziehn und unterrichten zu lassen. Da ist meine Lotterie, und in der ist keine Niete!« Er zeigte ihr bei den letzten Worten seine beiden Arme und seinen Kopf.
»Aber du kannst doch noch krank werden …«
»Und du kannst mit deinen Nummern durchfallen, wie bisher geschehn, denn sonst hättest du doch nicht schweigen können«, parodierte er. »Endlich will ich nun gar für solche Zwecke vom blinden Glücke nichts geschenkt haben. Gib mir das Los, und fort damit! Das Spiel ist unmoralisch und darum Sünde.«
»Sünde kann das nie sein, was eine Mutter für ihre Kinder thun mag. Für mich hab' ich genug, für mich bin ich zufrieden und wüßte, wenn du nur wieder lieb und gut bist, nichts Besseres zu verlangen; aber für meine Engel will ich alles, alles was schön ist und Freuden gibt. Und ich weiß ja, daß ich gewinnen muß, und immer wieder gewinnen werde, denn«, sie sah ihn dabei lauernd aber doch mit dem Überströmen kindlichen Gefühles an, so daß der schlaue Ausdruck ihrer Züge ein unsäglich glückliches Bewußtsein verriet, – »denn, ich habe gewonnen. Bescheiden, wie mein Satz, aber doch ein Gewinn fast jedesmal, so daß ich schon eine nette runde Summe aufbewahre …«
»Du hast gewonnen! Nun verstehe ich deine Lust am Spiel. Siehst du, wie der Teufel lockt! Hoffentlich hast du nun deinen Satz verdoppelt und spielst nicht mehr bescheiden, um mehr zu gewinnen. Das ist die rechte Art, so ist mir's auch noch allenfalls recht, so kommt das schlechte Geld rasch wieder aus dem Hause. Wenn das der Fall ist, erlaube ich dir weiter zu spielen. Ist aber der letzte Kreuzer des Sündengeldes fort, so verbiete ich dir in allem Ernste auch nur einen Heller zu wagen, wenn du nicht willst, daß ich Mendel Sack durchprügle, da er es ist, der dich verführt.«
»O nein, ich kam selbst auf den Gedanken, und der Jude ist ein ehrlicher Mann. Aber du bist im Irrtume, wenn du meinst, daß ich übermütig geworden bin. Ich habe meinen Satz nicht geändert und schon fast dreihundert Gulden gesammelt … Ah, nun machst du große Augen! Siehst du, daß ich schweigen konnte, obgleich ich gewonnen hatte.«
»Dreihundert Gulden unter meinem Dache, nun sage einer noch, daß man blutarm sein kann, wenn man es sein will. Das ist schlimmer, als ich dachte, indes geht's darum nur etwas langsamer aus dem Beutel. Versprichst du mir nicht mehr zu spielen, wenn dies Geld, das nun einmal dem Teufel gehört, zu Ende ist?«
»Ja, ich verspreche dir's, bin aber überzeugt, daß du die Freude nicht haben wirst, meine Hoffnung begraben zu sehn. Wir werden sehn was recht behält, Mutterliebe oder grundloser Haß! – O Fritz, ich mag dich viel lieber heftig und aufbrausend, wie du immer warst, als düster vor dich hinbrütend als hättest du nichts mehr lieb. An deine Hitze hab' ich mich gewöhnt, ich weiß, daß sie verfliegt, wie sie gekommen, aber das Brüten, das du dir jetzt angewöhnst, ist mir fremd und stößt mich kalt zurück. Zürne, wenn du mußt oder es zu müssen glaubst, aber laß deine Stirne frei sein und stolz. Wenn der Mann ein Kopfhänger wird, schafft sich die Frau umsonst müde, es will nichts Rechtes mehr gelingen.«
Sie nahm schmeichelnd den Platz, den sie vorhin verlassen, wieder ein und zwang durch ihre seelenvolle Freundlichkeit die Falten von der Stirn des leidenschaftlichen Mannes. – –
Christian war in der That noch wach und, von einem plötzlichen Einfalle durchzuckt, richtete er sich jetzt, als die Eltern in versöhnender Umschlingung schwiegen, empor und fragte:
»Wir haben ja auch Trauer, weil mein Bruder gestorben ist, müssen wir denn da nicht auch schwarze Kleider anziehen, wie die junge Dame, die heute gegen den Vater so grob gewesen und ihn einen Bettler geschimpft? Oder zieht man sich nur schwarz an, wenn einem, wie ihr, der Vater gestorben?«
»Schlafe jetzt, Christian, und frage nicht so albern«, sagte Hennings unwillig.
»Gräfin Cäcilie war grob gegen dich und hat dich einen Bettler geschimpft?« fragte Gertrud. »Wie kam denn das?«
»Cäcilie heißt sie?« sagte der Mann langsam und die Silben dehnend, während sein Blick sich, wie von einem raschen Gedanken gelenkt, auf das Schnitzwerk über den Büchern richtete.
»Nun ja, Cäcilie, aber wie kam sie dazu grob gegen dich zu sein?«
»Es war auf dem Friedhofe, sie mißverstand mich, und der Knabe sie; aber es wird mir leicht werden, ihr eine bessere Meinung von mir beizubringen. – Du bist müde, Herz, lass' uns jetzt zur Ruhe gehn! Ich erzähle es dir morgen näher.« –