Richard Wagner
Oper und Drama
Richard Wagner

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[ VI ]

Wir haben nun alle Bänder des Zusammenhanges für den einigen Ausdruck des Dramas erfaßt und uns jetzt nur noch darüber zu verständigen, wie sie unter sich verknüpft werden sollen, um als einige Form einem einigen Gehalte zu entsprechen, der nur durch die Möglichkeit dieser einigen Form als ein ebenfalls einiger erst sich zu gestalten vermag. –

Der lebengebende Mittelpunkt des dramatischen Ausdruckes ist die Versmelodie des Darstellers: auf sie bezieht sich als Ahnung die vorbereitende absolute Orchestermelodie; aus ihr leitet sich als Erinnerung der »Gedanke« des Instrumentalmotives her. Die Ahnung ist das sich ausbreitende Licht, das, indem es auf den Gegenstand fällt, die dem Gegenstande eigentümliche, von ihm selbst aus bedingte Farbe zu einer ersichtlichen Wahrheit macht; die Erinnerung ist die gewonnene Farbe selbst, wie sie der Maler dem Gegenstande entnimmt, um sie auf ihm verwandte Gegenstände überzutragen. Die dem Auge sinnfällige, stets gegenwärtige Erscheinung und Bewegung des Verkünders der Versmelodie, des Darstellers, ist die dramatische Gebärde; sie wird dem Gehöre verdeutlicht durch das Orchester, das seine ursprünglichste und notwendigste Wirksamkeit als harmonische Trägerin der Versmelodie selbst abschließt. – An dem Gesamtausdrucke aller Mitteilungen des Darstellers an das Gehör, wie an das Auge, nimmt das Orchester somit einen ununterbrochenen, nach jeder Seite hin tragenden und verdeutlichenden Anteil: es ist der bewegungsvolle Mutterschoß der Musik, aus dem das einigende Band des Ausdruckes erwächst. – Der Chor der griechischen Tragödie hat seine gefühlsnotwendige Bedeutung für das Drama im modernen Orchester allein zurückgelassen, um in ihm, frei von aller Beengung, zu unermeßlich mannigfaltiger Kundgebung sich zu entwickeln; seine reale, individuell menschliche Erscheinung ist dafür aber aus der Orchestra hinauf auf die Bühne versetzt, um den im griechischen Chore liegenden Keim seiner menschlichen Individualität zu höchster selbständiger Blüte, als unmittelbar handelnder und leidender Teilnehmer des Dramas selbst, zu entfalten.

Betrachten wir nun, wie der Dichter vom Orchester aus, in welchem er vollständig zum Musiker geworden ist, sich zu seiner Absicht, die ihn bis hierher geführt, zurückwendet, und zwar um sie, durch die nun unermeßlich reich ihm erwachsenen Mittel des Ausdruckes, vollkommen zu verwirklichen.

 

Die dichterische Absicht verwirklichte sich zunächst in der Versmelodie; den Träger und Verdeutlicher der reinen Melodie lernten wir im harmonischen Orchester erkennen. Es bleibt nun noch genau zu ermessen, wie jene Versmelodie sich zum Drama selbst verhalte und welche ermöglichende Wirksamkeit bei diesem Verhältnisse das Orchester ausüben könnte.

Wir haben dem Orchester bereits die Fähigkeit abgewonnen, Ahnungen und Erinnerungen zu erwecken; die Ahnung haben wir als Vorbereitung der Erscheinung, die endlich in Gebärde und Versmelodie sich kundgibt – die Erinnerung dagegen als Ableitung von ihr gefaßt, und wir müssen nun genau bestimmen, was, der dramatischen Notwendigkeit gemäß, gleichzeitig mit der Ahnung und Erinnerung den Raum des Dramas in der Weise erfüllt, daß Ahnung und Erinnerung zur vollsten Ergänzung seines Verständnisses eben notwendig waren.

Die Momente, in denen das Orchester sich so selbständig aussprechen durfte, müssen jedenfalls solche sein, die das volle Aufgehen des Sprachgedankens in die musikalische Empfindung von seiten der dramatischen Persönlichkeiten noch nicht ermöglichen. Wie wir dem Wachsen der musikalischen Melodie aus dem Sprachverse zusahen und dieses Wachsen als aus der Natur des Sprachverses bedingt erkannten; wie wir die Rechtfertigung, d. h. das Verständnis der Melodie aus dem bedingenden Sprachverse nicht nur als ein künstlerisch zu Denkendes und Auszuführendes, sondern als ein notwendig vor unsrem Gefühle organisch zu Bewerkstelligendes und im Gebärungsprozesse ihm Vorzuführendes begreifen mußten: so haben wir auch die dramatische Situation aus den Bedingungen herauswachsend uns vorzustellen, die sich vor unsren Augen zu der Höhe steigern, auf welcher die Versmelodie als einzig entsprechender Ausdruck eines bestimmt sich kundgebenden Empfindungsmomentes uns notwendig erscheint.

Eine fertige, geschaffene Melodie – so sahen wir – blieb uns unverständlich, weil willkürlich deutbar; eine fertige, geschaffene Situation muß uns ebenso unverständlich bleiben, wie die Natur uns unverständlich blieb, solange wir sie als etwas Erschaffenes ansahen, wogegen sie uns jetzt verständlich ist, wo wir sie als das Seiende, d. h. das ewig Werdende erkennen – als ein Seiendes, dessen Werden in nächsten und weitesten Kreisen uns stets gegenwärtig ist. Dadurch, daß der Dichter sein Kunstwerk uns im steten organischen Werden vorführt und uns selbst zu organisch mitwirkenden Zeugen dieses Werdens macht, befreit er seine Schöpfung eben von allen Spuren seines Schaffens, vermöge dessen er, ohne die Vertilgung seiner Spuren, uns nur in das gefühllos kalte Staunen versetzen könnte, mit dem uns das Anschauen eines Meisterstückes der Mechanik erfüllt. – Die bildende Kunst kann nur das Fertige, d. h. das Bewegungslose hinstellen und den Beschauenden somit nie zum überzeugten Zeugen des Werdens einer Erscheinung machen. Der absolute Musiker verfiel in seiner weitesten Verirrung in den Fehler, der bildenden Kunst hierin nachzuahmen und das Fertige anstatt des Werdenden zu geben. Das Drama allein ist das räumlich und zeitlich an unser Auge und unser Gehör so sich mitteilende Kunstwerk, daß wir an seinem Werden selbsttätigen Mitanteil nehmen und das Gewordene daher als ein Notwendiges, klar Verständliches durch unser Gefühl erfassen.

Der Dichter, der uns nun zu mittätigen, einzig ermöglichenden Zeugen des Werdens seines Kunstwerkes machen will, hat sich wohl zu hüten, auch nur den kleinsten Schritt zu tun, der das Band des organischen Werdens zerreißen und somit unser unwillkürlich gefesseltes Gefühl durch willkürliche Zumutung verletzen könnte: sein wichtigster Bundesgenosse wäre ihm augenblicklich untreu gemacht. Organisches Werden ist aber nur das Wachsen von unten nach oben, das Hervorgehen aus niederern Organismen zu höheren, die Verbindung bedürftiger Momente zu einem befriedigenden Momente. Wie nun die dichterische Absicht die Momente der Handlung und ihre Motive aus solchen sammelte, die im gewöhnlichen Leben wirklich, nur ihrem Zusammenhange nach unendlich ausgedehnt und unübersehbar weit verzweigt, vorhanden sind; wie sie diese Momente und Motive um einer verständlichen Darstellung willen zusammendrängte und in dieser Zusammendrängung verstärkte: so hat die dichterische Absicht um ihrer Verwirklichung willen genau ebenso zu Werke zu gehen, wie sie in der gedachten Dichtung jener Momente verfuhr; denn ihre Absicht verwirklicht sich nur dadurch, daß sie unser Gefühl zur Teilhaberin an ihrer gedachten Dichtung macht. – Das Allerfaßlichste ist dem Gefühle unsre Anschauung des gewöhnlichen Lebens, in welchem wir aus Neigung und Bedürfnis geradeso handeln, wie wir es gewohnt sind. Sammelte der Dichter daher aus diesem Leben und der ihm gewohnten Anschauung seine Motive, so hat er auch seine gedichteten Gestalten zunächst uns nach einer Äußerung vorzufahren, die diesem Leben nicht so fremd ist, daß sie von den in ihm Befangenen gar nicht verstanden werden könnte. Er hat sie daher uns zuerst in Lebenslagen zu zeigen, die eine kenntliche Ähnlichkeit mit denen haben, in denen wir uns selbst befunden haben oder doch befunden haben können; auf solcher Grundlage erst kann er stufenweise zur Bildung von Situationen aufsteigen, deren Kraft und Wunderbarkeit uns eben aus dem gewöhnlichen Leben herausversetzen und den Menschen uns nach der höchsten Fülle seines Vermögens zeigen. Wie diese Situationen durch die Fernhaltung alles zufällig Erscheinenden in der Begegnung stark kundgegebener Individualitäten zu der Höhe wachsen, auf der sie uns über das gewöhnliche menschliche Maß erhoben scheinen – so hat notwendig auch der Ausdruck der Handelnden und Leidenden sich aus einem dem gewöhnlichen Leben noch kenntlichen, nur mit wohlbedingter Steigerung zu einem solchen zu erheben, wie wir ihn in der musikalischen Versmelodie als einen über den gewöhnlichen Ausdruck erhöhten bezeichneten.

Es gilt nun aber den Punkt zu bestimmen, den wir als den niedrigsten für die Situation und den Ausdruck festzusetzen haben und von dem wir zu jenem Wachsen vorschreiten sollen. Betrachten wir näher, so wird dieser Punkt genau derselbe sein, auf den wir uns stellen müssen, um die Verwirklichung der dichterischen Absicht durch Mitteilung derselben überhaupt zu ermöglichen, und dieser liegt da, wo die dichterische Absicht sich vom gewöhnlichen Leben, aus dem sie hervorging, trennt, um sein gedichtetes Bild ihm vorzuhalten. Auf diesem Punkte stellt sich der Dichter mit dem lauten Bekenntnisse seiner Absicht den im gewöhnlichen Leben Befangenen gegenüber und ruft sie zur Aufmerksamkeit auf: er kann nicht eher vernommen werden, als bis diese Aufmerksamkeit ihm willig zugewandt ist – bis unsre durch das gewöhnliche Leben zerstreuten Empfindungen sich zu einer gedrängten, erwartungsvollen Empfindung ebenso sammeln, wie der Dichter in seiner Absicht bereits die Momente und Motive der dramatischen Handlung aus diesem selben Leben gesammelt hat. Die willige Erwartung oder der erwartungsvolle Wille der Zuhörer ist nun das erste ermöglichende Moment für das Kunstwerk, und es bestimmt den Ausdruck, in welchem der Dichter ihm entsprechen muß – nicht nur um verstanden zu werden, sondern um zugleich so verstanden zu werden, wie die Spannung auf etwas Außergewöhnliches es verlangt.

Diese Erwartung hat der Dichter von vornherein für die Kundgebung seiner Absicht zu benutzen, und zwar dadurch, daß er sie – als eine unbestimmte Empfindung – nach der Richtung seiner Absicht hin lenkt, und keine Sprache ist, wie wir sahen, hierzu vermögender als die unbestimmt bestimmende der reinen Musik, des Orchesters. Das Orchester drückt die erwartungsvolle Empfindung selbst aus, die uns vor der Erscheinung des Kunstwerkes beherrscht; je nach der Richtung hin, wo es der dichterischen Absicht entspricht, leitet und erregt es unsre allgemein gespannte Empfindung zu einer Ahnung, die eine als notwendig geforderte, bestimmte Erscheinung endlich zu erfüllen hat.Daß ich hiermit nicht die heutige Opernouvertüre meine, habe ich an diesem Orte nur kurzweg zu berühren: jeder Verständige weiß, daß diese Tonstücke – sobald in ihnen überhaupt etwas zu verstehen war – anstatt vor dem Drama, nach demselben vorgetragen werden müßten, um verstanden zu werden. Die Eitelkeit verführte den Musiker, in der Ouvertüre – und zwar im glücklichsten Falle – die Ahnung schon mit absolut musikalischer Gewißheit über den Gang des Dramas erfüllen zu wollen. Führt der Dichter nun die erwartete Erscheinung auf der Szene als dramatische Person vor, so würde es das angeregte Gefühl nur verletzten und enttäuschen, wenn diese in einem Sprachausdrucke sich kundgeben sollte, der uns plötzlich wieder die gewöhnlichste Äußerung des Lebens zurückriefe, aus dem wir soeben versetzt waren.Die stets noch beibehaltene Zwischenaktmusik in den Schauspielen ist ein beredtes Zeugnis von der Kunstgedankenlosigkeit unsrer Schauspiel-Dichter und Anordner. In der Sprache, die unsre Empfindung anregte, soll auch jene Person sich nun kundgeben, und zwar als eine solche, auf die eben unsre Empfindung hingeleitet war. In dieser Tonsprache muß die dramatische Person sprechen, sollen wir sie mit dem angeregten Gefühle verstehen: sie muß in ihr aber zugleich so sprechen, daß sie die in uns angeregte Empfindung zu bestimmen vermag, und unsre allgemeinhin angeregte Empfindung bestimmt sich nur dadurch, daß ihr ein fester Punkt gegeben wird, um welchen sie sich als menschliches Mitgefühl sammeln, und an welchem sie zur besonderen Teilnahme an diesem einen, in dieser bestimmten Lebenslage befindlichen, von dieser Umgebung beeinflußten, von diesem Willen beseelten und in diesem Vorhaben begriffenen Menschen sich verdichten kann. Diese, dem Gefühle notwendigen Bedingungen der Kundgebung einer Individualität können überzeugend nur in der Wortsprache dargelegt werden, in derselben Sprache, die dem gewöhnlichen Leben unwillkürlich verständlich ist und in welcher wir uns gegenseitig eine Lage und einen Willen mitteilen, denen diejenigen ähnlich sein müssen, die die dramatische Person uns jetzt darlegt, sobald sie von uns verstanden werden sollen. Wie unsre erregte Stimmung aber bereits forderte, daß diese Wortsprache eine von der Tonsprache, die unsre Empfindung eben erregte, nicht durchaus unterschiedene sein dürfe, sondern mit ihr bereits verschmolzen sein müsse – gleichsam als der Verständlicher, aber zugleich auch Teilhaber der angeregten Empfindung –, so bestimmt sich auch ganz von selbst hierdurch schon der Inhalt des von der dramatischen Person Dargelegten wiederum als ein über den Inhalt einer gewöhnlichen Lebenslage so erhobener, als der Ausdruck es über den des gewöhnlichen Lebens ist; und der Dichter hat sich nur an das Charakteristische dieses geforderten und gewonnenen Ausdruckes zu halten – er hat nur darauf bedacht zu sein, diesen Ausdruck mit dem ihn rechtfertigenden Inhalte zu erfüllen, um sich des erhobenen Standpunktes genau bewußt zu werden, auf dem er, vermöge des bloßen Mittels des Ausdruckes, für die Geltendmachung seiner Absicht angelangt ist.

Dieser Standpunkt ist ein bereits so erhöhter, daß er das Ungewöhnliche und Wunderbare, das ihm zur Verwirklichung seiner Absicht notwendig ist, unmittelbar von ihm aus seine Entwickelung nehmen lassen kann, weil er es sogar schon muß. Das Wunderbare der dramatischen Individualitäten und Situationen entwickelt er ganz in dem Grade, als ihm dazu der Ausdruck zu Gebote steht, nämlich – als die Sprache der Darsteller, nach genauer Berichtigung der Basis der Situation als einer dem menschlichen Leben entnommenen und verständlichen, sich aus der bereits tönenden Wortsprache zu der wirklichen Tonsprache erheben kann, als deren Blüte die Melodie erscheint, wie sie von dem bestimmten, versicherten Gefühle als Kundgebung des reinmenschlichen Empfindungsinhaltes der bestimmten und versicherten Individualität und Situation gefordert wird.

 

Eine von dieser Basis ausgehende und bis zu solcher Höhe wachsende Situation bildet an sich ein deutlich unterschiedenes Glied des Dramas, das dem Inhalte und der Form nach aus einer Kette solcher organischer Glieder besteht, die sich gegenseitig so bedingen, ergänzen und tragen müssen, wie die organischen Glieder des menschlichen Leibes, der dann ein vollkommener, lebendiger ist, wenn er aus all den Gliedern, die ihn durch gegenseitigem Sichbedingen und Ergänzen ausmachen, besteht, keine ihm fehlen, keine ihm aber auch zu viel sind.

Das Drama ist aber ein immer neuer und neu sich gestaltender Leib, der mit dem menschlichen nur das gemein hat, daß er lebendig ist und sein Leben aus innerem Lebensbedürfnisse heraus bedingt. Dieses Lebensbedürfnis des Dramas ist aber ein verschiedenes, denn es gestaltet sich nicht aus einem immer gleichbleibenden Stoffe, sondern es nimmt diesen Stoff aus den unendlich mannigfaltigen Erscheinungen eines unermeßlich vielfach zusammengesetzten Lebens unterschiedener Menschen in unterschiedenen Umständen, die wiederum nur ein Gemeinsames haben, nämlich – daß sie eben Menschen und menschliche Umstände sind. Die nie gleiche Individualität der Menschen und Umstände erhält durch gegenseitige Berührung eine immer neue Physiognomie, die der dichterischen Absicht stets neue Notwendigkeiten für ihre Verwirklichung zuführt. Aus diesen Notwendigkeiten hat sich das Drama, jener wechselnden Individualität entsprechend, immer anders und neu zu gestalten; und nichts zeugte daher mehr für die Unfähigkeit vergangener und gegenwärtiger Kunstperioden zur Gestaltung des wahren Dramas, als daß Dichter und Musiker von vornherein nach Formen suchten und Formen feststellten, die ihnen das Drama insofern erst ermöglichen sollten, als sie in diese Formen einen beliebigen Stoff zur Dramatisierung einzugießen hätten. Keine Form war für die Ermöglichung des wirklichen Dramas aber beängstigender und unfähiger als die Opernform mit ihrem einfürallemaligen Zuschnitte von, dem Drama ganz abliegenden, Gesangstücksformen: soviel unsre Opernkomponisten sich mühten und quälten, sie auszudehnen und zu vermannigfachen, das unergiebige, zusammenhanglose Stückwerk konnte – wie wir an seinem Orte dies sahen – nur vollends zu Wust und Unrat sich zerstücken.

Führen wir uns dagegen nun übersichtlich die Form des von uns gemeinten Dramas vor, um sie, bei allem wohlbedungenen und notwendigen, immer neu gestaltenden Wechsel, als eine dem Wesen nach vollkommen, ja einzig einheitliche zu erkennen. Beachten wir aber auch, was ihr diese Einheit ermöglicht.

Die einheitliche künstlerische Form ist nur als Kundgebung eines einheitlichen Inhaltes denkbar: den einheitlichen Inhalt erkennen wir aber nur daran, daß er sich in einem künstlerischen Ausdrucke mitteilt, durch den er sich vollständig an das Gefühl kundzugeben vermag. Ein Inhalt, der einen zwiefachen Ausdruck bedingen würde, d. h. einen Ausdruck, durch den der Mitteilende sich abwechselnd an den Verstand und an das Gefühl zu wenden hätte, ein solcher Inhalt könnte ebenfalls nur ein zwiespältiger, uneiniger sein. – Jede künstlerische Absicht ringt ursprünglich nach einheitlicher Gestaltung, denn nur in dem Grade, als sie dieser Gestaltung sich nähert, wird überhaupt eine Kundgebung zu einer künstlerischen: ihre notwendige Spaltung tritt aber genau von da ab ein, wo der zu Gebote gestellte Ausdruck die Absicht nicht mehr vollständig mitzuteilen vermag. Da es der unwillkürliche Wille jeder künstlerischen Absicht ist, sich an das Gefühl mitzuteilen, so kann der spaltende Ausdruck nur ein solcher sein, welcher das Gefühl nicht vollständig zu erregen vermag: das Gefühl vollständig erregen muß aber ein Ausdruck, der diesen seinen Inhalt vollständig mitteilen will. Dem bloßen Wortsprachdichter war diese vollständige Erregung des Gefühles durch sein Ausdrucksorgan unmöglich, und was er daher durch dieses dem Gefühle nicht mitteilen konnte, mußte er, um den Inhalt seiner Absicht vollständig auszusprechen, dem Verstande kundgeben: diesem mußte er das zu denken überlassen, was er von dem Gefühle nicht empfinden lassen konnte, und er konnte endlich auf dem Punkte der Entscheidung seine Tendenz nur als Sentenz, d. h. als nackte, unverwirklichte Absicht, aussprechen, wodurch er den Inhalt seiner Absicht selbst notgedrungen zu einem unkünstlerischen erniedrigen mußte. Erscheint nun das Werk des bloßen Wortsprachdichters als unverwirklichte dichterische Absicht, so ist das Werk des absoluten Musikers dagegen als ein der dichterischen Absicht gänzlich bares zu bezeichnen, da durch den rein musikalischen Ausdruck das Gefühl wohl vollständig angeregt, nicht aber bestimmt werden konnte. Der Dichter mußte des unzureichenden Ausdruckes wegen den Inhalt in einen Gefühls- und einen Verstandesinhalt spalten und das angeregte Gefühl somit in eben der ruhelosen Unbefriedigtheit lassen, wie er den Verstand in ein unzubefriedigendes Nachsinnen über diese Ruhelosigkeit des Gefühles versetzte. Der Musiker zwang nicht minder den Verstand zur Aufsuchung eines Inhaltes des Ausdruckes, der das Gefühl so vollständig aufregte, ohne gerade in dieser vollsten Aufregung ihm Beruhigung zuzuführen. Der Dichter gab diesen Inhalt als Sentenz, der Musiker – um irgendeine, in Wahrheit unvorhandene, Absicht anzugeben – als Titel der Komposition. Beide hatten sich schließlich aus dem Gefühle an den Verstand zu wenden; der Dichter – um ein unvollständig erregtes Gefühl zu bestimmen, der Musiker – um vor einem zwecklos erregten Gefühle sich zu entschuldigen.

Wollen wir daher den Ausdruck genau bezeichnen, der als ein einiger auch einen einigen Inhalt ermöglichen würde, so bestimmen wir ihn als einen solchen, der eine umfassendste Absicht des dichterischen Verstandes am entsprechendsten dem Gefühle mitzuteilen vermag. Ein solcher Ausdruck ist nun derjenige, der in jedem seiner Momente die dichterische Absicht in sich schließt, in jedem sie aber auch vor dem Gefühle verbirgt, nämlich – sie verwirklicht. – Selbst der Worttonsprache wäre dieses vollständige Bergen der dichterischen Absicht nicht möglich, wenn ihr nicht ein zweites, mitertönendes Tonsprachorgan zugegeben werden könnte, welches überall da, wo die Worttonsprache, als unmittelbarste Bergerin der dichterischen Absicht, in ihrem Ausdrucke notwendig so tief sich herabsenken muß, daß sie, um der unzerreißlichen Verbindung dieser Absicht mit der Stimmung des gewöhnlichen Lebens willen, sie mit einem fast schon durchsichtigen Tonschleier nur noch verdecken kann, das Gleichgewicht des einigen Gefühlsausdruckes vollkommen aufrechtzuerhalten vermag.

Das Orchester ist, wie wir sahen, dieses die Einheit des Ausdruckes jederzeit ergänzende Sprachorgan, welches da, wo der Worttonsprachausdruck der dramatischen Personen sich, zur deutlicheren Bestimmung der dramatischen Situation, bis zur Darlegung seiner kenntlichsten Verwandtschaft mit dem Ausdrucke des gewöhnlichen Lebens als Verstandesorgan herabsenkt, durch sein Vermögen der musikalischen Kundgebung der Erinnerung oder Ahnung den gesenkten Ausdruck der dramatischen Person der Art ausgleicht, daß das angeregte Gefühl stets in seiner gehobenen Stimmung bleibt und nie durch gleiches Herabsinken in eine reine Verstandestätigkeit sich zu verwandeln hat. Die gleiche Höhe des Gefühles, von der dieses nie herabzusinken, sondern nur noch sich zu steigern hat, bestimmt sich durch die gleiche Höhe des Ausdruckes und durch diesen die Gleichheit, das ist: Einheit des Inhaltes.

Beachten wir aber wohl, daß die ausgleichenden Ausdrucksmomente des Orchesters nie aus der Willkür des Musikers, als etwa bloß künstliche Klangzutat, sondern nur aus der Absicht des Dichters zu bestimmen sind. Sprechen diese Momente etwas mit der Situation der dramatischen Personen Unzusammenhängendes, ihnen Überflüssiges, aus, so ist auch die Einheit des Ausdruckes durch Abweichung vom Inhalte gestört. Die bloße, absolut musikalische Ausschmückung gesenkter oder vorbereitender Situationen, wie sie in der Oper zur Selbstverherrlichung der Musik in sogenannten »Ritornels«, Zwischenspielen, und selbst auch zur Gesangsbegleitung beliebt wird, hebt die Einheit des Ausdruckes vollständig auf und wirft die Teilnahme des Gehöres auf die Kundgebung der Musik – nicht mehr als Ausdruck, sondern gewissermaßen als Ausgedrücktes selbst. Auch jene Momente müssen nur durch die dichterische Absicht bedingt sein, und zwar in der Weise, daß sie als Ahnung oder Erinnerung unser Gefühl immer einzig nur auf die dramatische Person und das mit ihr Zusammenhängende oder von ihr Ausgehende hinweisen. Wir dürfen diese ahnungs- oder erinnerungsvollen melodischen Momente nicht anders vernehmen, als daß sie uns eine von uns empfundene Ergänzung der Kundgebung der Person erscheinen, die jetzt vor unsren Augen ihre volle Empfindung noch nicht äußern will oder kann.

Diese melodischen Momente, an sich dazu geeignet, das Gefühl immer auf gleicher Höhe zu erhalten, werden uns durch das Orchester gewissermaßen zu Gefühlswegweisern durch den ganzen, vielgewundenen Bau des Dramas. An ihnen werden wir zu steten Mitwissern des tiefsten Geheimnisses der dichterischen Absicht, zu unmittelbaren Teilnehmern an dessen Verwirklichung. Zwischen ihnen, als Ahnung und Erinnerung, steht die Versmelodie als getragene und tragende Individualität, wie sie sich aus einer Gefühlsumgebung, bestehend aus den Momenten der Kundgebung sowohl eigener als einwirkender fremder, bereits empfundener oder noch zu empfindender Gefühlsregungen, heraus bedingt. Diese Momente beziehungsvoller Ergänzung des Gefühlsausdruckes treten zurück, sobald das mit sich ganz einige handelnde Individuum zum vollsten Ausdrucke der Versmelodie selbst schreitet: dann trägt das Orchester diese nur noch nach seinem verdeutlichendsten Vermögen, um, wenn der farbige Ausdruck der Versmelodie sich wieder zur nur tönenden Wortphrase herabsenkt, von neuem durch ahnungsvolle Erinnerungen den allgemeinen Gefühlsausdruck zu ergänzen und notwendige Übergänge der Empfindung gleichsam aus unsrer eigenen, immer rege erhaltenen Teilnahme zu bedingen.

 

Diese melodischen Momente, in denen wir uns der Ahnung erinnern, während sie uns die Erinnerung zur Ahnung machen, werden notwendig nur den wichtigsten Motiven des Dramas entblüht sein, und die wichtigsten von ihnen werden wiederum an Zahl denjenigen Motiven entsprechen, die der Dichter als zusammengedrängte, verstärkte Grundmotive der ebenso verstärkten und zusammengedrängten Handlung zu den Säulen seines dramatischen Gebäudes bestimmte, die er grundsätzlich nicht in verwirrender Vielheit, sondern in plastisch zu ordnender, für leichte Übersicht notwendig bedingter, geringerer Zahl verwendet. In diesen Grundmotiven, die eben nicht Sentenzen, sondern plastische Gefühlsmomente sind, wird die Absicht des Dichters, als eine durch das Gefühlsempfängnis verwirklichte, am verständlichsten; und der Musiker, als Verwirklicher der Absicht des Dichters, hat diese zu melodischen Momenten verdichteten Motive, im vollsten Einverständnisse mit der dichterischen Absicht, daher leicht so zu ordnen, daß in ihrer wohlbedingten wechselseitigen Wiederholung ihm ganz von selbst auch die höchste einheitliche musikalische Form entsteht – eine Form, wie sie der Musiker bisher willkürlich sich zusammenstellte, die aus der dichterischen Absicht aber erst zu einer notwendigen, wirklich einheitlichen, das ist: verständlichen, sich gestalten kann.

In der Oper hatte der Musiker bisher eine einheitliche Form für das ganze Kunstwerk gar nicht auch nur angestrebt: jedes einzelne Gesangsstück war eine ausgefüllte Form für sich, die mit den übrigen Tonstücken der Oper nur ihrer äußeren Struktur nach als ähnlich, keinesweges aber einem formbedingenden Inhalte nach wirklich zusammenhing. Das Zusammenhangslose war so recht eigentlich der Charakter der Opernmusik. Nur das einzelne Tonstück hatte eine in sich zusammenhängende Form, die aus absolut musikalischem Ermessen hergeleitet, durch die Gewohnheit erhalten, und dem Dichter als Zwangsjoch aufgelegt war. Das Zusammenhängende in diesen Formen bestand darin, daß ein von vornherein fertiges Thema mit einem zweiten Mittelthema abwechselte und nach musikalisch motivierter Willkür sich wiederholte. Wechsel, Wiederholung, Verkürzung und Verlängerung der Themen machten die einzig durch sie bedingte Bewegung des größeren, absoluten Instrumentaltonstückes, des Symphoniesatzes aus, der aus einem, vor dem Gefühle möglichst zu rechtfertigenden Zusammenhange der Themen und ihrer Wiederkehr eine einheitvolle Form zu gewinnen strebte. Die Rechtfertigung dieser Wiederkehr beruhte aber immer nur auf einer gedachten, nie verwirklichten Annahme, und nur die dichterische Absicht kann diese Rechtfertigung wirklich ermöglichen, weil sie sie als eine notwendige Bedingung ihrer Verständlichkeit geradesweges erfordert.

Die zu genau unterscheidbaren, und ihren Inhalt vollkommen verwirklichenden, melodischen Momenten gewordenen Hauptmotive der dramatischen Handlung bilden sich in ihrer beziehungsvollen, stets wohlbedingten – dem Reime ähnlichen – Wiederkehr zu einer einheitlichen künstlerischen Form, die sich nicht nur über engere Teile des Dramas, sondern über das ganze Drama selbstDer einheitliche Zusammenhang der Themen, den bisher der Musiker in der Ouvertüre herzustellen sich bemühte, soll im Drama selbst gegeben werden. als ein bindender Zusammenhang erstreckt, in welchem nicht nur diese melodischen Momente als gegenseitig sich verständlichend und somit einheitlich erscheinen, sondern auch die in ihnen verkörperten Gefühls- oder Erscheinungsmotive, als stärkste der Handlung und die schwächeren derselben in sich schließend, als sich gegenseitig bedingende, dem Wesen der Gattung nach einheitliche – dem Gefühle sich kundgeben. – In diesem Zusammenhange ist die Verwirklichung der vollendeten einheitlichen Form erreicht und durch diese Form die Kundgebung eines einheitlichen Inhaltes, somit dieser Inhalt selbst in Wahrheit erst ermöglicht.

Fassen wir alles hierauf Bezügliche nochmals zu einem erschöpfenden Ausdrucke zusammen, so bezeichnen wir also die vollendetste einheitliche Kunstform als diejenige, in der ein weitester Zusammenhang von Erscheinungen des menschlichen Lebens – als Inhalt – sich in einem so vollkommen verständlichen Ausdrucke an das Gefühl mitteilen kann, daß dieser Inhalt in all seinen Momenten sich als ein das Gefühl vollkommen erregender und vollkommen befriedigender kundgibt. Der Inhalt hat also ein im Ausdrucke stets gegenwärtiger und dieser Ausdruck daher ein den Inhalt nach seinem Umfange stets vergegenwärtigender zu sein; denn das Ungegenwärtige erfaßt nur der Gedanke, nur das Gegenwärtige aber das Gefühl.

 

In dieser Einheit des stets vergegenwärtigenden und den Inhalt nach seinem Zusammenhange umfassenden Ausdruckes ist zugleich und einzig entscheidend auch das bisherige Problem der Einheit des Raumes und der Zeit gelöst.

Raum und Zeit konnten, als Abstraktionen von der wirklichen leiblichen Eigenschaft der Handlung, nur darum die Aufmerksamkeit unsrer Drama konstruierenden Dichter fesseln, weil ein einiger, vollkommen verwirklichender Ausdruck des gewollten dichterischen Inhaltes ihnen nicht zu Gebote stand. Raum und Zeit sind gedachte Eigenschaften wirklicher sinnlicher Erscheinungen, die, sobald sie gedacht werden, in Wahrheit die Kraft der Kundgebung bereits verloren haben: der Körper dieser Abstraktionen ist das Wirkliche, Sinnfällige der Handlung, die in einer bestimmten räumlichen Umgebung und in einer von ihr aus sich bedingenden Andauer der Bewegung sich kundgibt. Die Einheit des Dramas in die Einheit von Raum und Zeit setzen heißt sie in nichts setzen, denn Raum und Zeit sind an sich nichts und werden erst etwas dadurch, daß sie von etwas Wirklichem, einer menschlichen Handlung und ihrer natürlichen Umgebung verneint werden. Diese menschliche Handlung muß das an sich Einheitliche, das ist: Zusammenhängende, sein; nach der Möglichkeit, ihren Zusammenhang zu einem überschaulichen zu machen, bedingt sich die Annahme ihrer Zeitdauer, und nach der Möglichkeit einer vollkommen entsprechenden Darstellung der Szene bedingt sich die Ausdehnung im Raume; denn sie will nur eines: sich dem Gefühle verständlich machen. – In dem engsten Raume und in der gedrängtesten Zeit kann sich nach Belieben eine vollkommen uneinige und zusammenhangslose Handlung ausbreiten – wie wir dies denn auch in unsren Einheitsstücken zur Genüge sehen. Die Einheit der Handlung bedingt sich dagegen aus ihrem verständlichen Zusammenhange selbst; nur durch eines kann sie aber diesen verständlich kundgeben, und dieses ist nicht Raum und Zeit, sondern der Ausdruck. Haben wir diesen Ausdruck als einheitlichen, d. h. zusammenhängenden und stets den Zusammenhang vergegenwärtigenden, mit dem Vorhergehenden genau ermittelt und als wohlzuermöglichend bezeichnet, so haben wir auch in diesem Ausdrucke das in Zeit und Raum notwendig Getrennte als ein Wiedervereinigtes und, da, wo es zum Verständnisse nötig war, stets Vergegenwärtigtes gewonnen; denn seine notwendige Gegenwart liegt nicht im Raum und in der Zeit, sondern in dem Eindrucke, der in Raum und Zeit auf uns sich äußert. Die beim Mangel dieses Ausdruckes entstandenen Bedingungen, wie sie sich an Raum und Zeit knüpften, sind durch den Gewinn dieses Ausdruckes somit aufgehoben, Zeit und Raum selbst durch die Wirklichkeit des Dramas vernichtet. –

So wird denn das wirkliche Drama durch nichts von außen her mehr beeinflußt, sondern es ist ein organisches Seiendes und Werdendes, welches sich aus seinen inneren Bedingungen an der einzigen, es wiederum bedingenden Berührung mit außen, an der Notwendigkeit des Verständnisses seiner Kundgebung – und zwar seiner Kundgebung als solchen, wie es ist und wird – entwickelt und gestaltet, seine verständliche Gestaltung aber dadurch gewinnt, daß es aus innerstem Bedürfnisse heraus sich den allermöglichenden Ausdruck seines Inhaltes gebiert.


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