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Wir haben bis jetzt die Bedingungen für den melodischen Fortschritt aus einer Tonart in die andere als in der dichterischen Absicht, soweit sie bereits selbst ihren Gefühlsinhalt offenbart hatte, liegend nachgewiesen und bei diesem Nachweis bewiesen, daß der veranlassende Grund zur melodischen Bewegung, als ein auch vor dem Gefühle gerechtfertigter, nur aus dieser Absicht entstehen könne. Was diesen, dem Dichter notwendigen Fortschritt aber einzig ermöglicht, liegt natürlich aber nicht im Bereiche der Wortsprache, sondern ganz bestimmt nur in dem der Musik. Dieses eigenste Element der Musik, die Harmonie, ist das, was nur insoweit noch von der dichterischen Absicht bedingt wird, als es das andere, weibliche Element ist, in welches sich diese Absicht zu ihrer Verwirklichung, zu ihrer Erlösung ergießt. Denn es ist dies das gebärende Element, das die dichterische Absicht nur als zeugenden Samen aufnimmt, um ihn nach den eigensten Bedingungen seines weiblichen Organismus' zur fertigen Erscheinung zu gestalten. Dieser Organismus ist ein besonderer, individueller, und zwar eben kein zeugender, sondern ein gebärender: er empfing vom Dichter den befruchtenden Samen, die Frucht aber reift und formt er nach seinem eigenen individuellen Vermögen.
Die Melodie, wie sie auf der Oberfläche der Harmonie erscheint, ist für ihren entscheidenden rein musikalischen Ausdruck einzig aus dem von unten her wirkenden Grunde der Harmonie bedingt: wie sie sich selbst als horizontale Reihe kundgibt, hängt sie durch eine senkrechte Kette mit diesem Grunde zusammen. Diese Kette ist der harmonische Akkord, der als eine vertikale Reihe nächst verwandter Töne aus dem Grundtone nach der Oberfläche zu aufsteigt. Das Mitklingen dieses Akkordes gibt dem Tone der Melodie erst die besondere Bedeutung, nach welcher er zu einem unterschiedenen Momente des Ausdruckes als einzig bezeichnend verwendet wurde. So wie der aus dem Grundtone bestimmte Akkord dem einzelnen Tone der Melodie erst seinen besonderen Ausdruck gibt – indem ein und derselbe Ton auf einem anderen ihm verwandten Grundtone eine ganz andere Bedeutung für den Ausdruck erhält –, so bestimmt sich jeder Fortschritt der Melodie aus einer Tonart in die andere ebenfalls nur nach dem wechselnden Grundtone, der den Leitton der Harmonie, als solchen, aus sich bedingt. Die Gegenwart dieses Grundtones, und des aus ihm bestimmten harmonischen Akkordes, ist vor dem Gefühle, das die Melodie nach ihrem charakteristischen Ausdrucke erfassen soll, unerläßlich. Die Gegenwart der Grundharmonie heißt aber: Miterklingen derselben. Das Miterklingen der Harmonie zu der Melodie überzeugt das Gefühl erst vollständig von dem Gefühlsinhalte der Melodie, die ohne dieses Miterklingen dem Gefühle etwas unbestimmt ließe; nur aber bei vollster Bestimmtheit aller Momente des Ausdruckes bestimmt sich auch das Gefühl schnell und unmittelbar zur unwillkürlichen Teilnahme, und volle Bestimmtheit des Ausdruckes heißt aber wiederum nur: vollständigste Mitteilung all seiner notwendigen Momente an die Sinne.
Das Gehör fordert also gebieterisch auch das Miterklingen der Harmonie zur Melodie, weil es erst durch dieses Miterklingen sein sinnliches Empfängnisvermögen vollkommen erfüllt, somit befriedigt erhält, und demnach mit notwendiger Beruhigung dem wohlbedingten Gefühlsausdrucke der Melodie sich zuwenden kann. Das Miterklingen der Harmonie zur Melodie ist daher nicht eine Erschwerung, sondern die einzig ermöglichende Erleichterung für das Verständnis des Gehörs. Nur wenn die Harmonie sich nicht als Melodie zu äußern vermochte, also – wenn die Melodie weder aus dem Tanzrhythmus noch aus dem Wortverse ihre Rechtfertigung erhielte, sondern ohne diese Rechtfertigung, die sie einzig vor dem Gefühle als wahrnehmbar bedingen kann, sich nur als zufällige Erscheinung auf der Oberfläche der Akkorde willkürlich wechselnder Grundtöne kundgäbe – nur dann würde das Gefühl, ohne bestimmenden Anhalt, durch die nackte Kundgebung der Harmonie beunruhigt werden, weil sie ihm nur Anregungen, nicht aber die Befriedigung des Angeregten zuführte.
Unsre moderne Musik hat sich gewissermaßen aus der nackten Harmonie entwickelt. Sie hat sich willkürlich nach der unendlichen Fülle von Möglichkeiten bestimmt, die ihr aus dem Wechsel der Grundtöne, und der aus ihnen sich herleitenden Akkorde, sich darboten. Soweit sie diesem ihrem Ursprunge ganz getreu blieb, hat sie auf das Gefühl auch nur betäubend und verwirrend gewirkt, und ihre buntesten Kundgebungen in diesem Sinne haben nur einer gewissen Musikverstandsschwelgerei unsrer Künstler selbst Genuß geboten, nicht aber dem unmusikverständigen Laien. Der Laie, sobald er nicht Musikverständnis affektierte, hielt sich daher einzig nur an die seichteste Oberfläche der Melodie, wie sie ihm in dem rein sinnlichenIch erinnere an das »Kastraten-Messerchen«. Reize des Gesangsorganes vorgeführt wurde; wogegen er dem absoluten Musiker zurief: »Ich verstehe deine Musik nicht, sie ist mir zu gelehrt.« – Hierwider handelt es sich nun bei der Harmonie, wie sie als rein musikalisch bedingende Grundlage der dichterischen Melodie miterklingen soll, durchaus nicht um ein Verständnis in dem Sinne, nach welchem sie jetzt vom gelehrten Sondermusiker verstanden und vom Laien nicht verstanden wird: auf ihre Wirksamkeit als Harmonie hat sich beim Vortrage jener Melodie die Aufmerksamkeit des Gefühles gar nicht zu lenken, sondern, wie sie selbst schweigend den charakteristischen Ausdruck der Melodie bedingen würde, durch ihr Schweigen das Verständnis dieses Ausdruckes aber nur unendlich erschweren, ja dem Musikgelehrten, der sie sich hinzuzudenken hätte, es einzig erschließen müßte – so soll das tönende Miterklingen der Harmonie eine abstrakte und ablenkende Tätigkeit des künstlerischen Musikverstandes eben unerforderlich machen und den musikalischen Gefühlsinhalt der Melodie als einen unwillkürlich kenntlichen, ohne alle zerstreuende Mühe zu erfassenden, dem Gefühle leicht und schnell begreiflich zuführen.
Wenn somit bisher der Musiker seine Musik sozusagen aus der Harmonie herauskonstruierte, so wird jetzt der Tondichter zu der aus dem Sprachverse bedingten Melodie die andere notwendige, in ihr aber bereits enthaltene, rein musikalische Bedingung, als miterklingende Harmonie, nur wie zu ihrer Kenntlichmachung noch mit hinzufügen. In der Melodie des Dichters ist die Harmonie, nur gleichsam unausgesprochen, schon mitenthalten: sie bedang ganz unbeachtet die ausdrucksvolle Bedeutung der Töne, die der Dichter für die Melodie bestimmte. Diese ausdrucksvolle Bedeutung, die der Dichter unbewußt im Ohre hatte, war bereits schon die erfüllte Bedingung, die kenntlichste Äußerung der Harmonie; aber diese Äußerung war für ihn nur eine gedachte, noch nicht sinnlich wahrnehmbare. An die Sinne, die unmittelbar empfangenden Organe des Gefühles, teilt er sich jedoch zu seiner Erlösung mit, und ihnen muß er daher die melodische Äußerung der Harmonie mit den Bedingungen dieser Äußerung zuführen, denn ein organisches Kunstwerk ist nur das, was das Bedingende mit dem Bedingten zugleich in sich schließt und zur kenntlichsten Wahrnehmung mitteilt. Die bisherige absolute Musik gab harmonische Bedingungen; der Dichter würde nur das Bedingte in seiner Melodie mitteilen und daher ebenso unverständlich als jener bleiben, wenn er die harmonischen Bedingungen der aus dem Sprachverse gerechtfertigten Melodie nicht vollständig an das Gehör kundtäte.
Die Harmonie konnte aber nur der Musiker, nicht der Dichter erfinden. Die Melodie, die wir den Dichter aus dem Sprachverse erfinden sahen, war, als eine harmonisch bedingte, daher eine von ihm mehr gefundene, als erfundene. Die Bedingungen zu dieser musikalischen Melodie mußten erst vorhanden sein, ehe der Dichter sie als eine wohlbedungene finden konnte. Diese Melodie bedang, ehe sie der Dichter zu seiner Erlösung finden konnte, bereits der Musiker aus seinem eigensten Vermögen: er führt sie dem Dichter als eine harmonisch gerechtfertigte zu, und nur die Melodie, wie sie aus dem Wesen der modernen Musik ermöglicht wird, ist die den Dichter erlösende, seinen Drang erregende wie befriedigende Melodie.
Dichter und Musiker gleichen hierin zwei Wanderern, die von einem Scheidepunkte ausgingen, um von da aus, jeder nach der entgegengesetzten Richtung, rastlos gerade vorwärtszuschreiten. Auf dem entgegengesetzten Punkte der Erde begegnen sie sich wieder; jeder hat zur Hälfte den Planeten umwandert. Sie fragen sich nun aus, und einer teilt dem andern mit, was er gesehen und gefunden hat. Der Dichter erzählt von den Ebenen, Bergen, Tälern, Fluren, Menschen und Tieren, die er auf seiner weiten Wanderung durch das Festland traf. Der Musiker durchschritt die Meere und berichtet von den Wundern des Ozeans, auf dem er oftmals dem Versinken nahe war, dessen Tiefen und ungeheuerliche Gestaltungen ihn mit wohllüstigem Grausen erfüllten. Beide, von ihren gegenseitigem Berichten angeregt und unwiderstehlich bestimmt, das andere von dem, was sie selbst sahen, ebenfalls noch kennenzulernen, um den nur auf die Vorstellung und Einbildung empfangenen Eindruck zur wirklichen Erfahrung zu machen, trennen sich nun nochmals, um jeder seine Wanderschaft um die Erde zu vollenden. Am ersten Ausgangspunkte treffen sie sich dann endlich wieder; der Dichter hat nun auch die Meere durchschwommen, der Musiker die Festländer durchschnitten. Nun trennen sie sich nicht mehr, denn beide kennen nun die Erde: was sie früher in ahnungsvollen Träumen sich so und so gestaltet dachten, ist jetzt nach seiner Wirklichkeit ihnen bewußt geworden. Sie sind eins; denn jeder weiß und fühlt, was der andere weiß und fühlt. Der Dichter ist Musiker geworden, der Musiker Dichter: jetzt sind sie beide vollkommener künstlerischer Mensch.
Auf dem Punkte ihrer ersten Zusammenkunft, nach der Umwanderung der ersten Erdhälfte, war das Gespräch zwischen Dichter und Musiker jene Melodie, die wir jetzt im Auge haben – die Melodie, deren Äußerung der Dichter aus seinem innersten Verlangen heraus gestaltete, deren Kundgebung der Musiker aus seinen Erfahrungen heraus aber bedang. Als beide sich zum neuen Abschiede die Hände drückten, hatte jeder von ihnen das in der Vorstellung, was er selbst noch nicht erfahren hatte, und um dieser überzeugenden Erfahrung willen trennten sie sich eben von neuem. – Betrachten wir den Dichter zunächst, wie er sich der Erfahrungen des Musikers bemächtigt, die er nun selbst erfährt, aber geleitet von dem Rate des Musikers, der die Meere bereits auf kühnem Schiffe durchsegelte, den Weg zum festen Lande fand und die sichren Fahrstraßen ihm genau mitgeteilt hat. Auf dieser neuen Wanderung werden wir sehen, daß der Dichter ganz derselbe wird, der der Musiker auf seiner vom Dichter ihm vorgezeichneten Wanderung über die andere Erdhälfte wird, so daß beide Wanderungen nun als ein und dieselbe anzusehen sind.
Wenn der Dichter jetzt sich in die ungeheuren Weiten der Harmonie aufmacht, um in ihnen gleichsam den Beweis für die Wahrheit der vom Musiker ihm »erzählten« Melodie zu gewinnen, so findet er nicht mehr die unwegsamen Tonöden, die der Musiker zunächst auf seiner ersten Wanderung antraf; sondern zu seinem Entzücken trifft er das wunderbar kühne, seltsam neue, unendlich fein und doch riesenhaft fest gefügte Gerüst des Meerschiffes, das jener Meerwanderer sich schuf, und das der Dichter nun beschreitet, um auf ihm sicher die Fahrt durch die Wogen anzutreten. Der Musiker hatte ihn den Griff und die Handhabung des Steuers gelehrt, die Eigenschaft der Segel und all das seltsam und sinnig erfundene Nötige zur sicheren Fahrt bei Sturm und Wetter. Am Steuer dieses herrlich die Fluten durchsegelnden Schiffes wird der Dichter, der zuvor mühsam Schritt für Schritt Berg und Tal gemessen, sich mit Wonne der allvermögenden Macht des Menschen bewußt; von seinem hohen Borde aus dünken ihm die noch so mächtig rüttelnden Wogen willige und treue Träger seines edlen Schicksales, dieses Schicksales der dichterischen Absicht. Dieses Schiff ist das gewaltig ermöglichende Werkzeug seines weitesten und mächtigsten Willens; mit brünstig dankender Liebe gedenkt er des Musikers, der es aus schwerer Meeresnot erfand und seinen Händen nun überläßt – denn dieses Schiff ist der sicher tragende Bewältiger der unendlichen Fluten der Harmonie, das Orchester. –
Die Harmonie ist an sich nur ein Gedachtes: den Sinnen wirklich wahrnehmbar wird sie erst als Polyphonie, oder bestimmter noch als polyphonische Symphonie.
Die erste und natürliche Symphonie bietet der harmonische Zusammenklang einer gleichartigen polyphonischen Tonmasse. Die natürlichste Tonmasse ist die menschliche Stimme, welche sich nach Geschlecht, Alter und individueller Besonderheit stimmbegabter Menschen in verschiedenartigem Umfange und in mannigfaltiger Klangfarbe zeigt und durch harmonische Zusammenwirkung dieser Individualitäten zur natürlichsten Offenbarerin der polyphonischen Symphonie wird. Die christlich-religiöse Lyrik erfand diese Symphonie: in ihr erschien die Vielmenschlichkeit zu einem Gefühlsausdrucke geeinigt, dessen Gegenstand nicht das individuelle Verlangen als Kundgebung einer Persönlichkeit, sondern das individuelle Verlangen der Persönlichkeit als unendlich verstärkt durch die Kundgebung genau desselben Verlangens durch eine ganz gleich bedürftige Gemeinsamkeit war; und dieses Verlangen war die Sehnsucht nach Auflösung in Gott, der in der Vorstellung personifizierten höchsten Potenz der verlangenden individuellen Persönlichkeit selbst, die zu dieser Steigerung der Potenz einer an sich als nichtig empfundenen Persönlichkeit sich durch das gleiche Verlangen einer Gemeinsamkeit, und durch die innigste harmonische Verschmelzung mit dieser Gemeinsamkeit, gleichsam ermutigte, wie um aus einem gleichgestimmten gemeinsamen Vermögen die Kraft zu ziehen, die der nichtigen einzelnen Persönlichkeit abging. Das Geheimnis dieses Verlangens sollte aber im Verlaufe der Entwickelung der christlichen Menschheit offenbar werden, und zwar als rein individuell persönlicher Inhalt desselben. Als rein individuelle Persönlichkeit hängt der Mensch sein Verlangen aber nicht mehr an Gott, als ein nur Vorgestelltes, sondern er verwirklicht den Gegenstand seines Verlangens zu einem Realen, sinnlich Vorhandenen, dessen Erwerbung und Genuß ihm praktisch zu ermöglichen ist. Mit dem Erlöschen des rein religiösen Geistes des Christentumes verschwand auch eine notwendige Bedeutung des polyphonischen Kirchengesanges, und mit ihr die eigentümliche Form seiner Kundgebung. Der Kontrapunkt, als erste Regung des immer klarer auszusprechenden reinen Individualismus, begann mit scharfen, ätzenden Zähnen das einfach symphonische Vokalgewebe zu zerreißen und machte es immer ersichtlicher zu einem oft nur mühsam noch zu erhaltenden künstlichen Zusammenklang innerlich unübereinstimmender, individueller Kundgebungen. – In der Oper endlich löste sich das Individuum vollständig aus dem Vokalvereine los, um als reine Persönlichkeit ganz ungehindert, allein und selbständig sich kundzugeben. Da, wo sich dramatische Persönlichkeiten zum mehrstimmigen Gesange anließen, geschah dies – im eigentlichen Opernstile – zur sinnlich wirksamen Verstärkung des individuellen Ausdruckes oder – im wirklich dramatischen Stile – als, durch die höchste Kunst vermittelte, gleichzeitige Kundgebung fortgesetzt sich behauptender charakteristischer Individualitäten.
Fassen wir nun das Drama der Zukunft in das Auge, wie wir es uns als Verwirklichung der von uns bestimmten dichterischen Absicht vorzustellen haben, so gewahren wir in ihm nirgends Raum zur Aufstellung von Individualitäten von so untergeordneter Beziehung zum Drama, daß sie zu dem Zwecke polyphonischer Wahrnehmbarmachung der Harmonie, durch nur musikalisch symphonierende Teilnahme an der Melodie der Hauptperson, verwendet werden könnten. Bei der Gedrängtheit und Verstärkung der Motive, wie der Handlungen, können nur Teilnehmer an der Handlung gedacht werden, die aus ihrer notwendigen individuellen Kundgebung einen jederzeit entscheidenden Einfluß auf dieselbe äußern – also nur Persönlichkeiten, die wiederum zur musikalischen Kundgebung ihrer Individualität einer mehrstimmigen symphonischen Unterstützung, das ist: Verdeutlichung ihrer Melodie, bedürfen, keinesweges aber – außer in nur selten erscheinenden, vollkommen gerechtfertigten und zum höchsten Verständnisse notwendigen Fällen – zur bloß harmonischen Rechtfertigung der Melodie einer anderen Person dienen können. – Selbst der bisher in der Oper verwendete Chor wird nach der Bedeutung, die ihm in den noch günstigsten Fällen dort beigelegt ward, in unsrem Drama zu verschwinden haben; auch er ist nur von lebendig überzeugender Wirkung im Drama, wenn ihm die bloß massenhafte Kundgebung vollständig benommen wird. Eine Masse kann uns nie interessieren, sondern bloß verblüffen: nur genau unterscheidbare Individualitäten können unsre Teilnahme fesseln. Auch der zahlreicheren Umgebung, da wo sie nötig ist, den Charakter individueller Teilnahme an den Motiven und Handlungen des Dramas beizulegen ist die notwendige Sorge des Dichters, der überall nach deutlichster Verständlichkeit seiner Anordnungen ringt: nichts will er verdecken, sondern alles enthüllen. Er will dem Gefühle, an das er sich mitteilt, den ganzen lebendigen Organismus einer menschlichen Handlung erschließen und erreicht dies nur, wenn er diesen Organismus ihm überall in der wärmsten, selbsttätigsten Kundgebung seiner Teile vorführt. Die menschliche Umgebung einer dramatischen Handlung muß uns so erscheinen, als ob diese besondere Handlung und die in ihr begriffene Person uns nur deshalb über die Umgebung hervorragend sich darstelle, weil sie in ihrem Zusammenhange mit dieser Umgebung uns gerade von der einen, dem Beschauer zugewandten Seite, und unter der Beleuchtung gerade dieses, jetzt so fallenden Lichtes, uns gezeigt wird. Unser Gefühl muß in dieser Umgebung aber so bestimmt sein, daß wir durch die Annahme nicht verletzt werden können, ganz von derselben Stärke und Teilnahmerregungsfähigkeit würde eine Handlung und die in ihr begriffene Person sein, die sich uns zeigten, wenn wir den Schauplatz von einer anderen Seite her, und von einem anderen Lichte beleuchtet, betrachteten. Die Umgebung nämlich muß sich unsrem Gefühle so darstellen, daß wir jedem Gliede derselben unter anderen als den nun einmal gerade so bestimmten Umständen die Fähigkeit zu Motiven und Handlungen beimessen können, die unsre Teilnahme ebenso fesseln würden als die gegenwärtig unsrer Beachtung zunächst zugewandten. Das, was der Dichter in den Hintergrund stellt, tritt nur dem notwendigen Gesichtsstandpunkte des Zuschauers gegenüber zurück, der eine zu reich gegliederte Handlung nicht übersehen können würde, und dem der Dichter deshalb nur die eine, leicht faßliche Physiognomie des darzustellenden Gegenstandes zukehrt. – Die Umgebung ausschließlich zu einem lyrischen Momente machen, müßte sie im Drama unbedingt herabsetzen, indem dies Verfahren der Lyrik selbst zugleich eine ganz falsche Stellung im Drama zuweisen müßte. Der lyrische Erguß soll im Drama der Zukunft, dem Werke des Dichters, der aus dem Verstande an das Gefühl sich mitteilt, wohlbedingt aus den vor unsren Augen zusammengedrängten Motiven erwachsen, nicht aber von vornherein unmotiviert sich ausbreiten. Der Dichter dieses Dramas will nicht aus dem Gefühle zu dessen Rechtfertigung vorschreiten, sondern das aus dem Verstande gerechtfertigte Gefühl selbst geben: diese Rechtfertigung geht vor unsrem Gefühle selbst vor sich und bestimmt sich aus dem Wollen der Handelnden zum unwillkürlich notwendigen Müssen, d. i. Können; der Moment der Verwirklichung dieses Wollens durch das unwillkürliche Müssen zum Können ist der lyrische Erguß in seiner höchsten Stärke als Ausmündung in die Tat. Das lyrische Moment hat daher aus dem Drama zu wachsen, aus ihm als notwendig erscheinend sich zu bedingen. Die dramatische Umgebung kann somit nicht unbedingt im Gewande der Lyrik erscheinen, wie es in unsrer Oper der Fall war, sondern auch sie hat sich erst zur Lyrik zu steigern, und zwar durch ihre Teilnahme an der Handlung, für welche sie uns nicht als lyrische Masse, sondern als wohlunterschiedene Gliederung selbständiger Individualitäten zu überzeugen hat.
Nicht der sogenannte Chor also, noch auch die handelnden Hauptpersonen selbst, sind vom Dichter als musikalisch symphonierender Tonkörper zur Wahrnehmbarmachung der harmonischen Bedingungen der Melodie zu verwenden. In der Blüte des lyrischen Ergusses, bei vollkommen bedingtem Anteile aller handelnden Personen und ihrer Umgebung an einem gemeinschaftlichen Gefühlsausdrucke, bietet sich einzig dem Tondichter die polyphonische Vokalmasse dar, der er die Wahrnehmbarmachung der Harmonie übertragen kann: auch hier jedoch wird es die notwendige Aufgabe des Tondichters bleiben, den Anteil der dramatischen Individualitäten an dem Gefühlsergusse nicht als bloße harmonische Unterstützung der Melodie kundzugeben, sondern – gerade auch im harmonischen Zusammenklange – die Individualität des Beteiligten in bestimmter, wiederum melodischer Kundgebung sich kenntlich machen zu lassen; und eben hierin wird sein höchstes, durch den Standpunkt unsrer musikalischen Kunst ihm verliehenes, Vermögen sich zu bewähren haben. Der Standpunkt unsrer selbständig entwickelten musikalischen Kunst führt ihm aber auch das unermeßlich fähige Organ zur Wahrnehmbarmachung der Harmonie zu, das neben der Befriedigung dieses reinen Bedürfnisses zugleich in sich das Vermögen einer Charakterisierung der Melodie besitzt, wie es der symphonierenden Vokalmasse durchaus verwehrt war, und dies Organ ist eben das Orchester.
Das Orchester haben wir jetzt nicht nur, wie ich es zuvor bezeichnete, als den Bewältiger der Fluten der Harmonie, sondern als die bewältigte Flut der Harmonie selbst zu betrachten. In ihm ist das für die Melodie bedingende Element der Harmonie, aus einem Momente der bloßen Wahrnehmbarmachung dieser Bedingung, zu einem charakteristisch überaus mittätigen Organe für die Verwirklichung der dichterischen Absicht bewältigt. Die nackte Harmonie wird aus einem vom Dichter zugunsten der Harmonie nur Gedachten und durch die gleiche Gesangstonmasse, in welcher die Melodie erscheint, im Drama nicht zu Verwirklichenden, im Orchester zu einem ganz Realen und besonders Vermögenden, durch dessen Hülfe dem Dichter das vollendete Drama in Wahrheit erst zu ermöglichen ist.
Das Orchester ist der verwirklichte Gedanke der Harmonie in höchster lebendigster Beweglichkeit. Es ist die Verdichtung der Glieder des vertikalen Akkordes zur selbständigen Kundgebung ihrer verwandtschaftlichen Neigungen nach einer horizontalen Richtung hin, in welcher sie sich mit freiesten Bewegungsfähigkeit ausdehnen – mit einer Bewegungsfähigkeit, die dem Orchester von seinem Schöpfer, dem Tanzrhythmos, verliehen worden ist. –
Zunächst haben wir hier das Wichtige zu beachten, daß das Instrumentalorchester nicht nur in seinem Ausdrucksvermögen, sondern ganz bestimmt auch in seiner Klangfarbe ein von der Vokaltonmasse durchaus Unterschiedenes, anderes ist. Das musikalische Instrument ist gewissermaßen ein Echo der menschlichen Stimme von der Beschaffenheit, daß wir in ihm nur noch den in den musikalischen Ton aufgelösten Vokal, nicht aber mehr den wortbestimmenden Konsonanten vernehmen. In dieser Losgelöstheit vom Worte gleicht der Ton des Instrumentes jenem Urtone der menschlichen Sprache, der sich erst am Konsonanten zum wirklichen Vokale verdichtete und in seinen Verbindungen – der heutigen Wortsprache gegenüber – zu einer besonderen Sprache wird, die mit der wirklichen menschlichen Sprache nur noch eine Gefühls-, nicht aber Verstandesverwandtschaft hat. Diese vom Worte gänzlich losgelöste, oder der konsonantischen Entwickelung der unsrigen fern gebliebene, reine Tonsprache hat nun an der Individualität der Instrumente, durch welche sie einzig zu sprechen war, wiederum besondere individuelle Eigentümlichkeit gewonnen, die von dem gewissermaßen konsonierenden Charakter des Instrumentes ähnlich bestimmt wird wie die Wortsprache durch die konsonierenden Mitlauter. Man könnte ein musikalisches Instrument in seinem bestimmenden Einflusse auf die Eigentümlichkeit des auf ihm kundzugebenden Tones als den konsonierenden wurzelhaften Anlaut bezeichnen, der sich für alle auf ihm zu ermöglichenden Töne als bindender Stabreim darstellt. Die Verwandtschaft der Instrumente unter sich würde sich demnach sehr leicht nach der Ähnlichkeit dieses Anlautes bestimmen lassen, je nachdem dieser sich gleichsam als eine weichere oder härtere Aussprache des ihnen ursprünglich gemeinschaftlichen gleichen Konsonanten kundgäbe. In Wahrheit besitzen wir Instrumentfamilien, denen ein ursprünglich gleicher Anlaut zu eigen ist, welcher sich nach dem verschiedenen Charakter der Familienglieder nur auf eine ähnliche Weise abstuft, wie z. B. in der Wortsprache die Konsonanten P, B und W; und wie wir beim W wieder auf die Ähnlichkeit mit dem F stoßen, so dürfte sich leicht die Verwandtschaft der Instrumentfamilien nach einem sehr verzweigten Umfange auffinden lassen, dessen genaue Gliederung, wie die charakteristische Verwendung der Glieder in ihrer Zusammenstellung nach der Ähnlichkeit oder Unterschiedenheit, uns das Orchester nach einem noch bei weitem individuelleren Sprachvermögen vorfuhren müßte, als es selbst jetzt geschieht, wo das Orchester nach seiner sinnvollen Eigentümlichkeit noch lange nicht genug erkannt ist. Diese Erkenntnis kann uns allerdings aber erst dann kommen, wenn wir dem Orchester eine innigere Teilnahme am Drama zuweisen, als es bisher der Fall ist, wo es meist nur zur luxuriösen Zierat verwendet wird.
Die Besonderheit des Sprachvermögens des Orchesters, die sich aus seiner sinnlichen Eigentümlichkeit ergeben muß, behalten wir uns zu einer schließlichen Betrachtung der Wirksamkeit des Orchesters vor; um mit nötiger Vorbereitung zu dieser Betrachtung zu gelangen, gilt es für jetzt zunächst eines festzustellen: die vollkommene Unterschiedenheit des Orchesters in seiner rein sinnlichen Kundgebung von der ebenfalls rein sinnlichen Kundgebung der Vokaltonmasse. Das Orchester ist von dieser Vokaltonmasse ebenso unterschieden, als der soeben bezeichnete Instrumentalkonsonant von dem Sprachkonsonanten und somit der von beiden bedingte oder entschiedene tönende Laut es ist. Der Konsonant des Instrumentes bestimmt ein für allemal jeden auf dem Instrumente herauszubringenden Ton, während der Vokalton der Sprache schon allein aus dem wechselnden Anlaute eine immer andere, unendlich mannigfaltige Färbung bekommt, vermöge welcher das Tonorgan der Sprachstimme eben das reichste und vollkommenste, nämlich organisch bedingteste ist, gegen das die erdenklichst mannigfaltigste Mischung von Orchestertonfarben ärmlich erscheinen muß – eine Erfahrung, die allerdings diejenigen nicht machen können, die von unsren modernen Sängern die menschliche Stimme, bei Hinweglassung aller Konsonanten und Beibehaltung nur eines beliebigen Vokales, zur Nachahmung des Orchesterinstrumentes verwendet hören, und demnach diese Stimme wiederum als Instrument behandeln, indem sie z. B. Duetten zwischen einem Sopran und einer Klarinette, einem Tenor und einem Waldhorn, zu Gehör bringen.
Wenn wir ganz außer acht lassen wollten, daß der Sänger, den wir meinen, ein künstlerisch Menschen darstellender Mensch ist und die künstlerischen Ergüsse seines Gefühles nach der höchsten Notwendigkeit der Menschwerdung des Gedankens anordnet, so würde schon die rein sinnliche Kundgebung seines Sprachgesangstones in ihrer unendlichen individuellen Mannigfaltigkeit, wie sie aus dem charakteristischen Wechsel der Konsonanten und Vokale hervorgeht, sich nicht nur als ein bei weitem reicheres Tonorgan als das Orchesterinstrument, sondern auch als ein von ihm gänzlich unterschiedenes darstellen; und diese Unterschiedenheit des sinnlichen Tonorganes bestimmt auch ein für allemal die ganze Stellung, die das Orchester zu dem darstellenden Sänger einzunehmen hat. Das Orchester hat den Ton, dann die Melodie und den charakteristischen Vortrag des Sängers zunächst als einen aus dem inneren Bereiche der musikalischen Harmonie wohlbedingten und gerechtfertigten zur Wahrnehmung zu bringen. Dieses Vermögen gewinnt das Orchester als ein vom Gesangstone und der Melodie des Sängers losgelöstes, freiwillig und um seiner eigenen, als selbständig zu rechtfertigenden Kundgebung willen, teilnehmend sich ihm unterordnender harmonischer Tonkörper, nie aber durch den Versuch wirklicher Mischung mit dem Gesangstone. Wenn wir eine Melodie, von der menschlichen Sprachstimme gesungen, von Instrumenten so begleiten lassen, daß der wesentliche Bestandteil der Harmonie, welcher in den Intervallen der Melodie liegt, aus dem harmonischen Körper der Instrumentalbegleitung fortgelassen bleibt und durch die Melodie der Gesangsstimme gleichsam ergänzt werden soll, so werden wir augenblicklich gewahr, daß die Harmonie eben unvollständig und die Melodie dadurch eben nicht vollständig harmonisch gerechtfertigt ist, weil unser Gehör die menschliche Stimme, in ihrer großen Unterschiedenheit von der sinnlichen Klangfarbe der Instrumente, unwillkürlich von diesen getrennt wahrnimmt und somit nur zwei verschiedene Momente, eine harmonisch unvollständig gerechtfertigte Melodie und eine lückenhafte harmonische Begleitung, zugeführt erhält. Diese ungemein wichtige und noch nie konsequent beachtete Wahrnehmung vermag uns über einen großen Teil der Unwirksamkeit unsrer bisherigen Opernmelodik aufzuklären und über die mannigfachen Irrtümer zu belehren, in die wir über die Bildung der Gesangsmelodie dem Orchester gegenüber verfallen sind: hier ist aber genau der Ort, wo wir uns diese Belehrung zu verschaffen haben.
Die absolute Melodie, wie wir sie bisher in der Oper verwendet haben und die wir, bei fehlender Bedingung derselben aus einem notwendig zur Melodie sich gestaltenden Wortverse, aus reinem musikalischen Ermessen der uns altbekannten Volkslied- und Tanzmelodie durch Variation nachkonstruierten, war, genau betrachtet, immer eine aus den Instrumenten in die Gesangsstimme übersetzte. Wir haben uns hierbei mit unwillkürlichem Irrtume die menschliche Stimme immer als ein, nur besonders zu berücksichtigendes, Orchesterinstrument gedacht und als solches sie auch mit der Orchesterbegleitung verwebt. Diese Verwebung geschah bald der Art, wie ich es bereits anführte, nämlich daß die menschliche Stimme als ein wesentliches Bestandteil der Instrumentalharmonie verwendet ward – bald aber auch auf die Weise, daß die Instrumentalbegleitung die harmonisch ergänzende Melodie zugleich mit vortrug, wodurch allerdings das Orchester zu einem verständlichen Ganzen abgeschlossen wurde, in diesem Abschlusse aber auch zugleich den Charakter der Melodie als einen der Instrumentalmusik ausschließlich eigenen aufdeckte. Durch die nötig befundene vollständige Aufnahme der Melodie in das Orchester bekannte der Musiker, daß diese Melodie eine solche sei, die, nur von der ganz gleichen Tonmasse vollständig harmonisch gerechtfertigt, auch von dieser Masse allein verständlich vorzutragen sei. Die Gesangsstimme erschien im Vortrage der Melodie auf diesem harmonisch und melodisch vollständig abgeschlossenen Tonkörper im Grunde durchaus überflüssig und als ein zweiter, entstellender Kopf ihm unnatürlich aufgesetzt. Der Zuhörer empfand dieses Mißverhältnis ganz unwillkürlich: er verstand die Melodie des Sängers nicht eher, als bis er sie, frei von den – dieser Melodie hinderlichen – wechselnden Sprachvokalen und Konsonanten – die ihn beim Erfassen der absoluten Melodie beunruhigten –, nur noch von Instrumenten vorgetragen zu Gehör bekam. Daß unsre beliebtesten Opernmelodien, erst wenn sie vom Orchester – wie in Konzerten und auf Wachtparaden, oder auf einem harmonischen Instrumente vorgetragen, dem Publikum zu Gehör gebracht wurden, von diesem Publikum auch wirklich verstanden und ihm erst dann geläufig wurden, wenn es sie ohne Worte nachsingen konnte – dieser offenkundige Umstand hätte uns schon längst über die gänzlich falsche Auffassung der Gesangsmelodie in der Oper aufklären sollen. Diese Melodie war eine Gesangsmelodie nur insofern, als sie der menschlichen Stimme nach ihrer bloßen Instrumentaleigenschaft zum Vortrage zugewiesen war – einer Eigenschaft, in deren Entfaltung sie durch die Konsonanten und Vokale der Sprachworte empfindlich benachteiligt wurde, und um deren willen die Gesangskunst auch folgerichtig eine Entwickelung nahm, wie wir sie heutzutage bei den modernen Opernsängern auf ihrer ungeniertesten wortlosen Höhe angelangt sehen.
Am auffallendsten kam dies Mißverhältnis zwischen der Klangfarbe des Orchesters und der menschlichen Stimme aber da zum Vorschein, wo ernste Tonmeister nach charakteristischer Kundgebung der dramatischen Melodie rangen. Während sie als einziges Band der rein musikalischen Verständlichkeit ihrer Motive unwillkürlich immer nur noch jene, soeben bezeichnete, Instrumentalmelodie im Gehöre hatten, suchten sie einen besonderen sinnigen Ausdruck für sie in einer ungemein künstlichen und von Note zu Note, von Wort zu Wort reichenden, harmonisch und rhythmisch akzentuierten Begleitung der Instrumente genau zu bestimmen, und gelangten so zur Verfertigung von Musikperioden, in denen, je sorgfältiger die Instrumentalbegleitung mit dem Motive der menschlichen Stimme verwoben war, diese Stimme vor dem unwillkürlich trennenden Gehöre für sich eine unfaßbare Melodie kundgab, deren verständlichende Bedingungen in einer Begleitung vorhanden waren, die, wiederum unwillkürlich losgelöst von der Stimme, an sich dem Gehöre ein unerklärliches Chaos blieb. Der hier zugrundeliegende Fehler war also ein zweifacher. Erstlich: Verkennung des bestimmenden Wesens der dichterischen Gesangsmelodie, die als absolute Melodie von der Instrumentalmusik herbeigezogen wurde; und zweitens: Verkennung der vollständigen Unterschiedenheit der KlangfarbeDer abstrakte Musiker gewahrte auch nicht die vollkommene Vermischungsunfähigkeit der Klangfarben z. B. des Klaviers und der Violine. Ein Hauptbestandteil seiner künstlerischen Lebensfreuden bestand darin, Klaviersonaten mit Violine usw. zu spielen, ohne gewahr zu werden, daß er eine nur gedachte, nicht aber zu wirklichem Gehör gebrachte Musik zutage förderte. So war ihm das Hören über das Sehen vergangen; denn was er hörte, waren eben nur harmonische Abstraktionen, für die sein Gehörsinn einzig noch empfänglich war, während das lebendige Fleisch des musikalischen Ausdruckes ihm gänzlich unwahrnehmbar bleiben mußte. der menschlichen Stimme von der der Orchesterinstrumente, mit denen man die menschliche Stimme um rein musikalischer Anforderungen willen vermischte.
Gilt es nun hier den besonderen Charakter der Gesangsmelodie genau zu bezeichnen, so geschieht dies damit, daß wir sie nicht nur sinnig, sondern auch sinnlich aus dem Wortverse hervorgegangen, und durch ihn bedingt, uns nochmals deutlich vergegenwärtigen. Ihr Ursprung liegt, dem Sinne nach, in dem Wesen der nach Verständnis durch das Gefühl ringenden, dichterischen Absicht – der sinnlichen Erscheinung nach in dem Organe des Verstandes, der Wortsprache. Von diesem bedingenden Ursprunge aus schreitet sie in ihrer Ausbildung bis zur Kundgebung des reinen Gefühlsinhaltes des Verses vermöge der Auflösung der Vokale in den musikalischen Ton bis dahin vor, wo sie mit ihrer rein musikalischen Seite sich dem eigentümlichen Elemente der Musik zuwendet, aus welchem diese Seite einzig die ermöglichende Bedingung für ihre Erscheinung erhält, während sie die andere Seite ihrer Gesamterscheinung unverrückt dem sinnvollen Elemente der Wortsprache zugekehrt läßt, aus welchem sie ursprünglich bedingt war. In dieser Stellung wird die Versmelodie das bindende und verständlichende Band zwischen der Wort- und Tonsprache, als Erzeugte aus der Vermählung der Dichtkunst mit der Musik, als verkörpertes Liebesmoment beider Künste. Zugleich ist sie so aber auch mehr und steht höher als der Vers der Dichtkunst und die absolute Melodie der Musik, und ihre nach beiden Seiten hin erlösende – wie von beiden Seiten her bedingte Erscheinung wird zum Heile beider Künste nur dadurch möglich, daß beide ihre plastische, von den bedingenden Elementen getragene, aber wohl geschiedene, individuell selbständige Kundgebung als solche nur unterstützen und stets rechtfertigen, nie aber durch überfließende Vermischung mit ihr ihre plastische Individualität verwischen.
Wollen wir uns nun das richtige Verhältnis dieser Melodie zum Orchester deutlich versinnlichen, so können wir dies in folgendem Bilde.
Wir verglichen zuvor das Orchester, als Bewältiger der Fluten der Harmonie, mit dem Meerschiffe: es geschah dies in dem Sinne, wie wir »Seefahrt« und »Schiffahrt« als gleichbedeutend setzen. Das Orchester als bewältigte Harmonie, wie wir es dann wiederum nennen mußten, dürfen wir jetzt um eines neuen, selbständigen GleichnissesNie kann ein verglichener Gegenstand dem anderen vollkommen gleichen, sondern die Ähnlichkeit sich nur nach einer Richtung, nicht nach allen Richtungen hin behaupten; vollkommen gleich sind sich nie die Gegenstände organischer, sondern nur die mechanischer Bildung. willen, im Gegensatze zu dem Ozean, als den tiefen, dennoch aber bis auf den Grund vom Sonnenlichte erhellten, klaren Gebirglandssee betrachten, dessen Uferumgebung von jedem Punkte des Sees aus deutlich erkennbar ist. – Aus den Baumstämmen, die dem steinigen, urangeschwemmten Boden der Landhöhen entwuchsen, ward nun der Nachen gezimmert, der, durch eiserne Klammern festgebunden, mit Steuer und Ruder wohlversehen, nach Gestalt und Eigenschaft genau in der Absicht gefügt wurde, vom See getragen zu werden und ihn durchschneiden zu können. Dieser Nachen, auf den Rücken des Sees gesetzt, durch den Schlag der Ruder fortbewegt und nach der Richtung des Steuers geleitet, ist die Versmelodie des dramatischen Sängers, getragen von den klangvollen Wellen des Orchesters. Der Nachen ist ein durchaus anderes als der Spiegel des Sees, und doch einzig nur gezimmert und gefügt mit Rücksicht auf das Wasser und in genauer Erwägung seiner Eigenschaften; am Lande ist der Nachen vollkommen unbrauchbar, höchstens nach seiner Zerlegung in gemeine Brettplanken als Nahrung des bürgerlichen Kochherdes nutzbar. Erst auf dem See wird er zu einem wonnig Lebendigen, Getragenen und doch Gehenden, Bewegten und dennoch immer Ruhenden, das unser Auge, wenn es über den See schweift, immer wieder auf sich zieht, wie die menschlich sich darstellende Absicht des Daseins des wogenden, zuvor uns zwecklos erschienenen Sees. – Doch schwebt der Nachen nicht auf der Oberfläche des Wasserspiegels: der See kann ihn nach einer sicheren Richtung nur tragen, wenn er mit dem vollen ihm zugekehrten Teile seines Körpers sich in das Wasser versenkt. Ein dünnes Brettchen, das nur die Oberfläche des Sees berührte, wird von seinen Wellen je nach ihrer Strömung richtungslos da und dorthin geworfen; während wiederum ein plumper Stein gänzlich in ihn versinken muß. Nicht aber nur mit der vollen ihm zugekehrten Seite seines Körpers versenkt sich der Nachen in den See, sondern auch das Steuer, mit dem seine Richtung bestimmt wird, und das Ruder, welches dieser Richtung die Bewegung gibt, erhalten diese bestimmende und bewegende Kraft nur durch ihre Berührung mit dem Wasser, die den wirkungsvollen Druck der leitenden Hand erst ermöglicht. Das Ruder schneidet mit jeder vorwärtstreibenden Bewegung tief in die klingende Wasserfläche ein; aus ihr erhoben, läßt er das an ihm gehaftete Naß in melodischen Tropfen wieder zurückfließen.
Ich habe nicht nötig, dies Gleichnis näher zu deuten, um mich über das Verhältnis in der Berührung der Worttonmelodie der menschlichen Stimme mit dem Orchester verständlich zu machen, denn dies Verhältnis ist vollkommen entsprechend in ihm dargestellt – was uns noch genauer einleuchten wird, wenn wir die uns bekannte eigentliche Opernmelodie als den fruchtlosen Versuch des Musikers bezeichnen, die Wellen des Sees selbst zum tragbaren Nachen zu verdichten.
Wir haben jetzt nur noch das Orchester als ein selbständiges, an sich von jener Versmelodie unterschiedenes Element zu betrachten und seiner Fähigkeit, diese Melodie nicht nur durch Wahrnehmbarmachung der sie – vom rein musikalischen Standpunkte aus – bedingenden Harmonie, sondern auch durch sein eigentümliches, unendlich ausdrucksvolles Sprachvermögen so zu tragen, wie der See den Nachen trug, uns klar zu versichern.