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Sie verließen die Stadt mit ihrem Lärm und den vielen Menschen, die, wie Sajo dachte, eben wie alle Menschen waren, nämlich gut und böse. Ihnen waren mehr gute begegnet, und Sajo beschloß, ihren Stammesgenossen zu berichten, wie sie wirklich waren.
Sie nahmen Abschied von Alec und den Seinen, die so gut zu Tschikanii gewesen waren. Alec freute sich, seinen kleinen Gefangenen wieder frei zu wissen. Auch sein wunderlicher Arbeitgeber freute sich noch lange nachher, daß er einige traurige Herzen hatte wieder glücklich machen dürfen. Gitschie Megwon wollte ihm Tschikaniis Kaufpreis ersetzen, aber davon wollte er nichts hören und meinte, die Freude sei das Geld wert.
Patrick O'Reilly brachte die Gesellschaft zum Bahnhof. Seinen Kameraden berichtete er nachher: »Mit meinen eigenen Händen hab ich sie auf den Weg gebracht. Als ihr Vater mich in ihrer Sprache reden hörte, lachte er übers ganze Gesicht.« Gitschie Megwon hat gelacht.
Als der Zug anfuhr, standen die Geschwister am Fenster und winkten dem Mann zu, der gut und treu gewesen war. Pat hielt den Helm steil in die Höhe, und seine Glatze war noch lange zu sehen. Schapian fuhr mit der festen Überzeugung heim, daß auf einer grünen Insel irgendwo in einem riesigen Salzwasserteich ein Volk lebt, das sich »Biber« nennt.
Der erste, der sie an der Rabbit Portage empfing, war Gelbes Haar. Ehe das Schiff richtig festgemacht hatte, stand er schon an Bord. Schapian wollte ihm auf der Stelle das übrige Geld zurückgeben. Gelbes Haar sagte es den am Ufer versammelten Großen Messern. Da trat einer aus der Menge und sprach in seinem und seiner Leute Namen die Freude über den guten Ausgang aus und bat Gelbes Haar, das Geld armen Indianern zu geben. Gitschie Megwon dankte allen von ganzem Herzen und versicherte am Schluß seiner kurzen, männlichen Rede, er hoffe, eines Tages einem Weißen aus der Bedrängnis helfen zu können; denn an jeden komme einmal die Reihe, eine gute Tat zu tun.
Gelbes Haar stellte sich als Reisegenosse vor, er wollte nämlich mit ihnen zum Indianerdorf, wo er zu leben und zu arbeiten gedachte. In diesem Augenblick tauchte der Händler auf, der sich bisher im Hintergrund gehalten hatte, drückte allen dreien die Hand und kündigte sich ebenfalls als Fahrtgenosse an. »Muß doch meine indianischen Kunden kennenlernen.« Von seiner heimlichen Hilfe sagte er kein Wort. Sajo und ihr Bruder hätten es auch nie erfahren, wenn nicht Gelbes Haar ihrem Vater unter vier Augen alles erzählt hätte. Das wiedervereinte Biberpaar zog selbstverständlich ebenfalls die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Tschilawii und Tschikanii waren so aufgedreht, daß sie vor aller Augen einen Ringkampf ausfochten; ob man ihnen dabei zusah oder nicht, schierte sie allerdings nicht einen Deut. – –
Gitschie Megwon ruderte sein eigenes Boot, dasselbe, das seine Kinder durch das brennende Land getragen hatte. Die Brandspuren waren immer noch vorhanden. Schapian hatte diesmal den Bugsitz eingenommen und schwang dort das Ruder. Nur Sajo tat heute nichts und reiste mit Tschilawii und Tschikanii als Fahrgast. Ihre Nase stak die meiste Zeit im Biberkorb.
Gelbes Haar, der Händler und mehrere Indianer fuhren in einem zweiten, großen Birkenrindenboot Mit diesen »Raba-scha« genannten, ungefähr 6½ Meter langen Kanus werden sonst Lasten befördert., dessen hoher, stolz geschwungener Bug und das Heck es mehr einer spanischen Galleone als einem einfachen Rindenboot gleichen ließen.
An der ersten Portage wartete der alte Häuptling Neganikabo und verlangte Bericht. Sein weises Antlitz drückte gespannte Aufmerksamkeit aus, als er den Worten lauschte und bei den spannenden Stellen ein tiefes »Hoh« ausstieß. In seinen Augen glänzte ein wissendes Lächeln. Der Berichtende verstummte; Neganikabo starrte nachdenklich vor sich hin und dann sprach er zu Schapian und Sajo gewandt:
»Eure Tat war gut, und Ehre habt ihr dem Stamm gemacht. Man wird ein Lied von euren Abenteuern mit den Kleinen Sprechenden Brüdern singen, und es wird fortklingen und eure Taten künden.« Seine Augen fielen auf die Biber: »Auch sie gehören zu uns, und auch von ihnen wird man singen und sagen.« Seit langer, langer Zeit lächelte das weise Greisenantlitz zum erstenmal wieder. Neganikabo erhob sich und hüllte sich fester in seine Decke. Gestrafft, gebietend stand er vor seinen Leuten, lang fiel das schneeweiße Haar auf die hageren Schultern. Seine Rechte machte eine Gebärde zur Sonne hin und leise, tiefernst sprach er die Worte: »Ha! Mino-ta-kijah; kä-get ki mino-ta-kijah! – Es ist gut, alles ist sehr gut geworden!«
Und die Indianer ringsumher, Gelbes Haar und Gitschie Megwon wiederholten die Worte des alten Häuptlings und sprachen in feierlichem Chor: »Mino-ta-kijah.«
Die Gesellschaft machte sich wieder auf den Weg zu den Sprechenden Wassern. Am Ufer rauschten und wogten die Bäume; aus Ästen und Zweigen ertönte es bald lauter, bald leiser »Kä-get mino-ta-kijah – Alles ist gut.« Die Raben in der Luft, der Wind im Gras sprachen, atmeten »Mino-ta-kijah« und selbst die Wasserwirbel, die einst so böse und hungrig schienen, sangen mit dem seltsamen, dem fließenden Wasser eigenen Wohlklang: »Mino-ta-kijah«. Jeder Paddelschlag, jeder Wassertropfen, der vom Ruderblatt fiel, jeder kleine Wasserwirbel murmelte »Mino-ta-kijah« – für Sajo.
Nie war der Wald so grün gewesen, nie der Himmel so blau und die Sonne so strahlend schön. Die Eichhörnchen waren noch nie so lustig umhergeschossen, noch nie hatten die Vögel so süß gesungen – für Sajo, auf jener Fahrt zu den Sprechenden Wassern.
Weder sie noch Schapian waren jemals so glücklich gewesen. Als sie ankamen, rief Gitschie Megwon das ganze Dorf zusammen und lud die Bewohner zu einer Feier ein. Alle kamen und mit ihnen drei wandernde Halbblutindianer mit ihren Fiedeln. Sie spielten zum Tanz auf, feine, altmodische Tänze, Quadrillen, die zwanzig und mehr Indianer zugleich tanzten.
Die Dorfbuben hatten es auf Sajo abgesehen, so daß sie kaum zum Sitzen kam. Die kleine Sajo tanzte gut, ich war damals auch dabei. Schapian war stolz wie ein Pfau auf seine begehrte Schwester und blieb ebenfalls nicht müßig, sondern schwenkte die Mädchen herum.
Vor der Hütte brannte ein mächtiges Feuer; ein großer Teekessel hing darüber. Einige alte Männer saßen rauchend vor den Flammen und erzählten von alten Tagen. Gitschie Megwon, der Gastgeber, wanderte zwischen seinen Gästen umher und unterhielt sich bald mit diesem, bald mit jenem. Sein sonst so ernstes, ja trauriges Antlitz lächelte freundlich, wenn er den einen oder andern willkommen hieß und mit Tee bewirtete, während Sajo und Schapian in den Tanzpausen die Tassen herumreichten.
Plötzlich schwieg die Musik, die Tänzer räumten den Platz und ließen sich in einem großen Kreis nieder. Kein Wort fiel. Zwei Trommler setzten sich auf den Boden und schlugen mit leichten Fingern auf ihren Tam-Tam einen regelmäßigen Takt.
Die Tür flog auf und herein schritt, eine Federkrone auf dem Haupt, Neganikabo, der alte Häuptling. Sein Gesicht war mit uralten Zeichen bemalt; er tanzte zum dumpfen Trommelschlag. Unter seinen Knien waren getrocknete Hirschhufe befestigt, die bei jedem Schritt hohl aneinanderstießen. In seiner Linken hielt er den rot-schwarz bemalten Panzer einer Schildkröte, der dürre, ausgetrocknete Hals diente als Handgriff. Und als er tanzte, klangen die Hirschhufe wie kleine Kupferschellen, in strengem Gleichmaß mit den schnell auf- und abwippenden Beinen. Die Lederfransen an seinen Hosen nahmen den Schwung auf; die königliche Adlerhaube öffnete und schloß sich, wogte auf und nieder, immer im Takt der Trommeln. Neganikabo tanzte und sang ein tiefes, eintöniges Lied, das von den Abenteuern der Geschwister und ihrer Biberfreunde kündete. So besang man in vergangenen Tagen die Heldentaten der roten Krieger, die Schlachten, an denen sie teilgenommen. Nach jedem Vers erklang ein Kehrreim; es war eine gespenstische, aufreizende Melodie.
Das war der versprochene Gesang, damit waren die Erlebnisse der Vier in die Geschichte des Stammes eingegangen. Solche Gesänge hielten die Taten und Ereignisse der Vergangenheit fest und gaben den Geschlechtern weiter, was in lang zurückliegenden Tagen geschehen war, solche Gesänge und einfache Bilder.
Der Händler, der den Vorgängen natürlich ganz fremd gegenüberstand, dachte, es sei ein Kriegstanz. Gitschie Megwon beruhigte ihn aber und erklärte, daß es kein Kriegstanz, sondern ein Wabeno sei, der nur vom Medizinmann getanzt und gesungen zu werden pflegte oder der zur Wiedergabe großer Stammesereignisse ausgeführt würde.
Mit einem lauten, jähen Schrei riß der Wabeno ab, und die Fiedeln hatten wieder das Wort. Gelbes Haar tanzte auf flinken Füßen und lachte in einem fort. Fröhlich holte er sich die alten Weiblein und schwang sie herum. Angesteckt von der Freude ringsumher, vergaß der Händler seine Würde und bewies, daß er so lustig wie jeder andere sein konnte. Er schloß sogar Freundschaft mit Tschilawii und Tschikanii, deren Namen er aber ums Leben nicht behalten konnte.
Das edle Brüderpaar ließ sich nicht verdrängen und machte sich mit Stimmen und Beinen überaus bemerkbar. Aufgeregt von der Musik und dem Lärm kollerten sie über die Tanzfläche, krochen den Tänzern zwischen die Beine, machten Bettelreisen und ließen keinen ausruhenden Gast aus. Tschilawii stellte sich einmal mitten drin auf, so daß die Tänzer ihre Schwünge und Sprünge unterbrechen mußten, weil keiner dem kleinen Burschen wehtun wollte. Zwei volle Minuten lang beherrschte Tschilawii das Feld und blickte selbstherrlich und siegessicher umher: »Hier bin ich! Hier bleib ich; macht, was ihr wollt!«
Schließlich mußte Sajo eingreifen und den strampelnden und empört aufquieksenden Raufbold mit Gewalt abschleppen, während Sajo solchermaßen Ordnung schaffte, geriet Tschikanii (der Heilige!) hinter eine Kiste mit Äpfeln, die einer der Gäste im Handelsposten erstanden und einstweilen abgestellt hatte. Als Tschikanii zu seinem Kummer bemerkte, daß er nur einen Apfel auf einmal verzehren konnte, begann er, die Früchte einzeln in ein Versteck zu schaffen. Leider wurde er im schönsten Zug ertappt, und es gab einen neuen Krach. Um die aufgebrachten Brüder zu beschwichtigen, versuchte Sajo es mit Bestechung; sie teilte riesige Bannockstücke aus und schaffte das edle Paar ins Bett. Solange der Kuchen vorhielt, blieben die beiden unsichtbar. Leider reichte er nur kurze Zeit, und sie standen bald wieder im Weg und heimsten neue Bestechungsgelder ein. Eine gewaltige Ernte fuhren sie in ihre Scheuern! Sie ließ sich beim besten Willen nicht auf einmal vertilgen, nicht, wenn sie die ganze Nacht gegessen hätten.
Müde von den Aufregungen des Tages verzogen sich die Biber endlich doch noch in ihre Gemächer, endgültig. Eng umschlungen, Nase an Nase gedrückt, schnarchten sie, von einer Fülle guter Dinge umgeben, einem neuen Tag entgegen. So endete die Zeit der Not, der Verzweiflung. Vorüber, vergessen – – – –
Seeufer und Spielhaus hallten wider von Rufen und Gelächter wie vordem, ehe das große Unglück gekommen war. Es schien, als sei alles Geschehen nicht gewesen, als hätte ein böser Traum einen Bann gewoben. Das Blockhaus, das so viele Tage leer und verlassen gestanden hatte, barg wieder Freude in seinen vier Wänden; und der weiche Ufergrund an der Anlegestelle trug von neuem die Spuren kleiner Menschen- und Biberfüße.
Tschilawii, der Taugenichts, wurde wieder der alte böse Räuber und war vielleicht noch dickköpfiger als früher. Er verschwand regelmäßig und fand sich ebenso regelmäßig wieder ein, darauf konnte man sich unbedingt verlassen. Seine Streiche, seine Unarten lösten einander ab. Und wenn er dabei ertappt wurde, verfiel er in seinen unsinnigen Wackeltanz und ließ sich mit einem theatermäßigen Aufschrei auf den Rücken fallen, entweder, weil ihn sein Blödsinn selber ergötzte, oder aus reiner Unart.
Beide Biber waren im Lauf der Zeit recht groß geworden. Allerdings hatte Tschikanii den Wettlauf, wer am schnellsten wächst, aufgegeben und den Vorrang Bruder Tschilawii überlassen. So blieb Tschikanii eben Tschikanii, d. h. Ganz-Klein, zärtlich und sanft wie immer. Nicht daß er immer brav gewesen wäre. Bei weitem nicht! Aber oft und oft lag er in Sajos Armen, bohrte die Nase in ihre Halsgrube wie eh und je, schmiegte sich dicht an die Beschützerin, schloß die Augen, schnaufte und greinte glücklich vor sich hin, wie er in seinen Träumen auf dem Strohsack in Alecs Küche getan hatte. Blinzelnd öffnete er ein Auge: nein, diesmal träumte er nicht.
Alles war wieder wie früher. Die Tage strömten über vor Lebensfreude. Die beiden schwammen und gruben und dreckelten im Schlamm; sie putzten sich, spielten Verstecken unter dem Kanu, fochten Ringkämpfe aus, waren zärtlich und liebebedürftig, stürzten sich voll Baulust auf das verrückte kleine Biberhaus, das einfach nicht regendicht werden wollte. Doch wenn die Spiele gespielt waren und der Tag seinem Ende entgegenging, trotteten acht müde Stummelbeine den Pfad zum Blockhaus hinauf, wo kleine Schüsselchen voll Reis oder Milch und bei besonderen Anlässen sogar mit einem schmucken Klecks aus süßem Eingemachten der leeren Bäuche harrten. Zum Abschluß des Tages und als Betthupfer empfing jeder ein großes Stück Indianerbrot, und dann kam der lange Schlaf aus dem weichen, süß duftenden Grasbett – – –
So verging der Sommer!
Dann kam der Herbst, es kamen die Tage der Fallenden Blätter, die Stillen Tage. Die Zeit nahte, da Tschilawii und Tschikanii wieder in ihre alte Heimat, zu den Eltern im Biberteich gebracht werden sollten. Sie ihrem natürlichen Leben zurückzugeben war Pflicht; sie mußten den Pfad der Biber wandern. Im Winter konnten die Menschen ihnen unmöglich das notwendige Wasser verschaffen, noch sie, wie im Sommer, von Ort zu Ort schleppen.
Eines Tages rief Gitschie Megwon seine Kinder zu sich, sprach leise von der Zeit, da Tschilawii und Tschikanii erwachsen und nicht länger mehr glücklich sein würden in einer Umgebung, die ihrer natürlichen Welt so wenig entsprach. »Wir müssen sie ihren Brüdern zurückgeben, damit sie mit ihnen das Leben führen, wofür sie das Große Geheimnis geschaffen hat.«
Sajo und ihr Bruder hatten dies, jeder für sich und ohne darüber zu sprechen, schon lange geahnt. Als der Abschiedstag immer näher rückte, wurde Sajo sehr still und nachdenklich. Stundenlang hielt sie sich bei ihren kleinen Gefährten auf, die von der großen Veränderung nichts ahnten und wie zwei böse Schusterjungen durch ihr kleines Reich tollten.
Sajo hatte sie so lieb, daß sie alle Trauer unterdrückte, nicht mehr an ihre Einsamkeit dachte, sondern nur daran, wie glücklich Tschilawii und Tschikanii sein würden, wenn sie wieder bei Vater und Mutter wären. Wie sollte ich traurig sein? fragte sie in ihrem Herzen. Ich bin sehr froh. Ich weiß, ich bin's!
Doch, Sajo war glücklich, denn glücklich ist, wer geben kann.
*
Oktober kam. Die Berge ringsumher flammten rot und braun und golden. Herbst, die Tage der Fallenden Blätter. Eines Morgens nahmen Tschilawii und Tschikanii, ohne es zu wissen, Abschied von ihrem Schlafgemach unter Schapians Bett, vom Blockhaus, in dem sie ihre glücklichen, sorgenfreien Kindertage verbracht hatten, vom wackeligen Biberbau am See, von der Spielhütte, von ihren Plätzen am Ufer und kletterten in ihre alte Biberkutsche. Sie schifften sich zu ihrer letzten und wichtigsten Reise ein. Bequem räkelten sie sich auf dem frischen Grasbett zurecht und ahnten nicht, welch großes Erlebnis ihnen bevorstand.