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Sajos Geburtstag

Fast eine ganze Woche später bereiteten Sajo und Schapian Vaters Empfang vor. Gitschie Megwons Hütte lag ein gutes Stück außerhalb des Indianerdorfs O-pi-pi-sowä, das bedeutet »Platz der Sprechenden Wasser«. So hatten es die Indianer genannt, weil es in der Nachbarschaft eines kleinen Wasserfalles lag, aus dessen Rauschen und Plätschern sie leise, träumerische Stimmen zu vernehmen glaubten, die Stimmen der darin wohnenden Geister.

Die aus Kiefernstämmen gefügte Blockhütte lag nicht weit vom Seeufer entfernt auf einem kleinen, grasüberwachsenen Hügel. Gleich dahinter begann der Wald. Ein großer, von allem Gestrüpp und Unterholz befreiter Platz umgab das Häuschen. Große Feder hatte nur die schönsten Bäume stehen lassen, die einen herrlichen Durchblick auf den See gewährten. Es war ein großer See, sein entgegengesetztes Ufer verlor sich in einer Kette von Waldhügeln, die in der blauschimmernden Ferne verebbten wie die Wellen eines großen, düsteren Meeres. Ein schmaler Fußweg führte zum Landungsplatz hinunter, den ein wundervoller Pappelhain umgab. In seinem Schatten hatte Gitschie Megwon mit den Seinen viele glückliche Stunden erlebt, dort neben dem glucksenden Wasser.

Die Hütte war nicht groß, sah aber hübsch aus mit ihren rotbraunen Balkenwänden und dem grünen und gelben Moos, das die Fugen abdichtete. Obwohl sie nur einen einzigen Raum enthielt, bot sie innen einen fast noch heimeligeren Anblick als außen. Der feste Bretterfußboden war peinlich dicht gefugt und blendend rein. Auf den drei Schlafbänken, die hintereinander an einer Wand entlang standen, lagen die ordentlich gefalteten, farbenprächtigen Hudsonbai-Decken, rot, weiß und grün mit breiten, schwarzen Streifen an den beiden Enden und gaben dem Raum Farbe und Freude. Die drei Fenster glänzten fleckenlos wie das Innere eines gepflegten Gewehrlaufs. Schapian verglich alles, was makellos rein war, mit einem geputzten Gewehrlauf. Ein höheres Lob kannte er nicht, denn sein Gewehr war sein kostbarster Besitz. Gerade heute hatte er es wieder auseinandergenommen, von innen und außen gereinigt und eingefettet, bis es von seinem Platz an der Wand zur Tür hinüberglänzte, so daß man es einfach nicht übersehen konnte. Für dieses Jagdgewehr hatte er in der Handelsniederlassung vier gute Nerzpelze auf den Ladentisch gelegt.

Sajo hatte Binsen gesammelt, getrocknet, in kleine Stückchen geschnitten und blau und rot und gelb gefärbt und wie Holzperlen aufgefädelt. Die verschiedenen Farben waren zu einem bestimmten Muster geordnet, und so waren recht teuer aussehende Schnurvorhänge entstanden, die nun die Fenster zierten. Schön – dachte Sajo, als sie ihrer Hände Werk zum hundertstenmal prüfte.

Auf dem Tisch standen Zinnteller, Messer und Gabeln, und in der Mitte lag ein großer, frisch gebackener, noch heißer Laib Indianerbrot. Mitten drin steckte ein winziger, spannenlanger Kieferntrieb, ein richtiger kleiner Christbaum. Es war noch lange nicht Weihnacht, aber Sajo hätte kaum glücklicher sein können. Der alte kleine Starkblechofen in der Ecke glänzte vor Sauberkeit und sah funkelnagelneu aus. Er besaß weder Bratröhre noch Beine und ruhte auf einigen Steinen einige Handbreit über dem Boden. Das hatte seine Vorteile, denn um Brot zu backen brauchte man den Teig nur ein Weilchen auf dem Ofen gehen zu lassen und dann zwischen die heißen Steine zu schieben, wo er knusprig ausbacken konnte. Sajo machte gutes Brot, ich habe oft davon gegessen.

Schapian war auch nicht müßig gewesen, wie der große Holzstoß hinter dem Ofen, der neue Teppich aus frisch zurechtgemachter und selbstgespannter Hirschhaut und das auf dem Kochfeuer schmorende Fleisch bewiesen. Das teuer erkaufte Jagdgewehr in der Ecke dort hatte sich bezahlt gemacht. Schapian, der groß und stark war für sein Alter, sah schon recht männlich aus mit der kupferbraunen Haut und den dunklen Augen seines Stammes, der Odschibwä. Er saß still und wartete; der Vater hatte seine Heimkehr für diesen Tag versprochen, und was Vater versprach, hielt er auch, so gut die Unsicherheit des Waldlebens es erlaubte. Aber seine um drei Jahre jüngere Schwester lief hin und her, beaufsichtigte die bratenden und schmorenden Dinge, stellte die als Stühle dienenden runden Holzklötze an den Tisch. Ihre dunkelbraunen Augen glühten, und das pechschwarze, in zwei Zöpfe geflochtene Haar wehte hinter ihr her, als sie so herumlief und all die hundert Haushaltarbeiten tat.

Schapian hatte seinen Sitzplatz so gewählt, daß er durch eines der drei Fenster den ganzen See übersehen konnte. Er wartete auf das erste Anzeichen des väterlichen Kanus. Zwar tat er sehr gleichgültig, denn als Mann durfte er weder neugierig noch aufgeregt sein. Er war allerdings erst vierzehn Jahre alt, aber gerade jetzt fühlte er sich so recht groß und erwachsen. War er nicht einen ganzen Monat lang Familienoberhaupt gewesen? Sajo sang ein kleines Lied während der Arbeit. Sie war eine kleine, bunte, tanzende Wolke mit ihrem farbigen Faltenrock und den flinken, mit schönen, perlenbestickten Mokassin bekleideten Füßen. Sie trug die Festtagsmokassin. Und heute war Festtag! Nicht nur, weil der Vater heimkam, nein – heute war auch ihr Geburtstag! Seit ihre Mutter unter den vielen Blumen ruhte, erhielt sie nur selten ein Geburtstagsgeschenk. Vater hatte ihr einmal zwei Holzpuppen geschnitzt. Und dieses Jahr war er fort und würde keine Zeit finden, an Sajos Geburtstag zu denken! Sie holte die Puppen Tschilawii und Tschikanii hervor und stellte sie aufrecht auf ihre Schlafbank. Tschilawii und Tschikanii blickten trotz ihren bunten Kleidern ziemlich verdrießlich drein. Ihre Gesichter waren blaß. Sajo holte den Farbtopf und frischte sie ein bißchen auf und band Kopftücher um die Holzgesichter. Schöner wurden sie trotzdem nicht, mit ihren nasen- und mundlosen Holzköpfen.

Schapian starrte immer noch reglos quer durchs Zimmer zum Fenster hinaus und wünschte, seine Schwester möge etwas würdevoller sein und nicht so aufgeregt umherrennen. Nun ja, sagte er sich, wenn zwei so wichtige Ereignisse wie Vaters Heimkehr und Sajos Geburtstag zusammenfallen, das muß eine Frau durcheinanderbringen. Und auf einmal begann auch sein Herz heftiger zu klopfen. Schapian hielt sich nur mit äußerster Willenskraft zurück. Am liebsten wäre er zum Fenster gerast, denn weit, weit draußen auf dem See entdeckte er einen kleinen, dunklen Punkt!

»Schwester«, sagte er ganz langsam und deutlich, »Schwester, unser Vater kommt!«

»Wo? Wo?!« schrie Sajo, riß ihr Kopftuch an sich und stürzte, ohne auf die Antwort zu warten, zur Tür hinaus und suchte die Himmelsrichtungen ab.

»Wo denn? Sag doch schnell, wo?«

Schapian wies ihr den fernen, schwarzen Punkt auf dem See. »Dort – der kleine Fleck.«

»Oh, das dort?« sagte Sajo und ihre Stimme klang enttäuscht. Der kleine Punkt konnte alles Mögliche bedeuten.

»Vielleicht ist's bloß ein schwimmender Bär oder ein Elch«, meinte sie und hoffte, Schapian würde widersprechen. Aber die Antwort kam rasch und nicht aus seinem Mund.

Aus der weiten Ferne schwebte ein schwacher Knall herüber – ein Schuß und noch einer. Die Geschwister hielten den Atem an und zählten auf drei – da, der dritte Schuß!

»Das Zeichen! Das Zeichen!« jubelte Sajo, und Schapian erwiderte gelassen:

»Ja, das ist der Vater.«

Und dann vergaß er seine männliche Würde und sauste mit Sajo in die Hütte zurück.

»Los, los! Schnell fertigmachen!« Das Kanu war zwar noch manchen Kilometer weit und konnte kaum vor einer starken Stunde da sein, aber die beiden konnten es nicht mehr erwarten und stürzten sich heftig in die Arbeit, rannten zum Schüsselbrett und holten die Einmachgläser herunter. Sajo hatte Heidelbeeren und Walderdbeeren gesammelt und zum erstenmal ganz allein zubereitet. Dann stellten sie den großen Teekessel auf und stachen mit einer langen Gabel prüfend in den Braten und liefen vom Tisch zum Herd und vom Herd zum Tisch und wieder zurück und arbeiteten, als ob das Leben davon abhänge, wie andere, freudig-erregte Kinder, mögen sie arm oder reich sein, aus einem Fürstenhaus oder aus einer armen Indianerhütte stammen.

Als der ersehnte Augenblick endlich da war und das gelbe Rindenkanu auf dem sandigen Ufer knirschte, sprachen beide zugleich auf Gitschie Megwon ein. Große Feder sprang heraus und nahm ihre Hände in seine große, starke Rechte, denn die Linke verbarg er hinter seinem Rücken und mühte sich redlich ab, alle Fragen auf einmal zu beantworten. Über sein Gesicht, das so ernst dreinblicken konnte, flog ein Lächeln.

»Kinder, Kinder, laßt mich reden, laßt mich doch auch was sagen. Ja, mir geht's gut. Nein, ich hab kein Halbblut getroffen. Gewiß, unser Jagdgrund ist in Ordnung, oder nein – vielmehr doch. O ja, ich war einsam, aber jetzt bin ich's nicht mehr. Sajo! Ich wünsch dir Glück, meine kleine Tochter«, und dann erst schwang er die linke Hand hinter dem Rücken vor, und darin schaukelte das Rindenkörbchen!

»Halt, haalt! Langsam! Schau, ich hab dir ein Geburtstagsgeschenk mitgebracht, Sajo.« Er reichte ihr das Körbchen. »Trag es ganz vorsichtig«, und zu Schapian gewandt fügte er hinzu: »auch für dich, mein Sohn Schapian. Es sind zwei.«

»Zwei was, Vater?« fragte der Junge und starrte seiner behutsam vorausgehenden Schwester nach.

»Was ist denn drin?«

Aber Große Feder hieß ihn warten. Und sie folgten der halb laufenden und halb gleitenden Sajo, die diese Gangart für besonders abfedernd hielt, zur Hütte. Ihre kleinen Füße huschten blitzschnell unter dem langen Faltenrock hervor, während sie den Oberkörper von den Knien aufwärts stocksteif hielt. In der weit von sich gestreckten Rechten baumelte das Körbchen, als liege ein großes, zerbrechliches Ei darin, das bei der leisesten Erschütterung in tausend Stücke fahren müßte. Kein Wunder, denn aus dem geheimnisvollen Innern drangen gar seltsame Laute. Ein kleines Kind? dachte sie zuerst – nein, zwei kleine Kinder?? Ogottogott, und wie klein die sein mußten! In der Hütte stellte sie das Körbchen vorsichtig auf den Boden, und während Schapian, der auch keine Zeit verloren hatte, die Schachtel hielt, hob Sajo den Deckel ab und starrte auf zwei braune, runde Wollknäuel und vier kleine Pfoten, die wie Hände nach dem Korbrand faßten, und in zwei glänzende Augenpaare, die klug und fragend in die ihren starrten. »Ooo«, sagte Sajo bloß, und selbst dieser Ausruf blieb ihr in der Kehle stecken. »O! O!« Mehr konnte sie weder sagen noch denken, und so flüsterte sie zum viertenmal »O!« Aber dann hatte sie sich wieder gefunden:

»Das sind ja junge Teddybären, lebendige Teddybären!« Vorsichtig neigte sie den Korb und heraus purzelten die zwei, die wir schon kennen. Dann entdeckte Sajo ihre Schwänze und wußte, daß sie keine Bären vor sich hatte. Nein, etwas viel besseres – – –

»Kleine Biber sind's! Ganz kleine, junge Biber!!« platzte Schapian bleich vor Erregung heraus. Seine junge Männerwürde war in alle vier Winde zerstoben.

»Sajo, das sind ganz echte Biber!!«

Gitschie Megwon stand daneben, blickte lächelnd auf die überraschten Geschwister und freute sich wie ein König über die gelungene Überraschung. Sajo hockte auf dem Boden und starrte verzückt auf das Wunder. Ihr Mund war immer noch ein stummes rundes O. Aber dann versuchte sie Vaters Blicke auf die neuen Vorhänge zu lenken, die seine scharfen Augen schon längst gesehen hatten. Das Essen verbruzzelte unbeachtet, und die berühmte, prächtig gefummelte Jagdbüchse lehnte vergessen in der Ecke.

Gitschie Megwon hatte auf der Reise fleißig nach den Kleinen gesehen. Sie waren dick und rund. Sajo war ganz weg von ihnen. Und als sich die Kleinen zittrig wimmernd an ihre Knie klammerten, setzte sie sich zu ihnen und drückte das Gesicht in die weiche, süß nach Gras und Weidenrinde duftende Wolle.

Bald darauf gingen Große Feder und Schapian aus, um frische Blätter und Bettstreu für die Gäste zu holen.

So lange sie fort waren, hielt Sajo die warmen Körperchen in ihren kleinen Händen und flüsterte zu ihnen, und die Biber – Wunder über Wunder – gaben Antwort, hielten mit ihren lächerlich kleinen Pfoten Sajos Finger fest und starrten sie aufmerksam an. Als sie beide zugleich in ihre Arme nahm, bohrten die Neuankömmlinge die warmen, feuchten Stupsnasen in Sajos Halsgrube und bliesen und schnauften wie kleine Kinder.

Tschilawii und Tschikanii, die beiden Puppen, sahen noch trostloser aus als vorher. Um den armen Holzwesen noch mehr Trauer zu ersparen, stellte Sajo sie wieder auf ihr Brett hinauf, mit den Gesichtern zur Wand gekehrt.

Sie hockten sich nieder und taten, als verstünden sie jedes Wort, und dann ließen sie scih auf den Rücken fallen, als wüßten sie sich vor Lachen nicht mehr zu helfen

In der einfachen Blockhütte, tief drinnen in den Wäldern des Nordlandes, lebten an jenem Tag drei sehr glückliche Menschen: Gitschie Megwon, weil seine Heimkehr so schön gewesen war; Schapian, weil sein Vater die Biber auch ihm geschenkt und seine Arbeit gelobt hatte, und Sajo, weil sie das allerschönste Geburtstagsgeschenk ihres Lebens hatte empfangen dürfen.


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