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Endlich, nach langer Fahrt, hielt der Zug in der Stadt. Die drei Reisenden standen beinahe am Ziel, aber die Freude verwandelte sich in Angst, so daß sie gar nicht aussteigen wollten. Der Zugschaffner, der sie auf der langen Fahrt immer ein wenig betreut hatte, half ihnen herunter und sprach ihnen Mut zu; dann riefen ihn andere Pflichten.
Sajo und Schapian standen mit ihrem Biberkorb allein inmitten einer geräuscherfüllten Welt. Hastende Menschen, Dampfgezisch, das grelle Gebimmel der Lokomotivglocken, der schneidende Laut der Trillerpfeifen und das Donnergepolter rangierender Maschinen erschreckte und betäubte diese Waldkinder, die ganz verloren aus dem Bahnsteig standen und sich nicht vom Fleck wagten. Vor ihnen, hinter ihnen, zu beiden Seiten tobte ein abscheulicher Wirbel, ein unaufhörliches Getöse. Nie zuvor hatten sie sich so klein und schutzlos gefühlt wie in dieser ungeheuren, dröhnenden Halle. Sie sehnten sich plötzlich in die Stille ihrer Wälder zurück. Neugierige Blicke streiften sie, aber niemand kümmerte sich um die Fremdlinge. Sajo und Schapian fühlten sich grenzenlos verlassen, und fast so hilflos wie die beiden Biber damals, ehe Gitschie Megwon sie aus dem Fluß der Gelben Birken fischte. Trotz aller Angst tröstete Sajo sich mit dem Gedanken an Tschikanii, der dasselbe hatte mitmachen müssen und ganz allein gewesen war. Schapian sehnte sich wieder nach dem Waldbrand, und Tschilawii verschloß die Ohren, verkroch sich in eine Ecke und rührte sich überhaupt nicht mehr.
Nachdem sie, wie es Schapian schien, eine Ewigkeit dagestanden hatten, beschloß der Junge, mal auf die große Schwingtüre zuzusteuern, durch die ununterbrochen Menschen herein- und hinausströmten. Kaum war dieser harte Entschluß gefaßt, da stand wie aus dem Boden gewachsen ein anderer Junge vor ihnen. Er war ungefähr im gleichen Alter wie Schapian und steckte in einer hübschen roten Uniform, dessen kurze, enganliegende Jacke mit vielen glänzenden Messingknöpfen geschmückt war. Auf dem rechten Ohr klebte eine kleine schwarze Mütze, die mehr einer runden Käseschachtel als einer Kopfbedeckung glich.
»Hallo, ihr da!« rief er sie fröhlich an. »Habt ihr euch verlaufen? Was sucht ihr denn?«
Schapian, der von dieser prächtigen, selbstbewußten Erscheinung nahezu erschlagen war (ihm war noch nie ein Hotelpage vor Augen gekommen), vergaß sein Englisch und konnte sich nur auf ein einziges Wort besinnen.
»Poli–ßist«, stotterte er aufgeregt.
»Ach so, einen Schutzmann!« Der Junge war nicht auf den Kopf gefallen.
»Machen wir. Kommt mal mit!« Er winkte den Fremdlingen und setzte sich in Trab. Seine auf Hochglanz gewichsten Stiefel klapperten hart auf dem Asphalt. Erleichtert glitten die Geschwister auf ihren weichen Mokassinsohlen hinter ihrem Führer drein. In der einen Hand hielt Schapian Tschilawiis Reisekutsche und mit der andern hielt er Sajo fest. Sicher steuerte der fremde Junge durch die Menschenmenge dem Ausgang zu, an dem ein großer, rundlicher Mann in einer blauen Uniform stand.
»He, Pat!« rief der Junge. »Da sind zwei Kinder, die 'n Schutzmann sehen wollen!« Mit diesen Worten gab er seinen Schützlingen einen freundschaftlichen Rippenstoß. »Sehen wie Indianer aus. Passen Sie nur auf Ihren Skalp auf!« Mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht und einer Handbewegung zu den Geschwistern hin verschwand er in der Menge.
»So, Skalpe wollt ihr?« meinte der Schutzmann ziemlich laut und blickte sie streng an, als wolle er sie auf der Stelle verhaften, aber in seinen Augenwinkeln lauerte der Schalk.
»Seid wohl kleine Indianer, was? Na, mit meinem Skalp könnt ihr keinen Staat machen. Haarlos wie ein Ei, und das weiß der Lausbub, der elende.«
Der mit Pat Angeredete war ein guter Mann, groß und stattlich anzusehen, mit einem runden, gutmütigen Gesicht, dem der schief aufgesetzte Helm erst recht etwas Fröhliches verlieh, gerade als sei Schutzmannsein die unterhaltendste Beschäftigung. Als er die verängstigten Gesichter sah, dämpfte er die rauhe Stimme, das heißt, er versuchte es.
»Was kann ich für euch tun?«
»Sie Polli – Polli – sißt?« fragte Schapian zaghaft.
»Richtig, mein Sohn, Polizist, Schutzmann, ein guter sogar. Nanu, was habt ihr in dem Korb?« Tschilawii hatte einen kläglichen Singsang angestimmt.
»A-mik«, erklärte Schapian und hob den Deckel ab.
»A-mik«, wiederholte er und fuhr zusammen, denn der Schutzmann lachte dröhnend auf.
»Da schau einer her! Mick heißt er mich Ist ein Spottname der Iren. Hast recht, kleiner Heide, ich bin ein Mick, sicher bin ich einer!« Er gab sich einen ordentlichen Ruck und glaubte, Schapian habe seine Volkszugehörigkeit erkannt. Es war aber ganz anders. Schapian hatte in der Eile das englische Wort für »Biber« nicht finden können und die indianische Bezeichnung gewählt. Als der Schutzmann aber immer wieder »Mick« sagte und dabei auf sich deutete, schloß Schapian, daß der Mann einem merkwürdigen weißen Stamm angehöre, der sich »Biber« nenne. Das gefiel ihm, Biber war ein Ehrenname. Nachdem die beiden so viele gute Seiten aneinander entdeckt hatten und jeder den andern für einen gescheiten Burschen hielt, war die Freundschaft gleich geschlossen.
»Wo wollt ihr hin?« fragte der Schutzmann.
Schapian, der nicht nur sein Englisch, sondern auch den Brief vergessen gehabt hatte, erinnerte sich wieder an beides. Schutzmann O'Reilly las die Anschrift und begriff.
»Mhm. Ich hab aber noch Dienst und kann nicht weg. Setzt euch hin und wartet, bis ich fertig bin. Nachher bring ich euch hin. Ich werde schon sorgen, daß es euch gut geht.«
Er fuhr Sajo übers Haar, und Schapian fragte ihn, ob er Tschilawii sehen wolle. O'Reilly wollte und lobte nebenbei auch den kleinen Biber »Feiner Bursche, soviel ich sehen kann«. Sehen konnte er allerdings nicht viel, denn der sonst so vorlaute Tschilawii war plötzlich außerordentlich schüchtern und zurückhaltend geworden. Er versteckte Kopf, Schwanz und alle vier Beine, machte sich ganz klein und unwichtig; mit Erfolg, von Tschilawii war tatsächlich nicht viel vorhanden.
Sajo und Schapian, denen es auf einmal viel leichter ums Herz war, setzten sich nieder und warteten. Schutzmann O'Reilly schoß eine Menge Fragen die Schapian nach Kräften beantwortete. Allmählich erfuhr der Schutzmann ihre ganze Geschichte. Sein weiches irisches Herz war getroffen, und er versprach, ihnen zu helfen und sie zum Besitzer des Tierparks zu führen.
»Laßt mich nur machen. Ich werde denen schon die Wahrheit sagen, und die reine Wahrheit, mit beiden Händen, wenn's sein muß.«
Ein wenig später kam die Ablösung und spottete gutmütig über O'Reillys plötzlichen »Familienzuwachs«. »Du kannst lange reden«, meinte O'Reilly und winkte seinen Schützlingen. Sie traten auf die Straße hinaus, in der es wesentlich ruhiger und menschenleerer war als in der Bahnhofshalle. Ihr neuer Freund schwatzte munter drauflos und tat sein Bestes, die Kinder vertraut zu machen. Schapian stand in seinem lustigen, fehlerhaften Englisch redlich Rede und Antwort. Sajo, die ganz Aug und Ohr war, horchte zu. Zwar verstand sie kein Wort, aber der große blaugekleidete Mann flößte ihr Vertrauen ein, und zum erstenmal seit langer Zeit fühlte sie sich ganz glücklich. War nicht Tschikanii hier in dieser Stadt, vielleicht sogar in dieser Straße? Sajos kleine Gestalt reckte sich, und sie blickte neugierig auf die Wunder der Stadt. Pferde trotteten vorüber, von denen sie wohl gehört, die sie aber nie vorher gesehen hatte; dort glitt ein Wagen ohne Gespann ganz von selbst dahin. Das Schönste waren jedoch die Schaufenster. Die drei neuen Freunde kamen an einem Gasthaus vorbei, und der Geruch der guten Dinge, der Anblick appetitlicher Kuchen und Pasteten im Fenster riß die müden Gesichter der jungen Wanderer so jäh herum, daß es O'Reilly auffiel. Als die beiden die Köpfe zusammensteckten und miteinander flüsterten, ging ihm ein Licht auf.
»Ja, um Gotteswillen, Kinder«, rief er aus, »ihr müßt doch hungrig sein und ich schwatze wie ein altes Weib. Das wäre noch schöner, wenn ein O'Reilly seine Freunde verhungern ließe. Hinein mit euch! Jetzt wollen wir erst mal essen.«
»Ja bitte«, sagte Schapian. »Meine Schwester schon lange hungrig.« Man hätte schwer sagen können, wer von den beiden hungriger war. O'Reilly schob seine Schützlinge durch die Tür und suchte eine gemütliche, ungestörte Ecke.
»Wann habt ihr zum letztenmal gegessen?«
»Im Handelsposten. Ich, ich nicht haben Angst gehabt, aber Schwester hat, viel. Sie immer auf ein Fleck gesessen und nichts essen. Ich aufpassen auf meine Schwester und nicht allein lassen, so niemand gegessen, nur Tschilawii sein Brot.«
»Bist ein braver Bursch. Die O'Reillys – – –« Wir werden nie erfahren, was die O'Reillys in einem solchen Fall getan haben würden, denn der Kellner brachte das Bestellte, und die Geschwister machten Augen so groß wie Teetassen, als sie die vielen dampfenden Dinge erblickten. Sajo war einen Augenblick lang einer Ohnmacht nahe, die Schwäche ging aber bald vorüber. Mitten im Essen fiel ihr der hungrige Tschilawii ein, sie fütterte ihn und reichte ihm Butterbrot und Kuchen in den Korb, so daß auch er vollauf beschäftigt war.
O'Reilly saß mit seinen Gästen in einem kleinen, ungestörten Nebenzimmer. Endlich waren alle, auch Tschilawii, so satt, daß sie beim besten Witten keinen Bissen mehr hinuntergebracht hätten. Sie lehnten sich bequem zurück; Pat steckte eine Zigarre an und strahlte Zufriedenheit aus. Er hatte seinen Helm abgelegt, und Schapian stellte fest, daß sein Freund doch nicht so glatzköpfig, so haarlos wie ein Ei war; denn über dem einen Ohr begann ein dichter Haarkranz und führte über den Hinterkopf zum andern Ohr.
Sajo, von hausfraulichen Gefühlen übermannt, stellte Teller und Schüssel aufeinander und schob sie zur Seite. Es machte ihr Freude, das schöne Geschirr zu berühren. Es bestand zwar nur aus gewöhnlichem Porzellan, aber sie hatte etwas so Schönes noch nie gesehen, wie sie ihrem Bruder später erzählte.
Es wurde ihnen warm in dem kleinen Raum; Sajo schob das bunte Kopftuch zurück, so daß O'Reilly die langen, glänzend-schwarzen Zöpfe und die weichen, dunklen Augen und zum erstenmal auch ihr Gesicht richtig betrachten konnte.
»Du bist doch das netteste kleine Mädchen, das mir übern Weg gelaufen ist, seit ich von Irland fort bin.«
Schapian übersetzte, was ihr Freund gesagt hatte, und Sajo schoß das Blut ins Gesicht. Sie wurde schrecklich verlegen und zog schleunigst das Kopftuch wieder vor. Aber es blieb nicht lange dabei, Sajo mußte immer wieder in das gutmütige Gesicht blicken, das Kopftuch fiel wieder zurück. Diesmal ließ sie es liegen und lachte über alles, was O'Reilly erzählte, obwohl sie nicht ein einziges Wort verstand. Schapian, froh über seiner Schwester Frohsinn, lachte mit. O'Reilly, der sich über seine Erfolge als Gastgeber freute, lachte selber so herzlich, daß er den Uniformrock aufknöpfen und die schweißglänzende Platte mit einem riesigen roten Taschentuch trocknen mußte. Sogar Tschilawii machte sich hörbar; solange Sajo sich mit ihm unterhielt, ließ O'Reilly sich von Schapian in die Geheimnisse der Indianersprache einführen.
Leider machte er keine besonderen Fortschritte; nur ein Wort, das der Indianer sehr oft gebraucht, hat es ihm besonders angetan. »Kä-get« heißt es und bedeutet je nachdem – es kommt auf die Betonung an – »natürlich, selbstverständlich, sicher«; und wenn einer seiner Sache ganz sicher ist, sagt er auch »kä-get«, und dann bedeutet es »ganz bestimmt«. Nun, das war nicht schwer, O'Reilly begriff bald und übte so lange, bis er die richtige Betonung heraus hatte. Von da ab war alles »kä-get«, kä-get hier und kä-get da. Dann entwickelte er seinen Schlachtplan für den nächsten Tag und gab sich schrecklich Mühe, Schapians gebrochenes Englisch nachzuahmen.
»Also, Tiergarten jetzt geschlossen«, er machte die Zimmertür energisch zu. »Morgen Tiergarten offen, Geld geben, Biber mitnehmen!« Dabei riß er die Tür wieder auf, winkte mit dem Arm und trat zurück, als müßte er einem ganzen Regiment Biber Platz machen. Dann zog er den Brief heraus, tappte mit dem Zeigefinger drauf und fuhr fort:
»Ich mitgehen morgen. Ihr warten. Kä-get!«
Schapian, dessen Englisch doch nicht ganz so mangelhaft war, verbiß das Lachen. Er hatte gut verstanden und sagte es. O'Reilly war sehr zufrieden mit dem Ergebnis seiner ersten indianischen Sprachstunde.
Nachher führte er seine kleine »Familie« zur Mission und lieferte sie samt Brief ab. Ehe er sich verabschiedete, schärfte er Schapian ein, am nächsten Morgen ja auf ihn zu warten und keinen Schritt ohne ihn zu tun.
Im Missionshaus war man durch ein Telegramm auf den Besuch vorbereitet. Der Vorstand führte die Geschwister gleich in ihr Zimmer und sandte dann seinerseits ein Telegramm ab. Zur gleichen Stunde saß Patrick O'Reilly in seinem bescheidenen Heim am Fernsprecher und hielt eine lange Rede. In der Handelsniederlassung an der Rabbit Portage herrschte um dieselbe Zeit große Aufregung. Die drei, um die sich alles drehte, ahnten nichts.
Oben in ihrem Zimmer saßen Sajo und Schapian und sprachen über die Erlebnisse des Tages. Sie wagten nur ganz leise zu flüstern, denn das großartige weiße Zimmer bedrückte sie zunächst.
Doch es war ein sicherer Ort, das fühlten sie. Schapian zog einen kleinen Lederbeutel unter dem Hemd vor und entnahm ihm ein kleines Notenbündel. Langsam und bedächtig faltete er die Scheine auseinander und strich sie auf dem Tisch glatt. Sajo sah zu und nickte mit dem Kopf; sie hatte es ja immer gewußt, daß der Traum – – –. Gemeinsam machten sie sich ans Zählen, d. h. Sajo legte einen Finger an die Lippen, neigte den Kopf auf die Seite und sah sehr weise drein, während Schapian mit gerunzelter Stirn jeden Schein einzeln anstarrte. Die Zahlen sagten ihm nichts, und er gab es auf. Auf alle Fälle war's Geld, und viel Geld; Schapian packte die Scheine wieder zusammen, tat sie in den Beutel, den er wieder unter seinem Hemd auf der Brust barg. Es war ihr Kriegsschatz, der Preis für Tschikaniis Freiheit.
Tschilawii hatte sich nicht um seine Freunde gekümmert, denn er war mit einer auf dem Boden stehenden Wasserschüssel und hernach mit einem Brotlaib beschäftigt, den der fürsorgliche Hausherr gestiftet hatte. Tschilawii fraß schon wieder, und was er nicht unterbringen konnte, verwandelte sich langsam in einen den Teppich verunzierenden klumpigen, klebrigen Brei.
Keines konnte schlafen. Der Biber nicht, weil es unter den Betten, im Kleiderschrank, in den Ecken so viel Neues zu erforschen gab, und die Geschwister nicht, weil morgen der Tag war, für den sie so viel geopfert, so viel Not und Gefahr auf sich genommen hatten.
Morgen kehrte Tschikanii wieder zurück!
Daß sein jetziger Besitzer ihn vielleicht nicht hergeben würde – daran dachten sie nicht.
Der weltweisere Schapian, der vielleicht einige Zweifel hegte, sagte jedenfalls nichts, und Sajo war der Erfüllung gewiß. »Morgen kommt Tschikanii wieder. Ich weiß es.«