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Drei Jahre waren seitdem verstrichen und wieder war der Frühling gekommen.
Dr. Ballmann hatte die Lebenslust aufgegeben, oder vielmehr: sie hatte ihn aufgegeben. Er hatte alle die Genüsse geliebt, die da zehren, nicht nähren, und war an dem Punkt angelangt, wo die physischen Kräfte ihm versagten.
Das Altwerden erinnerte ihn, daß er, ein Wittwer seit lange, Großvater zweier Enkelchen sei. Der Tod seiner einzigen Tochter zwang ihn, sich der Kinder anzunehmen, und Ballmann fand seine Freude an ihnen. Er übergab seine Advokatur seinem Substituten, zog sich zurück und – nach Mr. Atkinson's Villa, als dieser das Bedürfniß fühlte, seinen Wohnsitz zu wechseln.
Mit seinen Enkelchen saß also Ballmann eines Abends in einem kleinen Vorstadt-Theater, das einem verflossenen Marionetten-Direktor gehört und jetzt seit einigen Wochen als Affen-Theater die Freude der Kindheit war. Er selbst hatte seinen Spaß an der Vorstellung, wie er, zu jeder Seite eins der Kinder, auf der ersten Bank hinter dem Souffleur-Kasten saß, und zerbrach sich den Kopf, wozu nur der letztere in diesem Theater dienen könne. Die Vorstellung schritt unter großer Heiterkeit der Kinder ihrem Ende entgegen als plötzlich ein Zwischenfall große Ueberraschung verursachte.
Einer der Eingeborenen des nordafrikanischen Affengebirges, der gelbhaarige Held des Abends, der schon hinter den Coulissen eine Züchtigung erhalten, versagte mitten im Akt den Dienst, brach aus und sprang über das schmale Orchester in den Zuschauerraum gerade auf Ballmann's Schooß.
Großes Erschrecken der beiden Kinder, als der Affe vertraulich den Großpapa umklammerte, als suche er Schutz bei dem altbekannten Vertheidiger der Unschuld. Das kleine Publikum jubelte. Ballmann machte gute Miene zum bösen Spiel und erschrak selbst erst, als das Thier einem Frauenzimmer die Zähne fletschte, das sich durch die Sitzreihe drängte, um es einzufangen.
»Thun Sie dem Aermsten nur nichts zu Leide! Die Künstler haben ja alle ihre Launen!« bat Ballmann die Frau, ihr in das hektische, abgezehrte Gesicht blickend, als diese die Arme nach dem Affen ausstreckte, verstummte aber betroffen, als auch sie die Arme sinken ließ und ihn in großer Verlegenheit anstarrte. Erst als sie, auf die aller Augen jetzt gerichtet waren, ihr Gesicht beschämt abwendend, zugriff und das sich fester an ihn klammernde Thier von ihm lösen wollte, fand er ein Wort.
»Sind Sie's wirklich, so muß ich Sie sprechen ... draußen nach der Vorstellung!« flüsterte er ihr zu.
Sie antwortete nicht und trug unter großem Jubel der Kinder das Thier auf den Armen hinaus. Ballmann's Heiterkeit war gestört. In sich versunken saß er da. Er antwortete auf die Fragen der Kinder nicht, er theilte ihre Freude nicht mehr. Die Gedanken versenkten ihn in tiefe Melancholie.
»Es ist unmöglich, und dennoch ist sie's« murmelte er immer wieder, wandte den Kopf nach der Seite, wo sie hinaus gegangen, suchte hinter den Coulissen und fand seine Stimmung nicht wieder. Er blieb nach Beendigung der Vorstellung mit den Kindern, bis die Letzten hinaus, stand auf dem schmutzigen Vorplatz suchend und wartend wohl eine Viertelstunde, und da erst sah er dasselbe Weib, ein Tuch über dem Kopf, aus einer niederen Fallthür treten. Sie mochte Niemanden mehr hier vermuthen, erschrak, als sie Ballmann erblickte und wollte zurück.
»Ich bitte!« rief er ihr in warmem Ton zu. »Es ist ja nur aus wirklichem Interesse, daß ich ...«
Sie zauderte, wandte aber das halb bedeckte Gesicht ab. Ballmann sah mitleidig auf die armselige Kleidung, auf die magere schmutzige Hand, die das Tuch verschämt über die Stirn zerrte.
»Ich habe keine Zeit; man erwartet mich!« antwortete sie, zur Thür horchend.
»Man wird nichts darin finden können, wenn Sie einem alten Freund ein Wort gönnen.«
»Einem alten Freund!« hörte er ihre heisere, unfreundliche Stimme. »Ich habe keinen Freund mehr.«
»Doch! Und einen, dem es weh thut, Sie hier wiederzufinden.«
»Um so besser hätten Sie gethan, mich nicht zu kennen.«
»Ist Jemand, der das übel deuten könnte ... außer Ihnen selbst?«
Sie schüttelte den Kopf. Ballmann's Ton schien sie zugängiger zu stimmen. Ihre elende Stellung zu beschönigen war unmöglich. Ballmann hatte sie in Ausübung ihres Dienstes gesehen.
»Nein!« antwortete sie, endlich ihm einen halben, mißtrauischen Blick gönnend. »Ich bin die Frau des Souffleurs.«
»Des ... Souffleur's?« Ballmann unterdrückte eine unwillkürliche ironische Anwandlung. Er nahm die Auskunft indeß mit ernster Miene hin.
»Wollen Sie mir nicht Gelegenheit geben, mit Ihnen an irgend einer geeigneteren Stelle ...?«
»Zu was?« fragte sie rauh und unfreundlich.
»Ich könnte Ihnen vielleicht in irgend einer Weise dienstbar sein.«
»Ich danke Ihnen!«
»Es ist nicht ... artig, einen aufrichtigen alten Freund so zurückzuweisen!« Ballmann nahm die Hände der beiden erstaunt zuhörenden Kinder und machte Miene zu gehen.
Sie mochte sich inzwischen besonnen haben, unterdrückte ein schwindsüchtiges Hüsteln und überlegte.
»Der Zug ist Ihnen hier nachtheilig; Sie sind unwohl!«
»O, danach wird hier nicht gefragt! Wenn Sie mich durchaus sprechen wollen, ich wohne hier oben in der Mansarde des Hauses. Fragen Sie nach Herrn Hübener, dem Souffleur ... Gute Nacht!«
Der Husten überfiel sie wieder. Sie wandte ihm den Rücken, trat hinaus und verschwand.
»Also Frau Hübener!« murmelte Ballmann, mit den Kindern in das Dunkel hinausschreitend, um seinen Wagen zu suchen. »Die schöne Frau Eliza Lenning die Frau eines Affen-Souffleurs! ... Schicksal, deine Wege sind wunderbar!« ...
Am nächsten Morgen war er wieder in der Stadt; sein Wagen hielt vor dem kleinen Theater. Er fand ein altes Weib, das den Zuschauerraum kehrte. Herr Hübener werde wohl bei den Affen sein; sie wolle ihn rufen.
Ballmann wartete in dem schmutzigen Vorraum, von dessen Wänden der Mörtel herabgebröckelt. Er wartete eine halbe Stunde, bis endlich ein Mann in einer rothgestrickten Wollenjacke, das Gesicht in einem verwilderten ergrauenden Bart versteckt, heraustrat und ihn ohne jede Höflichkeit nach seinem Begehren fragte. Ballmann fühlte sich etwas verlegen. Er suche eigentlich seine Frau, er habe ihr als früherer Advokat etwas in ihren Familien-Angelegenheiten zu übergeben.
»Etwa Geld? Das passirt uns doch kaum!« lachte Hübener brutal und mit lauter roher Stimme.
»Nun ja!« Ballmann sah mit Erstaunen das sonderbare nervöse Mienenspiel des Mannes, dessen zahnloser Mund einen beleidigenden Alkoholgeruch ausathmete. Er erkannte in ihm das Prototyp eines Meßbuden-Harangueurs, dessen Organ gewohnt, von hoher Tribüne zu der versammelten Bauernschaft zu sprechen.
»Sie sind mir ein seltener Vogel!« rief Hübener mit demselben rohen Lachen, während seine Gesichtsmuskeln in allen Grimassen spielten. »Ich weiß, daß meine Frau einstmals in besseren Verhältnissen gewesen, aber daß da nach langer Zeit noch Geld herausschwitzen sollte, ist mir eine angenehme Ueberraschung. Wie viel ist es? Geben Sie her! Bei uns brennt es immer.«
Ballmann zauderte. Der Mann machte ihm den Eindruck großer Unzuverlässigkeit.
»Ich hätte doch Ihrer Frau vorher noch einige Mittheilungen zu machen,« sagte er ausweichend. »Ich darf es auch nur in ihre eigenen Hände geben.«
»So so! ... Hm, sie macht mir wieder den Streich, krank zu sein! Während ich mich hier mit den Bestien herumquäle, liegt sie auf der faulen Haut und ich habe die ganze Regie auf dem Halse.« Er schnitt wieder Gesichter und gestikulirte hin und her.
»Sie scheinen auch krank oder nervös zu sein,« bemerkte Ballmann, ihn fixirend.
»Wieso? Sehe ich wie ein Kranker aus?«
»Nein, ich meine Ihre Gesichtsmuskeln ...«
Hübener lachte laut auf; die Aussicht auf Geld hatte ihn gut gestimmt.
»Wissen Sie denn nicht, daß ich der Affen-Souffleur bin? Glauben Sie, die Bestien thäten irgend etwas, wenn ich es Ihnen nicht aus dem Souffleur-Kasten vormachte? Warum wären sie sonst Affen!«
Ballmann verstand. Darum dieses Mienenspiel, diese sonderbare Bewegung der Arme und Beine. Heimlich lachend nahm er die Belehrung hin. Ein lautes Geschrei und Zischen unterbrach sie.
»Da haben wir's! Keine Sekunde darf ich den Beestern den Rücken wenden!« rief Hübener verdrossen. »Gehen Sie meinetwegen hinauf zu meiner Frau! Die Alte da« – er zeigte auf diese, die eben mit dem Besen heraustrat – »sie kann Sie hinauf führen. Adieu, mein Herr!«
Hübener verschwand. Ballmann vernahm, wie unter den Thieren plötzliche Ruhe eintrat. Er folgte der Alten über eine Hühnerstiege. Diese klopfte oben an eine schmutzige Thür, deren Farbe kaum noch zu erkennen. Eine matte leidende Stimme antwortete.
»Ich bin's ... Ballmann! Ich bitte, Sie sprechen zu dürfen. Meine Zeit ist gemessen!«
Er erhielt keine Antwort. Er wartete unmuthig eine Viertelstunde. Endlich öffnete sich die Thür einer Knie-Mansarde; ein abgemagertes, schwindsüchtiges Weib in einem braunen zerschlissenen Kleide, das dünne Haar unter einer seit lange nicht gewaschenen Haube, trat ihm entgegen, die eine nur aus Sehnen und Knochen bestehende Hand auf der Thürklinke, während die andere das Kleid über der eingesunkenen Brust zusammen hielt.
»Es wäre nutzlos, Ihnen verheimlichen zu wollen, daß Sie zu keiner Glücklichen kommen,« sagte sie zurücktretend und die erdgrau gefärbten, so fahl umrandeten, eingesunkenen Augen niederschlagend, während Ballmann in tiefem Mitleid erst auf die abgezehrte Gestalt, dann auf die Armuth ihrer Umgebung blickte. »Hoffentlich wird ja dies Elend bald ein Ende haben!« Sie legte die Hand an die farblosen, von einem menschenfeindlichen Zug umgebenen Lippen, um ihr Hüsteln zu beschwichtigen und deutete auf einen Strohstuhl, gleichzeitig mit ihrer Gestalt das elende Lager vor seinen Augen schützend.
Ballmann nahm den Stuhl, sie setzte sich auf den Bettrand.
»Ich gestehe, die Freude, Sie wieder zu sehen, ist nicht ohne trübe Mischung.« Ballmann war durch ihren Anblick so bewegt, daß er nicht aufzublicken wagte. »Lassen Sie mich gleich zu Dem kommen, was mich hierher führt. Ich habe mir ein gegen Sie begangenes Unrecht vorzuwerfen, das ich wieder gut zu machen wünsche.«
Hektische rothe Rosen schlugen plötzlich über den eingesunkenen bleichen Wangen der Unglücklichen auf. Sie glaubte von ihm an Vergangenes gemahnt zu werden. Der Gedanke, daß vor diesem Manne nichts als der Schatten, das Gerippe eines Weibes sitze, das in der Blüthezeit seiner Sinnlichkeit nicht widerstanden, war ihr die tiefste Beschämung. Er errieth dies und lächelte vor sich hin, sich beeilend, verstanden zu werden.
»Dieses Unrecht bestand in Folgendem. Als ich Ihnen damals Mr. Atkinson als den Käufer Ihres Landhauses vorstellte, war ich selbst eigentlich dieser Käufer. Ich zahlte die Kaufsumme, nachdem ich mit Atkinson einen Miethskontrakt auf eine Anzahl von Jahren abgeschlossen; ich schob ihn als Käufer vor. Der Preis war ein mäßiger. Sie drängten ja zu dem Verkauf. Mein Unrecht bestand aber darin, daß ich mir gewisse Prozente für meine Bemühung verrechnete, die mir, dem Selbstkäufer, nicht gebührten; und Ihnen diese zurückzuerstatten, komm ich heute. Sie werden und müssen dieselben von mir annehmen.«
Ballmann zog ein kleines Portefeuille aus der Tasche und legte es neben sie auf das Bett. Sie wies es nicht ab. Die Rosen flammten wieder auf dem kranken Gesicht.
»Und nun gestatten Sie mir eine Frage, zu der ich mich als Freund berechtigt fühle! Sie sind krank! Sie besitzen jetzt die Mittel, sich in einem guten Hospital die Pflege zu bereiten, deren Sie so sehr bedürftig sind?«
Sie schien überrascht. Vor sich hinblickend, die Hände im Schooß, überlegte sie. Sie nickte müde.
»Ich bin frei und könnte thun und lassen, was mir beliebt. Hübener ist nicht mein Mann. Er hat kein Recht, mich zu hindern in dem, was ich für meine Gesundheit thue; aber er ist roh und gemein. Würden Sie mich schützen können, wenn er ...«
»Ich glaube es. Verfügen Sie über mich.«
Sie sann wieder; ihre Knochenhände wanden sich in Schooß um einander.
»So nehmen Sie dies Geld und übergeben Sie es da, wo Sie ... Es wird sicherer dort sein. Besser noch und auch sicherer ist es, wenn wir ihm einen kleinen Theil davon zurücklassen, den er für das Ganze halten mag. Ich war unbesonnen genug ...«
Er zog eine Banknote aus der Tasche und legte sie auf das Bett.
»Wann sind Sie bereit? Ich melde Sie sofort in dem vorzüglichsten Hospital.«
Sie überlegte.
»Heut Abend, ehe die Vorstellung beginnt, wird es am besten gehen. Ich fühle selbst, es ist keine Zeit zu verlieren ... wenn mir überhaupt noch Zeit vergönnt ist.«
Er sah an ihrer Unruhe, daß seine Gegenwart ihr peinlich, nahm seine Karte, schrieb mit Blei einige Worte darauf und reichte sie ihr.
»Ich bitte dies an der bezeichneten Stelle vorzuweisen! Ein Fiaker wird Sie dahin führen.«
Sie ergriff die Karte hastig mit zitternder Hand und schob sie in die Tasche ihres Kleides.
Ballmann hatte eine Frage nach ihrer Tochter auf der Zunge, von der er nichts Gutes gehört. Er wagte die Frage nicht und erhob sich. Der Abschied war ihm peinlich. Der Sonnenstrahl, der eben durch das kleine Fenster herein schien, beleuchtete die Unglückliche in ihrer ganzen körperlichen Elendigkeit. Sie weigerte ihm ihre Hand; sie schaute nicht auf zu ihm, hatte auch kein Wort des Abschieds oder Danks. Die Scham versagte es ihr. Sie geleitete ihn auch nicht zur Thür. Als er hinaus war, brach sie vor dem Lager zusammen und barg ihr Antlitz auf dem Rande desselben.
Ballmann fuhr direct zum Hospital, um der Unglücklichen die Aufnahme zu bereiten.
»Was ist ein Frauenleben, wenn es, sich selbst überlassen, den Compaß verliert, ... eine Nußschale im Ocean!« überlegte unterwegs der alte Sünder, der doch selbst das Seinige gethan, um sie auf den Weg zu stoßen, auf dem selten eine Umkehr.
Er malte sich den letzten Lebenslauf dieses verlorenen Weibes aus und hatte ja nicht viel zu fragen nöthig gehabt. Damals schon, als sie bei der Freisprechung ihres Gatten zugegen, hatte er in Erfahrung gebracht, daß sie, nachdem der fremde Abenteurer, mit dem sie umhergereist, sie um ihr Vermögen gebracht, einem Schauspieler in die Hände gefallen, mit dem sie gekommen, um bei ihrer noch unglücklicheren Mutter vergeblich nach Hülfe zu suchen – mit einem Lumpen, der engagementslos in seinem Größenwahn sie als Olympier behandelte und sie im Stiche ließ, als ihre letzten Hoffnungen auf Geld gescheitert. Daß sie danach selbst auf einer elenden Provinzialbühne als talentloses Mitglied gewirkt, durch Unfähigkeit, Krankheit und Noth physisch und moralisch verkommen und dann verschollen war, während er, Ballmann, der sein Schäfchen in's Trockene gebracht, ihre elende Mutter, die an der Villa hing wie eine Hauskatze, auf seine Kosten hatte begraben lassen, als man sie eines Morgens, in der Winternacht erstarrt, vor seinem Gartenthor gefunden.
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