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Mit dem Aufgang der Sonne zogen die Juden fort. Zum letztenmale buken die Frauen an den alten Feuerstätten die Gerstenkuchen, zum letztenmale schöpften sie aus dem Quell der heidnischen Nymphe. Dann schütteten die Frauen Asche über die verglimmenden Kohlen, und alle traten zusammen, um an diesem Platz zum letztenmale zu dem Gott ihrer Väter zu beten. Zu den Zeiten des heidnischen Kaisers Titus hatte der Herr die ersten ihres Stammes in diese Wildnis geführt – in der Zeit des christlichen Apostelfürsten führte er die letzten davon: aus der Oede in die Oede. Der Name des Herrn sei gelobt!
Jetzt beluden sich die Frauen mit der Habe, die Kinder trieben das wenige Vieh zusammen, die Männer griffen zu den Wanderstäben; darauf ein einstimmiger Abschiedsruf, dem eine tiefe Stille folgte. Und so, stumm, in tiefem Schweigen, zogen sie von dannen. Sie wanderten über die Steppe, der leuchtenden Sabina entgegen. Mose hätte seinen Stab am liebsten von sich geworfen, und wenn Judäa oder Myrrha ihn stützen wollten, so wies er sie leidenschaftlich zurück: was das für ein Führer wäre, der eines Führers bedürfte? Das erste Nachtlager ward zu Füßen des Gebirges in den schönen Wildnissen der Hadriansvilla aufgeschlagen.
Am nächsten Tag drangen sie über Tivoli in die Sabinerberge ein; noch einmal nächteten sie im Thal in der Nähe einer menschlichen Wohnstätte. Es war am Morgen des dritten Wandertages, daß die Ebräer die letzte Hütte, den letzten Oelbaum sahen.
Gehorsam dem Gebot, welches ihnen befahl, nicht in den fruchtbaren Tiefen sich niederzulassen, stiegen die Juden die unwirtlichen Höhen hinauf, ohne Murren ihrem Führer in die Steinwüste des Felsengebirgs folgend: der Herr, welcher die Vögel unter dem Himmel ernährte, würde in der Oede für sein Volk Quellen rieseln lassen und den Seinen die Stätte weisen, wo sie sprechen durften: »Hier laßt uns Hütten bauen!« Wie beschwerlich daher auch der Weg, wie trostlos der Ausblick auf kahle Grate und Gipfel auch war, kräftig schritten die Männer aus, klaglos schleppten die Weiber ihre Bürden weiter, und die laute Wanderlust der Kinder wurde auch in dem schauervollen Schweigen der Bergwildnis nicht still.
Selbst Moses mächtigem Willen war es nicht möglich, seinen kranken Leib über diese jähen Wände und schroffen Hänge zu bringen. Zornig ergab er sich. Voll Grimm ob seiner Schwäche, mußte er es über sich ergehen lassen, getragen zu werden. Sein Weib, das ihm voller Hingabe Dienste leisten wollte, wurde zu den anderen Frauen geschickt; nur Judäa durfte an seiner Seite bleiben. Sie gab mit gedämpfter Stimme die Richtung an; von Zeit zu Zeit fragte er in seiner Ungeduld:
»Sind wir immer noch nicht angelangt?«
Und häufig mußte er die Antwort vernehmen:
»Noch immer nicht.«
Die Sonne neigte sich ihrem Niedergang, als Judäa den Trägern gebot, still zu stehen. Sie deutete über ein weites Steingefilde:
»Dort liegt das Kloster!«
»Wo?«
»In der Tiefe, unterhalb jener Felsen. Dieser Berg ist bereits Klostergut.«
Mose ließ sich niedersetzen und seinen Stab geben. Er gebot den Juden:
»Lagert hier und wartet auf mich.«
Auch Judäa und Myrrha, die ihn begleiten wollten, mußten zurückbleiben:
»Ich will allein gehen!«
Mühsam stieg Mose über Klippen und durch Geröll weiter und gelangte auf eine mit den Trümmern eines Bergsturzes bedeckte Hochebene. Die Felsblöcke hatten sich von den jähen Wänden gelöst, von denen die Halde auf der einen Seite begrenzt und zugleich gegen das Ungestüm der Nordwinde geschützt ward, der auf diesen unwirtlichen Höhen wahrhaft schreckenerregend tosen mußte. Mose gewahrte und bedachte alles. Die gewaltigen Blöcke betrachtend, sagte er sich, daß, wenn an dieser Stätte eine Ansiedlung entstehen sollte, dieselbe vor einem zweiten Bergsturz sicher sein würde. Wie leicht war es hier Häuser zu bauen! Man hatte nur nötig, die Steine aufzuheben.
Er blieb stehen und schaute um sich.
Im Winter mochte hier droben eine eisige Kälte herrschen, desto kühler mußte es im Sommer und wahrhaft herrlich im Frühling und Herbst sein! Vor der Winterkälte konnte man in den Häusern sich schützen; die meisten von denen, welche ihm gefolgt waren, wußten nicht, was es heißt, ein eigenes Dach über ihrem Haupte zu haben, sondern waren ihr Leben lang gleich den Tieren der Wildnis. – Wie wurde es mit dem Holz, dessen sie bedurften? Nirgends sah Mose einen Baum oder Strauch. Wozu waren die Weiber und Kinder da? Diese mochten in die Tiefe bis zum nächsten Buschwald niedersteigen; in einer Stunde konnten sie drunten sein. Dort gab es Holz genug.
Wo aber Weide hernehmen für das Vieh?
Ringsum erblickte Mose nur Fels und Geröll. Indessen tiefer drunten waren die Juden kurze Strecken über kräftigen Graswuchs gewandert und von den Gipfeln zogen sich an einigen Stellen Furchen hernieder, die in frischem Frühlingsgrün leuchteten. Das war etwas für die Kinder! Da konnten sie klettern nach Herzenslust. Was die tiefer gelegenen Weideplätze anbetraf, so mußte um dieser willen freilich beim Kloster angefragt werden. Nun, bitten wollten die flüchtigen Juden. Voller Demut wollten sie die geistlichen Gebieter dieses Felsenreiches angehen, dem vertriebenen Volk in der Oede bleibende Stätte zu gewähren, für ihren Herd Feuer, Weide für ihr Vieh, und Friede für die Menschen. Weniges sollte gefordert, aber um das Wenige gebeten werden, als wären es Reichtümer und Wohlthaten.
Mose selbst wollte den Bittgang thun, und sein Weib sollte ihn begleiten, sonst niemand – niemand sonst sollte sehen, wie Mose Halarki sich vor den Mönchen demütigte.
Noch fehlte zu einer Ansiedlung das Nötigste und Köstlichste: das Wasser.
Denselben Augenblick gewahrte Mose unmittelbar zu seinen Füßen ein natürliches Felsenbecken, bis zum Rande mit einer dunklen, stillen Flut gefüllt. Mit dem ganzen Leibe warf sich Mose vor dieser natürlichen Zisterne nieder und schlürfte in langen, durstigen Zügen von dem Naß, das rein und kühl schmeckte. Eine Weile blieb er noch in heißem Gebete liegen, wundersam erquickt und gestärkt erhob er sich dann. Ihm war, als hätte er die Stimme des Herrn vernommen: »Hier sollt ihr Hütten bauen!«
Und Mose antwortete dem Herrn:
»Ja, hier werden wir Frieden finden!«
Eine große Ruhe zog in seine Seele, welche so lange Zeit im Sturme gebebt hatte; mit verdoppelter Umsicht prüfte er die Stätte, die ihnen, den Geächteten und Ausgestoßenen, der Herr gewiesen. Er ging über die ganze Hochebene hin bis an ihr Ende, wo sie sich gegen eine graue Felsenmasse zu lehnen schien; doch dicht vor ihm öffnete sich eine grausige Tiefe, darüber er auf weit vorspringender Klippe stand.
Der Abgrund begrenzte die eine Seite der Hochebene, auf der andern mäßigte sich allmälich die Steile des Absturzes und das Felsenplateau sank, vielfach zerrissen, als ein langer Wall von Bergtrümmern und Klippen in eine enge Schlucht hinab, an deren Ende hohes graues Gemäuer aufragte: das Kloster!
Mose stand und blickte unverwandt hinunter. – In jenem Hause, das einem Heiligen der christlichen Kirche geweiht war, lebte einer, den er von allen Menschen am meisten geliebt hatte, einer, von dessen edlem Geist er für sein unterdrücktes und verachtetes Volk große Dinge erhofft hatte; als Christ lebte Dahiel Sarfadi unter Christen, dem Heiligen und Wunderthäter, welchem er diente, beinahe gleich geachtet.
Und von jenem Abtrünnigen sollte die Schar der Verbannten die neue Heimat als Gnadengeschenk empfangen, aus jenem Hause des Feindes seines Volkes sollte für Mose und die Seinen der Friede kommen – –
Es dämmerte, als Mose zu dem harrenden Volke zurückkehrte:
»Schlagt das Lager auf! Wasser findet Ihr drunten.«
Und er beschrieb den Frauen den Ort, wo die Zisterne lag. Dann gebot er den Kindern:
»Tummelt euch! Schaut dort droben in den Rinnsalen das Gras. Davon holt für das Vieh. Ich will sehen, wer am schnellsten zurück ist.«
Da liefen sie. Judäa und Myrrha gingen mit den Frauen, die das Wasser holten. Während die Weiber mit den jungen Leuten rüsteten, was für eine nächtliche Lagerung notwendig war, berief Mose die älteren Männer und sprach zu ihnen:
»Groß ist die Gnade des Herrn! Er beschert uns feste Wohnstätten für unsere Leiber und Frieden für unsere Seelen. Hier ist niemand, der uns von diesem Ort vertreiben wird.«
Und da die Männer sich unruhige Blicke zuwarfen und mit Widerreden anheben wollten, setzte Mose ihnen auseinander, wie er für die kleine Schar das Leben in der Wildnis sich dachte – falls ihnen vom Kloster die Stätte überlassen würde. Die meisten sollten Handel treibend das Land durchziehen, die Zurückbleibenden Sorge tragen für den Ort, für Feuerung und Weide; einige der Frauen konnten vielleicht schon im nächsten Jahre am Webstuhl sitzen.
Mose sprach mit so viel Macht und Klarheit, daß die Männer ihm einstimmig beistimmten und beschlossen ward, wenn die Mönche sie bleiben ließen, so wollten sie bleiben.
Aber außer Mose und Judäa wußte noch immer niemand, wer es war, den die vertriebenen Juden flehentlich bitten wollten, ihnen in der Oede eine Wohnstätte zu geben; hatte Mose es doch nicht einmal seinem jungen Weibe anvertraut.
Während Myrrha diese Nacht von wirren Traumbildern gequält ward und mehreremale bangvoll aufseufzte, hatte Mose einen Schlummer, fest und friedlich, wie der Leidende seit Jahren nicht gehabt. Er schlief bis in den hellen Tag hinein, so daß sein Weib ihn wecken mußte; denn die Männer wollten wissen, wer mit ihm zum Kloster hinabsteigen sollte, dort die schwere Bitte zu thun. Mose entschied:
»Niemand von euch geleite mich, ich gehe allein! Da der Weg beschwerlich ist, so mag mein Weib Myrrha mich stützen.«
Diese war sogleich bereit. Judäa wollte mit ihrer Tochter gehen; aber Mose trat dazwischen, sie gebieterisch hinwegwinkend. Ein Blick der Frau warnte ihn:
»Hüte Dich!«
Und Moses Augen erwiderten:
»Wovor soll ich mich hüten? Sie ist eine Jüdin, Deine Tochter und mein Weib.«
Alsbald gingen die beiden. Die Zurückbleibenden standen und schauten ihnen nach, bis die schwankende Gestalt ihres Führers und das liebliche Frauenbild an seiner Seite zwischen den Trümmern des Bergsturzes verschwunden waren.
Die Gatten gingen stumm neben einander her. Bergraben flogen auf, flatterten vor ihnen her und kreisten krächzend über ihren Häuptern, aus den Schluchten stiegen Nebel in die Höhe, dichtes Gewölk umwallte das Alpengefilde. Darüber erglänzte hell der Morgenhimmel.
Mose unterbrach das Schweigen. Der Klang einer Menschenstimme tönte so geisterhaft in dieser leblosen Natur, daß Myrrha zusammenschrak. Mose sagte:
»Traurig ist die Stätte, wo wir unsere Hütten zu bauen hoffen, aber sie ist der rechte Ort für unser Volk; denn öde gleich diesem Felsenlande ist das Leben unseres Volkes. Und nichts Wonniges, nichts, was Freuden bereitet oder lieblich erscheint, ist darinnen. So aber soll es sein, wo wir sind und weilen. Nun bist Du anders geartet wie ich, mit dem Du doch ein Leib und ein Geist bist. Mich freut diese Oede. Es ruht darauf wie der Fluch, den wir auf uns tragen. Du aber weißt wenig davon, denn Deine Seele ist friedlich und lind. Gern weilst Du auf sanften Fluren, brichst Blumen und lauschest den Liedern der Vögel. Du liebst, was schön ist und einen holdseligen Anblick gewährt – wie wirst Du leben können unter diesen schrecklichen Gipfeln, zwischen diesen starren Wänden und Felstrümmern?«
Mose blieb stehen. Er hatte in tiefer Bewegung, mit leiser, weicher Stimme gesprochen; jetzt sah er sein Weib an, beinahe angstvoll, mit leidenschaftlicher Liebe. Myrrhas schöne, stille Augen begegneten den seinen, und ihre Blicke sagten:
»Wo es auch sei, ich werde an Deiner Seite leben, denn ich bin Dein Weib, und ich kenne meine Pflicht – unsere Pflicht kennen wir jüdischen Frauen alle.«
Aber Mose verstand die stumme Sprache nur zum Teil; die Blicke seines Weibes bekundeten ihm nur ihre Unterwerfung unter seinen Willen. Sich zu ihr neigend, flüsterte er ihr zu:
»O Myrrha, weile ich an Deiner Seite, so höre ich über mir die Zedern des Libanon rauschen und vernehme heiligen Gesang aus dem Hohen Liede, und liebliches Saitengetön.«
Und er küßte sie heftig auf den Mund. Myrrha ließ es geschehen, starr vor sich hinblickend, regungslos, einem Steinbilde gleich. Dann gingen sie weiter. Nun wies Mose ihr das Kloster, zu dem sie hinunterstiegen, und sprach:
»Da ich im Eichwald schon das Messer nach ihm zückte, tratest Du zwischen mich und sein Leben. Ich aber sage Dir: für ihn wäre es besser gewesen, Du hättest zu jener Stunde nicht am Rande des Haines gestanden; denn ich gedenke ihn jetzt tödlicher ins Herz zu treffen, als wenn ich ihm damals das scharfe Messer in die Brust gestoßen hätte. Und diesesmal sollen Deine Augen mich nicht daran verhindern.«
»Von wem redest Du?«
»Von einem, der Dir lieb war, denn er war schön anzuschauen und hatte als Knabe eine überaus liebliche Seele.«
»Dahiel!«
»So war sein Name. – Laß uns gehen.«
»Dort hinunter?«
»Er soll in jenem Hause ein großer Heiliger sein; ihn werden wir daher anflehen müssen. Und wir wollen es in aller Demut und Ergebenheit, wie es Leuten unseres Glaubens geziemt, wenn sie von Christen Gunst und Gnade erbitten. Vielleicht, daß wir knieen müssen vor ihm. – So komm!«
Aber Myrrha stand und schaute starren Blicks in die Tiefe. Mose mußte sie hart anrufen. Da belebte sie sich und folgte ihrem Manne, langsam, mit seltsam schleichenden Schritten, als sei sie plötzlich todmüde geworden.
Sie stiegen den wilden Abhang hernieder, ohne ein Wort zu sprechen. Ein lebhafter Wind hatte sich erhoben, der den Nebel aus den Schluchten trieb, so daß die beiden von dem jagenden Gewölk häufig ganz eingehüllt wurden.
Als sie beim Kloster anlangten, war niemand zu erblicken. Aber sie hörten nahes, eintöniges Psalmiren, ließen sich vom Klange leiten und kamen zur Klosterkirche, deren Thüren weit offen standen. Aus dem sonnigen Tag blickten sie tief in die hohen dämmerungsvollen Wölbungen hinein, als sähen sie in eine große Gruft.
Die Mönche begingen ein feierliches Hochamt. Schwarze Behänge umhüllten Säulen und Mauerwerk; auf hohem Postament war ein Katafalk errichtet, dessen düstere Pracht der Schein zahlreicher Kerzen bestrahlte, und den Weihrauchwolken umbrauten. Flor verschleierte die höchsten Heiligtümer auf dem Altar, den Chor füllten die Mönche; und auf dem Stuhl des Abtes saß, mit lauter, rauher Stimme die Totengebete lesend, ein Mann, so bleichen Gesichts, die Züge so starr, daß er für die prunkvoll aufgeputzte Leiche des Gestorbenen hätte gelten können, dem diese Totenklage und dieser Grabesgang galten.
»Siehst Du ihn?« raunte Mose seinem Weibe zu. »Er ist ihr Hohepriester geworden! Freue Dich mit mir; je gewaltiger seine Macht, um so herrlicher ist unsere Rache. Ich wollte, er hätte eine dreifache Krone auf dem Haupt, und wir müßten seine Füße küssen. Aber auch so wollen wir uns vor ihm bis zum Boden neigen.«
Er stand und sah nichts mehr als das Gesicht seines Todfeinds, vor dem er sich demütigen wollte wie vor seinem Herrn und Gott. Auch Myrrha blickte unverwandt hin. Zuerst voll Entsetzen, beinahe voll Grauen; dann füllten sich ihre Augen mit Thränen, die ihr den Anblick des Freundes ihrer Kindheit verdunkelten und langsam über ihre Wangen niederrollten.
Nun war die Feierlichkeit zu Ende, es ward still. Die Mönche erhoben sich von ihren Sitzen und entfernten sich, einer nach dem andern. Nur der Abt blieb zurück.
Mose und Myrrha betraten die Kirche: der Abt gewahrte sie nicht.
Er war aufgestanden, hatte sich vor dem Katafalk niedergeworfen, und schien gänzlich in inbrünstiges Gebet versunken. Aber kaum glaubte er sich allein, als er aufsprang, von dem Katafalk zurückwich und dastand, mit geballten Händen, verzerrten Zügen, in den Augen ein Leuchten wie von ausbrechendem Wahnsinn.
Es war in diesem Augenblick, daß er des Juden und seines Weibes sichtbar wurde; er stieß einen gellenden Schrei aus, taumelte, drohte niederzustürzen. Doch er bezwang sich, stand und blickte die beiden an, als sähe er Geister. Nach einer Weile versuchte er zu reden, vermochte jedoch kein Wort über die Lippen zu bringen.
Mit unermeßlichem Triumph schaute der Jude auf den vornehmen christlichen Priester. Gleich darauf sank er gleichsam in sich zusammen, seine Züge nahmen den Ausdruck tiefster Demut an; sich bis zur Erde neigend, sagte er mit leiser, ängstlicher Stimme:
»Bischöfliche Gnaden bitten wir um Vergebung. Obgleich wir räudige Juden sind, traten wir, ich und mein Weib, in dieses christliche Heiligtum, und wir haben Bischöfliche Gnaden erschreckt durch unsern unchristlichen Anblick, da Bischöfliche Gnaden einsam und inbrünstig mit Gott dem Herrn sprachen und beten wollten für die Seele dieses Gestorbenen. Ich und mein Weib, wir bitten Bischöfliche Gnaden um Vergebung.«
Der Jude schwieg, neigte sich wiederum tief vor dem Abt und harrte gebeugten Rückens einer Antwort. Des Abtes Lippen bewegten sich, aber es kam kein Ton aus seinem Munde; dennoch hatte Mose seinen Namen flüstern hören.
Er that jedoch, als sähe er den Abt zum erstenmal in seinem Leben. Eine Weile wartete er auf die Anrede des heiligen Mannes; dann begann er von neuem, noch demütiger und angstvoller:
»Ich bitte Bischöfliche Gnaden, mir und diesem Weibe zu vergeben. In Rom, in der jüdischen Stadt, steht ein christliches Heiligtum, welches die Kirche zum heiligen Engel genannt wird; in diese werden die Ebräer jeden ersten Sabbath eines Monats von den Christen getrieben: so und so viele Männer, Frauen und Kinder. Und ein christlicher Priester predigt dem Volke der räudigen und stinkenden Juden das Evangelium, auf daß jene Gottlosen und Verfluchten sich bekehren vom scheußlichen Heidentum und selige Christen werden. Darum vergebt mir und diesem Weibe, die wir freiwillig in dieses Heiligtum traten, um Bischöfliche Gnaden in unserer Not anzugehen mit lautem Flehen und von Bischöflicher Gnaden in unserer Not Worte zu hören der Milde und Weisheit.«
Und er schwieg wiederum, wiederum lange Zeit auf Antwort wartend. Endlich kam es stammelnd, mit heiserem Ton aus dem Munde des Abtes:
»Was willst Du von mir erbitten?«
Dabei sah er zum erstenmale das blasse Weib an, welches hinter dem Manne stand und aus starren, geisterhaften Augen auf den Priester blickte.
»Wenn Bischöfliche Gnaden –«
Ohne seine Blicke von dem Weibe abzuwenden, sagte der Abt, die Worte mühsam, wie mit gelähmter Zunge hervorstoßend:
»Gib mir nicht einen Namen, der mir nicht gebührt, und sprich nicht so demütig zu mir: ich bin nur ein armseliger Priester.«
Aber er, der sich so nannte, stand da, umleuchtet von dem Goldglanz seines Ornats. Der Jude schien denn auch von der Majestät dieses »armseligen Priesters« völlig überwältigt zu sein. Voll knechtischer Unterwürfigkeit rief er in pathetischem Ton:
»Der Herr möge Eurem Haupte Gnade schenken, daß es sich erhebe über alle Häupter der Christenheit, und ausgehe von diesem Haupte ein Glanz wie von der Sonne. – Da ich an diesem heiligen Orte, vor diesen heiligen Ohren sprechen darf, so vernehmt: Ich bin der Jude Mose Halarki, ein armer, vom Herrn geschlagener Mann, und diese Frau ist mein Weib Myrrha, eine Tochter der Ebräerin Judäa, und wir gehören zu dem Stamm der Juden, welchen die Römer die Juden vom Thale der Egeria nennen –«
Der Redner machte eine Pause und schielte in die Höhe nach dem Antlitz des Abts, der gerade vor sich hinblickte. Jetzt reckte dieser den Arm mit großer Anstrengung, als höbe er eine Last und winkte dem Juden, weiter zu reden. Gleich darauf sank sein Arm schlaff an seinem Körper herab.
Der Jude sprach weiter:
»Nun sind wir aber vertrieben worden, wir und unsere Weiber und unsere Kinder –«
Da fuhr der Abt auf:
»Vertrieben – Wer vertrieb euch?«
Vor Demut sich beinahe krümmend, erwiderte der Jude:
»Der Papst ließ die räudigen Juden vertreiben, viele aus dem römischen Ghetto und alle Bewohner des Thales der Egeria.«
Der Abt lallte:
»Warum ließ der Papst euch vertreiben? Was habt ihr verbrochen, daß er euch vertreiben ließ? Rede, Jude!«
»In Rom herrscht die Pest. Die Römer schreien: ›Das haben uns die Juden angethan!‹«
Mose hörte des Priesters keuchenden Atem und hielt den seinen an. Kaum, daß er sich bezwingen konnte, nicht grell aufzulachen.
Langsam sprach der Abt:
»Und der Papst meint auch, was die Römer meinen?«
»Meint es auch.«
Ein langes Schweigen entstand. Des Weibes Blicke bohrten sich in die Augen des Abtes, der ein Stöhnen erstickte. Endlich fuhr Mose fort:
»Und so wurden die Juden vertrieben. Dreißig Meilen weit sollen sie wandern, in keinem Thale dürfen sie Hütten bauen. Der Herr, unser Gott, aber lenkte unsere Schritte diesen Bergen zu und gebot uns, in diese Wildnis zu ziehen. Und nun sind wir da, ich und mein Weib, und die anderen unseres Volkes. Sie rasten droben in der Oede, ihrer sechzig. Ich und mein Weib aber, wir stiegen hernieder, Euch anzuflehen, uns in der Oede rasten zu lassen; denn dort oben ist die Stätte, wo der Herr uns befiehlt, Hütten zu bauen. Gewährt uns Zuflucht und spendet uns Frieden.«
Und der Jude warf sich dem Abte zu Füßen.
Dieser ließ ihn liegen. Er sah ihn kaum; er sah nichts als das leichenblasse, wunderholde Antlitz des Weibes, ihre in Todesangst auf ihn gerichteten flehenden Blicke, ihre beschwörend erhobenen Hände: »Thu's nicht! Weise uns fort! Um Gottes Barmherzigkeit willen, laß uns nicht bleiben, wo Du bist! Hörst Du mich? Dahiel! Dahiel!«
Da er sie nicht zu verstehen schien, flüsterte sie ihm zu:
»Nein! Nein! Nein!«
Endlich kam Leben in des Priesters Gestalt. Er trat einen Schritt zurück. Den knieenden Mose hieß er nicht aufstehen; er wendete sich ab und sprach:
»Wartet auf mich!«
Er verließ durch den Chor die Kirche. Als die Pforte hinter dem Abt sich schloß, erhob sich Mose von den Knieen. Mit ersticktem satanischem Frohlocken flüsterte er:
»Niedergefallen wäre er vor uns, wenn wir ihn nur hätten kennen wollen. Aber daß ich zu ihm sprach, als hätten meine Augen ihn niemals gesehen, das hat seine Seele zermalmt. Laß uns preisen den Herrn, denn er ist ein gewaltiger und herrlicher Gott, der seine Feinde schlägt mit der Schärfe seines Zorns.«
Er wendete sich zu Myrrha:
»Du bist doch auch vor ihm auf den Knieen gelegen? Ich sah mich nicht um nach Dir. – Was machst Du für ein Gesicht? Du sollst frohlocken und jubeln; denn wir haben ihm, der unsere Herzen gleich wie mit Messern getroffen hat, das Herz zermalmt.«
Mit zuckendem Munde sagte Myrrha:
»Er wird uns nicht bleiben lassen.«
Mose murmelte:
»Er wird, er wird! Von dem tiefen Sturz, den er vor unseren Augen gethan, muß er sich wieder erheben vor unseren Augen; er wird uns zeigen, daß sein die Macht ist; er wird uns bleiben lassen.«
Da warf sich Myrrha auf die Kniee, streckte mit einer Geberde des Jammers beide Arme aus und that einen Laut, der wie ein Angstschrei klang:
»Was thust Du?« rief Mose sie an.
»Den Himmel rufe ich an, Erbarmen zu haben daß wir von neuem wandern müssen, von neuem suchen müssen nach einer Stätte, wo wir in Frieden rasten können. Denn Fluch liegt auf diesem Ort und Fluch wird für uns davon ausgehen.«
Mose antwortete nicht; sein Gesicht war fahl geworden, seine Hände ballten sich wie im Krampfe. Schwankenden Schrittes trat er auf sein Weib zu und spähte mit einem schrecklichen Blick in ihr aufgehobenes Gesicht. Eine lange Weile blieben sie so. Plötzlich warf sich Mose auf sie, drückte ihr Haupt in den Nacken und raunte mit röchelndem Atem:
»Du bist mein Weib und –«
Aber die Stimme versagte ihm. Myrrha aber sprach:
»Und ich liebe diesen Christen. – Töte mich!«
Zuerst war es, als ob er es thun wollte: sie in dem Heiligtum der Christen mit seinen Händen erwürgen! Dann ließ er ab von ihr und sagte langsam und laut:
»Leben bleiben magst Du, mein Weib bist Du länger nicht mehr!«
Sie regte sich nicht. Stumm und ergeben empfing sie ihr Urteil: leben zu bleiben.
Da hörten sie Stimmengemurmel. Mose gebot der Knieenden:
»Steh auf!« Und als sie in ihrer demütigen Stellung verharrte, wild und drohend: »Du sollst nicht knieen vor ihm!« Er riß sie in die Höhe. Denselben Augenblick öffnete sich die Pforte des Chors.
Den Abt an der Spitze kamen die Mönche. Einige murrten laut, andere zeigten düstere Mienen und warfen dem Juden und seinem Weibe feindselige Blicke zu; aber auf dem blassen Antlitz des Abtes lag der Ausdruck eines unbeugsamen Entschlusses. Als die Erregung der Mönche auch in der Kirche sich nicht verringerte, herrschte er ihnen zu:
»Ihr schweigt! Ich will es so.«
Es ward still. Langsam schritt der Abt vor und wandte sich zu den Juden:
»Ihr mögt bleiben; ich schütze euch. – Jetzt geht!«
Dankend warf sich Mose vor dem Abt nieder. Aber er sprach nichts. Dann erhob er sich und verließ die Kirche, ohne sich umzusehen, ob sein Weib ihm folgte. Auch draußen kümmerte er sich nicht um sie, sondern setzte seinen Weg allein fort. Als das Kloster hinter ihm lag, strauchelte er plötzlich und wäre hingefallen, wenn Myrrhas Arme ihn nicht gehalten hätten. Er wollte sich ihr entreißen und schlug sie, da sie ihn aufrecht hielt, mit der geballten Faust ins Gesicht, so daß sie mit einem leisen Wehruf vor ihm niedersank.
Festen Ganges setzte Mose seinen beschwerlichen Weg fort.