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Wir können im folgenden von der neueren Philosophie des Sozialismus nur eine ganz kurze Skizze geben und müssen alle näher Interessierten auf die in unserer größeren Geschichte der Philosophie zu Band 2, § 74 angegebene Literatur sowie auf die Sonderdarstellung verweisen, die wir im Laufe dieses Jahres in einem Bändchen von Teubners »Aus Natur und Geisteswelt« zu geben gedenken. Auch müssen wir uns, schon des Raumes wegen, streng auf das Philosophische beschränken und, so verlockend es auch wäre, das politische, volkswirtschaftliche und biographische Moment ausscheiden.
In einem seiner ersten glänzenden journalistischen Artikel in der »Rheinischen Zeitung« vom August 1842 schreibt der vierundzwanzigjährige Marx von der Philosophie: jede »wahre Philosophie« sei die »Quintessenz ihrer Zeit«, drücke also deren wahres Wesen aus, und es müsse »die Zeit kommen, wo die Philosophie nicht nur innerlich durch ihren Gehalt, sondern auch äußerlich durch ihre Erscheinung mit der wirklichen Welt ihrer Zeit in Berührung und Wechselwirkung« trete, mit einem Wort »die Philosophie der gegenwärtigen Welt« werde. Auf den Sozialismus angewandt bedeutet das: daß eine eigentliche Philosophie des Sozialismus erst auftauchen konnte, sobald der Sozialismus tatsächlich in die Welt der Erscheinung getreten war. Kann doch auch eine Philosophie der Mathematik, der Naturwissenschaft, der Technik, der Kunst, der Religion usw. nicht eher entstehen, als Mathematik, Naturwissenschaft, Technik, Kunst, Religion usw. wirklich vorhanden sind. Vorher wenigstens konnte eine Philosophie des Sozialismus nur eine solche des Utopismus sein, wie wir sie im Altertum in dem Halbkommunismus der platonischen Republik, zu Beginn der neueren Zeit in den Utopien der Thomas Morus, Campanella, Morelly und anderer kennengelernt haben. Es sind in den Köpfen wohlmeinender Idealisten ausgesponnene »Staatsprodukte«, die, um mit einer Stelle aus Kants »Streit der Fakultäten« zu reden, wohl »auf die Bühne gebracht«, aber weder aus dem tatsächlichen Leben gezogen noch auch je versucht worden, sondern aus bloßer Vernunft ( ratio, daher »rationaler« Sozialismus) ersonnen, ebendarum aber »süße Träume« geblieben sind.
Dahin gehört in Deutschland auch noch Fichtes »Geschlossener Handelsstaat« von 1800 (S. 230), oder noch ein halbes Jahrhundert später das wenigstens halbsozialistische »System der Weltökonomie« (1850 bis 1859) eines heute fast gänzlich vergessenen kurhessischen Stubengelehrten namens Winkelblech, der unter dem Namen Karl Marlo schrieb. Dahin gehören aber auch, obwohl sie den tatsächlichen Verhältnissen des beginnenden Maschinenzeitalters zum Teil schon näherstehen, die sogenannten »großen« Utopisten, die das phantasiereiche Frankreich in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts hervorbrachte: Saint-Simon, Fourier und Proudhon.
Von ihnen will der erste, Graf Henri v. Saint-Simon (1760 bis 1825) am Schlusse seines abenteuerlichen Lebens eine neue Gesellschaft begründen, die rein auf der Organisation der Arbeit und zugleich auf den Grundsätzen eines »Neuen Christentums« der reinen Nächstenliebe beruht. Allen Menschen soll – ein Gedanke, der übrigens schon bei Kant sich findet – die freie Entwicklung aller ihrer Anlagen gewährleistet werden. Die politische Regierung über Menschen soll sich in eine bloße Leitung wirtschaftlicher Schaffensprozesse verwandeln, die dem Grundsatz folgt: Jedem die Arbeit nach seiner Fähigkeit, jeder Fähigkeit der Lohn nach ihrer Arbeit!
Ein anderer französischer Sozialist, der sein Leben lang ein armer Kommis gebliebene Charles Fourier (1772 bis 1837), baut sein kommunistisches Ideal, das er in großen »Phalansterien« (Riesengebäuden für 1800 Menschen) verwirklicht sieht, auf der vernünftigen Befriedigung aller menschlichen Triebe und Neigungen auf. Jeder hat das Recht – und daneben auch die Pflicht – auf eine seiner Neigung entsprechende, ebendadurch für ihn zum Genuß werdende Tätigkeit. Die Gleichgearteten werden sich, dem Prinzip der »passionellen Attraktion« (leidenschaftlicher Anziehung) gemäß, nach Fouriers optimistischer Ansicht schon von selbst zusammentun, der Ertrag wird nach der jedesmaligen Aufwendung von Kapital, Fähigkeit und Arbeit verteilt werden. Der Aufbau seiner Zukunftsordnung enthält außerordentlich viel Phantastisches; wie denn auch ihr Erfinder bis zu seinem Tode vergebens jeden Tag auf den Millionär wartete, der ihm die Mittel zur Errichtung seines ersten Phalanstères vorschießen sollte.
Nicht viel besser erging es dem Schriftsetzer Pierre Joseph Proudhon (1809 bis 1865) aus Besançon, der in seiner ersten Schrift (1840) auf die Frage: »Was ist das Eigentum?« die berüchtigt gewordene, übrigens schon sechs Jahrzehnte vorher von Brissot de Varville gegebene Antwort gab: »Das Eigentum ist Diebstahl.« Womit er jedoch – und in diesem Falle hat er von einem ideal-sittlichen Standpunkt recht – bloß das durch Ausbeutung fremder Arbeit gewonnene Eigentum meint. Proudhon ist im Grunde gar kein Anhänger des Kommunismus, der seiner Meinung nach die Starken ebenso ungerecht zugunsten der Schwachen ausbeutet, wie das System des Privateigentums die Schwachen zugunsten der Starken; beides widerspreche den Grundsätzen der Gleichheit und Gerechtigkeit. So nimmt er eine Art Mittelstellung zwischen Sozialismus und Individualismus ein. Er will auch nicht die privatkapitalistische Wirtschaftsweise überhaupt, sondern bloß ihre Hauptschäden, Geld und Zins, durch ein von ihm erdachtes, auf dem Gegenseitigkeitsprinzip aufgebautes Kreditsystem beseitigen. Alle Regierung ist überflüssig und vom Übel: »die Mutter der Ordnung ist Freiheit.« Insofern kann man diesen Sozialisten auch zu den äußersten Liberalen, das heißt den Anarchisten rechnen. Sein auf falsch verstandenen Hegelschen Gedanken beruhendes »System der wirtschaftlichen Widersprüche oder Philosophie des Elends« (1846), das die Stufenfolge der wirtschaftlichen Ideen unmittelbar aus der Vernunft ableiten wollte, wurde in Marxens »Elend der Philosophie« (1847) scharf bekämpft. Übrigens zählt Proudhon heute noch in seinem Vaterland manche Anhänger.
Praktischer ging, der Eigenart seines Stammes entsprechend, der Engländer Richard Owen (1771 bis 1858) vor. Als der menschenfreundliche Fabrikbesitzer sah, daß alle Wohlfahrtseinrichtungen der von ihm geleiteten Baumwollspinnerei nicht genügten, um seine Arbeiter zu freier und vernunftgemäßer Entwicklung ihrer geistigen und Charakteranlagen zu führen, suchte er zunächst, ähnlich Fichte, in seiner »Neuen Gesellschaftsansicht« (1813) das Heil in einer gründlichen Verbesserung der Jugenderziehung, dann aber in seinem »Buch von der neuen sittlichen Welt« (1836 bis 1849) in einer gänzlich veränderten, nämlich sozialisierten Wirtschaftsweise. An Stelle der einander bekämpfenden und vernichtenden Privatbetriebe soll eine genossenschaftliche Produktion treten, welche sodann die von ihr geschaffenen Güter nach dem Bedürfnis verteilt. Aus dieser der »natürlichen« Ordnung der Dinge entsprechenden Umgebung (»Milieu«) werden nach Owens Ansicht von selbst auch gute Menschen hervorgehen. Von den Vertretern des Privateigentums, des Kapitalismus und – der Kirche aufs grimmigste angefeindet, hat der sozialistische Fabrikant auf dem Gebiet des Konsum- wie Produktivgenossenschaftswesens in der Tat bahnbrechend gewirkt, während seine praktischen kommunistischen Versuche in Nordamerika mißglückten.
Auch die »Garantien der Harmonie und Freiheit« (1842) und das »Evangelium des armen Sünders«, das der deutsche Schneidergeselle Wilhelm Weitling, ein Vertreter des durch den französischen Utopismus beeinflußten deutschen Handwerksburschen-Kommunismus der vierziger Jahre, schrieb, sind noch durchaus utopistischer Art.
Alle die im vorigen genannten Denker mit ihren in den westeuropäischen Ländern allmählich sich sammelnden Anhängern spinnen das neue soziale Ideal im wesentlichen aus ihrem Kopfe heraus und verkennen mehr oder weniger die wirklichen Mächte des Wirtschaftslebens. Sie waren Utopisten, wie Friedrich Engels in seinem »Anti-Dühring« (S. 295) sagt, »weil sie nichts anderes sein konnten zu einer Zeit, wo die kapitalistische Produktionsweise noch so wenig entwickelt war. Sie waren genötigt, sich die Elemente einer neuen Gesellschaft aus dem Kopfe zu konstruieren, weil diese Elemente in der alten Gesellschaft selbst noch nicht allgemein sichtbar hervortraten; sie waren für die Grundzüge ihres Neubaus beschränkt auf den Appell an die Vernunft, weil sie eben noch nicht an die gleichzeitige Geschichte appellieren konnten.«
Diesem rein aus der Vernunft entwickelten, daher von neueren Gelehrten wohl auch als »rational« bezeichneten Sozialismus tritt nun in Marx und Engels zum ersten Male eine ganz andersgeartete Richtung gegenüber.
der Sohn des »Advokatanwalts« Heinrich Marx aus Trier, gehört nicht bloß in eine Geschichte der Politik und der Volkswirtschaft, sondern auch in eine solche der Philosophie. Schon als neunzehnjähriger Berliner Student entwirft er zwei philosophische Systeme, ein rechtsphilosophisches und ein metaphysisches; freilich nur, um sie kurz darauf wieder zu verwerfen und sich der damals noch fast allgemein die Geister beherrschenden Hegelschen Philosophie, in ihrer »junghegelschen« (S. 255 f.), von ihm und seinen radikalen Freunden Bruno Bauer und anderen kühn als »Philosophie des Selbstbewußtseins« bezeichneten Form, in die Arme zu werfen. Auch das Vorwort zu seiner April 1841 in Jena eingereichten philosophischen Doktorarbeit über den Unterschied von Demokrits und Epikurs Naturphilosophie bekennt sich noch zu einem »überzeugungstiefen, sonnenhellen Idealismus«. Desgleichen sind die größeren Aufsätze und Schriften seiner nächsten Journalistenjahre (1842 bis 1847) noch meist philosophisch gehalten.
Allein es ist eine andere Philosophie als die Meister Hegels, die er jetzt verkündet. Hegels und der Hegelianer Kritik des »Himmels« hat sich für ihn in eine solche der Erde, die der Religion in die des Rechts, die der Theologie in die der Politik verwandelt. Und vor allem gilt es – zu handeln! »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert (ausgelegt),« erklärt er 1845 in den »Thesen über Feuerbach«; »es kommt aber darauf an, sie zu verändern.« Es muß zu einer Verständigung der denkenden und der leidenden Menschheit kommen. Der »Kopf« der kommenden »Emanzipation« (Befreiung) des Menschen muß die Philosophie, ihr »Herz« das Proletariat sein. Marx ist der erste, der dessen weltgeschichtlichen Beruf erkannt hat. Sein Sozialismus ist historisch geworden.
Trotzdem bedarf das Proletariat zu seiner Selbstaufhebung eben der Philosophie. Aber sie muß auf den gesunden Boden der Wirklichkeit, vom »Kopf«, aus dem Hegels »Idealismus« die ganze Welt abgeleitet hat, auf die Füße gestellt werden. Marx behält Hegels »dialektische Methode«, das heißt (vergl. S. 239) seinen Entwicklungsgedanken bei, aber nur, um ihn auf die geschichtliche Wirklichkeit anzuwenden. Auch das soziale Sein ist nicht starr und unbewegt, sondern in Wahrheit ein stetes Werden, in beständigem Fluß begriffen, und zwar in Gegensätzen sich bewegend, aus denen neue Einheiten sich bilden. Die im letzten Grunde es treibenden Kräfte aber, die hinter den scheinbar bloß ideellen oder persönlichen Beweggründen der geschichtlich handelnden Menschen und erst recht der Massen stehen, sind wirtschaftlicher Art. So lehrt die neue, im Gegensatz zu Hegels rein idealistischer Geschichtsbetrachtung sich »materialistisch« nennende, richtiger ökonomische Geschichtsauffassung, die in den Marx-Engelsschen Schriften der vierziger Jahre immer deutlicher sich abzeichnet und zu unverhülltem Ausdruck in dem »Kommunistischen Manifest« von Anfang 1848 kommt, das mit dem welthistorischen Aufruf schließt: »Proletarier aller Länder, vereinigt euch!«
Ihre klassische Formulierung erhält sie gleichwohl erst in dem in der Stille des Londoner Exils entstandenen Vorläufer des »Kapital«, der 1859 erschienenen »Kritik der politischen Ökonomie«. Danach bildet der wirtschaftliche Aufbau der Gesellschaft, in die der einzelne ohne sein Zutun hineingeboren wird, das tatsächliche Fundament, auf dem der ganze »ideologische« Überbau, das heißt zunächst die jeweilig durch die materielle Produktionsweise bedingten politischen und rechtlichen, dann aber auch die religiösen, künstlerischen und philosophischen Formen eines Zeitalters sich erheben. »Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.« So lehrt in gewollter Einseitigkeit der neue, historische »Materialismus« (eigentlich nur Realismus, das heißt Wirklichkeitslehre).
Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung nun geraten die ökonomischen Produktiv-, das heißt Schaffenskräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den bisherigen Schaffens- und Eigentumsverhältnissen, die sich überlebt haben, zu Fesseln jener Kräfte geworden sind. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolutionen ein, die je nachdem kürzer oder länger dauert und mit der Zeit eine völlige Änderung der bisher veralteten Produktionsweise und in der Folge auch des gesamten ideologischen »Überbaus« bewirkt. So folgten im Laufe der Geschichte aufeinander: die Barbarei der asiatischen Länder, das Sklaventum der Antike, die Leibeigenschaft des Mittelalters, die Lohnarbeit der Neuzeit mit ihren jeweiligen politischen und Rechts-, sittlichen und religiösen Anschauungen; wobei jede Gesellschaftsordnung die Keime der nächstfolgenden so lange in ihrem Schoße trug, bis diese zur Sprengung der voraufgehenden imstande war.
Mit der modern-bürgerlichen oder kapitalistischen Ordnung schließt die » Vorgeschichte« der menschlichen Gesellschaft ab. Allein innerhalb ihrer hat sich bereits ebenfalls ein Widerspruch entwickelt: zwischen der veränderten und sich ihrer Natur nach immer weiter ausdehnenden sozialisierten Wirtschaftsweise in Fabriken, Großhandel, Großgrundbesitz usw. auf der einen, der veralteten Rechtsordnung des Privateigentums an eben diesen Produktionsmitteln auf der anderen Seite. Dieser Widerspruch, der in verderblichen Handels- und Industriekrisen von Zeit zu Zeit zum Ausdruck gelangt, findet nun dadurch seine endgültige Lösung, daß die veraltete und überlebte Form dem lebendigen neuen Inhalt weicht. »Das Kapitalmonopol« ist, wie Marx gegen Schluß des ersten Bandes seines berühmten volkswirtschaftlichen Werkes »Das Kapital« (1867) ausführt, »zur Fessel der Produktionsweise geworden, die mit und unter ihm aufgeblüht ist. Die Konzentration der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen schließlich einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlägt. Die Expropriateure (Enteigner) werden expropriiert (enteignet)«. Die heutige planlose Anarchie des Wirtschaftslebens muß so, nach Marx' Meinung von selbst, umschlagen in ein planmäßig organisiertes, zentral geleitetes Zusammenarbeiten, dessen erste Voraussetzung die »Vergesellschaftung« (Sozialisierung) der Produktionsmittel, also des Grund und Bodens, der Rohstoffe, der Maschinen, der Verkehrs- und Bildungsmittel usw. ist: mit anderen Worten in den Sozialismus. Das auf eigene Arbeit gegründete Privateigentum wird durch diese, um einen von Hegel übernommenen Marxschen Ausdruck zu gebrauchen, »Negation der Negation« wiederhergestellt, aber jetzt auf Grund »der Kooperation freier Arbeiter und ihres Gemeineigentums an der Erde aus den durch die Arbeit selbst produzierten Produktionsmitteln«. Aufgabe des heutigen Sozialisten ist es nach Marx nicht, den Organisationsplan eines zu schaffenden vernunftgemäßen »Zukunftsstaats«, wie es die Utopisten taten, aus ihrem Kopfe herauszuarbeiten, sondern sich und seine Genossen auf die von selbst eintretende Umwälzung vorzubereiten, höchstenfalls ihr »Geburtshelfer« zu werden.
Das ist der Inhalt von Marx' historischem, von ihm und seinen Anhängern auch als »wissenschaftlich« bezeichneten Sozialismus, gegenüber dem bisherigen rationalen oder utopischen. Auf die zahlreichen vielumstrittenen volkswirtschaftlichen Einzellehren, die er in seinem »Kapital«, von dem sein Freund Engels den zweiten Band 1885, den dritten 1894 aus dem Nachlaß herausgab, mit dieser seiner geschichtsphilosophischen Hauptlehre in Verbindung gebracht hat, wie die Mehrwerts-, die Krisen-, die Zusammenbruchs-, die Verelendungs- und andere Theorien, können wir hier nicht eingehen, da sie in das Gebiet der Nationalökonomie gehören. Dagegen müssen wir des Ausbaus seiner Geschichtsphilosophie durch seinen nahen Freund F. Engels gedenken.
hat sich im Gegensatz zu Marx, der von vornherein in einem freigesinnten Elternhaus aufwuchs, in inneren Kämpfen von den konfessionellen und politischen Vorurteilen seiner Familie, eines Barmer Fabrikantenhauses, losreißen müssen. Auch er geht von der Philosophie aus. Die erste Schrift des Zweiundzwanzigjährigen war, wie wir (S. 236) sahen, gegen den alternden Schelling, gerichtet; er verkehrt mit den Berliner »Freien«, wird dann zeitweise begeisterter Feuerbachianer. Durch seine praktischen Erfahrungen in England Sozialist und Marxens Freund geworden, verfaßt er dann gemeinsam mit diesem die gegen die Gebrüder Bauer gerichtete »Heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik«, die nicht zur Veröffentlichung gelangte »Deutsche Ideologie« und vor allem das »Kommunistische Manifest«, das für beide den endgültigen Übergang von der »philosophisch-schöngeistigen« zur »ökonomisch-historischen« Begründung ihres Sozialismus, den »Schritt von der Utopie zur Wissenschaft« bedeutet.
Engels hat bescheiden stets »den größten Teil der leitenden Grundgedanken, besonders auf ökonomischem und geschichtlichem Gebiet, und speziell ihre schließliche scharfe Fassung« dem Freunde zugeschrieben. Aber er selbst hat dann doch den Kerngedanken des Manifestes auf eine sehr klare Formel gebracht, die wir als Ergänzung zu dem, was wir bei Marx gesagt, hier hinzufügen möchten: »Die ökonomische Produktion und die aus ihr mit Notwendigkeit folgende gesellschaftliche Gliederung einer jeden Geschichtsepoche bildet die Grundlage für die politische und intellektuelle Geschichte dieser Epoche. Demgemäß ist seit Auflösung des uralten Gemeinbesitzes an Grund und Boden die ganze Geschichte« – das Manifest selbst sagt bestimmter: die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft – »eine Geschichte von Klassenkämpfen gewesen, Kämpfen zwischen ausgebeuteten und ausbeutenden, beherrschten und herrschenden Klassen auf verschiedenen Stufen der Entwicklung. Dieser Kampf aber hat jetzt eine Stufe erreicht, wo die ausgebeutete und unterdrückte Klasse (das Proletariat) sich nicht mehr von der sie ausbeutenden und unterdrückenden Klasse (der Bourgeoisie) befreien kann, ohne zugleich die ganze Gesellschaft für immer von Ausbeutung, Unterdrückung und Klassenkämpfen zu befreien.«
Während nun Marx mit der Ausarbeitung seines großen nationalökonomischen Werkes beschäftigt war und zu den von ihm beabsichtigten philosophischen Schriften nicht mehr gekommen ist, überließ er den philosophischen und naturwissenschaftlichen Ausbau, namentlich aber die Popularisierung des »historischen Materialismus«, dem Freunde Engels, der freilich kein tiefer und schöpferischer, aber ein klarer Denker war. Diese Popularisierung hat dann Engels besonders in seiner Streitschrift gegen den Berliner Dozenten Eugen Dühring, gewöhnlich kurz als »Anti-Dühring« (1878) bezeichnet, und später (1888) in der kleinen, aber sehr anschaulichen Schrift: »Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie« geleistet. Im »Anti-Dühring«, dessen wichtigster Abschnitt auch als Sonderschrift unter dem Titel »Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft« erschienen und in fast alle Kultursprachen übersetzt worden ist, findet sich unter anderem folgender, allein schon gegen einen rein »materialistischen« Standpunkt zeugender Gedankengang:
»Mit der Besitzergreifung der Produktionsmittel durch die Gesellschaft ist die Warenproduktion beseitigt und damit die Herrschaft des Produkts über die Produzenten ..., die nun zum ersten Male bewußte, wirkliche Herren der Natur, weil und indem sie Herren ihrer eigenen Vergesellschaftung, werden. ... Erst von da an werden die Menschen ihre Geschichte mit vollem Bewußtsein selbst machen. ... Es ist der Sprung der Menschheit aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit.« Das ist echt Fichtescher Idealismus, wie denn auch von Engels der bekannte Satz stammt: »Wir deutschen Sozialisten sind stolz darauf, abzustammen nicht nur von Saint-Simon, Fourier und Owen, sondern auch von Kant, Fichte und Hegel.«
Außerdem hat Engels, der bereits in seinem Jugendwerk von 1845 »Die Lage der arbeitenden Klasse in England« geschildert hatte, in seinem »Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates« (1884) zu Marx' Darstellung des modernen Kapitalismus eine Darstellung der vor- oder urgeschichtlichen Zeit, in Anlehnung an des Amerikaners Morgan »Urgesellschaft«, hinzugefügt.
Endlich ist wichtig, daß Engels in seinen letzten Jahren den Sinn der »materialistischen« Geschichtsauffassung in Briefen an sozialistische Freunde in bedeutsamer Weise modifiziert hat. Er stellte hier als seine und seines verstorbenen Freundes Marx Ansicht »von jeher« fest, daß die ökonomische Lage nicht das »einzig«, sondern nur das »in letzter Instanz« bestimmende Moment der sozialgeschichtlichen Entwicklung sei; und zweitens: daß je stärker sich der politisch-rechtlich-philosophisch-religiöse »Überbau« entwickele, um so mehr »eine Wechselwirkung aller dieser Momente« eintrete, indem die »alle aufeinander und auf die ökonomische Basis reagieren«.
Schon Marx hat einmal gegenüber blind dogmatischen Anhängern von sich selbst erklärt: Ich bin kein »Marxist«, und damit, wie sein großer Widerpart und ihm doch methodisch Verwandter Kant, erkennen lassen, daß es ihm mehr auf die Methode als auf ein Dogma ankomme. Vielmehr hat er an der Stelle, wo er sie zuerst einführt, der »Kritik der politischen Ökonomie« (1850), die materialistische Geschichtsauffassung ausdrücklich nur als »Leitfaden« für seine »Studien« bezeichnet. Wenngleich nun dieser kritische Standpunkt, wie es bei jeder neuen Theorie zu gehen pflegt, namentlich anfangs von übereifrigen Anhängern öfters nicht gewahrt worden ist, so hat doch selbst ein so begeisterter Schüler Marxens wie sein französischer Schwiegersohn Paul Lafargue die »ökonomische« Geschichtsauffassung für ein bloßes »Forschungsmittel«, ein »neues Werkzeug« erklärt, um »eine gewisse Ordnung in die Unordnung der historischen Tatsachen zu bringen«. Und der geistvolle Philosophieprofessor Antonio Labriola zu Rom (1843 bis 1904) hat in seinem »Sozialismus und Philosophie« (Paris 1899) wie in seinen »Abhandlungen über die materialistische Geschichtsauffassung« (ebenda 1902) dieselbe als ein neues »Forschungsprinzip«, ähnlich dem Darwinismus, als eine »Untersuchungsmethode«, als einen »Gesichtspunkt« (also Kants Idee. K. V.) bezeichnet, der neues Licht über die sozialgeschichtliche Entwicklung verbreite, jedoch zunächst nur ein Schema liefere, das durch ausgedehnte Einzeluntersuchungen auf allen Gebieten der Geschichte erst ausgefüllt werden müsse.
Ein Sammelpunkt solcher Forschungen suchte die in Marx' Todesjahr (1883) gegründete Monats-, seit 1890 Wochenschrift »Die Neue Zeit« unter der Redaktion Karl Kautskys (geb. 1854) zu werden, in der zahlreiche Marxisten der verschiedensten Völker die neue Methode verteidigten oder weiterzubilden suchten. Zu tiefdringenden und eingehenden Einzeluntersuchungen ist es freilich nicht in dem von Labriola gewünschten Maße gekommen: schon aus dem einfachen Grunde, weil nahezu sämtliche marxistische Theoretiker, von Universitätslehrstühlen ausgeschlossen, durch den praktischen politischen Kampf gegen eine Welt von bürgerlichen Gegnern in Anspruch genommen waren. So hat von größeren Arbeiten dieser Art Marx selbst nur den »Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte« (1852), Engels seinen »Ursprung der Familie« geschrieben. Am meisten hat wohl Kautsky geleistet, der nicht bloß »Marx' ökonomische Lehren« gemeinverständlich dargestellt (1887) und das »Erfurter Programm« der deutschen Sozialdemokratie in seinem grundsätzlichen Teile erläutert (1892), sondern auch in der Einleitung zu »Thomas More und seine Utopie« eine gute Skizze der mittelalterlichen Geschichtsentwicklung gegeben, ferner den »Ursprung des Christentums« von der historisch-ökonomischen Seite her festzustellen versucht (1908) und seine grundsätzliche Stellung zur Ethik in »Ethik und materialistische Geschichtsauffassung« (1906) dargelegt hat. Er hat denn auch im Verein mit Eduard Bernstein, P. Lafargue und C. Hugo (Lindemann) eine »Geschichte des Sozialismus« von Plato bis zum Vorabend der Französischen Revolution herausgegeben, wozu Franz Mehring (1846 bis 1919), der vorher schon in der »Lessing-Legende« (1893) das Zeitalter Friedrichs des Großen kritisch beleuchtet hatte, eine ausführliche »Geschichte der deutschen Sozialdemokratie« beigesteuert hat. Den »Ursprung der Religion« überhaupt suchte H. Cunow in seiner gleichnamigen Schrift (1913) aufzuhellen, der sich außerdem mit den sozialen Verhältnissen der Australneger eingehend befaßt und jetzt eben (1921) ein allgemeines Buch über »Die Marxsche Geschichts-, Gesellschafts- und Staatstheorie« herausgegeben hat.
Philosophisch neigen die meisten der genannten Marxisten dem Materialismus zu; am stärksten vielleicht der noch nicht genannte Russe Plechanow in seinen »Beiträgen zur Geschichte des Materialismus«. Jedenfalls ist aber ihr Materialismus nicht ohne weiteres mit dem naturwissenschaftlichen (S. 258 f.) gleichzusetzen. Friedrich Adler (Wien) sucht seinen marxistischen Standpunkt mit dem positivistisch-empiristischen Ernst Machs zu verbinden. Aber neben wie innerhalb der Anhängerschaft von Marx und Engels, ja, wenn man will, sogar bei ihnen selbst, zeigten sich doch schon früh kritisch-idealistische Nebenströmungen.
Der marxistische Sozialismus lehnt anscheinend den ethischen Gesichtspunkt gänzlich ab. Das »Kommunistische Manifest« erklärt Gesetz, Moral, Religion für »ebenso viele bürgerliche Vorurteile, hinter denen sich ebenso viele bürgerliche Interessen verstecken«: und das »Kapital« spottet über die Idee einer »ewigen Gerechtigkeit«. Zeitgeschichtlich und psychologisch läßt sich diese Ablehnung wohl verstehen. Marx und Engels hatten, zumal in der Zeit, wo sich ihr »Materialismus« ausbildete, genug sowohl von der Moral der bloßen Worte, die sich in bloßer Predigt, als von derjenigen des Utopismus, die sich in unausführbaren Plänen und Vorschlägen erging. Sie waren sich bewußt, solchen »Moralpauken« gegenüber den Schritt »vom Utopismus zur Wissenschaft« getan, das ist gezeigt zu haben, wie die tatsächliche geschichtliche Entwicklung der Gesellschaft die Erreichung des vom Sozialismus erstrebten Zieles vorbereite, indem sie seine wirtschaftlichen Vorbedingungen schaffe. Im letzten Grund aber kommen auch sie, kommt kein Sozialist von der Ethik los. So operiert das »Kommunistische Manifest«, wahrscheinlich ohne es zu wollen, mit ethischen Ausdrücken wie »Unterdrücker und Unterdrückte«, »unverschämte Ausbeutung«, wirft der Bourgeoisie vor, sie habe »die persönliche Würde in Tauschwert aufgelöst«, und stellt schließlich ein sittlich-ideales Endziel auf, das Kants geschichtsphilosophischem Endziel zum Verwechseln ähnlich sieht, nämlich »eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Vorbedingung für die freie Entwicklung aller ist«. Ja, selbst in einem so streng nationalökonomischen Werke wie »Das Kapital« fehlt es an ethischen Wendungen nicht; und wer darin die berühmten Abschnitte von dem im Gefolge der kapitalistisch-industriellen Entwicklung Englands entstandenen Elend der arbeitenden Klasse gelesen hat, der darf mit Fug und Recht von einem »ethischen« Standpunkt Marxens sprechen, der »freilich nicht in der Manier eines Moralpredigers, sondern in der Form der Satire und eines in der Tiefe des Herzens qualdurchzuckten Spottes und Hohnes zum Ausdruck kommt« (L. Woltmann). So ist es denn begreiflich, daß auch in den vom Marxismus berührten Kreisen die Ethik nicht nur praktisch immer wieder durchgebrochen ist, sondern sich auch für die theoretische Begründung des Sozialismus geltend gemacht hat.
So gleich bei dem ersten Begründer der sozialdemokratischen Bewegung in Deutschland
Lassalle kommt, wie Marx und Engels, von der Philosophie, und zwar derjenigen Hegels her. Sein erstes großes Werk (1857) hat sich nicht ohne inneren Grund den alten Heraklit von Ephesus zum Gegenstand gewählt, dessen Kerngedanken von der Entwicklung in Gegensätzen er dann in hegelianisierender Weise weiterbildet, zuweilen auch umdeutet. Schon hier aber wird auch als »ewiger Grundbegriff des Sittlichen selbst« die »Hingabe an das Allgemeine« hervorgehoben. Das zweite rechtsphilosophische Hauptwerk »Das System der erworbenen Rechte« (zwei Bände, 1861) führt den Marxschen Gedanken aus, daß alle Rechtsbegriffe, wie Eigentum, Vertrag, Familie, Erbrecht usw., nicht sowohl logische als geschichtliche Kategorien seien, bleibt aber methodisch dennoch so sehr auf dem Hegelschen Boden formaler Rechtslogik, daß es von Marx und Engels als zu »ideologisch« abgelehnt wurde. Auch hier wird dem historischen System der »erworbenen« Rechte das sittliche Recht ihrer Aufhebung gegenübergestellt. Noch stärker und deutlicher tritt Lassalles sittlicher Idealismus in den beiden Fichte-Abhandlungen, dem Aufsatz »Fichtes politisches Vermächtnis an die deutsche Gegenwart« (1860) und der Gedenkrede von 1862: »Die Philosophie Fichtes und die Bedeutung des deutschen Volksgeistes«, hervor, anschließend an das berühmte Fichte-Wort von dem »wahrhaften Reich des Rechts, wie es noch nie in der Welt erschienen ist«, und der »Freiheit, gegründet auf Gleichheit alles dessen, was Menschenangesicht trägt« (vergl. auch S. 230 bis 233). Und ebenso erfüllt von sittlichem Geist, der sich gleichwohl durchaus harmonisch mit der marxistischen Geschichtsauffassung zusammenfügt, zeigt sich seine als »Arbeiterprogramm« bekanntgewordene Rede vom April 1862: »Über den besonderen Zusammenhang der gegenwärtigen Geschichtsperiode mit der Idee des Arbeiterstandes«. Die Idee des Arbeiterstandes ist ihm eben der aus Fichte-Hegel gewonnene sittliche Staatsgedanke, welcher der manchesterlichen »Nachtwächteridee« vom Staat als bloßen Beschützers von Person und Eigentum dessen Kulturaufgabe, »das menschliche Wesen zur Entfaltung und fortschreitenden Entwicklung zu bringen«, entgegenstellt und an den Arbeiterstand appelliert als den »Fels, auf welchen die Kirche der Gegenwart gebaut werden soll«.
Auch der philosophische Gerber aus Siegburg, Josef Dietzgen (1828 bis 1888), der später nach Chicago auswanderte, hat, trotz der ihm mangelnden akademischen »Bildung«, mit gesundem Blick entdeckt, daß der Marxschen Geschichtsauffassung, der auch er im übrigen anhängt, die erkenntniskritische Unterlage wie der ethische Ausbau mangelt. Vielleicht, weil er nicht unmittelbar von Hegel herkam, nimmt er eine unbefangenere Stellung zu Kant ein, wie sein »Wesen der menschlichen Kopfarbeit« (1869) und seine »Streifzüge in das Gebiet der Erkenntnistheorie« bezeugen. Auch seine Ethik enthält wesentliche Stücke der Kantischen in den Begriffen des Allgemeinen, der Gattung, der Freiheit als der Gesetzlichkeit, der Selbstbestimmung der Persönlichkeit und vor allem dem des »Zweckes aller Zwecke«. Nachdem zuerst Staudinger und der holländische Marxist Pannekoek wieder aufmerksam auf ihn gemacht, sucht neuerdings besonders sein Sohn Eugen Dietzgen für ihn zu werben, der auch eine Gesamtausgabe der Schriften seines Vaters veröffentlicht hat.
Auch der Russe Peter Lawrow (1823 bis 1890), einer der einflußreichsten älteren russischen Sozialisten, sucht in seinen »Historischen Briefen« (1870, 2. Auflage 1891) die »objektive« oder genetische Methode von Marx durch seine vom Bewußtsein ausgehende »subjektive« und den bloßen Glauben an die »Tatsachen« durch eine ethische »Hierarchie der Zwecke« zu ergänzen.
Und der treffliche Friedens- und Deutschenfreund im besten Sinne des Wortes, der zu Beginn des Weltkriegs von nationalistischer Frevlerhand ermordete Jean Jaurès hat bereits 1891 in einer lateinischen Dissertation auf die »ersten Umrisse des deutschen Sozialismus bei Luther, Kant, Fichte und Hegel« und im Zusammenhang damit auf die idealistischen und ethischen Wurzeln des Sozialismus hingewiesen: ein Standpunkt, den er nicht bloß 1895 gegen Lafargue vor einer Pariser Studentenversammlung verteidigte, sondern auch, wie er mir noch selbst gelegentlich des Stuttgarter Sozialistenkongresses von 1907 persönlich versicherte, auch später durchaus beibehalten hat.
Inzwischen hatte auch der »bürgerliche«
den Spuren F. A. Langes und H. Cohens folgend, den Sozialismus seinerseits philosophisch zu begründen gesucht. Der Stellungnahme Langes und Cohens haben wir schon (S. 277, 283) gedacht. Auch Natorp hat neuerdings seinem längst bekannten ethischen Sozialismus immer deutlicheren Ausdruck gegeben, besonders in seinem letzten tiefdringenden Buche »Sozial-Idealismus« (1920). Er hat vor allem auch, wie übrigens schon Jaurès, auf die Vereinbarkeit von wahrem Sozialismus und echtem Individualismus hingewiesen, von denen jeder den anderen als notwendige Ergänzung seiner selbst fordere. Am ausführlichsten von den älteren Neukantianern hat sich Rudolf Stammler in seinem schon S. 279 zitierten Buche bereits 1894 mit der marxistischen Geschichtstheorie beschäftigt, die er – nächst Tönnies (S. 303) wohl einer der ersten unter den deutschen Universitätsgelehrten – als einheitliche Methode für die kausale Erforschung der wirtschaftlich-rechtlichen Entwicklung anerkennt, jedoch durch die teleologische (Zweck-) Betrachtungsweise ergänzt wissen will. Denn erst diese versteht die aus den jeweiligen sozialen Zuständen erwachsenden praktischen Bestrebungen nach einem obersten Endziel zu leiten, nämlich in einer »Gemeinschaft frei wollender Menschen«, in der »ein jeder die objektiv berechtigten Zwecke des anderen zu den seinigen macht«.
Noch stärker kam der Seite 278 genannte Franz Staudinger schon in seiner »Ethik und Politik« (1899) dem Marxismus entgegen. Wie ungefähr gleichzeitig Woltmann (Seite 304), verwies er auf die Ähnlichkeit der Marxschen und der Kantischen Methode darin, daß beide keine psychologische Erörterung, sondern sachlich-formale, erkenntniskritische Zergliederung des Gegebenen (»Kritik« hier der »Vernunft«, dort der »politischen Ökonomie«) treiben. Deshalb liegt in Marx' Beschränkung auf das Ökonomische denn auch kein grundsätzlicher Fehler, sondern ein ohne Schwierigkeit zu verbessernder Mangel. Sobald der Marxismus sich bewußte und planmäßige Umgestaltung des Gegebenen zum Ziele mache, was doch seine Absicht sei, genüge als Maßstab nicht mehr die Entdeckung der die heutige Volkswirtschaft beherrschenden Gesetze, sondern es müsse ein oberster Ziel- und Leitpunkt aufgestellt werden, der am letzten Ende nur durch eine wissenschaftliche Ethik (im Sinne Kants) gegeben werden könne. Umgekehrt bleiben freilich auch die schönsten Gesetze ethischer Zweckbildung ein leeres Schema, solange nicht die Naturgesetze des tatsächlichen Lebens die Grundlage der Verwirklichung bieten. So komme, wie der Marxismus zu Kant, ebenso der Kantianer in folgerechter Durchführung seiner eigenen Grundgedanken zu Marx. Diesen Standpunkt hat dann Staudinger in zahlreichen Aufsätzen und größeren Schriften, von welchen letzteren wir nur die »Wirtschaftlichen Grundlagen der Moral« (1907) und die »Kulturgrundlagen der Politik« (1914) nennen, vertreten und weitergebildet. Das wirksamste praktische Mittel zur Erreichung der sozialistischen Ziele erblickt Staudinger in dem Ausbau der Konsumgenossenschaften.
In ähnlichem Sinne wie Staudinger hat auch der Verfasser dieses Buches, Karl Vorländer (geb. 1860 in Marburg), seit lange die Vereinbarkeit, ja Zusammengehörigkeit von »Marx« und »Kant«, das heißt von historisch-ökonomischer und erkenntniskritisch-ethischer Begründung des Sozialismus vertreten: von seiner kleinen Schrift »Kant und der Sozialismus« (1900) und seinem Vortrag vor den Wiener »Fabianern« über »Marx und Kant« (1904) an bis zu seinem ausführlichen Buche »Kant und Marx« (1911) und allerlei Schriften der letzten Zeit, wie »Kant, Fichte, Hegel und der Sozialismus« (1920) und anderen.
Endlich möchten wir bei dieser Gelegenheit noch auf das tiefschürfende Buch von Ferdinand Tönnies (geb. 1855) »Gemeinschaft und Gesellschaft« (1887, 2. Auflage 1912) hinweisen, ebenfalls eines der ersten »Bürgerlichen«, welche die Bedeutung von Marx erkannten. Enthält das Buch auch keine unmittelbare Begründung des Sozialismus, so will doch der Verfasser von der modernen, von Marx zuerst wissenschaftlich zergliederten bürgerlichen »Gesellschaft« zu einer höheren Form der den urwüchsigen, organischen Typus des Gemeinlebens darstellenden »Gemeinschaft« zurück oder vielmehr vorwärts zu ihr. Die ursprüngliche, aber für uns vergangene Verfassung der Kultur war kommunistisch, die werdende ist sozialistisch.
Längere Zeit übte die idealistische Unterströmung (Lassalle, Dietzgen, Jaurès und andere) keine Rückwirkung auf die meisten Anhänger von Marx und Engels, die zudem durch die Politik viel zu unmittelbar in Anspruch genommen waren, als daß sie auf eine tiefere und methodischere philosophische Begründung des Sozialismus besonderen Wert gelegt hätten. So blieb man auch philosophisch einfach in dem alten marxistischen Geleise. Das erste Anzeichen einer veränderten Denkrichtung ist eine – damals nirgends beachtete – Äußerung des bekannten langjährigen Führers der österreichischen Sozialdemokratie Viktor Adler in einem Nachruf an den gestorbenen Engels (August 1895), es sei möglich, »die materialistische Grundlage der Marx-Engelsschen Lehre durch eine Kantische zu ersetzen«!
Und wirklich, schon im Jahre darauf begann, offenbar unter dem Einfluß des Neukantianismus, eine dahin zielende Bewegung auch innerhalb des Marxismus einzusetzen. Im folgenden gebe ich von der in meinem »Kant und Marx« eingehend (S. 155 bis 272) geschilderten theoretischen Bewegung nur eine knappe Skizze. Der erste war der seinerzeit wegen seines marxistischen Bekenntnisses an keiner deutschen Hochschule als Privatdozent zugelassene Nationalökonom Konrad Schmidt, der bereits 1896 den Satz vertrat, daß die alte philosophische Streitfrage »Materialismus – Idealismus« mit der Richtigkeit oder Unrichtigkeit der marxistischen Geschichtsauffassung gar nichts zu tun habe, und im folgenden Jahre offen aussprach, daß es heute, nachdem der von Hegel idealistisch gewaltsam zurechtkonstruierte Entwicklungsgedanke ohnehin in alle Wissenschaften eingedrungen sei, an der Zeit sei, von Hegels dichtender Metaphysik zu einer wissenschaftlichen Philosophie mit klar begrenzten Problemen zurückzukehren, wie man sie bei Kant finde. Und wenn ihm auch die Kantische Ethik zu »formal« blieb, wies er um so nachdrücklicher auf die Fruchtbarkeit der kritischen Geschichtsphilosophie für die Theorie des Sozialismus hin.
Nach energischer vertrat der frühverstorbene geistreiche Ludwig Woltmann (1871 bis 1907) schon in seiner Doktorarbeit über »Kritische und genetische Begründung der Ethik« (Freiburg 1897), dann in seinem »System des moralischen Bewußtseins« (1899), endlich in der Spezialuntersuchung »Der historische Materialismus« (1900) die Notwendigkeit einer Verbindung von Hegel-Marx-Darwins entwicklungsgeschichtlicher mit Kants kritischer Methode, von denen letztere ohne die erstere »leer«, die erste ohne die zweite »blind« bleibe. Wolle der Marxismus folgerecht verfahren, so könne er der Kantischen Philosophie nicht entfliehen, weder in der Erkenntnistheorie noch in der Ethik. Denn einmal biete gerade der Kritizismus die »logischen Mittel«, um eine systematische Kritik des Marxismus herbeizuführen, in dessen Methode er übrigens die kritische schon im Keim enthalten sieht. Und zweitens sei der Sozialismus vor allem eine ethische Notwendigkeit, auf ein Sollen beziehungsweise Wollen zu gründen und in langsamer genossenschaftlicher, gewerkschaftlicher und gesetzgeberisch-politischer Arbeit zu verwirklichen: also eine Art Theorie des »Reformismus«, wie sie zu gleicher Zeit Eduard David auf dem Parteitag zu Hannover (1899) entwickelt hatte, und wie sie auch in fast allen anderen Kulturländern neben den bisher vorherrschenden »Radikalismus« trat.
Weit mehr Aufsehen in der Öffentlichkeit als Woltmanns im wesentlichen doch rein philosophische Schriften erregte das Auftreten des bis dahin als Säule des strengen Marxismus angesehenen Eduard Bernstein (geb. 1850), der eben damals aus dem englischen Exil nach Deutschland zurückkehrte und, durch F. A. Lange, H. Cohen und Konrad Schmidt angeregt, schon vorher auch für die Theorie des Sozialismus ein »Zurück auf Kant!« »bis zu einem gewissen Grade« als nötig erklärt hatte. Seine »Voraussetzungen des Sozialismus« (1899) und sein Vortrag im Berliner Sozialwissenschaftlichen Studentenverein vom 17. Mai 1901 über das Thema: »Wie ist wissenschaftlicher Sozialismus möglich?«, das schon in seiner Formulierung an Kants Prolegomena erinnerte, riefen in der »Neuen Zeit« und dem Organ der neuen »revisionistischen« Richtung, den »Sozialistischen Monatsheften« sowie anderen sozialistischen Blättern eine Jahre hindurch fortdauernde, ja eigentlich nie ganz abgebrochene eifrige Diskussion hervor, an der sich auch Sozialisten anderer Nationen beteiligten, deren Namen und Hauptgedanken man in meinem mehrfach erwähnten Buche findet. Wobei Bernstein selber übrigens sich keineswegs als durchgebildeter Kantianer zeigte; wie denn überhaupt die Betonung des erkenntniskritischen und ethischen Moments für die Begründung des Sozialismus durchaus nicht mit sozialistischem »Revisionismus« oder Reformismus zusammenfällt.
Interessant ist vielmehr die Tatsache, daß einer der eifrigsten von Cohen ausgegangenen Kantianer der später so radikal gewordene Kurt Eisner war, und daß einer der besten Köpfe unter den heutigen sozialistischen Theoretikern, der Namensvetter von Viktor und seinem Sohne Friedrich Adler, Max Adler in Wien (geb. 1873), ein ebenso guter, man darf beinahe sagen »radikaler« Marxist (»Marx als Denker«, 1908, »Marxistische Probleme«, 1913) als Kantianer (»Kausalität und Teleologie im Streit um die Wissenschaft«, 1904) ist; desgleichen sein Freund, der gewesene Reichsminister Otto Bauer.
Durch den Weltkrieg und seine Folgeerscheinungen sind die philosophischen Erörterungen innerhalb des Sozialismus zeitweise zurückgedrängt worden. Aber schon beginnen sie sich, trotz aller Unruhe und Schwere der Zeit, ja vielleicht ebendeshalb wieder zu regen. Und sie werden auch nicht verschwinden, solange es einen Sozialismus gibt. Denn der Sozialismus ist nicht bloß eine wirtschaftlich-politische Bewegung, sondern auch eine sittliche Weltanschauung. Als bezeichnend für die Stimmung der Gegenwart darf man es vielleicht ansehen, daß der Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands im Sommer 1920 gerade einen Vertreter dieser Ansicht, nämlich den Verfasser dieses Buches, ersuchte, für das Programm-Revisions-Buch »Die philosophischen Grundlagen des Sozialismus« darzulegen.