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Zehntes Kapitel. Die Philosophie der Romantik: von Fichte bis Hartmann und Nietzsche

1. Fichte (1762 bis 1814)

Gleich Kant, Herder und Schiller ist der am 19. Mai 1762 geborene Johann Gottlieb Fichte ein Sohn des Volkes, ein Bandwirkerssohn aus der sächsischen Oberlausitz, der seinem Vater am Webstuhl hilft und die Gänse hütet, dann von einem Edelmann der Nachbarschaft entdeckt und dem heute noch bestehenden berühmten Gymnasium Schulpforta zugeführt wird. Auch hier, wie auf den Hochschulen Jena und Leipzig, muß er sich schwer durchschlagen, bis er sich 1790 in Zürich mit der Tochter eines dortigen nicht unbemittelten Bürgers verlobt. Inzwischen lernt er die »kopfzerbrechende«, aber »herzerhebende« Lehre Kants kennen, den der fast Dreißigjährige in seiner Begeisterung in dem fernen Königsberg aufsucht und auch um materielle Hilfe bittet. Sein dort innerhalb eines Monats niedergeschriebener »Versuch einer Kritik aller Offenbarung«, der anfangs für ein Werk Kants gehalten wurde, macht ihn mit einem Schlage berühmt. Im nächsten Jahre (1793) folgen von Zürich aus seine beiden in Rousseaus Geist gehaltenen, noch ohne seinen Namen herausgegebenen politischen Schriften: »Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europas« und »Beiträge zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die Französische Revolution«. Mit seiner Berufung auf Reinholds Lehrstuhl nach Jena (1794) beginnt dann die Reihe seiner grundlegenden philosophischen Werke.

Die Philosophie Fichtes fließt, in weit höherem Grad als diejenige Kants, aus der Persönlichkeit des Urhebers. »Was für eine Philosophie man hat, hängt davon ab, was für ein Mensch man ist.« Fichte aber ist durch und durch Wille. »Zu einem Gelehrten vom Metier (Handwerk) habe ich gar kein Geschick; ich mag nicht bloß denken, ich will handeln,« sagt er, und ein anderes Mal: »Je mehr ich handle, desto glücklicher scheine ich mir.« Dieser Charakter, der schon in seinem trotzigen Gang, seinem großen strafenden Auge zutage trat, prägt sich ebenso in seinen Vorlesungen wie in seinen Schriften aus: er predigt seine Philosophie, öfters in herrischer, beinahe gewaltsamer Weise. Schon der angehende Professor erklärt in seiner »Bestimmung des Gelehrten«: »Hinstehen und klagen über das Verderben der Menschen, ohne eine Hand zu regen, um es zu verringern, ist weibisch. ... Handeln! handeln! das ist es, wozu wir da sind.« Den besten Eingang in seine Denkweise findet man daher auch in dieser populären ...
Zeile fehlt im Buch. Re.
... holds Lehrstuhl nach Jena (1794) beginnt dann die Reise seiner grundlegeneden philosophischen Werke.

Kant, von dem er ausgeht, ist ihm zu kritisch, geht ihm nicht tief genug auf den letzten Grund, das heißt das eigene Ich, zurück. Der erste Grundsatz aller Philosophie muß die » Tathandlung« sein: »Setze (denke) dein Ich!«, was aber nur Sinn hat, wenn es von einem »Nicht-Ich« sich unterscheidet. So entsteht die Grundlage von Fichtes theoretischer Philosophie: »Das Ich setzt sich als bestimmt durch das Nicht-Ich« und der praktischen: »Das Ich setzt sich als bestimmend gegenüber dem Nicht-Ich.« Die »Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre« (1794), die übrigens im Laufe seiner philosophischen Entwicklung von ihrem Urheber vielfach umgearbeitet ward, entwickelt nun in rein abstrakter, zum Teil an die Scholastiker oder Spinoza erinnernder Art, in öfters ermüdenden Ketten von Folgerungen, neuen Lehrsätzen usw. die Begriffe der Empfindung, der Anschauung, des Verstandes, der Urteilskraft und der höchsten Stufe und zugleich Grundlage alles Wissens: der Vernunft oder des Selbstbewußtseins, aus dem die gesamte Erfahrung abgeleitet wird.

Hatte das rein theoretische Denken uns mit dem gemeinen Menschenverstand entzweit, so versöhnt uns wieder mit ihm die das erstere in Wahrheit erst begründende und bestimmende praktische Philosophie, wie sie zuerst im »System der Sittenlehre« von 1798 entwickelt wird. Sie baut sich auf dem »festen Entschluß« zur unbedingten Selbständigkeit, auf dem »Glauben« daran auf. »Ich bin wirklich frei« oder der Grund meiner selbst, lautet der erste Grundsatz der Fichteschen Ethik. Nicht das Tun ist aus dem Sein, das Lebendige aus dem Toten abzuleiten, sondern umgekehrt: »allein dein Handeln bestimmt deinen Wert«. Darauf werden dann die Grundbegriffe der Kantischen Ethik: Sollen, kategorischer Imperativ, Autonomie, Sittengesetz usw. entwickelt, sowie der Unterschied zwischen meinem Trieb als Naturwesen und meiner Tendenz als »reiner Geist«, die mich, auch wieder durch meinen festen »Entschluß«, über das Naturhafte erhebt. Den kategorischen Imperativ faßt Fichte noch kürzer als Kant in die Formel zusammen: Handle nach deinem Gewissen! Wer auf irgendwelche Autorität hin handelt, handelt gewissenlos; Erziehung zur Sittlichkeit heißt Erziehung zur Selbständigkeit.

Im einzelnen decken sich seine sittlichen Ansichten meist mit denjenigen Kants: so bezüglich des radikalen Bösen, der drei »Grundlaster« der Trägheit, Feigheit und Falschheit, und der Notlüge. Noch stärker als bei Kant ist Fichtes Sittenlehre von vornherein sozial gefärbt. Jeder Mensch hat ein Recht auf Eigentum, jeder Arme ein solches auf staatliche Unterstützung; es soll weder Bettler noch Almosen geben. Deshalb stellt Fichtes »Naturrecht« (1796) drei Urrechte des Menschen auf: über den eigenen Leib, auf Eigentum, auf Selbsterhaltung; kurz die Verwirklichung des Rechtsstaats mit Volkssouveränität und Volksvertretung, wie Rousseau und Kant. Aber er geht insofern über beide hinaus, als er in seinem »Geschlossenen Handelsstaat« von 1800 zum ersten Male in Deutschland den Plan eines sozialistischen Gemeinwesens mit durchgehender staatlicher Organisation der Arbeit entwirft. Zu diesem Zwecke soll der Staat die gesamte Ein- und Ausfuhr selbst in die Hand nehmen, Gütererzeugung und -verteilung durch die drei »geschlossenen« Stände der Produzenten (d. h. Landwirte), »Künstler« (Fabrikanten) und Kaufleute regeln, die Preise nach einem besonderen Landesgeld (aus Papier oder – Leder!) festsetzen usw. Nähere Einzelheiten und weitere sozialistische Gedanken Fichtes überhaupt siehe in meiner Schrift: Kant, Fichte, Hegel und der Sozialismus. Berlin 1920, Seite 58 bis 72. Die Verquickung idealer Grundsätze mit wirtschaftlich-reaktionären, im Geiste der friderizianischen, eben doch zum Untergang reifen Ständetrennung gehaltenen Maßregeln hat es bewirkt, daß die Schrift ohne alle praktische Wirkung auf die Folgezeit blieb und bald vergessen ward. Darum behalten jedoch heute noch ihren Wert soziale Grundgedanken wie der: »Es sollen erst alle satt werden und fest wohnen, ehe einer seine Wohnung verziert; erst alle bequem und warm gekleidet sein, ehe einer prächtig sich kleidet.« Und vor allem die herrlichen Worte: »Der Mensch soll arbeiten, aber nicht wie ein Lasttier. ... Er soll angstlos, mit Lust und Freudigkeit arbeiten und Zeit übrig behalten, seinen Geist und sein Auge zum Himmel zu erheben, zu dessen Anblick er gebildet ist.« Jeder Mensch, sagt er später in seiner »Rechtslehre«, muß so leben, daß alle anderen dabei bestehen, ja so angenehm leben können, als es möglich ist. Von dem Augenblick an, wo jemand Not leidet, gehört der Überfluß des anderen rechtlich dem Notleidenden. Jeder soll, neben seiner Arbeit, auch das Recht auf Muße (wie später Paul Lafargue sagt: auf »Faulheit«) haben. Ja, Fichte hat einen ganz neuen Eigentumsbegriff aufgebracht, wonach das »Eigentum« in dem ausschließlichen Recht auf eine bestimmte freie Tätigkeit besteht. Bergbau und Forsten sind natürlicher Staatsbesitz; aber auch mit allem übrigen Grundeigentum hat der Staat die einzelnen erst zu belehnen. Fichte hatte seinen »Geschlossenen Handelsstaat« dem preußischen Finanzminister v. Struensee gewidmet, der darin ein »Ideal aufgestellt« fand, »nach welchem zu streben jedem Staatsdiener ... Pflicht sein sollte«!

Der Philosoph befand sich damals schon in Berlin. Der sogenannte Atheismus-Streit hatte seine Entfernung von Jena herbeigeführt. Er hatte in seinem »Philosophischen Journal« eine ziemlich radikale religionsphilosophische Abhandlung eines gewissen Forberg veröffentlicht und bei dieser Gelegenheit selber »Gott« mit der sittlichen Weltordnung gleichgesetzt. Daraufhin von der kursächsischen Regierung des »Atheismus« angeklagt, verteidigte er seinen Standpunkt mit gewohnter Energie und drohte, im Fall eines Verweises, mit seinem und anderer Kollegen Fortgang von Jena. Gerade dadurch – er war zudem mit seinen theologischen Kollegen wegen volkstümlicher Vorlesungen am Sonntag und mit einem Teil der Studenten infolge seines Vorgehens gegen ihre rohen Burschensitten schon vorher in Zwist geraten – führte er seine Entlassung herbei, der jetzt auch Minister – Goethe seine Zustimmung gab. In Berlin, wohin er ging, geriet Fichte nun in die ganz andere geistige Luft der neuen Romantik (Schleiermachers, Tiecks, der beiden Schlegel und anderer) hinein, war überdies Wohl auch durch die neue Philosophie seines jüngeren Jenaer Kollegen Schelling (S. 233 ff.) beeinflußt worden; kurz, er hat den wissenschaftlichen Standpunkt seines ersten philosophischen Jahrzehnts nicht festgehalten. Sein Denken bekommt vor allem eine viel stärkere religiöse Färbung.

Die rein moralische Religion des freudigen Rechttuns, das keinen Lohn begehrt und die Gottheit nicht zum bloßen »Geber der Glückseligkeit« erniedrigen will, genügt ihm nicht mehr. Religion ist ihm jetzt kein Tun mehr, sondern ein Gefühl: Leben, Liebe, Seligkeit. Er schreibt eine »Anweisung zum seligen Leben« (1806). Als Hauptgegner betrachtet er jetzt nicht mehr die Rechtgläubigkeit, sondern die »Aufklärung« Nicolais. Die höchste Wissenschaft ist die des seligen Schauens, der höchste Zustand der Menschheit, wie die »Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters« (1806) erklären, der der »vollendeten Rechtfertigung und Heiligung« unter der freien Herrschaft der Vernunft; denn – dabei ist er doch geblieben – der Zweck des Erdenlebens für die Menschheit besteht darin, daß sie »alle ihre Verhältnisse mit Freiheit nach der Vernunft einrichte«.

Nun aber kam dazwischen in dem Jahre 1806/07 die Niederwerfung und völlige Demütigung des preußischen Staates, dem der geborene Sachse sich begeistert angeschlossen hatte, durch Napoleon I. Und jetzt hielt er, während draußen die französischen Trommeln wirbelten, im Winter 1807/08 in der Berliner Singakademie seine berühmten »Reden an die deutsche Nation«, von denen Ferdinand Lassalle sagt, daß sie »an Tiefe und Kraft weithin alles übertreffen, was uns in dieser Gattung und Literatur aller Zeiten und Völker überliefert ist«. Gewiß äußert sich in ihnen ein manchmal überschwenglich sich gebärdender Kultus der »Deutschheit«. Aber nicht im »alldeutschen« Sinne der Eroberungs- und imperialistischen Politik, die der Redner im Gegenteil ausdrücklich ablehnt. Sondern deutsch sein heißt ihm: »an ein absolut Ursprüngliches im Menschen selber, an Freiheit, an unendliche Verbesserlichkeit, an ewiges Fortschreiten unseres Geschlechts glauben.« Er fordert darum, ähnlich wie Kant, eine gänzliche Umänderung des bisherigen Erziehungssystems, aber noch schärfer als dieser für das ganze Volk, ohne Unterschied von Stand und Geschlecht, die obligatorische Staats- und Arbeitsschule für alle, wobei er sich im Praktischen vielfach an den großen Erneuerer Pestalozzi anschließt. Und zwar nicht »lediglich zur Seligkeit im Himmel«, den er vielmehr schon mitten in die Gegenwart hineinführen will, sondern zur Tüchtigkeit auf Erden. Einem Tyrannen steht es an, diejenigen, »denen er auf Erden kein Plätzchen verstatten will, an den Himmel zu verweisen«. Fichte »ist vor allen Dingen dies religiöser Sinn, daß man sich gegen die Sklaverei stemme«! Die wahre Religion »macht bloß den Menschen sich selber vollkommen klar und verständlich, beantwortet die höchste Frage, die er aufwerfen kann, löset ihm den letzten Widerspruch und bringt so vollkommene Einheit mit sich selbst und durchgeführte Klarheit in seinen Verstand«.

Die »Reden an die deutsche Nation« waren ursprünglich als Teil eines umfassenden Ganzen gedacht, von dem jedoch nur eine Reihe in seinem Nachlaß aufgefundener Bruchstücke zustande gekommen sind, die denselben Geist der Freiheit und der Staatsunterordnung zugleich atmen. Er selbst war Feuer und Flamme für den sittlichen Wiederaufbau des zerstört daniederliegenden Staates und wurde 1811 der erste gewählte Rektor der neugegründeten Berliner Universität, zu der er durch eine Denkschrift schon 1807 die erste Anregung gegeben hatte. Im Kampfe gegen den Unterdrücker hielt er auch machiavellistische Mittel (»Machiavell« 1812) für geboten. Mit Begeisterung sah er deshalb die Erhebung von 1813 und wollte anfangs persönlich als religiöser Redner mit ins Feld ziehen. Er starb im Januar 1814 an einem ansteckenden Fieber, das seine Frau sich bei der Pflege Verwundeter geholt und auf ihn übertragen hatte.

Fichtes unmittelbare Schüler sind ohne Bedeutung. Und seine »Reden« wurden zehn Jahre nach seinem Tode in Preußen verboten, so daß eigentlich erst der angeblich »Vaterlandslose« Lassalle wieder an sie angeknüpft hat. Seine Hauptbedeutung für die Geschichte der Philosophie, abgesehen von seinem hochgemuten sittlichen Idealismus, besteht darin, daß er, von der besonnenen Bahn des Kantischen Kritizismus ablenkend, durch sein System die ganze folgende spekulative deutsche Philosophie einleitet. Seine Nachfahren auf diesem Wege sind Schelling und Hegel.

2. Schelling (1775 bis 1854)

Schelling, ein frühreifer schwäbischer Pfarrerssohn, der schon mit fünfzehn Jahren als Studiosus der Theologie das Tübinger Stift bezog, mit siebzehn sich die Magisterwürde erwarb, ward, nach zweijährigem Hauslehrertum in Leipzig, bereits 1798 durch Fichtes und Goethes Einfluß als Professor nach dem damaligen Mittelpunkt der deutschen Philosophie, Jena, berufen, wo sich jene geistreich-witzige »Republik von Despoten« zusammengefunden hatte, die man die »Romantische Schule« zu nennen pflegt, und deren tonangebender Philosoph bald der erst dreiundzwanzigjährige junge Schelling wurde. Er ist eine glänzende und vielseitige Persönlichkeit, aber ohne strenge Zucht des Denkens, läßt sich leicht von anderen bis zur Begeisterung beeinflussen und modelt deshalb seine Lehre fortgesetzt um, so daß wir uns mit ihm nicht allzulange aufzuhalten brauchen.

Schon sehr bald verläßt er seinen ersten Meister Fichte und wirft sich auf die von diesem vernachlässigte Naturphilosophie. Aber er setzt sich genial über die mühevolle wissenschaftliche Einzelforschung hinweg; die »blinde, empirische« Naturforschung eines Boyle oder Newton stößt ihn ab. Er will statt dessen die Natur »von innen her« konstruieren (aufbauen) als einen gewaltigen Organismus, ein großes von der »unreifen Intelligenz« der Materie bis zum menschlichen Bewußtsein emporführendes Entwicklungssystem. Die bei dem damaligen Wissensstand notwendig vorhandenen Lücken füllt er ohne langes Bedenken mit allerlei geistreichen, oft aber auch durchaus in die Irre führenden Hypothesen aus: so daß der Name Natur philosophie durch seine und seiner Anhänger Schuld bei den ernsten, nüchternen Männern der Wissenschaft auf Jahrzehnte hinaus in Verruf gekommen ist. Die Natur wirkt nach ihm durch einander widerstreitende Kräfte: ihr einendes, sie organisierendes Prinzip ist »die Weltseele«.

Aber die Naturphilosophie (1799) – er gründet auch eine Zeitschrift für »spekulative« (!) Physik – ist nur ein Teil seines »Systems des transzendentalen Idealismus« (1800), das noch einmal in Fichtescher Weise vom Selbstbewußtsein oder Ich ausgeht und neben die Naturphilosophie eine religiös gefärbte Geschichtsphilosophie und, als Schlußstein des Ganzen, eine Philosophie der Kunst stellt, übrigens schon im folgenden Jahre in ein neues, das »Identitäts«-System oder die Philosophie des Absoluten übergeht, welches letztere erhaben über dem Gegensatz von Natur und Geist, Objekt und Subjekt thront und mit der ewig sich selbst gleichen Vernunft einerlei ist, die sich in der »Welt« offenbart, übrigens wieder ein Jahr später bereits mit dem Namen Gottes bezeichnet wird. Schelling ist so in die Nähe Spinozas und Giordano Brunos gerückt, nach dem denn auch eine Schrift von 1802 genannt ist. In populärer, anziehender und klarer Form (was man nur von wenigen Schriften unseres philosophischen Romantikers sagen kann) stellen seinen damaligen Standpunkt die »Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums« (1803) dar, die sich daher am besten zur Einführung in seine Denkart eignen. Aufgabe der Wissenschaft ist nicht die trockene Erfahrung, sondern die von »höheren« Gesichtspunkten ausgehende »Konstruktion« der Religion, die mit Poesie, der Wissenschaft, die mit der Kunst zusammenfällt, der Geschichte, des Staates, aber auch – der Materie, des Lichtes, der Schwere. Erster Zweck der Philosophie bleibt: die Geburt aller Dinge aus Gott oder dem Absoluten zu begreifen!

Mit dieser Geistes- und Schriftenfülle hat sich aber der erst Achtundzwanzigjährige, der jetzt in das damals modern gewordene Bayern (erst nach Würzburg, später nach München) übersiedelte, sozusagen auch erschöpft. Was nun noch kommt, bedeutet einen entschiedenen Abstieg. Freilich seine seelischen Wandlungen dauern noch fort. Es folgt namentlich eine Wendung zur Religion, die den Abfall von Gott zur Ichheit aus der »Freiheit« des menschlichen Willens, das heißt im Grunde dem Dunklen, Verstand- und Bewußtlosen in Gott erklärt. Damit beginnt – obgleich dazwischen noch eine kurze Epoche einzuschalten ist, in der er die Kunst als höchste Gestaltung des Irdischen verehrt – sein Einlenken in die Bahn des Irrationalen (Vernunftlosen), Mystischen und Theosophischen, die ihn unter anderem in der Schrift von den »Weltaltern« (1815) Gottes Offenbarung vor der Weltschöpfung, in dieser Welt und in der Zeit, die nach ihr kommen wird, behandeln läßt. Das ist schon keine Philosophie mehr, sondern Mystik!

Eben deshalb berief ihn der romantische Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV. ein Jahr nach seiner Thronbesteigung (1840) nach Berlin, um der »Drachensaat« des »Unglaubens« zu steuern. Allein er enttäuschte Freund wie Gegner. Seine schon lange angekündigte »Philosophie der Offenbarung« kam nicht zustande. Es kam nur zu einer Antrittsvorlesung, die den Spott und Unwillen aller freier Denkenden erregte, unter anderen den jungen Friedrich Engels zu seiner kecken Erstlingsschrift (1842) veranlaßt. Der alte Philosoph zog sich bald von seiner Lehrtätigkeit zurück und starb fast vergessen in einem Schweizer Bad im August 1854.

3. Hegel (1770 bis 1831)

In vollstem Gegensatz zu dem beweglichen, auch äußerlich Leben sprudelnden Schelling vertritt sein Landsmann Georg Friedrich Wilhelm Hegel, als Sohn eines herzoglich württembergischen Rechnungsbeamten am 27. August 1770 in Stuttgart geboren, die schwerfällige, bedächtige, ganz aufs Innere gerichtete Seite der schwäbischen Art. Schon im Tübinger Stift, das er, obwohl fünf Jahre älter, mit Schelling und dem Dichter Hölderlin gemeinsam besucht, heißt er »der alte Mann«. Erst als Dreißigjähriger beginnt er seine philosophische Laufbahn, indem auch er sich zu Anfang 1801 in dem damaligen philosophischen Mittelpunkt Deutschlands, dem kleinen Jena, als Privatdozent der Philosophie niederläßt. Anfangs wirkt er mit Schelling gemeinsam, aber die blendenden Einfälle und kecken Gedankensprünge des Jüngeren befriedigen den Systemdrang seines nüchterneren und doch tiefen Geistes nicht. 1807 veröffentlicht er sein erstes größeres Werk, die »Phänomenologie (Lehre von den Erscheinungsformen) des Geistes«, wird dann für acht Jahre Rektor des Nürnberger Gymnasiums, um 1816 wieder in den ihm gemäßeren Beruf des Philosophiedozenten, diesmal als ordentlicher Professor in Heidelberg, zurückzukehren. Von da 1818 nach Berlin berufen, erlebt er dort seine Glanzzeit. Sozusagen als philosophischer Diktator Deutschlands, von seiner Studierstube und seinem Katheder aus – ein eintöniger und unbeholfener Redner ist er allerdings geblieben – die geistige Welt erobernd, indem er in sein »System« den gesamten geistigen Inhalt seiner und aller vergangener Zeit einzuschließen suchte. Mitten aus dieser Tätigkeit raffte ihn am 14. November 1831 die Cholera hinweg.

Es ist unmöglich, auf wenigen Seiten ein auch nur annäherndes Bild dieses umfassenden und höchst verwickelten Systems zu geben. Begnügen wir uns mit einigen groben Umrissen, um nur dasjenige etwas genauer ins Auge zu fassen, was auf seine Zeitgenossen und Nachfolger am stärksten gewirkt hat und auch heute noch fruchtbar erscheint.

Hegel faßt einmal in einem Jugendentwurf den Kerngedanken seiner ganzen späteren Philosophie in den kurzen Satz zusammen: »Das Absolute ist Geist, und es ist dialektischer Art, das heißt in beständiger Entwicklung begriffen.« In diesen wenigen Worten ist in der Tat der Grundgedanke seines Systems beschlossen.

Es geht aus von dem, womit eine behutsame, auf dem Boden der Tatsachen bleibende Philosophie, wie die Kantische, allenfalls endet, dem »Grund der Welt«, dem »Absoluten«, das heißt von allen Einzelbestimmungen völlig »Losgelösten«, das er auch als die »Vernunft«, die »Idee«, den »Geist« bezeichnet. So beginnt denn sein wissenschaftliches Grundwerk, die »Wissenschaft der Logik« (3 Bände, 1812 bis 1816), mit dem »reinen«, das bedeutet für ihn: noch ganz inhaltlosen und unbestimmten »Sein«. Aus diesem wird in rein abstrakter, von aller Wirklichkeit gelöster Gedankenführung das Werden, das Dasein und das unendliche Für-sich-sein oder die »Qualität« (Beschaffenheit) abgeleitet, die ihrerseits dann in die erst ebenfalls reine, darauf bestimmte und zuletzt unendliche »Quantität« »umschlägt«. Und so geht es weiter, in unendlichen Dreiteilungen zu Wesen, Erscheinung und Wirklichkeit, von da zum subjektiven, zum objektiven Begriff und zur Idee.

Die Idee entschließt sich, »sich als Natur frei aus sich zu entlassen«: die Logik wird zur Naturphilosophie. Denn die Natur ist nichts anderes als »die Idee in der Form ihres Andersseins«. Gewiß, sie ist ein »System von Stufen«, die aber beileibe nicht als »eine aus der anderen natürlich erzeugt« betrachtet werden, sondern allein aus »der inneren, den Grund der Natur ausmachenden Idee« fortschreitend von der Mechanik über die Physik zur Organik. Im Tier befreit sich »die Idee« von der Angewurzeltheit am Boden, aber erst im menschlichen Geiste findet sie sich zu sich selbst zurück. Der Hauptteil der Hegelschen Philosophie ist denn auch die Philosophie des Geistes. Nach seinem »Heraustreten« aus der Natur richtet der Geist seine Aufmerksamkeit zunächst auf sich selbst, als »subjektiver« Geist: in der Anthropologie, der »Phänomenologie« (S. 236) und der Psychologie. Dieser subjektive Geist geht dann, in seiner sich selbst bestimmenden Freiheit, über in den objektiven, der sich verwirklicht in der Welt des Rechts, der Moralität und der Gemeinschaft in Familie, bürgerlicher Gesellschaft und Staat. Völlig zur Entfaltung kommt er jedoch erst in der Weltgeschichte (S. 239 f.). Der subjektive und der objektive Geist finden ihre höhere Einheit endlich im »absoluten« Geist, der die Gegensätze von Subjekt und Objekt, Sein und Denken aufhebt und das »Wesen« des Endlichen wie Unendlichen erkennt. Er stellt sich wiederum in drei Formen dar: Indem er sich in voller Freiheit anschaut, wird er zur Kunst; indem er sich andächtig vorstellt, zur Religion, indem er sich denkend begreift, zur Philosophie; womit der ganze Kreis vollendet ist.

Hegels gesamtes System ist in übersichtlicher Darstellung in seiner Enzyklopädie (zusammenfassenden Darstellung) der philosophischen Wissenschaften im Grundriß (1817, 3. Auflage 1830) zusammengefaßt. Besonders erschien außerdem nur noch die »Rechtsphilosophie« (1821), während die übrigen Teile, abgesehen von kleineren Abhandlungen, erst von seinen Schülern in Gestalt seiner Vorlesungen (in 18 Bänden, 1832 bis 1845) veröffentlicht worden sind. Je mehr er sich der tatsächlichen Welt, namentlich in Staat und Geschichte, zum Teil auch in Religion und Kunst, nähert, desto anziehender wird seine Darstellung: ganz wird man freilich den Eindruck des Gekünstelten, zum Behuf des »Systems« Zurechtkonstruierten nicht los. Wir begnügen uns im folgenden, die unserer Ansicht nach heute noch am stärksten wirkenden Teile herauszugreifen: seine Geschichts- und seine Staatsphilosophie. Zuvor aber müssen wir das eigentlich Fruchtbare daran wenigstens kurz skizzieren: den seiner sogenannten »dialektischen« Methode zugrunde liegenden Entwicklungsgedanken.

Alles in der Welt ist – wir denken an den alten Heraklit zurück – Werden, ist Entwicklungsprozeß vom kleinsten Grashalm bis zu ganzen Sternensystemen. Überall steht neben dem »Sein« ein Nicht-mehr-, ein Noch-nicht-, ein Nichtganz-Sein. Leben steckt nur im Werden; bloß auf dem Wege der Entwicklung kann ein Ding, was es auch sein mag, in die Wirklichkeit treten. Alles heute Vorhandene war schon vom Uranfang her im Keime da. Nun aber kommt zu dem Gedanken der Entwicklung überhaupt noch ein zweiter hinzu, der zwar in Fichtes und Schillings Philosophieren sich schon leise andeutete, aber erst bei Hegel zur vollen und bewußten Durchführung kommt. Es liegt nach ihm im Wesen des Begriffs, da er ja begrenzt ist, sich selbst zu entzweien, »in sein Gegenteil umzuschlagen«. Auf solche Weise entspringt ein neuer Begriff (These – Antithese), aus dessen Verbindung mit dem ersten dann eine höhere Einheit (Synthese) entsteht, und so geht es bis ins Unendliche fort. Diese vorwärtstreibende, die Gegensätze erst schaffende, dann überwindende Methode nennt Hegel mit einem alten platonischen Worte die »dialektische«. Sie beherrscht das gesamte uns bekannte Dasein. Auf dem Gipfel der Entwicklung bereitet sich schon die Auflösung vor. Andererseits sind Einseitigkeiten notwendig und nur in dem Falle vom Übel, daß die Entwicklung durch sie ins Stocken gerät. Jede Entwicklungsstufe aber muß ganz durchgemacht werden. Je stärker die Einseitigkeit war, um so sicherer stürzt sie von selbst zusammen.

Dieses allgemeine Entwicklungsgesetz herrscht nun nicht bloß in der äußeren Natur und im Leben des einzelnen, sondern vor allem auch in der menschlichen Geschichte. Auch hier ist jede Stufe notwendig, demnach für ihre Zeit berechtigt, insofern also der »Vernunft« der Dinge entsprechend. So kommt Hegel zu dem berüchtigten Satze, der in der Vorrede zu seiner »Rechtsphilosophie« von 1821 steht und ihm so viele Angriffe zugezogen hat: »Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.« Die gesamte Wirklichkeit ist eben nach Hegel die Verwirklichung der Vernunft. Eigentlich darf es daher für ihn nichts »Gutes« und nichts »Schlechtes« geben; eine Ethik im Sinne des Kantischen oder Fichteschen Sollens ist mit seinem Standpunkt unvereinbar. Aber natürlich kann Hegel doch nicht umhin, von Gutem und Schlechtem, von einem »Fortschritt« zur »Freiheit« zu reden. Auch in der Geschichte erweist sich das »Böse« als ein Teil von jener Kraft, die zum »Guten« vorwärtstreibt, zum Beispiel der Krieg zum Frieden, die Willkür zum Gesetz, die Herrschaftslosigkeit zur Herrschaft. Die »List« der Vernunft ist es eben, »daß sie die Leidenschaften der Menschen für sich wirken läßt«. Und so heißt die Geschichte erklären für Hegel: »die Leidenschaften der Menschen, ihr Genie, ihre wirkenden Kräfte enthüllen«, deren sich – und nun spielt seine religiöse Überzeugung hinein – die göttliche Vorsehung bedient, um ihren Plan, nämlich den vernünftigen Endzweck des Menschengeschlechts, zu verwirklichen. Auf die zahlreichen, vielfach höchst geistvollen, freilich oft auch sehr »konstruktiven« (absichtlich aufgebauten) geschichtlichen Einzelausführungen können wir leider nicht eingehen.

Die Vollendung der »Sittlichkeit« erblickt Hegel, in einem gewissen Widerspruch mit der »Vernünftigkeit« alles Wirklichen, im Staate. Allerdings will er auch auf diesem Gebiet kein Ideal aufstellen. Politische Ideale gelten ihm als leere Träumerei, und er befehdet seinen liberalen Kollegen Fries (S. 227), weil er »sich nicht entblödet« habe, zu behaupten, daß in einem Staate, in dem echter Gemeingeist herrsche, »das Leben von unten, aus dem Volke« oder, wie Hegel hochmütig sagt, aus dem »sogenannten« Volke komme. Er selbst will vielmehr den Staat »als ein an sich Vernünftiges begreifen und darstellen«. Aber er kommt dabei beinahe zu einer Vergöttlichung desselben. Der Staat stellt für ihn »die vollständige Realisierung des Geistes im Dasein«, ja »die göttliche Idee« dar, »wie sie auf Erden vorhanden ist«. Daß er auch die Organisation der »Freiheit« bedeuten soll, davon merkt man in dem konstitutionellen Erbfürstentum, das Hegel für die beste Verfassung erklärt, nicht viel. Das »Volk« erhält nur einen sehr bescheidenen Anteil am Staatsleben in den sogenannten »Ständen« zugewiesen; dagegen repräsentiert der Monarch in seiner geheiligten Person die »lebendig gewordene Gattungsvernunft«. Auch am Privateigentum hält der Philosoph durchaus fest. Und die »Besten« des platonischen Idealstaats (S. 41) sind ihm, am Schlusse seiner »Philosophie der Geschichte«, zu den »Wissenden« der preußischen Bureaukratie seiner Zeit geworden; denn »die Regierung ruht in der Beamtenwelt«!

Wir werden sehen, wie die in Hegels Philosophie nebeneinanderliegenden sehr verschiedenen, teilweise einander entgegengesetzten Gedankenreihen schon bald nach seinem Tode zu einer völligen Spaltung seiner »Schule« führten, haben aber vorläufig noch mehrere zeitgenössische kritische Neben-, ja zum Teil Gegenströmungen gegen die Philosophie der Romantik zu betrachten.

4. Schleiermacher, Herbart und Beneke

Von ihnen gehört

1. Schleiermacher (1768 bis 1834)

ursprünglich dem Kreise der Romantiker selbst an, entfernt sich aber durch seine kritische Besonnenheit später von ihnen. Er ist wohl der größte Theologe, den der Protestantismus seit der Reformationszeit besessen hat. Auch auf philosophischem Gebiet beruht seine Bedeutung im wesentlichen auf seiner Religionsphilosophie. Seine Herkunft aus einer alten schlesischen Predigerfamilie, seine Erziehung in einer Herrnhuter Anstalt haben dauernde Spuren bei ihm hinterlassen, wie frei er sich auch später religiös entwickelte. Denn seine »Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern« (1799) – diese waren damals unter jenen die große Mehrzahl – haben alles Dogmatische ganz abgestreift. Religion ist ihm nichts anderes als das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit vom Unendlichen; Unsterblichkeit: Eins sein mit dem Unendlichen mitten in der Endlichkeit; »Offenbarung« kann jede neue und ursprüngliche Anschauung des Alls heißen. Ja, »es gibt keine gesunde Empfindung, die nicht fromm wäre«. Das religiöse Gefühl soll nur »wie eine heilige Musik alles Tun des Menschen begleiten«; er soll »alles mit, nichts aus Religion« tun.

Hat Schleiermacher auch in seinen späteren, theologischen Schriften, namentlich »Der christliche Glaube« (1821/22) und »Die christliche Sittenlehre«, diese seine freie Religiosität mit dem Christentum als der »schlechthin vollkommenen« Religion zu verbinden gesucht, so hat er doch seine geistige Auffassung des letzteren stets bewahrt und wegen seines kirchlichen wie politischen Freisinns zu Berlin, wo er seit 1809 als Prediger und seit Gründung der Universität auch als Professor der Theologie wirkte, viele Anfeindung, unter anderen auch von Hegel, erfahren.

Neben Kant und Spinoza hat namentlich auch Plato, dessen Werke er zum größten Teil verdeutscht hat, auf ihn gewirkt. Sein wichtigstes philosophisches Werk sind die »Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre« (1803). Eine zum Vermitteln und Versöhnen der Gegensätze geneigte Natur, erstrebt er auch auf dem Gebiet des sittlichen Handelns Einheit von Vernunft und Natur, Sollen und Sein, die nach ihm keine Gegensätze sind. Gegenüber der Kantischen Ethik, die ihm zu starr und juristisch erscheint, betont er stark den Wert des Individuellen: Jeder soll die Menschheit auf seine eigene Art darzustellen, »immer mehr zu werden« suchen, »was er ist«, wenngleich er auch nie damit fertig wird. Auch die Erziehung soll sich, unabhängig nicht bloß von der Kirche, sondern auch vom Staat, rein auf die Grundlage der Wissenschaft und des allgemein Menschlichen stellen.

Die freie und gemütsinnige, aber der Schärfe der Begriffe ermangelnde Persönlichkeit Schleiermachers war nicht dazu geeignet, eine philosophische Schule, wie die Hegelsche oder Herbartsche, zu bilden. Dagegen hat seine Verbindung von Philosophie und Religion nicht bloß die moderne evangelische Theologie mitbegründen helfen, sondern auch manche philosophische Denker lebhaft angeregt, wie zum Beispiel meinen Vater Franz Vorländer (in Marburg, 1806 bis 1867), der jedoch in seiner letzten Schrift »Das Evangelium der Wahrheit und Freiheit, gegründet auf das Natur- und Sittengesetz« (1865) die Frage nach der Wahrheit nur durch die Wissenschaft beantwortet wissen will.

2. Herbart (1776 bis 1841)

Im Gegensatz zu dem gemütvollen, warmherzigen Schleiermacher ist Johann Friedrich Herbart, Sohn eines Oldenburger Justizrats, von 1797 bis 1800 Hauslehrer in der Schweiz, seit 1805 Professor in Göttingen, Königsberg und wieder Göttingen, eine vorzugsweise verstandesmäßige Gelehrtennatur. Dem entspricht auch sein aller Gefühlsromantik abgeneigter philosophischer Standpunkt. Wenn er sich einmal als einen »Kantianer, aber vom Jahre 1828« (dem Erscheinungsjahr seiner »Metaphysik«) bezeichnet hat, so hat er doch mit dem kritischen Philosophen eigentlich nichts anderes gemein als das Ausgehen von der Erfahrung oder, wie er sagt, vom »Gegebenen«, in dessen »begrifflicher Bearbeitung« die Aufgabe der Philosophie bestehe. Seine Metaphysik ist die Wissenschaft von den »Realen« oder der Vielheit der einfachen »wirklichen« Dinge, deren »starres Dingsein« sich gegen den Gedanken der Entwicklung sträubt; die daher auch ziemlich unfruchtbar geblieben ist und heute wohl nirgendwo Anhänger mehr besitzt. Die Ethik oder praktische Philosophie ist für ihn nur ein Teil der – Ästhetik, nämlich Lehre vom sittlichen Geschmack, der sich in der Beurteilung der menschlichen Handlungen äußert, oder: »Aufstellung dessen, was gefällt oder mißfällt, in den einfachsten Ausdrücken.« Solcher Wertbestimmungen einfacher Willensverhältnisse oder »praktischer Ideen« unterscheidet er fünf: die der inneren Freiheit, der Vollkommenheit, des Wohlwollens oder der Güte, des Rechts und bei Billigkeit. Von ihnen abgeleitet werden weitere fünf soziale Ideen: der Rechtsgesellschaft, des Lohn-, des Verwaltungs-, des Kultursystems und der »beseelten Gesellschaft«. Das Wesen des Staates erblickt Herbart in dem Gleichgewicht, der »Statik und Mechanik«, der sozialen Kräfte. Gute Sitten und eine gute Regierung, der vertrauend man »dankbar zum Himmel blicken soll«, dünken diesem konservativen Denker weit wertvoller als »abstrakte Rechtsformen« und verfassungsmäßige Bürgschaften. Er hat denn auch an dem mannhaften Auftreten der »Göttinger Sieben« gegen den Umsturz der hannoverschen Verfassung (1837), überhaupt am politischen Leben nicht teilgenommen.

Weit wichtiger als diese gesamte »praktische Philosophie«, einschließlich seiner ziemlich farblosen Religionsphilosophie – auch von den religiösen Kämpfen seiner Zeit hat der vorsichtige, persönlich am kirchlichen Bekenntnis festhaltende Gelehrte sich durchaus ferngehalten –, ist seine Psychologie, das heißt die Lehre von der Selbsterhaltung der Seele wider die ihr von außen drohenden Störungen. Aufgabe einer wissenschaftlichen (»exakten«) Psychologie, wie Herbart sie erstrebt, ist eine mathematisch begründete Statik und Mechanik der seelischen Vorstellungen oder Kräfte, die einander je nachdem verdunkeln, hemmen, im Gleichgewicht halten oder fördern. Gleichartige Vorstellungen verschmelzen, ungleichartige verbinden sich (zum Beispiel grün und sauer zu dem Bild der Gurke): mehr als ihrer drei sind selten im Bewußtsein vereinigt. Die psychologische »Statik« sucht die Gesetze der im Gleichgewicht befindlichen Vorstellungen in mathematische Formeln zu kleiden, die »Mechanik« erörterte ihre Bewegung, das heißt ihr Aufsteigen und Sinken, ihre Verbindung (Assoziation) und Wiederherstellung (Reproduktion). Auf die Vorstellungen werden alle anderen seelischen Erscheinungen, wie Gefühle und Begierden, die sich zum Willen »heraufarbeiten«, zurückgeführt. Der Charakter eines Menschen zum Beispiel beruht darauf, daß bestimmte Vorstellungsmassen, durch Aufnahme (Apperzeption) verwandter angewachsen, herrschend geworden sind und nun die entgegengesetzten niederhalten. Der physiologische Sitz der Seele ist das Gehirn. Ihre Unsterblichkeit versteht sich, infolge der Zeitlosigkeit alles Realen, »von selbst«. Herbarts unbestrittenes Verdienst besteht in seiner oft recht scharfsinnigen Zurückführung verwickelter seelischer Vorgänge auf die gesetzmäßige Verflechtung einfachster Vorstellungen und Empfindungen. Aber mit mathematischen Formeln läßt sich die vielgestaltige Welt menschlicher Gefühle nicht erfassen. Dieser Teil seiner Psychologie ist denn auch von seinen Anhängern heute fast allgemein aufgegeben.

Am erfolgreichsten hat sich ihre Anwendung auf die Pädagogik erwiesen. Herbart, schon als Hauslehrer für die theoretischen Probleme der Erziehungskunst interessiert, hat sich 1803 als erster Privatdozent der Pädagogik in Göttingen niedergelassen, in Königsberg das erste pädagogische Seminar gegründet und neben einer »Allgemeinen Pädagogik« (1806) den volkstümlichen »Umriß pädagogischer Vorlesungen« (1835) verfaßt, der zur Einführung in seine Gedanken am geeignetsten ist. Während die Ethik auf das Ziel der Erziehung, die »Tugend« oder das richtige Verhältnis von Einsicht und Wille, hinweist, so erörtert die Haupt- oder Grundwissenschaft, die Psychologie, Weg, Mittel und Hindernisse. Der Erziehung schreibt Herbart drei Aufgaben zu: 1. die Regierung, das heißt Gewöhnung an äußere Ordnung, Gehorsam usw., 2. den Unterricht und 3. die Zucht, das heißt Bildung des Willens und Charakters; doch werden die beiden letzten nicht klar genug voneinander geschieden, sondern das Schlagwort vom »erziehenden Unterricht« geprägt. Der intellektualistische (verstandesmäßige) Charakter tritt, wie schon in seiner Psychologie, stark in den Vordergrund. Von den sozialen Gedanken eines Fichte und Pestalozzi bleibt dieser Pädagoge unberührt.

Da er sich jedoch in Theorie und Praxis um die Sache der Erziehung, lange Zeit fast allein unter den Philosophen, unleugbar große Verdienste erworben hat, ebenso wie er durch seine scharfsinnigen Zergliederungen die Psychologie vielfach gefördert hatte, so gewann zuerst die letztere, dann auch die Pädagogik zahlreiche Anhänger; ja es bildete sich, zumal nach der Spaltung und dem Verfall des Hegelianismus, die wir noch kennenlernen werden, eine förmliche Herbartsche Schule, die sich namentlich unter unseren Volksschullehrern stark verbreitete und erst neuerdings durch die an Kant und Pestalozzi anknüpfende soziale Pädagogik Natorps zurückgedrängt worden ist.

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Anhangsweise sei hier noch der an Herbart anknüpfende Denker Eduard Beneke (in Berlin, 1798 bis 1854) genannt, der wie jener die Psychologie für die philosophische Grundwissenschaft erklärt und sie als Erfahrungswissenschaft nach der Methode der Naturwissenschaft behandeln will, die Logik als »Kunstlehre des Denkens«, die »praktische Philosophie« als Wertschätzung der Gefühle auffaßt und auf seine »Erfahrungsseelenlehre« (1820) gleichfalls eine »Erziehungs-und Unterrichtslehre« (1835/36) gegründet hat. Konnte er bei Lebzeiten auch nicht gegen den herrschenden Hegelianismus aufkommen, so haben doch seine Psychologie und seine Pädagogik eine ganze Reihe Anhänger gefunden.

Nach dieser Abschweifung ins »realistische« Lager haben wir nunmehr einen, trotz seines anscheinend religiösen Radikalismus doch zur Romantik gehörigen, von der Laienwelt mehr als von den Philosophen bewunderten Denker zu betrachten.

5. Schopenhauer

Artur Schopenhauer (1788 bis 1860) stammt aus einer wohlhabenden Danziger Kaufmannsfamilie, zieht aber nach des Vaters Tod mit der Romane schreibenden Mutter Johanna nach Weimar, erwirbt sich rasch die Reife zur Universität und studiert in Göttingen und Berlin Plato, Kant und, der romantischen Zeitströmung folgend, die Inder. Während die deutsche Jugend zum Freiheitskrieg gegen Napoleon sich erhebt, schreibt er seine Doktorarbeit »Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde«; bald darauf wird er durch Goethe zu einer kleinen Schrift »Über das Sehen und die Farben« angeregt. Dann arbeitet er sein erstes großes Werk »Die Welt als Wille und Vorstellung« (1819) aus, das bereits seine ganze Weltanschauung im großen enthält, aber länger als ein Menschenalter hindurch nahezu unbekannt bleibt. Auch als Berliner Privatdozent vermag er gegen den allmächtigen Hegel nicht aufzukommen und verläßt, zugleich aus Angst vor der Cholera, 1831 endgültig diese Stadt, um von 1833 ab den Rest seines Lebens in der freien Reichsstadt Frankfurt a. M. als einsamer Sonderling zu verbringen. Schon Goethe hatte gezweifelt, ob »die Herren vom Metier (Handwerk) ihn in ihrer Gilde passieren lassen« würden. Aus der gänzlichen Nichtbeachtung auch der weiteren Werke Schopenhauers durch die offizielle Wissenschaft erklärt sich zum Teil der in seinen Schriften oft hervorbrechende Haß gegen die »Windbeutel« von Philosophieprofessoren, die » von der Philosophie, nicht für sie lebten«. Erst die 1851 unter dem an eine Schrift Goethes erinnernden Titel »Parerga und Paralipomena« (wörtlich: Nebenwerke und Ausgelassenes) veröffentlichten allgemeinverständlichen und geistvollen Erläuterungen seiner Hauptgedanken legten Bresche in diesen Wall. Seine bis dahin vereinzelten Anhänger mehrten sich, er wurde bekannt; 1856 stellte eine philosophische Fakultät eine Preisaufgabe, die seine Lehre betraf. Im Genuß seines anfangenden Ruhmes starb der noch Schaffensfrohe im September 1860.

In noch weit stärkerem Maße als bei Fichte oder Schelling ist die Lehre Schopenhauers eine Widerspiegelung seiner Persönlichkeit mit ihren Vorzügen und ihren Schwächen. Er proklamiert sie denn auch als Lebenskunst, und als ihren Quell und höchsten Maßstab, im Gegensatz zur wissenschaftlichen Denkweise – schon deshalb gehört er, trotz des vielfach abweichenden Inhalts seiner Lehre zur Romantik –, die »unmittelbare Anschauung«.

Diese »unmittelbare Anschauung« hat freilich mit der naivdinglichen Vorstellung des gewöhnlichen Menschen nichts zu, tun. Im Gegenteil, sein an Kant und mehr noch an Berkeley anknüpfender Anfangssatz lautet: »Die Welt ist meine Vorstellung.« Kants Denkformen werden jedoch auf drei beschränkt: Raum, Zeit und Kausalität. Ihr gemeinsamer Ausdruck ist der weiter nicht erklärliche »Satz vom Grunde«, her uns in vierfacher Gestalt erscheint: 1. des Seins in der Mathematik (ihre Gegenstände: Raum und Zeit), 2. des Erkennens in der Logik (ihre Aufgabe: Verbindung der Begriffe), 3. der Motivation (also des inneren Beweggrundes) in der Geschichte (die Taten der Menschen im großen), 4. der Kausalität in der Naturwissenschaft (die Materie).

Das »innerste Wesen« der Dinge jedoch liegt nicht in dieser meiner Vorstellung, die bloß ein Trugbild, ähnlich dem indischen »Schleier der Maja« (des Scheines), darstellen würde, falls nicht ein Ding an sich hinter ihr verborgen wäre: die »jedem lebenden Wesen unmittelbar gewisse« Urtatsache des Willens. Wille aber bedeutet für Schopenhauer, im schärfsten Gegensatz zu Kant, auf den er sich im übrigen sehr häufig als auf den trefflichsten aller – vorschopenhauerschen Philosophen beruft, nicht die bewußte Vernunft, sondern den unbewußten Trieb, dessen »Objektivation« beim Menschen sein Leib darstellt; während seine niederste Stufe in den allgemeinsten Naturkräften wie Schwere, Flüssigkeit, Elektrizität usw. enthalten ist. Der Wille an sich ist »grundlos«, das heißt dem Kausalgesetz nicht unterworfen und doch »der alleinige Kern jeder Erscheinung«. Er offenbart sich ebensosehr in einer wie in Hunderttausenden von Eichen. Während er in der unorganischen Natur noch »blinder Drang« ist und auch noch bei den Pflanzen und dem vegetativen Teil der tierischen Vorgänge völlig erkenntnislos bleibt, nur auf Reize antwortet, so bricht bei dem seine Nahrung wählenden Tier und noch mehr natürlich beim Menschen die »Welt als Vorstellung« und mit ihr das Licht des Verstandes über ihn herein, wodurch ihm freilich die bisherige Unfehlbarkeit seines Instinkts verlorengeht. So ist die Welt, in der wir leben, gleichzeitig »durch und durch« Wille und »durch und durch« Vorstellung.

Aber erst in der Erkenntnis der Idee (vergl. Plato) reißt sich der Mensch von dem Sklavendienst seines Willens los und schaut die Dinge in ihrer wahren, ewigen Gestalt. Das ist indes nicht Sache der Wissenschaft, die nur Einzelbeziehungen zu erkennen vermag, sondern der Kunst, weil des Genies, dessen der gewöhnliche Mensch, diese »Fabrikware der Natur«, nicht fähig ist. Die künstlerische Betrachtung versenkt sich ganz in die Seligkeit des willenlosen Anschauens; ihr ist es einerlei, ob sie den Untergang der Sonne aus dem Palast oder dem Kerker erblickt. Schopenhauers Ästhetik, im dritten Abschnitt seines Hauptwerks enthalten, bietet durch ihren reizvollen Einzelinhalt den wertvollsten Teil seines Systems und hat darum so musikalische Naturen wie Richard Wagner und Friedrich Nietzsche, wenn auch den letzteren nur vorübergehend, in ihre Kreise gezogen. Die Kunst vermag uns von der Qual und Unruhe des Lebens zu erlösen; aber stets nur auf kurze Zeit. Die wahre Erlösung bringt uns erst der »ernsteste« und für Schopenhauer wichtigste Teil seiner Philosophie: die Ethik. Freilich lehrt sie kein »unbedingtes Sollen«; so redet man nur zu Unmündigen. Sie will nicht einmal vorschreiben oder leiten, sondern rein betrachtend (»theoretisch«) sich verhalten, als das »klare Weltauge«, das die Dinge widerspiegelt. Was ist denn nun das Wesen dieser Welt? Wille ist Wille zum Leben. Da jedoch dieser Wille, sogar derjenige der äußeren Natur, beständig gehemmt wird, so ist alles Leben Leiden, und zwar ein um so stärkeres, je feiner und klüger das leidende Geschöpf ist. Not ist die beständige Geißel des Volkes, Langeweile die der Reichen, unser ganzes leibliches Leben nur ein immer aufgeschobener Tod. Übrigens verdient die Menschheit im ganzen dies ihr trauriges Schicksal, weil sie im ganzen nichts wert ist. Bringt doch die meisten schon die unmittelbare Not des Lebens dazu, ihre Lebens bejahung recht egoistisch auf die Mittel zur Befriedigung ihres elementarsten »Willens zum Leben«, des Selbsterhaltungs- und Fortpflanzungstriebs, zu verwenden. Daher ist Schopenhauers ethisches Endziel die Verneinung des Willens zum Leben, der Pessimismus. Die Erkenntnis des wahren Wesens der Dinge führt zu freiwilliger Entsagung, gänzlicher Willenlosigkeit und ruhiger Gelassenheit, wie sie das Urchristentum, die deutsche Mystik, die mittelalterlichen Bettelmönche und die indischen Buddhisten verkündet und gelebt haben, ja zur sich selbst verleugnenden und sich selbst kasteienden »Heiligkeit«. So christlich-romantisch endet des »Atheisten« Schopenhauer irrationale (die Vernunft verleugnende) Philosophie.

Nur noch ein kurzes Wort über seine gegenüber allem vorigen ziemlich in den Hintergrund tretende Rechts- und Staatslehre. Um den natürlichen »Krieg aller gegen alle« (Hobbes) zu dämpfen und die Masse des Unrechtleidens zu mindern, ist der Staatsvertrag oder das Gesetz geschaffen; es legt gleichsam den Raubtieren den Maulkorb an. Es kümmert sich übrigens nicht um die Gesinnung, sondern bloß um die versuchte oder ausgeführte Tat. Von sozialem Interesse ist die gelegentliche Bemerkung, daß ein »moralisches begründetes« Recht auf Eigentum einzig auf dessen Bearbeitung sich gründen könne. Im übrigen weiß Schopenhauer dem Elend dieser Welt nur das Mitleid entgegenzustellen, das auf der altindischen Erkenntnis des »Das bist du«, das heißt der Einsicht beruht, daß im anderen dasselbe Wesen wohnt wie in mir selbst. Der wahrhaft »Gute«, d. h. derjenige, in dem die Erkenntnis Herr wird über den blinden Willensdrang, wird sich Genüsse versagen und Entbehrungen übernehmen, um fremdes Leid zu mindern; er wird zum Beispiel auch die Tierquälerei verabscheuen. Daraus entsteht dann die selbstlose, mit dem anderen leidende, reine Menschenliebe, die uns erlöst, weil sie zur völligen Aufhebung des »Willens zum Leben«, mithin aller Triebe führt.

Es ist auffallend, daß diese pessimistische Weltentsagungslehre in den letzten Jahrzehnten des sonst so realistischen neunzehnten Jahrhunderts zahlreiche Gemüter für sich gewinnen konnte. Zum Teil wirkte sie vielleicht als Gegengift gegen den damaligen Kultus der materiellen Interessen und der Macht um der Macht willen bei denen, die zu einem offenen Kampfe gegen diesen vorherrschenden Zug des Bismarckschen Zeitalters nicht den Mut fanden. Andererseits wirkten die schriftstellerischen Vorzüge: die klare, geistreiche Darstellung, die Bekanntheit mit der ganzen Weltliteratur, das Persönliche seines Stils und nicht zum wenigsten auch die Geringschätzung der offiziellen Philosophie bestechend gerade auf die Laienwelt. Von Philosophieprofessoren war sein einziger Anhänger der jüngst in Kiel gestorbene Paul Deussen, der vor einigen Jahren eine Schopenhauer-Gesellschaft gegründet und eine neue Ausgabe Schopenhauers veranlaßt hat, übrigens die Lehre des Meisters mit anderen Elementen: Kant, indischer Philosophie und einem vergeistigten Christentum verbindet. Von sonstigen bekannten Denkern hat er auf Eduard v. Hartmann und Friedrich Nietzsche, die wir nunmehr noch zu betrachten haben, stark gewirkt.

6. Hartmann und Nietzsche

Schon Schopenhauer kann, falls man mehr auf die Zeit seiner Hauptwirkung als auf die Entstehungs- und Erscheinungszeit seiner Werke sieht, als Nachzügler der Romantik bezeichnet werden. In noch höherem Grade trifft das auf Eduard v. Hartmann (1842 bis 1906) und Friedrich Nietzsche (1844 bis 1900) zu, deren Hauptwerke, »Die Philosophie des Unbewußten« und »Zarathustra«, erst 1869 bezw. 1883 erschienen sind. Dennoch behandeln wir sie bereits an dieser Stelle, weil sie, darin mit Schopenhauer verwandt, einen »irrationalen« (widervernünftigen), dem wissenschaftlichen Denken widersprechenden Leitgedanken zum obersten Maßstab ihres Philosophierens machen.

1. Eduard von Hartmann (Berlin),

als junger Offizier durch ein schweres Knieleiden zur Aufgabe seines Berufs genötigt, erregte bereits als Siebenundzwanzigjähriger großes Aufsehen durch seine in die Welt hineingeworfene, in dieser Weise noch nie verkündete »Philosophie des Unbewußten«. Überall nämlich, wo er in der wissenschaftlichen Erklärung der Natur, von der auch er seinen Ausgang zu nehmen vorgibt, eine Lücke wahrzunehmen glaubt, setzt er, allerdings nicht die göttliche Allmacht, aber das Zauberwort des Unbewußten ein. Die »bewußte Vernunft« ist nach ihm »nur negierend, kritisierend, kontrollierend, korrigierend, messend, vergleichend, ein- und unterordnend«. Das Unbewußte dagegen ist schöpferisch und erfinderisch, einerlei, ob es bloß im Instinkt, den Reflexbewegungen, der Naturheilkraft oder auch im menschlichen Geist und Charakter, in der Sprache, dem Denken, dem Schaffen des Künstlers zum Ausdruck kommt, oder gar in der Geschichte (vergl. Hegels »List der Idee«) die einzelnen, ohne daß sie es wissen, im Dienst der großen Weltzwecke arbeiten läßt. Da es ein allumfassendes, allerdings unpersönliches, Individuum sein soll, so könnte man dabei an »Gott« denken. Davon scheidet es aber bei Hartmann der Umstand, daß der Weltgrund eben, wie bei Schopenhauer, »vernunftlos« (irrational), eine Art blinden zwecklosen Wollens ist, gegen den das vernünftige Denken und Handeln sich vergebens zur Wehr setzt. Daher ist denn auch seine pessimistische Ethik der Schopenhauerschen verwandt. Umsonst erwartet der Mensch als Kind, weltgeschichtlich im Griechentum das Glück in der Gegenwart, als Jüngling (Mittelalter) in einem besseren Jenseits, als Mann (Neuzeit) in einem dereinstigen Glückszustand der Menschen auf Erden. Der Weise erkennt vielmehr leidvoll, daß alle Kulturfortschritte mit steigender Unseligkeit verknüpft sind. Die wahre Welterlösung besteht demnach im – Ende der Welt!

Mit Erstaunen liest man dann plötzlich, namentlich bei dem späteren Hartmann, daß er gleichwohl »an einen endlichen Sieg der heller und heller hervorstrahlenden Vernunft über die zu überwindende Unvernunft des blinden Wollens glaubt«; wie er denn auch mit den politischen Zuständen des neuen Deutschen Reiches zufrieden und ein ebenso heftiger Gegner des Sozialismus wie Nietzsche war. Auch philosophisch hat Hartmann später seine »Philosophie des Unbewußten«, mindestens in ihrer ersten Gestalt, als ein noch außerhalb seines eigentlichen Systems stehendes »Programmwerk« bezeichnet und die Krönung seiner Philosophie in seiner gelehrten, mehr erkenntnistheoretisch gerichteten »Kategorienlehre« (1896) erblicken wollen. Jetzt besitzt er nur noch vereinzelte Anhänger. Auf weitere Kreise hat er seinerzeit gerade durch die populäre, gegen die »Gelehrten-Philosophie« zu Felde ziehende Schreibweise seiner früheren Schriften gewirkt, so daß er zahlreiche Leser gewann (sein Hauptwerk erlebte bis 1904 elf Auflagen und wuchs zu drei Bänden an; dazu kam 1913 eine gekürzte Volksausgabe bei Kröner) und eine ganze Literatur von Schriften für und wider ihn ins Leben rief. In noch viel stärkerem Maße geschah das bei

2. Friedrich Nietzsche

In seiner ersten philosophischen Periode (1872 bis 1876) steht Nietzsche noch unter dem Einfluß Schopenhauers und Richard Wagners. Seine Weltanschauung ist demgemäß eine, vorzugsweise ästhetische, ja musikalische. Aus dem »Geist der Musik« entspringt die »tragische Erkenntnis« des Lebens, die seiner »dionysisch«-leidenschaftlichen Natur besser zusagt als die »apollinisch«-heitere Kunst des Bildhauers oder des epischen Dichters. Mit geistreichem Spott wendet er sich in seinen »Unzeitgemäßen Betrachtungen« wider den »Bildungsphilister« D. F. Strauß, dessen materialistisch-selbstzufriedener »Alter und Neuer Glaube« (vergl. S. 260) damals gerade erschienen war, und bekämpft das Übermaß des Geschichtlichen in der heutigen Erziehung.

Dann folgt, als Reaktionserscheinung, eine nur etwa drei Jahre (1878 bis 1881) dauernde positivistische Periode, in der er, ganz im Widerspruch zu seiner ersten, dem künstlerischen den wissenschaftlichen Menschen vorzieht, Vernunft und Erfahrung empfiehlt, einen Sokrates und einen Voltaire preist; so in dem »Buche für freie Geister«: »Menschliches, Allzumenschliches« (1878 bis 1880) und der »Morgenröte« (1881).

Der endgültige Nietzsche erscheint erst in den Werken von 1883 bis 1888, zunächst in seinem berühmtesten, dem altpersischen Weisen in den Mund gelegten: »Also sprach Zarathustra«. Der wahre Mensch ist Freigeist und Künstler, letzteres in dem gesteigerten Sinn des Schaffenden und Tatmenschen überhaupt, der sich gerade durch die Kämpfe und Widersprüche, die Leiden und Mühsale des Daseins zu um so größerer Schaffensenergie und Lebensbejahung – also im vollsten Gegensatz zu Schopenhauer und der späteren christlichen Wendung Wagners (vergl. »Der Fall Wagner«, 1888)– angespornt fühlt. Das höchste Kulturziel ist die Züchtung eines erhöhten Menschentypus: des Übermenschen, dessen Tugenden der Glaube an sich, der Stolz auf sich, die Ehrfurcht vor sich, die Härte gegen sich und andere sind, dessen »Vornehmheit« in erster Linie auf dem »freien und leichten« Instinkt beruht. Natürlich trägt dieser Individualismus durchaus aristokratische Züge. Nietzsche spottet über die »Herdenmenschen«, die »Viel-zu-Vielen«, die Mißratenen und Schwachen, die man zugrunde gehen lassen soll. Die Gleichheitslehren der Demokratie, des Christentums, des Sozialismus betrachtet er als Zeichen des Niedergangs. Die neue »Moral« – er will die »alten Tafeln« zerbrechen, auf neue Tafeln neue Werte schreiben – steht »jenseits von Gut und Böse« (siehe die gleichnamige Schrift von 1886). Einzig die Tapferkeit ist »gut«; man muß »mit dem Hammer philosophieren« (1888). In der »Genealogie der Moral« (1887) wird das »Schlechte« geradezu mit dem Niedrigen, eben darum Gemeinen und Verächtlichen, das »Gute« mit dem brutalen nackten Machtgefühl gleichgesetzt, der »Sklavenmoral« des Christentums die » Herrenmoral« der alten Römer, der Renaissance, des Übermenschen rühmend entgegengehalten. Das Äußerste dieser Art findet sich in seinem schon bei beginnender Geisteskrankheit verfaßten »Antichrist« (1888), dem ersten Buch des geplanten Hauptwerks »Der Wille zur Macht, Versuch zur Umwertung aller Werte«, das in der lückenhaften Gestalt, wie es im Nachlaß vorlag, erst 1908/09 herausgegeben worden ist. Hier verfällt der in seinem Äußeren und seinem Privatleben zarte und rücksichtsvolle Denker in einen wahren Kultus der Macht bloß um der Macht willen, ja des Grausamen und Raubtierhaften im Menschen, der »blonden Bestie«. Die echten Christen werden für eine »feige, feministische (weibische), zuckersüße Bande«, an anderer Stelle die soziale Frage für einen bloßen Ausfluß der Dummheit und des entarteten Instinkts erklärt. Übrigens braucht der »Sinn der Erde«, nämlich der Übermensch, keinen Staat mehr. »Dort, wo der Staat aufhört, beginnt erst der Mensch.« »Die Zeit der Könige ist nicht mehr.« Daneben träumt seine Phantasie freilich von einer ewigen »Wiederkunft aller Dinge«.

Eine Philosophie in strengerem Sinne ist das natürlich nicht mehr zu nennen, sondern nur das innere Erlebnis und Selbstbekenntnis einer genialen Persönlichkeit: dieses thüringischen Pfarrerssohnes, der, mit vierundzwanzig Jahren Professor der klassischen Philologie in Basel, ein Jahrzehnt später wegen beginnender schwerer (Gehirn-?) Krankheit dies Amt aufgeben mußte, umsonst im Engadin und in Italien Genesung suchte und seit 1889 in unheilbare Geisteskrankheit verfiel, von der ihn im Hause seiner Mutter, dann Schwester zu Weimar 1900 endlich der Tod erlöste. Sein zeitweise ungeheurer Einfluß, namentlich auf die gebildete und – halbgebildete Jugend, beruht neben dem leidenschaftlichen, von allen bisherigen Autoritäten lösenden Kraftgefühl, zu dem er aufreizt, nicht zum wenigsten auf der Künstlerschaft der Sprache. Hat man sich erst von deren Zauber freigemacht und gelangt man zu ruhiger sachlicher Prüfung seiner Gedanken, so wird man bald den Einfluß dieses, um mit seinen eigenen Worten zu reden, »Vogelstellers für unvorsichtige Seelen« sich verringern fühlen. Auf die Philosophie im engeren Sinne hat dies mehr glänzende als leitende Gestirn kaum eingewirkt.

Wir müssen jetzt in der Zeit um mehr als ein halbes Jahrhundert zurückschreiten und sehen, welche geistige Gegenbewegung die spekulative Periode des deutschen Denkens von Fichte bis Hegel in Deutschland und seinen Nachbarländern auslöste.


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