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Die neuzeitliche Philosophie konnte erst beginnen, nachdem die methodische Arbeit der modernen Naturwissenschaft ihr vorausgegangen war. Ihr Begründer ist daher nicht, wie ein Teil unserer Gelehrten immer noch meint, der Engländer Baco, sondern der Franzose Descartes. Deutschland liegt noch im philosophischen Schlafe: in der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts erfüllt von theologischem Parteigezänk, dann unter den äußeren und inneren Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges fast zusammenbrechend und auch nachher nur langsam sich erholend. In Frankreich dagegen waren die Religionskämpfe Ende des sechzehnten Jahrhunderts im wesentlichen beendet, so daß das wirtschaftliche und infolgedessen auch das geistige Leben sich bis zu gewissen Grenzen freier entfalten konnte. Hollands und Englands Blüte folgen nach. So treten denn die führenden europäischen Kulturländer nacheinander in die philosophiegeschichtliche Entwicklung ein: zuerst der Franzose Descartes (1596 bis 1650), dann der Engländer Hobbes (1588 bis 1679), darauf der Niederländer Spinoza (1632 bis 1677) und erst zum Schluß der Deutsche Leibniz (1646 bis 1716).
René Descartes (früher häufiger lateinisch als Renatus Cartesius zitiert), einem Adelsgeschlecht Mittelfrankreichs entstammend, wird in einer Jesuitenschule erzogen; aber – und das ist eben das Moderne an ihm – er reißt sich kühn von den überlieferten Vorstellungen los, um sich, um die Philosophie frei auf sich selbst zu stellen. Einmal in seinem Leben, sagt er, muß jeder, der ernsthaft nach Wahrheit strebt, sich fragen: Was ist Wahrheit? Welches sind die Richtlinien und Grenzen menschlichen Erkennens? Und so spürt auch er, während er 1619 als Offizier unter Tilly in den Winterquartieren an der Donau lag, plötzlich den Gedanken in sich durchbrechen, ähnlich wie einst Sokrates: Zum Einfachsten zurück, ganz von vorne anfangen! Das Allergewisseste aber, woran kein Zweifel möglich ist, ist: daß ich denke und daß ich existiere. Mit seinem berühmten Satze: Cogito, ergo sum (Ich denke, mithin bin ich) beginnt die neue Philosophie.
Und zwar darf ich nur von dem ausgehen, was ich klar und deutlich erkenne. Gewiß sind alle sogenannten »Dinge« im Grunde bloße »Vorstellungen« unseres Ich; aber nur das »klare« und »deutliche« Vorstellen erzeugt wahres Wissen und damit wahres Sein. Muster solcher wahren oder methodischen Erkenntnis – denn allein durch die Methode, dadurch, daß wir die Dinge in eine »gewisse Ordnung« stellen, gelangen wir zu klarer Erkenntnis – sind Geometrie und Arithmetik. Der (von Descartes selber mächtig geförderten) sogenannten analytischen Geometrie muß die Philosophie ihre uns schon von Plato und Kopernikus her bekannte Methode entlehnen: Unbekanntes als bekannt annehmen, von dem dann das in Frage Stehende, auch wenn es bekannt ist, »als ob es unbekannt wäre«, in strenger Schlußreihe abzuleiten ist. Gewiß ist auch die von Baco betonte Induktion, schon um der Vollständigkeit der Einteilung eines Allgemeinen in seine Unterarten willen, für die Wissenschaft unentbehrlich. Allein sie führt nicht bloß zur streng logischen Ableitung (Deduktion) hin, sondern setzt diese im Grunde bereits voraus. Die wahre Einsicht muß sich zwar an der Erfahrung bewähren, beruht aber auf der Verknüpfung der Begriffe durch das reine Denken, d. h. das »natürliche Licht« der allen gemeinsamen Vernunft.
Auch in Mathematik und Naturwissenschaft müssen wir zunächst einmal alle überlieferten Lehrmeinungen abweisen, auf neuer Grundlage ein neues Gebäude errichten. Die Geltung der Mathematik hängt von ihrer »Naturwirklichkeit« nicht ab. Die Idee eines Dreiecks muß in uns vorhanden sein, ehe wir ein sinnlich Wahrnehmbares als Dreieck erkennen. Figuren und Zahlen sind dadurch, daß sie gedacht werden. Die Gegenstände der Naturwissenschaft, die Körper, werden ebenfalls zunächst nur durch die rein mathematischen Merkmale der Gestalt und Ausdehnung bestimmt, die sinnlichen Empfindungen der Härte, Schwere, Farbe usw. zunächst ausgeschaltet. Die kleinsten Körperchen, auf die Descartes mit den Begründern der modernen Naturwissenschaft (6. Kapitel) die Materie zurückführt, sind geometrische Gebilde, gleich den Atomen Demokrits. Dazu tritt dann die Bewegung: alle Naturerscheinungen werden mechanisch, durch Stoß und Druck, erklärt. So hat Descartes zum ersten Male ein mechanisches Gesamtbild nicht nur des Himmels (Astronomie), sondern auch der Erde, und nicht bloß der toten, sondern auch der lebenden Natur bis an die Grenze der Bewußtseinstätigkeit entworfen. In seiner Physiologie hat eine besondere »Seele« im Grunde keinen Platz.
Diesen streng methodisch-wissenschaftlichen Standpunkt, den namentlich die aus seinem Nachlaß herausgegebenen »Regeln zur Leitung des Geistes« und seine »Abhandlung von der Methode« (1637) vertreten, und der ihm seinen Ruhm als Vater der neueren Philosophie sichert, hat nun freilich Descartes in seinen am bekanntesten gewordenen späteren Schriften, den der rechtgläubigen Pariser Universität gewidmeten » Betrachtungen über die erste Philosophie« (1641) und den » Prinzipien der Philosophie« (1644), nicht folgerichtig festgehalten. Die zuvor von ihm zu stark zugunsten des reinen Denkens zurückgesetzte sinnliche Anschauung macht sich jetzt geltend und führt ihn zu einem mit seiner Grundlehre nicht vereinbaren Dualismus, d. h. zu der Annahme einer denkenden Substanz des Geistes und daneben einer ausgedehnten des Körpers, die beide nur zufällig im Menschen verbunden sind, an sich miteinander nichts zu tun haben. So wird aus dem reinen Selbstbewußtsein (Ich), von dem sein ganzes Philosophieren, als dem Maßstab und Quell aller Wahrheit, ausgegangen war, jetzt ein » Ding, das denkt« und daneben auch will und fühlt, die »Seele«. Ja, diese bekommt sogar, obschon sie eigentlich mit dem ganzen Körper verbunden ist, einen besonderen »Sitz« in dem einzigen unpaarigen Gehirnorgan: der Zirbeldrüse. Die »Lebensgeister«, d. h. die feinsten und beweglichen Blutteilchen, dringen in das Gehirn ein, stoßen hier die Zirbeldrüse an, reizen so die Seele zur Empfindung usw. Spiritualisten (Verfechter des »reinen Geistes«) wie Materialisten konnten sich daher mit gleichem Recht auf Descartes berufen.
Auf dem Gebiet der Erfahrungsseelenlehre (empirischen Psychologie) hat dieser manche Anregungen gegeben, namentlich wichtige Einteilungen getroffen, wie die der Vorstellungen (Ideen) in 1. angeborene, 2. von außen kommende und 3. von uns selbst gemachte oder erfundene Phantasievorstellungen (zum Beispiel von einem Flügelroß). Da aus dem reinen Denken nur klare und deutliche (S. 138) Vorstellungen entspringen können, so werden die Leidenschaften, gleich allen dunklen und verworrenen Vorstellungen, auf Einflüsse des Körpers zurückgeführt. Nur der Mensch besitzt übrigens eine Seele; die Tiere sind bloße Maschinen, ihre Empfindungen bloße Reflex-, d. h. unwillkürliche Bewegungen.
Auch gegenüber der Theologie hielt Descartes seinen grundsätzlichen Standpunkt, der selbst in »Gott« nur eine menschliche Idee erblickt, nicht aufrecht. Zu einer Zeit, wo die Verbreitung der Korpuskulartheorie vom Pariser Gericht noch mit der Todesstrafe belegt war, mußte er freilich eine gewisse Vorsicht üben. Und er besaß nicht den Mut eines Bruno oder Galilei, gab deshalb auch seine an Kopernikus sich anschließende Schrift »Von der Welt« nicht heraus und hielt es, seinem ersten Biographen zufolge, weil er »Ruhe über alles liebte«, mit dem Wahlspruch: »Glücklich lebt, wer im Verborgenen lebt«; »der Inquisition« aber streute er durch allerlei Verbeugungen vor der alleinseligmachenden Kirche »Sand in die Augen«. So bringt denn die dritte seiner »Betrachtungen« (Meditationen), zum ersten Male wieder seit dem Scholastiker Anselm von Canterbury, einen ausdrücklichen, ziemlich gequälten Gottesbeweis: Ich unvollkommenes Menschenwesen könnte den Gedanken Gottes unmöglich fassen, wenn er nicht durch ihn selber in mich gelegt wäre; also – muß Gott existieren! Und weil ich eine Substanz (Ding) bin, so muß mein unendlicher Urheber natürlich erst recht Substanz, und zwar die wahre, unendliche Substanz sein.
Mit sittlich-religiösen Fragen wird Gott übrigens gar nicht in Verbindung gebracht. Diese treten überhaupt bei unserem Philosophen, entweder aus Scheu vor der Kirche oder infolge seines vorherrschend theoretischen Interesses, stark zurück. Nachdem er vorsichtshalber fast seine ganze Schriftstellerzeit (1629 bis 1649) in dem damals fast allein einigermaßen Denk- und Religionsfreiheit gewährenden Holland zugebracht hatte, folgte er 1649 dem Rufe der gelehrten Königin Christine von Schweden nach Stockholm, vermochte jedoch das rauhe Klima und die Veränderung seiner Lebensweise im Lande »der Bären, des Eises und der Felsen« nicht zu ertragen und starb schon im folgenden Jahre, am 11. Februar 1650.
Descartes' Lehre fand, eben infolge ihrer zwiefachen Auslegbarkeit, viele Anhänger: in Frankreich, den Niederlanden, Deutschland, ja sogar in Italien, England und der Schweiz. Und zwar knüpften die bedeutendsten unter ihnen gerade an die schwächsten Punkte seines Systems, den Dualismus zwischen Gott und Welt und den zwischen Leib und Seele, an. Der Niederländer Arnold Geulincx (1625 bis 1669) suchte eine Versöhnung des Descartesschen Dualismus dadurch herzustellen, daß er annahm, Gott habe wie ein guter Mechaniker Vorsorge getroffen, daß des Menschen Körper und Geist, wie zwei gleichgearbeitete und gleichgestellte Uhren, in einander stetig genau entsprechendem Gange blieben, nur für den Notfall sich ein gelegentliches Eingreifen vorbehalten; weshalb man diese Lehre auch Okkasionalismus, d. h. »Gelegenheits-Philosophie« nannte. – Tiefer ging der Pariser Theologe Malebranche (1638 bis 1715), der nicht bloß einen ähnlichen Parallelismus zwischen Leib und Seele und daneben »Gelegenheitsursachen« zum Eingreifen der Gottheit annimmt, sondern Gott auch als Urheber aller Erkenntnis, als »Ort der Geister«, wie den Raum als »Ort der Körper« ansieht. – Noch stärker tritt die Kluft zwischen Wissenschaft und Glauben in dem im übrigen durch seine glänzenden mathematischen Leistungen wie durch seine Bekämpfung der jesuitischen Ethik in seinen »Briefen an einen Provinzbewohner« (1656 f.) berühmten Pascal hervor. Neben der klaren Einsicht in die Wahrheiten der Mathematik steht hier unvermittelt die Welt des Gefühls, die bei ihm schließlich zu völliger Unterwerfung der Vernunft unter die göttliche Gnade und biblische Offenbarung führt. Gott muß nicht bloß das Ende, sondern auch der Anfang aller Philosophie sein. Und im Falle der Ungewißheit über unser Geschick nach dem Tode bietet der Glaube jedenfalls die größere Sicherheit! So deckt Pascals ehrliche Folgerichtigkeit die Kluft zwischen der neuen Philosophie und der Kirchenlehre auf, die Descartes und die meisten seiner Anhänger, bewußt oder unbewußt, zu verschleiern versucht hatten. Ähnliches ist bei dem Engländer Hobbes der Fall.
Hobbes hat lange als »Atheist«, »Materialist« und zugleich politischer Absolutist, nicht am wenigsten auch in seinem Vaterland, in schlechtem Rufe gestanden, von dem ihn erst ein deutscher Forscher, der bekannte Sozialphilosoph Ferdinand Tönnies, befreit hat. Wohl war Thomas Hobbes, als Sohn eines englischen Landpfarrers 1588 geboren, politisch im ganzen konservativ gesinnt und schrieb seine erste wichtigere Schrift »Grundzüge der natürlichen und Staatsgesetze« – als schon Zweiundfünfzigjähriger! – zugunsten des bedrängten Königtums; aber er hat sich später mit Cromwells Republik ausgesöhnt, denn das Wesen der Staatssouveränität war ihm wichtiger als ihre äußere Form. Seine Hauptwerke gab er erst von 1642 bis 1658 heraus. Bis in sein hohes Alter frisch und heiter – noch im 88. Lebensjahr mit Leibesübungen und Ballspiel, Singen und Baßgeigestreichen beschäftigt –, starb er über 91 Jahre alt im Hause einer ihm seit Jahrzehnten eng befreundeten Adelsfamilie.
Auch Hobbes steht auf dem Boden der mechanischen Naturwissenschaft; ja, er will – darin besteht seine Hauptleistung – ihre Grundsätze auch auf den Einzelmenschen und den Staat ausdehnen, auch diese wie ein Uhrwerk oder »eine andere, etwas verwickelte Maschine« betrachten, deren Herz die Feder, deren Nerven die Schnur, deren Gelenke die Räder seien. Aufgabe des Philosophen ist es, die »Maschine« in ihre Einzelteile zu zerlegen, das heißt, ohne Bild gesprochen, das uns durch die Empfindung Gegebene gedanklich zu zergliedern. Denn reine Wissenschaft in Mathematik, Physik und Politik ist möglich – bloß von Gedankendingen: so daß der verketzerte Materialist schließlich doch als wissenschaftlicher Idealist erscheint. Sein Satz: »Es gibt keine Geister« richtet sich nur gegen Engel, Gespenster und ähnliche Phantasien der Scholastik, mit der man den blutjungen Oxforder Studenten einst gequält hatte; allerdings auch gegen das Gespenst der »Seele«, dies »so poetische und doch so schreckliche Phantasiegebilde« (Tönnies). Hobbes will nur Tatsachen und deren ursächliche Zusammenhänge darstellen. Philosophie ist Lehre von der Bewegung oder Tätigkeit der natürlichen und politischen Körper. Sie gliedert sich in die Lehre 1. von der Natur, 2. vom Menschen, 3. vom Staat.
Wie Descartes, so führt auch Hobbes alles Naturerkennen auf Gestalt und Bewegung zurück. Auch das Licht und die Töne hat er bereits als solche Bewegungen erkannt, die sich von dem wahrgenommenen Gegenstand bis zu der wahrnehmenden Person fortpflanzen. Sie unterliegen mathematischen Gesetzen, sind also meßbar. Auch Widerstand ist Bewegung. Die sogenannten sinnlichen Eigenschaften der äußeren Dinge Ton, Farbe usw. sind nur Vorstellungen des sie empfindenden Menschen. Das unendliche All, das ihm mit Gott zusammenfällt, ist für uns unfaßbar, ein Anfang der Welt unbeweisbar, ein erster Urheber nicht unbewegt denkbar. Wahrscheinlicher als der leere Raum dünkt ihm, wie später Kant, ein Ätherfluidum. Er kennt nur strenge und allgemeine Naturgesetzlichkeit. Die »Wunder« vergleicht er einmal mit Pillen, die man ganz hinunterschlucken muß und nicht kauen darf, da man sie sonst wieder ausspeit. Seine vielfach heute noch interessanten physikalischen Einzelheiten sind bisher noch zu wenig beachtet worden.
Auch die Handlungen des Menschen sind naturnotwendig, sein Wille also unfrei. Wohl will Hobbes nicht bestreiten, daß wir uns, zumal in Erinnerung und Phantasie, frei fühlen, und daß man in diesem Sinne, was man »wolle«, auch tun könne. Aber nur das letzte, der Handlung unmittelbar vorhergehende Begehren liegt der Beurteilung der anderen offen, nicht die ganze Reihe seiner Vorbedingungen. Natürlich brachte ihn diese Lehre, ähnlich wie Spinoza, in den Geruch eines materialistischen »Atheisten« und verwickelte ihn in eine lange Fehde mit einem Bischof der Hochkirche, obwohl er als letztzurückliegendes Glied in der Kette von Ursache und Wirkung das – Wirken Gottes bezeichnet hatte.
Seine Schrift »Vom Menschen« enthält zahlreiche wertvolle Gedanken, unter anderem über die Entstehung der Erde, des Lebens, der Sprache, das Sehen, die Vervollkommnungsfähigkeit der Fernrohre und Mikroskope. Desgleichen über die menschlichen Begierden und Leidenschaften, unter denen dem hervorragenden Menschenkenner und -beurteiler die nach Macht und Ehre die hervorstechendsten erscheinen. Jeder empfindet voll Lust, was er vor anderen voraus hat, mit Ärger, was ihm fehlt. Der beständige Wettbewerb, die gewöhnlich hinter Heuchelei verborgene Selbstsucht und Eitelkeit, das vielfach berechtigte Mißtrauen gegen die anderen veranlassen fortwährend Streit und Gewalthandlungen. Vor allem, wenn es sich um das Eigentum handelt. »Wenn der Satz, daß die drei Winkel eines Dreiecks gleich 2 Rechten sind, dem Interesse der Besitzenden zuwider wäre, so wäre diese Lehre durch Verbrennung aller Geometriebücher unterdrückt worden, soweit die Beteiligten es durchzusetzen vermocht hätten.«
Trotz seiner scharfen Erkenntnis menschlicher Schwächen hält Hobbes eine fortschreitende Entwicklung der Menschheit für gegeben, falls sie sich vom Aberglauben, d. i. der Furcht vor übernatürlichen Gewalten befreit und dem Studium der Wissenschaft, vor allem der Mathematik und Physik, mit Eifer widmet; dazu des von ihm neu begründeten Naturrechts, auf dem Sitten- und vor allem Staatslehre sich aufbauen. Die bedeutendste Leistung von Hobbes liegt denn auch auf dem Gebiet, zu dem ihn die von den leidenschaftlichsten politischen Kämpfen erschütterte Gegenwartsgeschichte seines Landes (Absolutismus der Stuarts, Revolution, Republik, Restauration, d. h. Wiederherstellung des Königtums) hintreiben mußte: der
der drei größere Werke gewidmet sind: 1. das epochemachende Buch »Vom Bürger« (Paris 1642), 2. der für seine Landsleute bestimmte, daher im Unterschied von den übrigen, lateinisch geschriebenen Werken in englischer Sprache abgefaßte »Leviathan« (London 1651), 3. die Geschichte des sogenannten »langen Parlaments (1640 bis 1660)« in dem mit zahlreichen kritischen Bemerkungen versehenen »Behemoth«, d. h. dem Ungetüm der Revolution. Wir haben es weniger mit seinen auf England bezüglichen, als mit seinen allgemeinen politischen Erörterungen zu tun.
Der natürliche Zustand der Menschheit ist, wie es seiner Lehre von den menschlichen Affekten entspricht, der »Krieg aller gegen alle« (bellum omnium contra omnes). Der Staat ist auch nicht, wie Aristoteles und Grotius behaupten, durch den Geselligkeits-, sondern durch den Selbsterhaltungstrieb der einzelnen entstanden, der jedoch allmählich zu vernünftiger Selbstbeschränkung des bloßen Machtwillens der einzelnen und zum »Frieden«, das heißt dem Halten abgemachter Verträge, treibt. Damit nun die Verträge gehalten und »jedem das Seine« zuerteilt werde, wie es das natürliche Recht verlangt, muß das Staatsoberhaupt, das den vernünftigen Gesamtwillen in sich verkörpert, mit unbeschränkter Machtvollkommenheit bekleidet werden. Diese kommt aber im letzten Grunde nur dem Gesetz zu: die zufällige Person, die an der Spitze des Staates steht, ist nur dessen Vollzieher. Der Staat, als Verkörperung des öffentlichen Gewissens, hat allein zu entscheiden, was gut und was böse ist. Vor ihm müssen alle Privatmeinungen, alle Privatgewissen verstummen. Nur, daß der Bürger sich selbst tötet oder auf seinen Vater und Bruder schießt, wie es bei uns in wilhelminischen Zeiten einmal geboten wurde, kann auch nach diesem Absolutisten der Souverän nicht befehlen. Die äußere Verfassungsform ist ihm Nebensache, wenn auch seiner Ansicht nach die Volksherrschaft leicht zu einer Herrschaft von begabten Rednern führt und die Monarchie eher vor heftigen Parteikämpfen bewahrt. Darum versöhnte er sich auch nach einiger Zeit mit Cromwells Republik und verfaßte für seine Landsleute, daher in englischer Sprache, sein Aufsehen erregendes Werk (1651) »Leviathan«, d. h. nach dem Buche Hiob »das Tier, dem kein anderes gleich ist«.
Damit meint er den von allen anderen Gewalten, insbesondere auch der Kirche, völlig losgelösten rein weltlichen Staat. Da nach Jesus das Reich Gottes »nicht von dieser Welt ist«, darf der Priesterstand, der sich eigenmächtig zum Herrn in der Kirche aufgeschwungen hat, keinen Gehorsam für sich fordern. Gedanken können überhaupt nicht verboten oder bestraft werden; ihre Äußerung in Wort und Tat bloß dann, wenn das Staatswohl es erheischt. In diesem Falle darf allerdings der Staat sogar Aberglauben unter Umständen als »Religion« festsetzen. Aber eine aufgeklärte Regierung wird die natürliche Freiheit der Bürger nur so weit einschränken, als es zum Wohle des Ganzen unerläßlich ist. Denn »nichts ist mehr geeignet, Haß zu erzeugen, als die Tyrannei über des Menschen Vernunft und Verstand«. Sie wird vielmehr die Freiheit des Denkens, Lehrens und Schriftstellerns, sowie auch des – Andersglaubens fördern und die Wissenschaft von der kirchlichen Unterdrückungssucht freimachen, deshalb auch die Universitäten verweltlichen. Im übrigen hüte sich der Staat vor allzuviel Gesetzmacherei; zu viel Gesetze haben Erstarrung oder Verwilderung zur Folge und gleichen ausgelegten Schlingen.
Dem Gesetz muß sich der Mächtigste wie der Geringste unterordnen; alle Klassenjustiz wird entschieden verdammt. Wie keine Kirchen-, so kennt Hobbes' Staat auch keine Klassenvorrechte. Hier äußert sich bei unserem »Absolutisten« schon tiefe soziale Einsicht. Die Kaufleute nennt er einmal »von Natur geschworene« Feinde des Staates und seiner Steuern; ihr ganzer Stolz besteht darin, »grenzenlos reich zu werden durch die Klugheit des Kaufens und Verkaufens«. Auch von dem heute noch oft zu hörenden kapitalistischen Einwand, daß sie den ärmeren Klassen Arbeit geben, hält er wenig. Denn sie veranlaßten die Armen doch nur, »ihre Arbeit ihnen zu ihren eigenen, der Kaufleute, Preisen zu verkaufen«, so daß jene durch Arbeit im Zuchthaus sich einen besseren Lebensunterhalt verschaffen würden. Und aus seinem Satze: »Allmählich wird auch das niedere Volk aus der Unwissenheit herausgeführt« spricht ein besseres Verständnis und Zutrauen zu den unterdrückten Klassen, als es bei manchem an sich vielleicht radikaleren Freidenker von Voltaire und Diderot bis heute zu finden ist.
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Die philosophischen Gegner Hobbes' waren zu unbedeutend, als daß wir sie hier zu erwähnen brauchten. Dagegen verlohnt es sich, noch einen kurzen Blick auf die sonstigen politischen Theorien der damaligen, gerade in Großbritannien wildbewegten Zeit zu werfen. Im Unterschied von Hobbes vertrat Filmer (1604 bis 1653), dessen »Patriarcha« erst lange nach seinem Tode (1680) gedruckt wurde, das göttliche Recht des patriarchalischen Königtums von Adams Zeiten her, der die Herrschergewalt von Gott selbst empfangen und sie auf Noah, Abraham usw. vererbt habe; der König ist von Gottes Gnaden und keinem menschlichen Gesetz unterworfen. Solchen Theorien gegenüber pries der berühmte blinde Dichter des »Verlorenen Paradieses«, John Milton (1609 bis 1674), in flammenden Flugschriften das Recht der Revolution und der politischen, kirchlichen und häuslichen Freiheit, während Algernon Sidney (1604 bis 1683), der unter Karl II. sein graues Haupt wegen angeblichen Hochverrats unter das Richtbeil legen mußte, in seinen »Untersuchungen über die Regierungsform« Filmers biblische Beweise mit philosophischen Gründen Schritt für Schritt widerlegte. Lockes Liberalismus gehört schon einer anderen Zeit an (siehe folgendes Kapitel). Näheres über diese Theorien siehe in meines Vaters Franz Vorländer »Geschichte der philosophischen Moral, Rechts- und Staatslehre der Engländer und Franzosen«, Marburg 1855. Aber auch sozialistische Theorien treten zur Zeit der Revolution (1647 ff.) in der Bewegung der Levellers (wörtlich Gleichmacher), wie Eduard Bernstein in den »Vorläufern des neueren Sozialismus« gezeigt hat, bereits deutlich hervor; aber sie werden noch nicht philosophisch begründet und gehören deshalb nicht an diese Stelle. Wir gedenken sie demnächst in einer übersichtlichen Darstellung der Geschichte des Sozialismus in der Philosophie von Plato bis heute zu berühren.
Eine ganz eigenartige Gestalt in der Philosophiegeschichte, dieser schmächtige Abkömmling spanisch-portugiesischer Juden mit den tiefen Zügen des dunkelfarbigen Antlitzes, den glänzenden schwarzen Augen und der hohen Stirn, herangewachsen in der aufblühenden Hauptstadt des freien Hollands, gebildet am Alten Testament, am Talmud und der jüdisch-mittelalterlichen Scholastik, und doch übergegangen zu der neuzeitlichen Philosophie der Humanisten, Galileis und Descartes', so daß den Dreiundzwanzigjährigen der »große Bann« der Amsterdamer Synagoge trifft. Er lebt dann weiter als Benedikt (bis dahin Baruch) Spinoza, ohne einer anderen religiösen Gemeinschaft beizutreten, an verschiedenen kleinen Orten Hollands, die letzten sechs Jahre im Haag, seinen Lebensunterhalt mit dem Schleifen optischer Gläser verdienend, was bei seiner schwindsüchtigen Anlage wahrscheinlich seinen frühen Tod befördert hat. Er brachte sein Leben hin als ein wahrer Philosoph, erhaben über Leidenschaften und weltlichen Ehrgeiz, mild und wohlwollend gegen andere, streng gegen sich selbst.
Wir lassen den erkenntnistheoretischen Unterbau seiner Lehre, den er in seiner wahrscheinlich schon vor 1661 abgefaßten Abhandlung »über die Läuterung des Verstandes« gibt, als verhältnismäßig unwichtig vorläufig beiseite und wenden uns gleich seinem System zu, wie es in seinem erst kurz nach seinem Tode (1677) veröffentlichten Hauptwerk, der »Ethik«, vorliegt.
Wie vor ihm die Neuplatoniker und die Scholastiker des Mittelalters, wie Schelling und Hegel nach ihm, beginnt Spinoza sogleich mit dem, womit kritische Denker lieber endigen: dem Urgrund aller Wirklichkeit, dem Unbedingten. Jedoch nicht als Mystiker, sondern als Logiker. Seine »Ethik«, die sich überhaupt mit dem, was wir heute unter Ethik verstehen, erst in ihrem vierten Buche beschäftigt, hebt, der das ganze Werk ausgesprochenermaßen durchziehenden »mathematischen Methode« gemäß, sofort an mit nicht weniger als acht Begriffsbestimmungen, darunter des »Grundes seiner selbst«, der von keinem anderen Ding abhängigen Substanz, der Gottheit. Alle übrigen Dinge sind bloß die Eigenschaften (Attribute) oder Arten (Modi), in welchen sich die eine Substanz offenbart. Ob man sie Gott oder Natur nennt, macht für die Sache wenig aus, zumal da sie nicht auf die Dinge, sondern in den Dingen wirkt. So ist Spinozas Weltanschauung vollendeter Pantheismus: Gott und das All sind dasselbe.
Die beiden Attribute, die wir Menschen an der all-einen Substanz (Gott-Natur) am deutlichsten zu erkennen vermögen, sind Denken (Bewußtsein, Geist) einer-, Ausdehnung (Körper, Materie) andererseits. Alle Gedanken, zum Beispiel auch die des Menschen, folgen nur aus Gottes Denken, alle Körper nur aus seiner Ausdehnung. Gleichwohl ist beides, zum Beispiel der bloß gedachte und der ausgedehnte, »wirkliche« Kreis, ein und dieselbe Sache, nur auf verschiedene Weise aufgefaßt. Der menschliche Körper besteht – Spinoza zeigt sich hier als ein Vorläufer der Leibnizschen Monadenlehre (Seite 157) – aus vielen Individuen verschiedenster Art, deren jedes wiederum sehr zusammengesetzt ist und von den äußeren Dingen ebenso mannigfaltig beeinflußt wird, wie es selbst sie beeinflußt. So fällt Spinozas scheinbare Einheitslehre (Monismus) doch wieder in eine Zweiheitslehre (Dualismus) auseinander, indem er Geistiges nur aus Geistigem (Spiritualismus), Körperliches nur aus Körperlichem (Materialismus) erklärt wissen will.
Überhaupt erblickt er die Aufgabe der Philosophie nicht sowohl in Erkenntniskritik als im Entwerfen eines großartigen, im letzten Grunde doch durch sein religiöses Interesse bestimmten Weltbildes. Das zeigt sich auch in seiner Lehre von den Arten der Erkenntnis. Wahre Erkenntnis vermittelt bloß die Vernunft (ratio), die ja nur ein Teil des unendlichen göttlichen Geistes ist. Sie betrachtet die Dinge nicht als zufällig, sondern in ihrer Notwendigkeit, »wie sie an sich sind«, d. h. losgelöst von Raum, Zahl und Zeit sub specie quadam aeternitatis (»sozusagen unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit«). Gewiß, Spinoza steht fest auf dem Boden der mechanischen Naturauffassung, gleich Galilei, Descartes und Hobbes. Er teilt mit ihnen die Abneigung gegen das Hineintragen der »Zweckursachen« in die Natur und bezeichnet die Erklärung der Naturerscheinungen unmittelbar durch den göttlichen Willen als ein »Asyl der Ignoranz« (Zuflucht der Unwissenheit) für den Naturforscher. Aber noch höher steht ihm doch das »anschauende« Wissen, das die ewigen Eigenschaften der Dinge als in Gottes ewigem Wesen gegründet sieht. Freilich bekennt er, ganz wie ein mittelalterlicher Mystiker, nur sehr wenige Dinge auf diese letzte und höchste Art erkannt zu haben.
Das zweite Buch der »Ethik«, das diese Erörterungen pflegt, schließt mit der bestimmten Ablehnung des freien Willens. Jeder Willensvorgang ist vielmehr von einem voraufgehenden abhängig. Die Menschen glauben frei zu sein, weil sie sich die Ursachen, von denen ihr Handeln im Grunde bestimmt ist, nicht vergegenwärtigen. – Ganz in diesem Sinne behandelt daher das dritte Buch, das Spinozas Psychologie enthält, eingestandenermaßen die menschlichen Handlungen und Begierden »ebenso, als ob von Ebenen, Linien oder Körpern die Rede wäre«. Er will sie nicht, wie die meisten es tun, belachen oder verabscheuen, sondern verstehen, und gibt darum in diesem Buch eine höchst interessante Naturgeschichte der Gefühle. Jedes Ding strebt, »in seinem Sein zu verharren, seiner Vernichtung zu entgehen«. Der Mensch freut sich über die Zerstörung dessen, was er haßt, trauert über die Vernichtung dessen, was er liebt. Es werden nicht weniger als 48 Gefühle begriffsmäßig bestimmt, von denen die meisten paarweise, jedes mit seinem jeweiligen Gegensatz, wie Freude und Traurigkeit, Wohlwollen und Grausamkeit usw., zusammengestellt werden. Neben den Leidenschaften, von denen wir uns knechten lassen, gibt es auch Gefühle, in denen die Macht der Vernunft sich offenbart, wie: Mäßigkeit, Seelenstärke, Geistesgegenwart und Keuschheit.
Da nun (viertes Buch) ein Affekt nur durch einen stärkeren überwunden werden kann, so muß die Erkenntnis des »Guten« und »Bösen« – zunächst für diesen sonderbaren »Ethiker« ganz relative Begriffe (die Musik heißt zum Beispiel gut für den Schwermütigen, bös für den Trauernden, keines von beiden für den Tauben) – selbst zum Affekt, und zwar zum Lustgefühl für uns werden. Das geschieht aber, sobald wir einsehen, was unserer wahren Natur, unserem innersten Wesen, d. h. der Vernunft, entspricht. Auf dem, was der Mensch »klar und deutlich« (der Descartessche Maßstab!) einsieht, beruht sein höchstes Glück: die Seelenruhe. Darin besteht auch seine wahre »Freiheit«. Darum handelt das fünfte und letzte Buch der »Ethik«: »Von der menschlichen Freiheit oder der Macht des Intellekts«.
Diese höchste Seelenruhe ist bei Spinoza aufs engste verwachsen mit der wahrhaften, geistigen Gottesliebe, einem Teil der unendlichen Liebe, mit der Gott sich selbst, mithin auch uns, somit auch wir ihn lieben. Zwar wer Gott wahrhaft liebt, verlangt nicht, daß dieser ihn wieder liebe, sondern ist schon selig durch sein Sicheinsfühlen mit ihm. Und diese Liebe währt fort, wenn auch unser Leib zerstört ist. Aber solange wir leben, wirkt sie auch zurück auf unser Fühlen und Handeln. Je mehr unser Geist der Erkenntnis des Ewigen sich weiht, um so weniger leidet er von den Trieben, um so weniger fürchtet er den Tod. Und selbst wenn wir nicht wüßten, daß unser Geist ewig ist, würden wir doch an allem festhalten, was Seelenstärke und Hochsinn ausmacht; die Tugend bedarf keines Lohnes. Der Weg freilich zu ihr ist steil, aber doch zu finden. »Allein«, so schließt die »Ethik«, »alles Erhabene ist ebenso schwierig zu erreichen als selten.«
Für Spinoza war Religion einerlei mit Liebe, Gerechtigkeit und Gottergebenheit. Nur nach seinem Handeln ist der Mensch zu beurteilen. Glauben, denken, ja auch sagen können muß in einem freien Staate jeder Mensch, was er für recht hält. Der Staat darf nur das Gebiet äußerer Handlungen, nicht das Gemüt beherrschen wollen. Spinoza vertritt demgemäß reinliche Scheidung zwischen Religion und Staat, Theologie und Philosophie; keine darf der anderen untergeordnet sein. Wissenschaft hat allein den Zweck der Wahrheitsforschung, Religion soll uns zur Sittlichkeit und zu Gott führen und darf darum auch Sinnbilder gebrauchen. Der »Theologisch-politische Traktat« (1670), der diese Fragen behandelt, will beweisen, daß »die Freiheit des Philosophierens ohne Schaden der Frömmigkeit und des staatlichen Friedens nicht aufgehoben werden könne«, und versucht selbst, zum erstenmal, eine unbefangene philosophisch-historische Kritik der Bibel, hauptsächlich des Alten Testaments. In seinem, ebenfalls erst mit der »Ethik« zusammen veröffentlichten »Politischen Traktat« tritt er gleich Hobbes für eine starke Staatsgewalt ein, die jedoch, wenn anders der Staat zu Macht und Blüte kommen, ja nur selbständig bleiben will, an Recht und Vernunft sich halten muß. Nützlicher als eine unumschränkte Monarchie, die im Grunde nur eine versteckte Herrschaft der Beamten darstellt, scheint dem Bürger der holländischen Republik und Freund der liberal-kapitalistischen Brüder de Witt eine aristokratische Regierung zu sein, besonders wenn sie sich aus einer größeren Zahl gewählter Patrizier zusammensetzt, zu denen dann noch vom Volk gewählte Abgeordnete treten können. Die politische Unerfahrenheit der Menge rührt davon her, daß man sie in Unwissenheit über öffentliche Angelegenheiten hält. Ein freier Staat aber soll seine Bürger nicht zu Tieren oder Maschinen herunterdrücken, sondern ihnen freie Entfaltung ihrer Anlagen ermöglichen.
Daß unseres Philosophen fortgeschrittene religiöse und religionspolitische Ansichten auf starken Widerspruch stoßen würden, hatte er selbst sich nicht verhehlt. Hatte er doch seinen schon 1665 verfaßten »Theologisch-Politischen Traktat« erst nach fünf Jahren und auch dann nur anonym und unter falschem Druckort und Verlegernamen zu veröffentlichen gewagt. Aber daß seine tiefreligiöse Schrift eine wahre Flut von Streit- und Schmähschriften gegen den »unreligiösesten Verfasser« und »krassesten Atheisten« hervorrief, so daß selbst in dem seiner Denkfreiheit halber berühmten Holland die Schrift verboten wurde, zeigt doch, wie rückständig die Zeit noch war. Und nicht bloß von der Orthodoxie aller Bekenntnisse wurde er angefeindet, sondern auch von so freigesinnt sein wollenden Männern wie Bayle, Leibniz und Christian Wolff abgelehnt und (schlimmer als das) seine Lehre totgeschwiegen, so daß Lessing mit Recht von Spinoza sagen konnte, man habe ihn wie einen toten Hund behandelt. Erst als er bereits mehr denn ein Jahrhundert im Grabe ruhte, wurde durch Jacobi, Herder und Goethe eine bessere Würdigung seiner edlen Persönlichkeit und seiner Lehre herbeigeführt.
Leibniz vertritt nicht bloß in seiner Volkszugehörigkeit, sondern auch in seiner Persönlichkeit einen ganz anderen Typus als seine drei Vorgänger. Den des frühreifen Gelehrtensohnes, von einer seltenen geistigen Beweglichkeit und Vielseitigkeit; man könnte beinahe sagen einer an die Genies der Renaissancezeit erinnernden Allseitigkeit, wenn nicht doch die künstlerische und die technische Seite bei ihm ausschieden. Begabt mit einer fast unglaublichen Arbeitskraft und Belesenheit, lehnt er dennoch schon mit zwanzig Jahren den ihm angebotenen Lehrstuhl an einer kleinen Universität ab, um nicht in die Pedanterie des damaligen Gelehrtenlebens hinabzugleiten. Ein Polyhistor (Vielwisser), ist er doch ohne Kleinlichkeit, im Gegenteil voll Scharfsinn und geistiger Schöpferkraft. Frühzeitig in die große Welt eingetreten, später geadelt, lebt er zeitweise an den Höfen von Mainz, Paris, Wien, Berlin, am dauerndsten in Hannover, als Hofhistoriograph des dortigen welfischen Fürstenhauses. Neben Philosophie treibt er vor allem Mathematik und Physik, aber auch Rechtswissenschaft, Politik, Theologie, Sprachwissenschaft und Geschichte. Er beschäftigt sich nebeneinander mit zum Teil so weit auseinanderliegenden Dingen wie Einrichtung einer nationalen Akademie (nach französischem und englischem Vorbild), Unterrichts- und Sprachreform, Vereinigung der Religionsbekenntnisse, Bergbau, Medizin, Wohlfahrt der ärmeren Klassen, Völkerrecht, Moral der Chinesen! Und führt, neben seiner Schriftstellertätigkeit, über alle diese Dinge noch einen umfangreichen Briefwechsel, von dem heute noch etwa 15 000 Nummern in der Bibliothek zu Hannover aufbewahrt werden. Eine Zeitlang war er auch, dem Rufe seiner ehemaligen Schülerin Sophie Charlotte, der ersten Königin in Preußen, folgend, Präsident der auf seine Anregung in Berlin gegründeten Akademie der Wissenschaften; mit Peter dem Großen, mit dem Prinzen Eugen zu Wien ist er in Verbindung. Und doch stirbt der große Geist und gewandte Weltmann, über seiner ungeheuren Vielgeschäftigkeit nicht zur Ehe gelangt, am 14. November 1716 zu Hannover in tragischer Einsamkeit, von den Großen mit Undank belohnt, dem Volke, das aus seinem Namen ein »Löve-nix (Glaube nichts)« machte, als Freigeist verdächtig.
Wohl eben infolge jener zersplitternden Vielgeschäftigkeit ist Leibniz nicht dazu gelangt, sein System in einem besonderen großen Werke zu entwickeln, wie es fast alle übrigen großen Denker getan. Die wichtigsten Gedanken hat er zum Teil nur in Zeitschriftenaufsätzen, fast sämtlich in lateinischer oder französischer Sprache veröffentlicht, ja manche in Briefen an andere Gelehrte geäußert. Gerade das einzige von ihm selbst 1710 herausgegebene größere Werk, die französisch geschriebene »Theodizee«, ist, wie wir noch sehen werden, zugleich sein schwächstes. Die besonders wichtigen »Neuen Versuche über den menschlichen Verstand« (französisch) waren bis 1765 noch im Staube der Hannoverschen Bibliothek vergraben. Der beiden Fremdsprachen mußte er sich, trotzdem er selbst sich gerade für die Verwendung des Deutschen in philosophischen Schriften ausgesprochen hat, zu seiner Zeit noch bedienen, weil er sonst von den Gebildeten und Gelehrten unter seinen Zeitgenossen nicht gelesen worden wäre. Aus allen diesen Gründen ist es zu begrüßen, daß Ernst Cassirer, unterstützt von Artur Buchenau, eine zweibändige deutsche Neuausgabe von Leibniz' »Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie« in der »Philosophischen Bibliothek« (Leipzig 1904/06) veranstaltet hat, her sich eine Neuübersetzung der Nouveaux Essais von 1765 anschließt. Eine vor dem Kriege von den vereinigten Berliner und Pariser Akademien geplante, auf 40 bis 50 Quartbände veranschlagte vollständige Gesamtausgabe wird wohl auch zu den Opfern des leidigen Weltkriegs zählen.
Gleich Descartes geht auch Leibniz durchaus idealistisch vom menschlichen Selbstbewußtsein als letztem Quell und Maßstab der Dinge aus. »Ich aber setze überall und durchweg nichts anderes, als was wir in unserem Bewußtsein zugestehen ..., und erschöpfe darin mit einem Schlage die ganze Summe der Dinge. ... Ausdehnung, Materie und Bewegung sind daher bloße Erscheinungen, die ihre rationale Begründung im Begriff der Kraft finden: sie sind so wenig Dinge wie das Bild im Spiegel oder der Regenbogen.« Das wahre Merkmal ihrer »Wirklichkeit« besteht darin, »daß sie untereinander, wie mit den ewigen Wahrheiten übereinstimmen«. Lockes (siehe folgendes Kapitel) Satz, daß »nichts im Verstand existiere, was nicht vorher in den Sinnen existiert habe«, setzt er den charakteristischen Zusatz entgegen: »außer dem Verstand selbst«. Die Einheit des Bewußtseins erzeugt auch die Einheit des Gegenstandes.
Die Stufen der Erkenntnis bestimmt er ähnlich, wie schon vor ihm Descartes und Spinoza. Er teilt sie in die »verworrene« der Sinnlichkeit (Sinnenwahrnehmung) und die »deutliche« des Verstandes, die sich dann ihrerseits zu der »intuitiven« Anschauung steigern kann, die uns alle Merkmale eines Dinges auf einmal erblicken läßt. Der Durchschnittsmensch folgt bei dreiviertel seiner Vorstellungen, blind wie das Tier, seiner Erfahrung; er erwartet zum Beispiel den kommenden Tag bloß gewohnheitsmäßig. Er hält sich an die bloß zufälligen oder tatsächlichen Wahrheiten; auch die von Baco so gepriesene Methode der Induktion führt uns bloß zu solchen. Der astronomisch Denkende dagegen sieht den kommenden Tag aus wissenschaftlichen Gründen voraus. Er vertraut nur den notwendigen, ewigen oder Vernunftwahrheiten der Logik, der Zahlenlehre und der Geometrie.
Damit stehen wir an dem für die Fruchtbarkeit einer Philosophie ausschlaggebenden Punkte: ihrer Stellung zur Wissenschaft. Schon als Zwanzigjähriger hatte Leibniz den Plan eines »Alphabets der menschlichen Gedanken« entworfen, das, von den einfachsten ausgehend, alle menschlichen Begriffe bis zu den zusammengesetztesten in streng-mathematischem Beweisverfahren ableiten und so »Ordnung in dem Laden der menschlichen Erkenntnis schaffen« sollte. Als Musterbild der Gewißheit ist ihm denn auch sein ganzes Leben lang die Mathematik erschienen, in der er selbst so Bedeutendes wie die Erfindung der Infinitesimalrechnung geleistet hat: sowohl die Arithmetik, die er einmal geradezu als »eine Art Statik des Universums« bezeichnet, »in der die Dinge sich enthüllen«, als die Geometrie. Und noch die seinen letzten Lebensjahren entstammenden »Metaphysischen Anfangsgründe der Mathematik« enthalten eine ganze Reihe ebenso knapper wie klarer Bestimmungen der mathematisch-physikalischen Grundbegriffe: der Zeit, des Raumes, der Größe, der Bewegung; des Punktes, der Linie, der Fläche usw.
Gemeinsam der Mathematik und Naturwissenschaft ist das von ihm zuerst entdeckte Prinzip der Kontinuität oder Stetigkeit. Durch kontinuierliche Veränderung können Punkt und Raum, Augenblick und Zeit ineinander übergehen, ist die Gleichheit nur ein besonderer Fall der Ungleichheit, das Gerade des Krummen, die Ruhe ein solcher der Bewegung. So vollzieht sich auch in der Natur nichts sprungweise, sondern alles in unmerklichen Übergängen. In allem Sein steckt ein Werden (vergl. Hegel). Ein Ding ist, indem es sich im Nacheinander seiner einzelnen Bestimmungen entfaltet. So sind alle wahrhaften Begriffsbestimmungen von entwickelnder (genetischer) Art. Die wirkliche Definition eines Kreises zum Beispiel, ja im Grunde dessen Möglichkeit ergibt sich erst aus der Konstruktionsregel, durch die er entsteht. Raum und Zeit sind – wir werden Ähnlichem bei Kant wieder begegnen – bloße Ordnungen der Dinge; selbst die Bewegung ein bloß relativer Begriff.
Doch weiter. Der Satz der Identität (Einerleiheit), wonach A = A, und der des Widerspruchs, wonach A nicht = Nicht- A sein kann, ist wohl die »große Grundlage der Mathematik« und auch in der Logik mindestens ein notwendiges Hilfs- und Verbindungsmittel in der Kette der Schlußfolgerungen. Allein die Physik läßt sich nicht aus bloß mathematischen Sätzen ableiten; sondern es muß ein neuer Grundsatz, der des »zureichenden Grundes« hinzukommen: »daß sich nämlich nichts ereignet, ohne daß es einen Grund gibt, weshalb es eher so als anders geschieht«. Wir nennen diese Grundvoraussetzung aller Natur- und Geschichtswissenschaft heute das Kausal- oder Kausalitäts- (wörtlich: Ursachen-) Gesetz. »Hieraus sieht man nun,« wie Leibniz einmal in einer seiner noch zu wenig bekannten deutschen Schriften sagt, »daß alles mathematisch, d. i. ohnfehlbar zugehe in der ganzen weiten Welt, sogar daß, wenn einer eine genugsame Insicht in die inneren Teile der Dinge haben könnte und dabei Gedächtnis und Verstand genug hätte, umb alle Umbstände vorzunehmen und in Rechnung zu bringen, würde er ein Prophet sein und in dem Gegenwärtigen das Zukünftige sehen, gleichsam in einem Spiegel«, oder, wie Kant ein Jahrhundert später sich ausdrückt, es so sicher vorausbestimmen können wie eine Sonnen- und Mondfinsternis. Zu der bloßen Ausdehnung der Mathematik muß für die Physik der Kraftbegriff hinzukommen, sie selbst zur Kraftwissenschaft oder Dynamik werden. Jede Substanz (Ding) ist tätig; was nicht wirkt, existiert auch nicht; aller Stoff ist mit Kraft erfüllt. Das, was in allem Wechsel der Naturerscheinungen erhalten bleibt, ist die Summe der in der Welt vorhandenen Kraft, welche auch der letzte Grund aller Bewegung ist.
Der Kraft träger aber sind viele. Es gibt nicht eine einzige, wie Spinoza meint, sondern unzählige Substanzen, von Leibniz seit 1697 mit einem wahrscheinlich Giordano Bruno (S. 110) entlehnten Wort Monaden (Einheiten) genannt. Diese durch die ganze Welt verteilten lebendigen Kräfte sind die »Elemente der Dinge«, die »wahrhaften Atome der Natur«. Sie sind, obwohl in steter Veränderung begriffen, doch unzerstörbar, eine jede von ihnen vollkommen für sich bestehend, keine der anderen völlig gleich; es gibt in der Natur kein Blatt, keinen Wassertropfen, der dem anderen genau gliche. Schon durch Gestalt und äußere Ausdehnung unterscheiden sie sich voneinander und durch ihre inneren Eigenschaften oder Vorstellungen. Es gibt – so wirkt auch hier der Grundsatz der Kontinuität nach – eine ungeheure Stufenreihe von Monaden, von den niedersten, in einer Art Schlaf- oder Betäubungszustand lebenden über die auch in den Tieren wirkenden sinnbegabten und mit Erinnerungsvermögen begabten »Seelen«-Monaden bis zur vernünftigen Seele oder dem Geist des Menschen, und von hier wieder bis empor zur höchsten Monade: Gott.
Streift man das Dunkle und Symbolische von dieser Monadenlehre, die der Philosoph am zusammenhängendsten in seiner »Monadologie« von 1714 entwickelt hat, ab, so bleibt der Begriff des Individuums (wörtlich: des Unteilbaren), das vom einfachsten Organismus bis zur Gottheit hinauf in seinen Vorstellungen oder doch in seinem Streben überhaupt die Welt, wenn auch in den verschiedensten Graden von Klarheit und Deutlichkeit, widerspiegelt. Hier ist also Leibniz von der bloßen mathematischen Mechanik zur Wissenschaft vom Lebenden, der Biologie, fortgeschritten, in der nach seiner Lehre alles von vornherein vorgebildet (»präformiert«) bestanden hat. Lebendig heißt ihm jedes Teilchen der Materie, das sich selbst zu ernähren, fortzupflanzen und fremden Stoff sich anzupassen fähig ist; die Entwicklung selbst vollzieht sich nach »mechanischen, d. i. verständlichen« Gründen. Auch auf diesem Gebiet nimmt er, darwinistische Ideen vorausnehmend, eine stetige Stufenreihe lebender Wesen an und bekennt sich unter anderem zu der Überzeugung, daß es Mittelwesen zwischen Pflanzen und Tieren geben müsse, welche »die Naturgeschichte eines Tages finden wird, wenn sie erst die unendliche Fülle von Lebewesen, die sich durch ihre Kleinheit den gewöhnlichen Untersuchungen entziehen oder sich im Innern der Erde und in den Tiefen der Gewässer verborgen halten, genauer studiert«.
Leibniz' Monadenlehre spielt auch in seine Psychologie hinein. Die unbewußten oder »kleinen« Vorstellungen (petites perceptions) der »schlafenden« Monade entwickeln sich zu den bewußten und deutlichen apperceptions (ein Begriff, der dann bei Kant und Herbart zu großer Bedeutung gelangt) des Selbstbewußtseins: in der Wahrnehmung schlummert bereits der Gedanke. Und da die Monade keine »Fenster« hat, durch die etwas von außen in sie hineindringen kann, so erblickt er in den »ewigen« oder notwendigen Wahrheiten, im Gegensatz zu Locke (Seite 164), unserem Geist angeborene Vorstellungen, die sich aus den ihnen keimhaft zugrunde liegenden, noch »verworrenen« Sinnesempfindungen entwickeln. Nun ist aber doch unsere Seele von einem Körper, der sogar auch einmal als ein »Aggregat« (Sammlung, Gesellschaft) von Monaden, in diesem Falle wohl ein Eigenleben führenden Teilchen, bezeichnet wird, umgeben. Wie läßt sich ein Zusammenwirken von so verschiedenartigen Elementen, wie dem in der Hauptsache doch von mechanischen Gesetzen beherrschten Körper und der ganz unräumlich, nur als »ursprüngliche Kraft und Wirksamkeit« gedachten Seele, denken?
Denken wir an das von Geulincx (Seite 141) gebrauchte Gleichnis von den beiden gleichgestellten Uhren zurück! Nicht in der Einwirkung der einen auf die andere, wie die »gewöhnliche« Philosophie meint, auch nicht in beständigen Eingriffen des Schöpfers, wie der Okkasionalismus annimmt, kann nach Leibniz die Lösung der Frage liegen, sondern darin, daß der oberste Urheber aller Dinge zwischen Leib und Seele eine so genaue Regulierung von vornherein angelegt hat, daß jede von beiden Substanzen, obwohl sie selbst nur ihren eigenen Gesetzen folgt – der Körper rein körperlichen, die Seele rein geistigen –, doch mit der anderen aufs genaueste zusammenstimmt, in einer eben von Gott vorher festgesetzten oder »prästabilierten« Harmonie. Diese Harmonie herrscht denn auch zwischen dem System, wir würden sagen: dem Gesichtspunkt der Ursache und Wirkung und dem des Zweckes. Leibniz will die mechanische Erklärung der Natur, der ein Teil seiner eigenen Entdeckungen angehört, keineswegs umstoßen. In der mechanischen Ordnung der Dinge betätigt sich im Gegenteil gerade die göttliche Weisheit. Die Annahme einer besonderen Lebenskraft, wie sie Paracelsus und die heutigen Vitalisten zum Teil wieder annehmen, wird von ihm ausdrücklich verworfen. Allein beide Betrachtungsweisen können ganz wohl miteinander verbunden werden. Er selbst zum Beispiel hat nach seiner Erzählung aus der zweckhaften Voraussetzung, daß der Lichtstrahl stets den einfachsten und leichtesten Weg wähle, bestimmte mechanische Gesetze der Lichtbrechung gewonnen und diese sodann durch das Experiment bestätigt.
Allerdings spielen bei unserem Denker religiöse Gesichtspunkte mit hinein. Er will im Gegensatz zu einem »scharfsinnigen, aber irreligiösen Schriftsteller« (Spinoza) »Religion mit Vernunft in Einklang bringen« und so »die rechtschaffenen Seelen« beruhigen, »welche die mechanische oder Korpuskularphilosophie fürchten, als ob sie uns von Gott und den unkörperlichen Substanzen entfernen könnte, während sie im Gegenteil, mit den erforderlichen Berichtigungen und bei richtiger Auffassung des Ganzen, uns darauf hinführen muß«. Und so mündet die Harmonie zwischen den beiden natürlichen »Reichen« der bewirkenden und der Zweckursachen bei ihm aus in eine zweite, noch erhabenere zwischen dem Reich der Kraft oder der Natur und dem Reich der göttlichen Weisheit oder der Gnade. Die »Wege der Natur« sind schließlich doch nur dazu da, die göttlichen Endzwecke zu erfüllen. Damit sind wir bei dem Gedanken der Theodizee angelangt: daß nämlich die ganze Welt eine Rechtfertigung von Gottes Weisheit darstellt, daß dieser schon bei Erschaffung der Welt »den bestmöglichen Plan gewählt hat, in welchem sich die größte Mannigfaltigkeit mit der größten Ordnung vereint, Ort, Raum und Zeit am besten ausgenutzt, die größte Wirkung auf den einfachsten Wegen hervorgebracht und bei den Geschöpfen die meiste Macht, das meiste Wissen, das meiste Glück und die meiste Güte findet, welche das Universum fassen konnte«. Die bestehende Welt ist die beste, die möglich war!
Wir brauchen, zumal in einer Zeit wie der heutigen, die Schwäche eines solchen Optimismus unseren Lesern nicht erst darzulegen. Die in der Welt vorhandenen Übel kann denn auch Leibniz nicht wegleugnen, aber nach seiner echt-theologenhaften Erklärung haften sie teils als natürliche Unvollkommenheit allem Endlichen an, teils dienen sie als Leiden der Menschen dessen göttlicher Erziehung, teils sind sie als Sünde von Gott zugelassen, um als ihren Gegensatz das Gute hervorzurufen und so die Menschheit vor Abstumpfung zu bewahren. Und schließlich sollen wir den Blick nicht auf einzelne Flecken und Mängel, sondern auf das Ganze richten, von dem wir ja bloß einen Teil, und zwar möglicherweise den mit den meisten Übeln behafteten, kennen! Doch wir wollen nicht mit diesem Ausblick auf das schwächste Werk des großen Denkers schließen, das er auf den Wunsch seiner fürstlichen Schülerin Sophie Charlotte, um den scharfsinnigen Angriffen des Franzosen Bayle (S. 176 f.) entgegenzutreten, in seinen letzten Jahren in ermüdender Weitschweifigkeit niedergeschrieben hat, sondern mit einem Blick auf seine, freilich noch nicht zu voller Entfaltung gediehene, Begründung der Geisteswissenschaften.
Die Ethik wird zwar noch stark von religiösen Begleitgedanken überwuchert, aber ihr Kern doch in dem Streben nach Vollkommenheit, der eigenen wie der fremden, erblickt, die vor allem »in der Kraft, zu wirken« liegt und allein zu wahrer, dauernder Glückseligkeit führt. Für den »Weisen« ist ohnehin die Religion einerlei mit dem Streben nach Sittlichkeit; nur für den, der zur wahren Weisheit noch nicht gelangt ist, vermag sie etwas zur Sittlichkeit hinzuzufügen. Der Glaube an Gott bedeutet zugleich den Glauben an die Möglichkeit eines sittlichen Fortschritts der Menschheit. Im ganzen erscheint Leibniz als Vertreter einer allen Konfessionen (deren »Wiedervereinigung« er ja erstrebte) gemeinsamen natürlichen Religion mit dem Glauben an einen persönlichen Gott und an Unsterblichkeit: womit freilich in seltsamem Widerspruch steht, daß er in einer Jugendschrift (1670) nicht bloß die Dreieinigkeitslehre, sondern sogar die Luthersche Abendmahlsauffassung mit – philosophisch-physikalischen Gründen zu »beweisen« suchte. – In seiner Rechtsphilosophie tritt er, mit Grotius und gegen Hobbes, für das natürliche, aus der Vernunft gezogene Recht gegen die positiven Satzungen ein: Verletze niemand! Gib jedem das Seine! Setze dir die Wohlfahrt aller durch geistige Aufklärung und Tätigkeit zum Ziel! Dann trägst auch du deinen Teil zu der großen Weltharmonie bei. – In diese Gedanken der Harmonie münden schließlich auch seine ästhetischen Ideen aus, die das Schönheitsgefühl, wenigstens im Gegensatz zu der gleichzeitigen dürren Verstandespoesie, von der Verstandeserkenntnis abtrennen und es als eine uninteressierte Empfindung betrachten; womit die spätere Begründung durch Kant vorbereitet war.
So hat Leibniz, der erste große deutsche Denker in der Geschichte der neueren Philosophie und zugleich einer der vielseitigsten Menschen, die je gelebt haben, auf den mannigfachsten Gebieten der Wissenschaft wertvolle Grundlagen gelegt und ist daneben auch für die allgemeine Geistesentwicklung in Deutschland, als Vater der deutschen Aufklärung, von Bedeutung geworden. Ehe wir indes zu dieser übergehen, müssen wir ihre wichtigere Entwicklung in den westlichen Nachbarländern betrachten.