Voltaire
Kandide oder Die beste aller Welten
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Siebzehntes Kapitel: Kandide kommt mit seinem Bedienten nach Eldorado. Was sie da gesehn

Wie sie über den Grenzen der Langohren waren, sagte Kakambo zu Kandiden: Sie sehn wohl, diese Hälfte der Erdkugel ist sowenig 'nen Pfifferling wert wie jene. Das Gescheitste wäre, wir gingen wieder nach Europa, und das je ehr, je besser. Kandide. Wieder nach Europa? Und wo dann hin? Nach Westfalen, da schlagen Bulgaren und Abaren tot, was lebendigen Odem hat, nach Portugal, da werd' ich verbrannt; und bleiben wir hier, so sind wir keinen Augenblick sicher, gespießt und aufgezehrt zu werden. Und doch kann ich mich nicht entschließen, den Teil der Welt zu verlassen, der meine Kunegund' in sich schließt.

Kakambo. I, wissen Sie was! so wollen wir nach Karolina gehn. Dort finden wir Engländer, die ziehn durch die ganze Welt. Helfen tun uns die gewiß; es sind gar gute Geschöpfe, und Gott wird uns auch beistehn.

Nach Karolina zu kommen, war so leicht eben nicht; nach welcher Seite sie ihre Richtung nehmen mußten, wußten sie wohl so ungefähr; allein von allen Seiten her türmten sich ihnen schreckliche Hindernisse entgegen; Gebirge, Flüsse, Abgründe, Straßenräuber und Wilde. Ihre Gäule wollten vor Strapazen umfallen, ihr Proviant war rein alle; schon einen ganzen Monat lang nährten sie sich mit Kokosfrüchten. Endlich gelangten sie an das Ufer eines kleinen Flusses, das mit Kokosbäumen besetzt war. Da fanden sie wieder Nahrung ihres Lebens und ihrer Hoffnung.

Kakambo, ein so stattlicher Ratgeber wie die Alte, sagte zum Kandide: Weiter können wir nicht; haben auch schon 'nen ganz artgen Marsch gemacht. Dort am Ufer steht ein leeres Kanot, wollens mit Kokosnüssen anfüllen und uns 'reinwerfen. Der Strom mag uns hinführen, wo er hin will. Er bringt uns gewiß nicht hin, wo die Welt mit Brettern vernagelt ist. Mag's uns nun gut gehn oder nicht; kriegen wir doch wieder was Neues zu Gesichte. Es sei drum, sagte Kandide. Die Vorsicht steh' uns bei.

Sie trieben so etliche Meilen fort; bald war das Gestade blühend und lachend, bald öd' und dürr, bald niedrig, bald steil. Der Fluß ward immer breiter und verlor sich in eine Kluft von schrecklichen, himmelanstrebenden Felsen. Die beiden Reisenden waren so dreist, sich auch hier noch den Fluten zu überlassen. Der sich hierselbst verengende Fluß riß sie mit fürchterlichem Getöse schnell hindurch. Nach vierundzwanzig Stunden sahen sie das Tageslicht wieder, scheiterten aber gegen die Klippen.

Eine ganze Meile weit mußten sie sich von Klippe zu Klippe fortarbeiten, endlich lag eine unermeßliche Ebene vor ihnen, um die sich eine Kette unersteiglicher Gebirge schlang. Wohl gepaart herrschten Nutzen und Vergnügen auf diesen Feldern, und der Nutzen hatte immer die Miene des Angenehmen. Auf allen Wegen und Stegen prangten Wagen einher, deren Bauart so ausnehmend nett war als glänzend die Materialien; bildschöne Männer und Weiber saßen darauf; große rote Hammel zogen sie mit der größten Schnelligkeit fort. An Flüchtigkeit übertrafen diese Tiere die besten Gäule aus Andalusien, Tetuan und Mequinez.

Das ist ja ein ganz ander Land als Westfalen! rief Kandide. Bei dem ersten Dorfe, das sie antrafen, kletterte er mit Kakambo'n vom Felsen herunter. Wie sie in den Flecken hereintraten, fanden sie einige Bauerjungen in zerlumpten brokatnen Jacken, Wurfscheiben spielen. Sie konnten sich gar nicht satt an ihnen schauen. Ihre Steine waren ziemlich breit, rund, sahen gelb, rot und grün aus und hatten ausnehmenden Glanz. Unsre Reisenden kamen auf den Einfall, einige davon aufzuheben, und siehe, es war Gold, Smaragden und Rubine. Der kleinste von diesen Edelsteinen würde dem Thron des Großmoguls zur größten Zierde gedient haben. Vermutlich müssen das die königlichen Prinzen sein, die hier Wurfscheiben spielen, sagte Kakambo. Der Dorfschulmeister erschien in diesem Augenblick, um sie in die Schule zu treiben. Ha! ihr Instruktor! rief Kandide.

Sogleich trollten sich die kleinen Bettelbuben vom Spiel' und ließen ihre Steine und all ihr Spielzeug auf der Erde liegen. Kandide hob's auf, rannte dem Schulmeister nach, überreichte es ihm in der demütigsten Stellung und gab ihm pantomimisch zu verstehn, Ihro königlichen Hoheiten hätten ihr Gold und Kleinodien vergessen. Lächelnd warf der Schulmonarch beides auf die Erde, sah' einen Augenblick Kandiden mit großen, sperrangelweiten Augen und Munde an und wanderte seines Weges.

Hurtig hoben unsre Herren aus der andern Welt das Gold, die Smaragden und Rubine wieder auf. Wo sind wir? rief Kandide. Die Königssöhne hier müssen recht philosophisch erzogen werden, da sie Gold und Edelgesteine so frühzeitig verachten lernen. Kakambo stutzte diesmal so sehr wie sein Herr. Endlich kamen sie an das erste Haus im Dorfe, völlig gebaut wie ein europäischer Palast. Ein buntes Gewühl von Menschen war vor der Türe, inwendig ein noch bunters. Die melodischste Musik scholl ihnen entgegen, der lieblichste Geruch duftete aus der Küche her.

Kakambo, der vorangegangen war, hörte daß man darin peruisch sprach; das war seine Muttersprache. Kakambo war, wie die Welt weiß, aus Tukuman; ein Dorf, wo man keine andre Sprache kennt. Ich will Ihr Dolmetscher sein, sagte er zum Kandide. Lassen Sie uns 'reingehn. 's ist 'n Wirtshaus. Zwei junge Gesellen und zwei junge Aufwärterdirnen im Gasthofe, mit Goldgewändern angetan und das Haar mit Band aufgeflochten, nötigten sie sogleich an die Wirtstafel. Man trug vier Suppen auf; jede war mit zwei Papageien garniert, einem gesottnen Kondor von zweihundert Pfund und zwei gebratnen Affen von trefflichem Wohlgeschmack; man setzte dreihundert Kolibris in einer Schüssel auf und sechshundert Fliegenfänger in einer andern und die köstlichsten Ragouts und Pasteten und das niedlichste Gebackne. Das all lag auf Schüsseln, von einer Art Bergkristall gemacht. Die Aurwärter und Aufwärterinnen schenkten vielerlei Getränke ein, alle aus Zuckerrohr verfertigt.

Die meisten Gäste waren Kauf- und Guts-Leute, Männer von ungemein viel Lebensart und Weltton. Die Fragen, die sie an Kakambo'n taten, verrieten insgesamt den vorsichtigen, bescheidnen und verständigen Mann; über alles, was er wissen wollte, gaben sie ihm die hinlänglichste Auskunft.

Als sie abgegessen hatten, warf Kakambo und Kandide zwei von den aufgehobnen Goldstücken hin, womit sie ihre Zeche recht reichlich zu bezahlen glaubten. Der Wirt und die Wirtin hielten sich die Seiten und konnten vor Lachen lange nicht zu sich kommen. Sie sind Fremde, merken wir wohl, sagte der Wirt endlich, und Fremde haben wir noch gar nicht zu Gesichte gekriegt. Müssen's uns ja nicht übelnehmen, daß wir beide vorhin so aufprusteten, mein Weib und ich. 's kam uns gar zu schnurrig vor, daß Sie uns mit Feldsteinen bezahlen wollten. Vermutlich haben Sie kein solch Geld, als bei uns zu Lande gang' und gäbe ist. Tut aber weiter nichts, können deshalb doch immer Zehrung bekommen und Dach und Fach noch obenein. Bei uns sind die Wirtshäuser angelegt, Handel und Wandel in Flor zu bringen, und wir Wirte werden vom Könige bezahlt. Schmalhans ist freilich heut' Ihr Küchenmeister gewesen, aber lassen Sie's gut sein, wo Sie nun hinkommen werden, wird man Ihnen recht nach Standesgebühr und Würden aufschüsseln. Unser Dörfchen ist grade das einzige im ganzen Reiche, wo die Einwohner nicht viel in die Milch zu brokken haben.

Alles dies verdolmetschte Kakambo Kandiden, der darüber nicht weniger in Verwirrung geriet, sich daraus so wenig zu finden wußte wie jener. Was muß dies für ein Land sein, sagte Kandide, das dem übrigen Teil des Erdbodens unbekannt ist, und wo die ganze Menschennatur von der unsrigen so verschieden ist?

Vermutlich ist's das Land, wo alles gut geht. Denn ein solches Land muß es doch platterdings geben. Und was auch Magister Panglos sagte, so hab' ich doch oft bemerkt, daß es in Westfalen ziemlich schlecht bestellt war.


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