Voltaire
Kandide oder Die beste aller Welten
Voltaire

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Siebentes Kapitel: Kandide wird von der Alten wohl gepflegt und findet unverhofft seine Geliebte

Getrost und unverzagt ward Kandide nun zwar nicht, aber mit ging er. Sein Führer brachte ihn in ein altes, ganz verfallnes Gebäude, gab ihm ein Krügelchen Pomade, sich damit zu salben, setzte ihm zu essen und zu trinken hin, zeigte ihm ein ganz sauber Bettchen und daneben einen ganz vollständigen Anzug. "So wünsch' ich Ihnen denn gesegnete Mahlzeit und auch angenehme Ruh! Und empfehle Sie der gnädgen Obhut Unsrer Lieben Frauen im Busche und des heiligen Antonius von Padua und des heiligen Jakobs von Compostel, unsrer allergnädigsten Schutzpatrone. Morgen früh mach' ich Ihnen wieder meine Aufwartung."

Kandide durch alles, was er gesehn, durch alles, was er erlitten, am meisten aber durch das liebreiche Betragen der Alten in die heftigste Rührung versetzt, ergriff mit Wärme ihre Hand und wollte sie zum Munde führen. "Nein, das wollte ich mir sehr verbeten haben; das gebührt mir nicht. Morgen bin ich ja wieder da. Brauchen Sie nur die Pomade recht hübsch, lieber junger Herr, und speisen Sie und ruhen Sie fein wohl." Das tat denn Kandide; aß und schlief sich gründlich aus, so hart ihn auch so vielerlei Ungemach zu Boden drückte. Den folgenden Morgen brachte ihm die Matrone zu frühstücken, besichtigte seinen Rücken und salbte ihn mit einer andern Salbe; gegen Mittag brachte sie ihm zu essen und gegen Abend gleichfalls. Grade so machte sie's auch folgenden Tages. Wer ist Sie, gute Alte? fragte Kandide jedesmal. Was bewegt Sie zu dem liebreichen Betragen? Sag Sie, wie kann ich dafür erkenntlich sein? Kein stummes Wörtchen war von der Alten herauszubringen. Gegen Abend kam sie wieder, aber ganz leer. Kommen Sie mit, sagte sie, aber mäuschenstill!

Sie nimmt ihn beim Arm und führt ihn wohl eine Viertelmeile weit über Feld. Nunmehr befanden sie sich bei einem freiliegenden Hause, mit Gärten und Kanälen umgeben. Die Alte pocht an ein Pförtchen. Es wird aufgetan, und Kandide von seiner Führerin eine Winkeltreppe heraufgeführt in ein vergoldetes Kabinett; hier muß er sich auf ein brokatnes Sofa niederlassen. Sie machte die Tür zu und ging fort. Kandide glaubte zu träumen, hielt sein ganzes Leben für einen widrigen Traum und den jetzigen Augenblick für einen glücklichen.

Die Alte kam bald wieder und führte eine verschleierte Dame herein von majestätischem Wuchs und schimmerndem Anzug, die an jedem Gliede bebte und mit genauer Not konnte von der Alten aufrecht erhalten werden. Nehmen Sie den Schleier ab, sagte das Mütterchen zum Kandide. Er nahte sich und hob mit blöder Hand den Schleier auf.

Wie dem jungen Mann in dem Augenblick zu Mute ward! Ihm däuchte, seine Baroneß Gundchen vor sich zu sehn, und sie stand in der Tat vor ihm. Dieser so überraschende Anblick fiel mit aller Macht über ihn; das Übermaß seines Glücks berauschte ihn so, daß er sprachlos und ohne Bewegung zu ihren Füßen hinsank, Gundchen fiel ohne Sinne aufs Sofa.

Die Alte bestrich sie mit allerhand Stärkungswässern. Ihre Sinne sammelten sich wieder, die Sprache fand sich wieder ein. Unzusammenhängende Laute rissen sich anfänglich von ihrem gepreßten Herzen los; und dann durchkreuzten sich Frag' und Antwort, Seufzer und Tränen, und Schreie der Freud' und des Erstaunens. Die Alte riet ihnen, nicht zu laut zu werden, und ließ sie in völliger Freiheit.

"Ha! so leben Sie wirklich noch, Baroneß? So find' ich Sie in Portugal wieder! So sind Sie nicht geschändet worden; so hat man Ihnen nicht den Bauch aufgeschlitzt!" Doch! doch! sagte die schöne Kunigunde, allein man stirbt daran nicht immer. "Aber der gnädge Herr Papa sind getötet worden, und die gnädge Frau Mama?" Leider! alle beide! und Tränen tröpfelten aus Kunegundens Auge. "Und Dero Herr Bruder auch?" "Auch der!" "Wie sind Sie aber nach Portugal gekommen? Wie haben Sie meinen Aufenthalt erfahren? Wie mich hierhergezaubert? Den Schlüssel, liebste Kunegunde, zu all' den seltsamen Abenteuern!"

Den sollen Sie sogleich haben, erwiderte die Dame, zuvor aber müssen Sie mir erzählen, wie's Ihnen nach dem unschuldigen Kuß gegangen ist, den Sie mir gaben, und den Fußtritten, die Sie bekamen.

So beklommen auch noch Kandide sich fühlte, so schwach und zitternd seine Stimme war, so weh' ihm auch noch sein Rückgrat tat, so erzählt' er ihr doch mit der tiefsten Ehrerbietung und aufs allertreuherzigste all' seine Leiden nach ihrer Trennung. Das Auge gen Himmel gerichtet schenkte Kunegunde dem Gedächtnis des braven Wiedertäufers und Panglosens einige Zähren; hierauf sprach sie zu Kandide wie folgt. Ebenso gierig als er das liebreizende Mädchen mit den Augen verschlang, verschlang er auch jedes ihrer Worte.


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