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Candides Reise nach Konstantinopel
Der treue Cacambo hatte schon bei dem türkischen Kapitän, der den Sultan Achmed nach Konstantinopel zurückfahren sollte, durchgesetzt, daß er Candide und Martin an Bord nahm. Beide begaben sich dorthin, nachdem sie sich vor Seiner entwerteten Majestät niedergeworfen hatten. Unterwegs sagte Candide zu Martin: »Wir haben also mit sechs entthronten Königen gespeist! Und unter diesen sechsen war einer, dem ich ein Almosen gab! Vielleicht gibt es viele noch unglücklichere Prinzen. Was mich betrifft, so habe ich nur hundert Hammel verloren und jetzt fliehe ich in die Arme Kunigundens! Mein lieber Martin, ich wiederhole, Pangloß hatte recht, alles ist gut.« – »Ich wünsche es«, sagte Martin. – »Aber,« sagte Candide, »dies Abenteuer in Venedig ist doch eigentlich sehr unwahrscheinlich. Man hat noch nie gesehen oder sagen hören, daß sechs entthronte Könige zusammen in einem Gasthofe zu Abend speisen.« – »Es ist nicht außergewöhnlicher,« sagte Martin, »als die meisten Dinge, die wir erlebt haben. Es ist etwas sehr Gewöhnliches, daß Könige entthront werden; was die Ehre betrifft, die uns zuteil wurde, mit ihnen zu speisen, so ist das eine Kleinigkeit, die wir nicht zu beachten brauchen. Was liegt daran, mit wem man speist, vorausgesetzt, daß das Mahl gut ist?«
Kaum war Candide auf dem Schiff, als er seinem ehemaligen Diener, seinem Freunde Cacambo, um den Hals fiel. »Nun,« sagte er, »was macht Kunigunde? Ist sie immer noch ein Wunder an Schönheit? Liebt sie mich noch? Wie geht es ihr? Du hast ihr doch einen Palast in Konstantinopel gekauft?«
»Mein teurer Herr,« antwortete Cacambo, »Kunigunde wäscht Küchengeschirr am Ufer der Propontis, bei einem Fürsten, der sehr wenig Geschirr besitzt. Sie ist Sklavin im Hause eines früheren Herrschers namens Ragotsky Franz II. Rakoczy, geboren 1676; starb 1735., dem der Großtürke täglich drei Taler für seinen Unterhalt gibt. Trauriger jedoch ist, daß sie ihre Schönheit verloren hat und entsetzlich häßlich geworden ist.« – »Ach! schön oder häßlich,« sagte Candide, »ich bin ein anständiger Mensch, und meine Pflicht ist, sie stets zu lieben. Aber wie konnte sie mit den fünf oder sechs Millionen, die du mitbekommen hast, in einen so schlimmen Zustand geraten?« – »Gut,« sagte Cacambo, »mußte ich nicht zwei Millionen dem Señor Don Fernando d'Ibaraa, y Figueora, y Mascarenès, y Lampurdos, y Suza, Gouverneur von Buenos Aires, geben für die Erlaubnis, Fräulein Kunigunde mitzunehmen? Hat uns nicht ein Seeräuber brav alles übrige abgenommen? Ist dieser Seeräuber nicht mit uns um das Kap Matapan nach Milo, Nicara, Samos, Petra, durch die Dardanellen nach Marmara und Scutari gefahren? Kunigunde und die Alte dienen dem Fürsten, von dem ich sprach, und ich bin Sklave des entthronten Sultans.« – »Wie viele furchtbare Schicksalsschläge ketten sich ineinander!« sagte Candide. »Aber schließlich habe ich noch einige Diamanten; ich werde Kunigunde leicht befreien können. Es ist sehr schade, daß sie so häßlich geworden ist.«
Dann wandte er sich an Martin: »Was denken Sie, wer ist am meisten zu beklagen, Kaiser Achmed, Kaiser Iwan, König Karl Eduard oder ich?« – »Ich weiß es nicht,« sagte Martin; »um es zu wissen, müßte ich in Eure Herzen sehen.« – »Ach,« sagte Candide, »wenn Pangloß hier wäre: er wüßte es und würde es uns sagen.« – »Ich weiß nicht,« versetzte Martin, »mit welcher Wage Ihr Pangloß das Unglück der Menschen gewogen und ihre Leiden abgeschätzt hätte. Alles, was ich vermute, ist, daß es Millionen Menschen auf der Erde gibt, die hundertmal mehr zu beklagen sind als König Karl Eduard, Kaiser Iwan und der Sultan Achmed.« – »Das mag wohl sein«, sagte Candide.
In wenigen Tagen gelangte man zum Kanal des Schwarzen Meeres. Das erste war, daß Candide Cacambo mit teurem Geld loskaufte. Dann warf er sich, ohne Zeit zu verlieren, mit seinen Gefährten in eine Galeere, um an dem Ufer der Propontis Kunigunde aufzusuchen, so häßlich sie auch sein mochte.
Auf der Galeere waren zwei Sträflinge, die sehr schlecht ruderten, und denen der levantinische Kapitän von Zeit zu Zeit einige Hiebe mit dem Ochsenziemer auf die nackten Schultern versetzte. Candide betrachtete diese aus natürlichem Mitgefühl aufmerksamer als die andern Galeerensklaven und näherte sich ihnen voll Mitleid. Etwas in ihren verzerrten Gesichtern schien ihm einige Ähnlichkeit mit Pangloß und jenem unglücklichen Jesuiten, dem Baron, Kunigundens Bruder, zu haben. Dieser Gedanke bewegte und betrübte ihn. Er betrachtete sie noch aufmerksamer. »In der Tat,« sagte er zu Cacambo, »wenn ich nicht selber Meister Pangloß hätte hängen sehen und nicht das Unglück gehabt hätte, den Baron zu töten, würde ich glauben, daß sie es seien, die auf der Galeere rudern.«
Beim Namen des Barons und des Pangloß stießen die beiden Sträflinge einen lauten Schrei aus, hielten sich an der Bank und ließen die Ruder fallen. Der levantinische Kapitän lief auf sie zu und verdoppelte die Schläge mit dem Ochsenziemer. »Halten Sie! Halten Sie ein, Herr!« rief Candide; »ich gebe Ihnen so viel Geld, wie Sie wollen.« – »Wie! das ist Candide!« sagte einer der Sträflinge. – »Wie, das ist Candide!« sagte der andere. – »Ist es ein Traum?« sagte Candide; »wache ich? Bin ich auf einer Galeere? Ist dies der Herr Baron, den ich getötet habe? Ist dies Meister Pangloß, den ich hängen sah?« – »Wir sind es! Wir sind es!« antworteten sie. »Wie,« sagte Martin, »dies hier ist der große Philosoph?« – »He! Herr Kapitän aus der Levante,« sagte Candide, »wieviel Lösegeld wollen Sie für Herrn von Thunder-ten-tronckh, einen der ersten Barone des Reichs, und für Herrn Pangloß, den tiefsinnigsten Metaphysiker Deutschlands?« – »Christenhund,« antwortete der levantinische Kapitän, »da diese beiden Hunde von Christensträflingen Barone und Metaphysiker sind, was, wie es scheint, in ihrem Lande eine große Würde ist, wirst du mir fünfzigtausend Zechinen geben.« – »Sie sollen Sie haben, mein Herr; fahren Sie mich wie ein Blitz nach Konstantinopel zurück, und Sie werden sofort bezahlt werden; doch nein, fahren Sie zu Fräulein Kunigunde.« Gleich auf das erste Angebot Candides hatte der Levantiner den Schnabel des Schiffes nach Konstantinopel zu gedreht und ließ es schneller rudern; als ein Vogel die Luft zerteilt.
Candide umarmte Pangloß und den Baron hundertmal. »Und wie kommt es, daß ich Sie nicht getötet habe, mein teurer Baron? Und Sie, mein geliebter Pangloß, wieso sind Sie am Leben, nachdem Sie gehängt worden sind? Und warum sind Sie beide auf Galeeren in der Türkei?« – »Ist es wahr, daß meine geliebte Schwester in diesem Lande ist?« fragte der Baron. – »Ja«, antwortete Cacambo. – »Ich sehe also meinen lieben Candide wieder!« rief Pangloß. Candide stellte ihnen Martin und Cacambo vor. Alle umarmten sich; alle sprachen zu gleicher Zeit. Die Galeere flog dahin; sie waren schon im Hafen. Man ließ einen Juden kommen, an den Candide einen Diamanten im Werte von hunderttausend Zechinen für fünfzigtausend verkaufte, und der bei Abraham schwur, er könne nicht mehr dafür geben. Er zahlte sofort das Lösegeld für den Baron und das für Pangloß. Dieser warf sich seinem Befreier zu Füßen und badete sie in Tränen; der andere dankte mit einer Kopfbewegung und versprach, ihm das Geld bei der ersten Gelegenheit wiederzugeben. »Aber ist es denn möglich, daß meine Schwester in der Türkei ist?« sagte er. – »Nichts ist so möglich,« versetzte Cacambo, »denn sie wäscht Geschirr auf bei einem Fürsten von Siebenbürgen.« Man ließ sogleich zwei Juden kommen: Candide verkaufte noch mehr Diamanten; und sie gingen alle auf eine andere Galeere, um Kunigunde zu befreien.