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Fortsetzung der Leidensgeschichte der Alten
So überrascht und entzückt ich war, die Sprache meines Landes zu hören, so sehr erstaunten mich die Worte, die dieser Mann ausstieß. Ich antwortete ihm, es gäbe sicher ein größeres Mißgeschick als das von ihm beklagte. In wenigen Worten schilderte ich ihm die Schrecken, die ich erlitten habe; dann fiel ich abermals in Ohnmacht. Er trug mich in ein nahes Haus, legte mich zu Bett, sorgte für Essen, bediente mich, tröstete mich, schmeichelte mir, meinte, er habe noch nie etwas so Schönes gesehen wie mich und niemals noch den Verlust dessen, was niemand ihm wiedergeben könne, so unendlich bedauert. ›Ich bin in Neapel geboren,‹ sagte er; ›dort werden jährlich zwei- bis dreitausend Kinder kastriert. Die einen sterben daran, andere bekommen dadurch Stimmen, die alle Frauenstimmen an Schönheit übertreffen, wieder andere werden Staatsregenten Der italienische Sänger Farinelli, in Neapel 1705 geboren, regierte unter Ferdinand VI. über Spanien. Er starb im Jahre 1782. Bei mir hatte diese Operation großen Erfolg; ich wurde Sänger in der Kapelle der Frau Prinzessin von Palestrina.‹ – ›Meiner Mutter!‹ rief ich. – ›Ihrer Mutter!‹ schrie er unter Tränen; ›wie! Sie sind die Prinzessin, die ich bis zu ihrem sechsten Jahre erzog und die schon damals versprach, so schön zu werden wie Ihr es seid?‹ – ›Ich bin es; meine Mutter liegt vierhundert Schritte von hier, gevierteilt, unter einem Haufen Toter ...‹
Ich erzählte ihm meine Erlebnisse und er mir die seinen. Er teilte mir mit, daß er von einer christlichen Macht Dem König von Portugal. Es war während des spanischen Erbfolgekriegs. zum Sultan von Marokko gesandt worden sei, um mit diesem Monarchen einen Vertrag zu schließen, wonach man ihm Pulver, Kanonen und Schiffe liefern wolle, um ihm zu helfen, den Handel der anderen Christen zu vernichten. ›Mein Auftrag ist erledigt,‹ sagte dieser biedere Eunuche; ›ich werde mich in [Ceuta] einschiffen und Sie mit nach Italien nehmen. Ma che sciagura d'essere senza coglioni!‹
Ich dankte ihm unter Tränen der Rührung. Jedoch statt mich nach Italien zu bringen, führte er mich nach Algier und verkaufte mich an den Dey dieser Provinz. Kaum war ich verkauft, als die Pest, welche in Afrika, Asien und Europa gewütet hat, auch in Algier mit größter Gewalt ausbrach. Sie haben ein Erdbeben erlebt, mein Fräulein, haben Sie aber je die Pest gehabt?«
»Niemals«, antwortete die Baronesse.
»Hätten Sie sie gehabt,« versetzte die Alte, »würden Sie zugeben, daß sie ein Erdbeben an Schrecken weit übersteigt. Sie ist in Afrika nichts Außergewöhnliches: ich wurde bald davon ergriffen. Stellen Sie sich die Lage vor: die fünfzehnjährige Tochter eines Papstes erduldet im Zeitraum von drei Monaten Armut und Sklaverei, wird beinahe täglich vergewaltigt, sieht wie ihre Mutter gevierteilt wird, erleidet Hunger, Krieg und soll nun an der Pest in Algier sterben! Ich starb zwar nicht, aber mein Eunuche, der Dey und beinahe der ganze Serail von Algier kamen um.
Als der erste Ansturm dieser furchtbaren Krankheit vorbei war, verkaufte man die Sklaven des Dey. Ein Händler kaufte mich und brachte mich nach Tunis; dort verkaufte er mich weiter an einen anderen Händler, der mich nach Tripolis verkaufte; von Tripolis wurde ich nach Alexandrien, von Alexandrien nach Smyrna, von Smyrna nach Konstantinopel verkauft. Schließlich gehörte ich einem Janitscharen-Aga, der bald abkommandiert wurde, um Azof gegen die Russen, die es belagerten, zu verteidigen.
Dieser Aga, der ein sehr galanter Mann war, führte seinen ganzen Harem mit sich. Er wies uns eine kleine Festung im mäotischen Meere an, die von zwei schwarzen Eunuchen und zwanzig Soldaten bewacht wurde. Man tötete ungeheuer viele Russen; aber sie gaben alles gehörig zurück: Azof wurde dem Boden gleichgemacht; kein Geschlecht noch Alter wurde geschont. Schließlich blieb nichts als unsere kleine Festung; die Feinde wollten uns durch Hunger zur Übergabe zwingen. Die zwanzig Janitscharen hatten geschworen, sich niemals zu ergeben. Damit sie ihren Schwur nicht verletzten, waren sie in der äußersten Hungersnot gezwungen, unsere beiden Eunuchen aufzuessen. Einige Tage darauf beschlossen sie, auch die Frauen zu verzehren.
Wir hatten einen sehr frommen und mitleidigen Iman, der ihnen eine schöne Predigt hielt und sie dazu brachte, uns nicht völlig zu töten. ›Schneidet,‹ sagte er, ›jeder der Damen nur einen Hinterbacken ab; das gibt eine ausgezeichnete Mahlzeit; sollte es nötig sein, könnt Ihr in einigen Tagen die andere Hälfte nehmen. Aber der Himmel wird diese barmherzige Tat lohnen und euch Hilfe schicken.‹
Er besaß große Überredungskunst; er überzeugte sie. Man nahm die grauenvolle Operation an uns vor. Der Iman legte uns dieselbe Salbe auf, die man bei der Beschneidung der Kinder anwendet. Wir waren alle dem Tode nahe.
Kaum hatten die Janitscharen die Mahlzeit verzehrt, die wir ihnen verschafft hatten, als die Russen auf flachen Booten anlangten; kein einziger Janitschare entging ihnen. Die Russen kümmerten sich nicht weiter um unseren Zustand. Aber es gibt überall französische Chirurgen. Einer von ihnen, der sehr geschickt war, nahm sich unser an; er heilte uns. Mein ganzes Leben werde ich daran denken, daß er mir, sobald meine Wunden sich geschlossen hatten, einen zärtlichen Antrag machte. Im übrigen sagte er, wir sollten uns trösten; er versicherte uns, ähnliche Dinge seien schon bei verschiedenen Belagerungen vorgekommen; es sei eben Kriegsrecht.
Sobald meine Gefährtinnen wieder gehen konnten, schickte man sie nach Moskau. Ich fiel bei der Teilung einem Bojaren zu, der mich zu seiner Gärtnerin machte und mir täglich zwanzig Peitschenhiebe gab. Als nach Verlauf von zwei Jahren dieser Herr mit einigen dreißig anderen Bojaren wegen einer Hofintrige gerädert wurde, benützte ich dieses Ereignis: ich entfloh. Ich durchzog ganz Rußland; war lange Kellnerin in Riga, dann in Rostock, Wismar, Leipzig, Kassel, Utrecht, Leyden, im Haag und in Rotterdam. Ich bin in Elend und Schmach alt geworden; besaß nur noch die Hälfte meines Hintern und vergaß doch nie, daß ich die Tochter eines Papstes bin. Hundertmal wollte ich mich töten, aber ich liebte das Leben noch. Diese lächerliche Schwäche ist vielleicht eine unserer verhängnisvollsten Eigenschaften; denn gibt es etwas Dümmeres, als eine Last weitertragen zu wollen, die man immer hinwerfen möchte? Sein Dasein zu verabscheuen und doch daran festzuhalten? Die Schlange, die an uns zehrt, zu liebkosen, bis sie unser Herz angefressen hat?
Ich habe in den Ländern, durch die mich das Schicksal geführt hat, und in den Schenken, wo ich bedient habe, eine ungeheure Zahl Menschen getroffen, die ihr Leben verfluchten; aber ich habe nur zwölf gekannt, die ihrem Elend freiwillig ein Ziel gesetzt haben: drei Neger, vier Engländer, vier Genfer und einen deutschen Professor namens Robeck. Schließlich kam ich als Dienerin zu dem Juden Don Isaschar. Er gab mich Ihnen bei, mein schönes Fräulein. Ich habe mich an Ihr Schicksal gehängt und mich mehr mit Ihren Abenteuern befaßt als mit den meinen. Ich würde Ihnen sogar niemals von meinem Unglück gesprochen haben, wenn Sie mich nicht etwas gereizt hätten, und wenn es auf einem Schiffe nicht Brauch wäre, Geschichten gegen die Langeweile zu erzählen. Schließlich, mein Fräulein, habe ich Erfahrung und kenne die Welt; machen Sie sich ein Vergnügen: fordern Sie jeden Passagier auf, Ihnen seine Geschichte zu erzählen, und wenn nur ein einziger dabei ist, der nicht schon oft sein Leben verflucht und zu sich selbst gesagt hat, er sei der unglücklichste aller Menschen, werfen Sie mich kopfüber in das Meer.«