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Was Candide und Martin in Frankreich begegnete
Candide blieb nur so lange in Bordeaux, als nötig war, um einige Kieselsteine aus Eldorado zu verkaufen und sich einen guten zweisitzigen Reisewagen zu verschaffen; denn er konnte seinen Philosophen Martin nicht mehr entbehren. Sehr ärgerlich war es ihm nur, sich von seinem Hammel trennen zu müssen. Er überließ ihn der Akademie der Wissenschaften in Bordeaux, die als Thema der Preisaufgabe dieses Jahres die Frage aufstellte, warum die Wolle dieses Hammels rot sei. Der Preis wurde einem Gelehrten aus dem Norden zugesprochen, der durch A + B - C geteilt durch Z bewies, daß der Hammel rot sein müsse und an den Pocken sterben werde.
Indessen sagten alle Reisenden, die Candide in den Herbergen am Wege traf: »Wir gehen nach Paris.« Dieses allgemeine Drängen gab ihm schließlich auch Lust, diese Hauptstadt zu sehen; es war kein großer Umweg auf der Fahrt nach Venedig.
Er fuhr durch die Vorstadt Saint-Marceau ein und glaubte in dem häßlichsten Flecken Westfalens zu sein.
Kaum war er in seinem Gasthaus angelangt, als er von einer leichten Krankheit überfallen wurde, die von den Reisestrapazen kam. Da er einen ungeheuren Diamanten am Finger trug und man auf seinem Wagen eine merkwürdig schwere Kiste bemerkt hatte, waren sofort zwei Ärzte bei ihm, die er nicht verlangt hatte, einige vertraute Freunde, die ihn nicht verließen, und zwei Betschwestern, die seine Suppen kochten. Martin sagte: »Ich erinnere mich, bei meinem ersten Aufenthalt in Paris auch krank gewesen zu sein. Ich war sehr arm: also hatte ich weder Freunde noch Betschwestern, noch Ärzte; und ich genas.«
Inzwischen verschlimmerte sich Candides Krankheit durch die Mitwirkung der vielen Ärzte und Aderlässe. Ein Pfarrgehilfe des Bezirks kam und bat ihn mit süßlicher Miene um einen im Jenseits zu zahlenden Wechsel. Candide wollte nichts damit zu tun haben. Die Betschwestern versicherten ihm, es sei dies die neueste Mode; Candide antwortete, er sei kein Modenarr. Martin wollte den Pfarrgehilfen zum Fenster hinauswerfen. Der Geistliche schwur, man werde Candide nicht begraben. Martin schwur, er werde den Geistlichen begraben, wenn dieser fortfahre, sie zu belästigen. Der Streit wurde hitziger. Martin faßte den Pfarrgehilfen hart bei den Schultern und verjagte ihn; was einen großen Skandal verursachte, über den ein Protokoll aufgenommen wurde.
Candide genas. Während seiner Genesung empfing er die beste Gesellschaft bei sich zum Souper. Es wurde hoch gespielt. Candide wunderte sich, daß er nie ein As bekam; Martin wunderte sich nicht.
Unter denen, die ihm ihre Aufwartung machten, war ein kleiner Abbé aus Périgord, einer jener Wichtigtuer, die immer flink, dienstbereit, frech, schmeichlerisch, anschmiegend sind, Reisende bei ihrer Ankunft ausspionieren, ihnen die Skandalgeschichten der Stadt erzählen und Vergnügungen zu jedem Preise anbieten. Dieser führte Candide und Martin zuerst in die Komödie. Man spielte ein neues Trauerspiel. Candide saß zwischen zwei Schöngeistern. Dies hinderte ihn nicht, bei vollendet gespielten Szenen zu weinen. Einer der Schwätzer sagte während eines Zwischenaktes zu ihm: »Wie können Sie weinen? Diese Schauspielerin ist völlig unbedeutend; ihr Partner noch unbedeutender und das Stück selbst am unbedeutendsten. Der Verfasser kann kein Wort arabisch, und doch spielt die Szene in Arabien. Außerdem ist er ein Mann, der leicht an angeborene Ideen glaubt; ich werde Ihnen morgen zwanzig Broschüren gegen ihn bringen.« – »Wieviel Theaterstücke haben Sie in Frankreich, mein Herr?« fragte Candide den Abbé. Dieser antwortete: »Fünf- bis sechstausend.« – »Das ist viel,« sagte Candide; »wieviel gute sind darunter?« – »Fünfzehn bis sechzehn«, versetzte der andere. – »Das ist viel«, sagte Martin.
Candide war sehr zufrieden mit einer Schauspielerin, welche die Königin Elisabeth in einer ziemlich flachen Tragödie, die manchmal gegeben wird, spielte. »Diese Schauspielerin«, sagte er zu Martin, »gefällt mir sehr gut; sie gleicht etwas Fräulein Kunigunde; ich würde ihr sehr gerne vorgestellt werden.« Der Abbé aus Périgord bot sich an, ihn bei ihr einzuführen. Candide, der in Deutschland erzogen war, fragte nach der Etikette und wie man in Frankreich englische Königinnen behandle. »Man muß unterscheiden,« sagte der Abbé; »in der Provinz führt man sie in Gasthäuser; in Paris achtet man sie, wenn sie schön sind, und wirft sie auf den Schindanger nach ihrem Tode.« – »Königinnen auf den Schindanger!« sagte Candide. – »Ja, wirklich,« sagte Martin, »der Herr Abbé hat recht; ich war gerade in Paris, als Fräulein Monime M<sup>lle</sup> Lecouvreur von einem Leben ins andere ging, wie man wohl sagt. Man verweigerte ihr das, was die Leute hier ein ehrliches Begräbnis nennen; das heißt, zusammen mit allen Bettlern des Viertels in einem häßlichen Kirchhofe verfaulen zu dürfen. Sie wurde von ihrer Truppe ganz allein an einer Ecke der Rue de Bourgogne begraben; was ihr äußerst schmerzlich gewesen sein muß, denn sie dachte sehr edel.« – »Das ist sehr unhöflich«, meinte Candide. – »Was wollen Sie?« sagte Martin; »die Leute hier sind einmal so. Stellen Sie sich alle Widersprüche und alle erdenklichen Ungereimtheiten vor – Sie werden sie in der Regierung, in den Gerichtshöfen, in den Kirchen und Theatern dieser drolligen Nation finden.« – »Ist es wahr, daß man in Paris immer lacht?« sagte Candide. – »Ja,« antwortete der Abbé; »aber aus Wut. Denn man beklagt sich über alles unter großem Spottgelächter; ja, man verübt lachend die abscheulichsten Verbrechen.«
»Wer ist«, fragte Candide, »das plumpe Schwein, das mir so Schlimmes über das Stück sagte, in dem ich geweint habe, und über die Schauspieler, die mir so gut gefielen?« – »Das ist einer,« antwortete der Abbé, »der davon lebt, Schlechtes über alle Stücke und Bücher zu sagen. Er haßt alle, die Erfolg haben, wie Eunuchen alle Genießenden hassen: er ist eine jener Schlangen der Literatur, die sich von Schlamm und Geifer nähren; er ist eine Giftschleuder.« – »Was ist eine Giftschleuder?« sagte Candide. – »Das ist«, erwiderte der Abbé«, »ein Blättermacher, ein Fréron.«
So unterhielten sich Candide, Martin und der Mann aus Périgord auf der Treppe und ließen die Zuschauer, als die Komödie zu Ende war, an sich vorbeiziehen. »Obgleich ich in großer Eile bin,« sagte Candide, »Fräulein Kunigunde wiederzusehen, möchte ich doch gerne mit Fräulein Clairon zu Nacht speisen, denn sie schien mir bewundernswert,«
Der Abbé war nicht der Mann, der sich Fräulein Clairon nähern konnte, denn sie empfing nur gute Gesellschaft. »Sie ist heute abend versagt,« erwiderte er; »aber ich werde die Ehre haben, Sie bei einer angesehenen Dame einzuführen; dort werden Sie Paris kennen lernen, als ob Sie schon vier Jahre hier wären.«
Candide, der von Natur neugierig war, ließ sich bei der Dame im Faubourg Saint-Honoré einführen. Man spielte Pharao. Zwölf trübsinnige Spieler hielten jeder ein kleines Kartenspiel, das viereckige Register ihres Unglücks, in der Hand. Tiefes Schweigen herrschte; die Stirnen der Spieler waren blaß; der Bankhalter unruhig; die Dame des Hauses, die neben diesem unbarmherzigen Bankhalter saß, beobachtete mit Luchsaugen alle Parolis, alle Schliche, mit denen die Spieler Ecken in die Karten bogen. Sie ließ sie mit ernster, aber höflicher Strenge wieder umbiegen und regte sich nicht auf, aus Furcht, ihre Kunden zu verlieren. Die Dame ließ sich als Marquise von Parolignac anreden. Ihre fünfzehnjährige Tochter saß zwischen den Spielern und meldete durch ein Augenblinzeln die Spitzbübereien dieser armen Leute, die versuchten, die Grausamkeit des Schicksals auszugleichen. Der Abbé aus Périgord, Candide und Martin traten ein. Niemand erhob sich, grüßte oder sah sie an; alle waren in ihre Karten vertieft. »Die Frau Baronin von Thunder-ten-tronckh war artiger«, sagte Candide.
Indessen näherte sich der Abbé dem Ohr der Marquise, worauf sie sich halb erhob, Candide mit anmutigem Lächeln und Martin mit einem geradezu vornehmen Kopfnicken begrüßte. Sie ließ Candide einen Stuhl und ein Spiel Karten bringen. Er verlor in zwei Touren fünfzigtausend Franken. Darauf wurde in bester Stimmung zu Nacht gespeist; alle waren erstaunt, daß Candide über seinen Verlust nicht erregt war. Die Diener sagten, in ihrer Dienersprache, unter sich: »Das muß ein englischer Mylord sein.«
Das Abendessen verlief wie die meisten Soupers in Paris; zuerst Stille, dann ein Wortlärm, bei dem nichts zu unterscheiden war, dann meist sinnlose Witze, falsche Gerüchte, alberne Behauptungen, etwas Politik und viel Klatsch; man sprach sogar von neuen Büchern. »Haben Sie den Roman des Sieur Gauchat, Doktors der Theologie, gelesen?« fragte der Abbé aus Périgord. – »Ja,« antwortete einer der Gäste; »aber ich konnte ihn nicht fertiglesen. Wir haben eine Menge unverschämter Schriften; aber alle zusammen erreichen nicht die Frechheit von Gauchat, Doktor der Theologie; ich bin so übersättigt von dieser Unmenge schlechter Bücher, die uns überschwemmen, daß ich mich entschlossen habe, lieber Pharao zu spielen.« – »Und die ›Mélanges‹ des Erzdiakons Trublet, was sagen Sie zu diesen?« fragte der Abbé. – »Oh!« erwiderte Frau von Parolignac, »der Erzlangweilige! Wie er das, was jeder schon weiß, erpicht wiederholt! Wie er schwerfällig über Dinge streitet, die nicht wert sind, überhaupt bemerkt zu werden. Wie er sich ohne Geist den Geist anderer aneignet! Wie er das, was er plündert, verdirbt! Er widert mich an, aber er wird es nicht zweimal tun; es genügt, ein paar Seiten des Erzdiakons gelesen zu haben.«
Bei Tisch saß auch ein gelehrter Mann, der Geschmack besaß. Er stimmte der Marquise bei. Das Gespräch kam auf Tragödien. Die Dame fragte, warum manche Tragödien mitunter gespielt, aber unmöglich gelesen werden könnten. Der feinfühlige Gelehrte meinte klug, ein Stück könne Interesse erwecken und doch ohne jedes Verdienst sein. In wenigen Worten legte er dar, daß es nicht genüge, eine oder zwei gangbare Romansituationen, die das Publikum immer bestechen, vorzuführen. Ein Autor müsse Neues bringen, ohne zu übertreiben, oft erhaben und immer natürlich sein, das menschliche Herz kennen und verstehen, es sprechen zu lassen; ein großer Dichter sein, ohne daß eine Person des Stückes selber ein Dichter scheine. Er müsse seine Sprache vollkommen beherrschen, sie ganz rein sprechen und in ständiger Harmonie erklingen lassen, ohne daß je durch den Reim der Sinn gestört werde. »Wer«, fügte er hinzu, »nicht alle diese Regeln befolgt, mag eine oder zwei Tragödien schreiben, die auf der Bühne Beifall haben, aber er wird nie zu den guten Schriftstellern gerechnet werden. Es gibt sehr wenige gute Tragödien: die einen sind Idyllen in gut geschriebenen und gut gereimten Dialogen; die anderen politische Reden, die einschläfern, oder Weitschweifigkeiten, die abschrecken. Wieder andere sind Träumereien vom Teufel Besessener in barbarischem Stil, abgebrochene Reden, lange Ansprachen an die Götter, da keiner versteht, zu den Menschen zu sprechen, falsche Grundsätze und schwülstige Gemeinplätze.«
Candide hörte dieser Betrachtung aufmerksam zu und bekam eine hohe Meinung von dem Redner. Und da die Marquise Sorge getragen hatte, ihn neben sich zu setzen, rückte er an ihr Ohr heran und nahm sich die Freiheit, sie zu fragen, wer dieser Mann sei, der so klug rede. »Es ist ein Gelehrter,« sagte die Dame, »der nicht spielt, und den mir der Abbé manchmal zum Abendessen herführt. Er versteht viel von Tragödien und Büchern; er hat ein ausgepfiffenes Stück geschrieben und ein Buch, von dem man – außer im Laden seines Buchhändlers – nie mehr als ein Exemplar gesehen hat; und dieses hat er mir gewidmet.« – »Der große Mann!« sagte Candide; »er ist ein zweiter Pangloß.«
Dann wandte er sich zu ihm und sagte: »Mein Herr, gewiß denken Sie auch, daß alles aufs beste eingerichtet sei in der physischen und moralischen Welt, und daß nichts anders sein könnte?« – »Ich, mein Herr,« antwortete der Gelehrte, »ich denke nichts dergleichen: ich finde, daß alles verkehrt geht auf der Welt; daß niemand weiß, welches sein Rang, welches sein Beruf ist, nicht was er tut noch was er tun soll, und daß, außer bei dem Souper hier, das ziemlich heiter ist und bei dem es scheinbar feierlich zugeht, die Zeit in schamlosen Zänkereien hingebracht wird: Jansenisten gegen Molinisten, Parlamentarier gegen Kirchenleute, Schriftsteller gegen Schriftsteller, Höflinge gegen Höflinge, Finanzmänner gegen das Volk, Frauen gegen Männer, Verwandte gegen Verwandte; ein ewiger Krieg.«
Candide erwiderte: »Ich habe Schlimmeres gesehen; aber ein Gelehrter, der später das Unglück hatte, gehängt zu werden, lehrte mich, daß dies alles zum Besten sei: es sind die Schatten bei einem schönen Bilde.« – »Ihr Gehängter machte sich über die Welt lustig,« sagte Martin; »Ihre Schatten sind furchtbare Flecke.« – »Die Menschen machen die Flecke,« versetzte Candide; »sie können nicht davon loskommen.« – »Es ist also nicht ihre Schuld« sagte Martin. Die meisten Spieler, die nichts von dieser Sprache verstanden, tranken. Martin philosophierte mit dem Gelehrten. Candide erzählte der Dame des Hauses einen Teil seiner Abenteuer.
Nach Tisch führte die Marquise Candide in ihren Salon und ließ ihn auf einem Sofa Platz nehmen. »Nun,« sagte sie, »Sie sind also noch immer sterblich verliebt in Fräulein Kunigunde von Thunder-ten-tronckh?« – »Ja, gnädige Frau«, antwortete Candide. Die Marquise erwiderte ihm mit zärtlichem Lächeln: »Sie antworten wie ein junger Mann aus Westfalen; ein Franzose hätte gesagt: Es ist wahr, daß ich Fräulein Kunigunde geliebt habe; seit ich Sie aber kenne, Gnädigste, fürchte ich, daß ich sie nicht mehr liebe.« – »Ach! gnädige Frau,« sagte Candide, »ich werde antworten, wie Sie es wünschen.« – »Ihre Leidenschaft für sie«, sagte die Marquise, »hat damit begonnen, daß Sie ihr Taschentuch aufhoben; ich will, daß Sie mein Strumpfband aufheben.« – »Von Herzen gern«, sagte Candide und hob es auf. »Aber ich will, daß Sie es mir wieder anlegen«, sagte die Dame, und Candide legte es ihr an. »Sehen Sie,« versetzte die Dame, »Sie sind ein Fremder; ich lasse meine Pariser Liebhaber manchmal vierzehn Tage schmachten, und Ihnen ergebe ich mich in der ersten Nacht, weil ich es für meine Pflicht halte, einem jungen Manne aus Westfalen die Honneurs meines Landes zu machen.« Dann lobte die Schöne die zwei ungeheuren Diamanten, die sie an den beiden Händen des jungen Fremden bemerkt hatte, so aufrichtig, daß sie von seinen Fingern zu den ihren hinüberglitten.
Als Candide mit seinem Abbé aus Périgord nach Hause kam, fühlte er Gewissensbisse über seine Untreue gegen Fräulein Kunigunde. Der Herr Abbé ging auf seinen Schmerz ein; er hatte nur einen kleinen Anteil an den fünfzigtausend Pfund, die Candide im Spiel verloren hatte, und an dem Wert der zwei halb geschenkten, halb erpreßten Diamanten. Sein Plan war, so viel wie möglich von den Vorteilen zu profitieren, die ihm die Bekanntschaft Candides verschaffen konnte. Er sprach viel mit ihm von Kunigunde, und Candide sagte, er werde diese Schöne für seine Untreue um Verzeihung bitten, wenn er sie in Venedig wiedersähe.
Der Mann aus Périgord verdoppelte seine Höflichkeit und Aufmerksamkeit und nahm ein inniges Interesse an allem, was Candide sagte, tat und tun wollte.
»Sie haben also ein Stelldichein in Venedig, mein Herr?« sagte er. – »Ja, Herr Abbé,« antwortete Candide, »ich muß Fräulein Kunigunde unbedingt treffen.« Darauf erzählte er, hingerissen von der Freude, über das, was er liebte, sprechen zu können, seiner Gewohnheit entsprechend einen Teil seiner Abenteuer mit dieser vortrefflichen Westfalin.
»Ich glaube,« sagte der Abbé, »daß Fräulein Kunigunde viel Geist hat und reizende Briefe schreibt.« – »Ich habe nie welche erhalten,« sagte Candide, »denn, wie Sie sich denken können, nachdem ich wegen meiner Liebe zu ihr aus dem Schlosse verjagt worden war, durfte ich ihr nicht schreiben. Bald darauf hörte ich, daß sie tot sei; dann fand ich sie wieder, verlor sie, und nun habe ich ihr, in einer Entfernung von zweitausendfünfhundert Meilen, einen Boten gesandt, dessen Antwort ich erwarte.«
Der Abbé hörte aufmerksam zu und schien etwas träumerisch. Er verabschiedete sich bald von den beiden Reisenden, nachdem er sie zärtlich umarmt hatte. Am nächsten Tag, beim Erwachen, erhielt Candide folgenden Brief:
»Mein teurer Geliebter, seit acht Tagen liege ich krank in dieser Stadt; ich erfahre eben, daß Sie hier sind. Ich würde in Ihre Arme fliegen, wenn ich mich rühren könnte. Ich hatte von Ihrem Aufenthalt in Bordeaux gehört. Den treuen Cacambo und die Alte habe ich dort gelassen; sie werden mir bald nachkommen. Der Gouverneur von Buenos Aires hat alles genommen, aber Ihr Herz bleibt mir! Kommen Sie! Ihre Gegenwart wird mir das Leben wiedergeben oder mich vor Freude sterben lassen.«
Dieser entzückende, unverhoffte Brief versetzte Candide in eine unaussprechliche Freude; nur die Krankheit seiner teuren Kunigunde erfüllte ihn mit Schmerz. Zwischen diesen beiden Gefühlen schwankend, nimmt er sein Gold und seine Diamanten und läßt sich mit Martin in das Hotel führen, in dem Fräulein Kunigunde wohnt. Zitternd vor Aufregung tritt er ein, sein Herz klopft, seine Stimme schluchzt; er will die Bettvorhänge zurückschieben, Licht herbeiholen lassen. »Hüten Sie sich, dies zu tun,« sagte die Dienerin, »Licht würde sie töten«, und rasch zieht sie den Vorhang wieder zu. »Meine teure Kunigunde,« sagte Candide unter Tränen, »wie geht es Ihnen? Wenn Sie mich nicht sehen können, sprechen Sie wenigstens mit mir.« – »Sie kann nicht sprechen,« sagte die Zofe. Darauf reichte ihm die Dame eine fleischige Hand aus dem Bett, die Candide lange mit seinen Tränen netzte und dann mit Diamanten füllte, während er einen Beutel voll Gold auf den Stuhl legte.
Mitten in seiner Begeisterung erscheint ein Polizeioffizier mit seiner Eskorte und dem Abbé von Périgord. »Hier sind also die beiden verdächtigen Fremden?« Er läßt sie sofort ergreifen und befiehlt seinen Soldaten, sie ins Gefängnis zu schleppen. »In Eldorado behandelt man Reisende anders«, sagte Candide. – »Ich bin mehr Manichäer als je«, sagte Martin. – »Wohin bringen Sie uns, mein Herr?« fragte Candide.« – »In ein Arrestloch«, sagte der Polizeioffizier.
Martin, der seine Kaltblütigkeit wiedererlangt hatte, war der Meinung, daß die Dame, die sich als Kunigunde ausgab, eine Spitzbübin sei und der Herr Abbé aus Périgord ein Spitzbube, der Candides Unschuld schnellstens ausgenutzt hatte. Der dritte Spitzbube war der Polizeioffizier, von dem man sich leicht befreien konnte.
Um sich keinen langwierigen Rechtsprozeduren auszusetzen, bietet der nach der wirklichen Kunigunde ungeduldige Candide, durch Martins Rat aufgeklärt, dem Polizeioffizier drei kleine Diamanten an, von denen jeder ungefähr dreitausend Pistolen wert war. »Oh! mein Herr,« sagte der Mann mit dem elfenbeinernen Stab, »und wenn Sie alle erdenkbaren Verbrechen begangen hätten, sind Sie doch der ehrenwerteste Mann der Welt. Drei Diamanten! Jeder dreitausend Pistolen wert! Mein Herr! ich möchte mich töten lassen für Sie, anstatt Sie ins Loch zu stecken. Man verhaftet alle Fremden, aber lassen Sie mich nur machen. Ich habe einen Bruder in Dieppe in der Normandie; dorthin werde ich Sie führen, und wenn Sie auch für ihn ein paar Diamanten haben, wird er für Sie sorgen wie ich selbst.« – »Und warum werden alle Fremden verhaftet?« fragte Candide.
Da nahm der Abbé aus Périgord das Wort und sagte: »Weil ein armer Lump aus Atrebatien Artois. Damiens war in Arras, der Hauptstadt von Artois, geboren. Er verübte im Jahre 1757 ein Attentat auf Ludwig XV. sich durch dumme Hetzereien zu einem Morde verführen ließ, der nicht dem vom Mai des Jahres sechzehnhundertundzehn 14. Mai 1610 Ermordung Heinrich IV. durch Ravaillac. gleicht, wohl aber dem vom Dezember fünfzehnhundertundvierundneunzig und einigen anderen in anderen Monaten von anderen armen Lumpen begangenen, die sich aufhetzen ließen 27. Dezember 1594 versetzte der Jesuitenzögling Jean Châtel Heinrich IV. einen Messerstich..«
Darauf erklärte der Polizeioffizier, um was es sich handle. »Ach! die Ungeheuer,« rief Candide; »wie! solche Untaten bei einem Volke, das tanzt und singt! Kann ich nicht so schnell wie möglich aus diesem Lande kommen, in dem Affen Tiger angreifen? In meiner Heimat habe ich Bären gesehen; Menschen habe ich nur in Eldorado erblickt. Im Namen Gottes, Herr Offizier, bringen Sie mich nach Venedig, wo ich Fräulein Kunigunde erwarten muß.« – »Ich kann Sie nur nach der Niederbretagne bringen«, sagte der Barigello Haupt der Häscher.. Darauf läßt er ihm die Ketten abnehmen, sagt, er habe sich geirrt, schickt seine Leute weg und bringt Candide und Martin nach Dieppe, wo er sie seinem Bruder übergibt. Ein kleines holländisches Schiff lag auf der Reede. Der Normanne, der mit Hilfe von drei weiteren Diamanten der dienstwilligste aller Menschen geworden war, schifft Candide und seine Leute auf diesem Fahrzeug ein, das im Begriff war, nach Portsmouth in England zu segeln. Es war nicht der Weg nach Venedig; aber Candide glaubte, aus der Hölle befreit zu sein, und er rechnete darauf, bei der ersten Gelegenheit den Weg nach Venedig einschlagen zu können.