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Man hatte zu Abend gegessen.
Im Zimmer des Hausherrn saßen die drei Offiziere am Spieltisch, während sich Frau Staal und ihre Töchter im Wohnzimmer bemühten, Frau Oberleutnant Poulsen zu unterhalten. Diese, deren Herkunft niemand genau kannte, war eine unsympathische Person, und der »Schrecken« der Garnison, denn sie war nicht allein vollständig ungebildet, was sich im Verkehr sehr bald herausstellte, sondern auch eine Klatschbase und überdies rachsüchtig; man mußte sich deshalb sehr vor ihr in acht nehmen und zugleich überaus höflich sein.
In diesem Augenblick setzte sie den Damen des Hauses umständlich auseinander, wie ausgezeichnet zwei Menschen von vierzig Kronen monatlich leben könnten.
»Und Frau Oberst wissen doch auch, daß Friedrich nicht nur gerade wie ein Vögelchen an allem herumnippt, sondern tüchtig einhaut.«
»Nein, es wäre ein Unrecht, wenn man letzteres bestreiten wollte,« murmelte Petersen, indem sie an die erfolgreichen Angriffe dachte, die der Adjutant soeben auf die Abendtafel gemacht hatte.
»Aber,« fuhr Frau Poulsen belehrend fort, »man muß eben seine Sache verstehen und sich einzurichten wissen.« (Das war ihre stehende Redensart.) »Wenn wir zum Beispiel Bratwurst essen, so gebe ich immer Milchreis vorher, aber trotzdem ißt Friedrich dann noch mit Leichtigkeit einen halben Meter Wurst.«
»So – ich würde auf dreiviertel gewettet haben,« sagte Petersen grabesernst und mit großer Teilnahme.
Frau Staal warf ihrer Tochter einen mißbilligenden Blick zu, und diese schlug reuevoll die Augen nieder. Aber Frau Poulsen fühlte sich absolut nicht verletzt; sie redete unaufhörlich weiter und ging vom Kochen zu einer weitläufigen Beschreibung ihres Mittels zur Vertilgung der Motten über.
»Denn Frau Oberst wissen ja, man muß seine Sache verstehen,« erklärte sie selbstgefällig. »Wir gebrauchen ja unsre Zimmer nur, wenn wir Besuch bekommen; aber unsern Möbeln sieht man es wirklich nicht an, daß sie schon drei Jahre alt sind,« fügte sie stolz hinzu.
Diese Bemerkung war nicht ohne Absicht gemacht worden. Frau Poulsen kannte Ejnas Anschauungen ganz genau, und so konnte sie es sich nicht versagen, »der eingebildeten Oberstentochter« einen kleinen Stich zu versetzen.
Die Damen merkten sofort, worauf sie hinauswollte. Ejna lächelte spöttisch, aber alle schwiegen, mit Ausnahme der stets kampfbereiten Jüngsten, die erstaunt fragte: »Aber wo halten Sie sich denn auf, wenn nicht in Ihren Zimmern?«
»Im Sommer natürlich im Eßzimmer, im Winter aber sitzen wir meistens in der Schlafstube, dort ist's schön warm; gegessen wird selbstverständlich in der Küche. Gott – ich besorge meinen Haushalt ja selbst, deshalb – nein – wenn ich die Leute reden höre, daß sie mit ihrem Gehalt nicht auskommen, so denke ich immer, sie verstehen eben nichts und wissen sich nicht einzurichten.«
Sie schielte dabei zu Ejna hinüber, die mechanisch an ihrer Stickerei nähte.
Frau Staal wurde unruhig.
»Liebe Flora,« sagte sie, »möchtest du nicht Frau Poulsen die hübsche Bildersammlung zeigen, die Onkel Fritz dir von Dresden mitgebracht hat? Das wird Frau Poulsen sicher interessieren.«
Flora erhob sich und holte eine Mappe vom Nebentisch.
»Ja, die Bilder sind wundervoll,« sagte sie und schloß die Augen ein paar Sekunden, ehe sie in ihrem gewöhnlichen Theaterton und mit schwülstigen Ausdrücken die einzelnen Bilder erklärte.
»Gott!« unterbrach Frau Poulsen sie bewundernd, »man kann wirklich hören, daß Sie zum Theater gehen wollen. Sind Sie denn gar nicht bange? Ich würde vor Angst in die Erde versinken.«
»Nein,« sagte Flora überlegen lächelnd und froh, daß dieses Thema angeschnitten war, »wenn man seines Talents sicher ist, braucht man nicht bange zu sein! Sie sollten mich einmal als ›Nora‹ sehen – nicht wahr, Petersen, die Rolle spiele ich gut?«
»Großartig!« bekräftigte Petersen.
»Nora?« wiederholte Frau Poulsen. »Ist denn das nicht das Stück mit der übergeschnappten Frau, die von Mann und Kind fortläuft? Nein, wissen Sie, das kann ich nicht leiden. Die Frau muß ja verrückt sein, wenn sie in dem Augenblick, wo er eine gute Stellung bekommen hat, von ihrem Manne wegläuft! Nein, das hätte sie nie getan, wenn sie eine vernünftige Frau gewesen wäre, die ordentlich was verstanden hätte. Geben Sie mir darin nicht recht, Frau Oberst?«
Flora, auf deren Gesicht sich tiefste Entrüstung malte, wollte rasch etwas erwidern; aber Petersen, die den Blick ihrer Mutter aufgefangen hatte, versetzte ihrer Schwester unter dem Tisch einen leichten Stoß, während Frau Staal die Situation rettete, indem sie entgegenkommend antwortete: »Das ist wohl möglich.«
Jetzt trat eine kurze Pause ein, und Frau Poulsen wandte sich den Bildern zu.
»Wer ist das?« fragte sie und nahm ein neues Bild zur Hand.
»Das ist Gräfin Potocka,« sagte Flora kurz; sie war noch beleidigt.
»So –,« versetzte Frau Poulsen gleichgültig, »was für ein sonderbarer Name!«
»Ja, nicht wahr?« antwortete Petersen lebhaft. »Aber finden Sie sie nicht auch wunderschön?«
»O ja,« räumte Frau Poulsen gnädig ein. »Sie ist ganz hübsch; aber wie schlecht ihr Haar sitzt; ich kann solch eine unordentliche Frisur nicht leiden. Was sagen Sie dazu, Frau Oberst?«
Aber die Frau Oberst sagte gar nichts. Mit wachsamen Augen sah sie zu ihrer Jüngsten hinüber, um einen Ausfall von jener Seite zu verhindern, und schleunigst zog sie ihr Schlüsselbund hervor.
»Entschuldigen Sie, Frau Poulsen,« sagte sie und wandte sich dann an Ida mit den Worten: »Es ist wohl am besten, du bringst den Herren jetzt eine Erfrischung, Petersen, und uns vielleicht etwas Obst.«
Petersen stand bereitwillig auf und ging hinaus.
Als sie durch den Flur ging, erklang leise die Hausglocke.
Sie öffnete, und ein sehr hübscher, eleganter Offizier trat ein.
»Ach Otto, bist du es? Warum kommst du so spät? Wir haben längst gegessen.«
Er bat sie, leise zu sprechen, und schüttelte sehr ernst den Regen von seiner Mütze.
»Wer ist da?« fragte er dann und deutete auf die Zimmertür.
»Ström und Poulsens,« flüsterte Petersen.
»Kannst du Ejna nicht herausrufen?« fragte er. »Und dann einen Ort finden, wo wir ungestört miteinander sprechen können? Aber sage den andern nicht, daß ich hier bin.«
Petersen sah teilnehmend in sein bekümmertes Gesicht, dann schlich sie auf den Zehenspitzen zum Eßzimmer, das der Wohnstube gegenüberlag, öffnete vorsichtig die Tür und schob ihn hinein. Es war dunkel drinnen, aber bald kam sie mit einer kleinen Lampe zurück, die sie auf den Tisch stellte. Nun öffnete sie die Tür zum Wohnzimmer ein wenig und rief in einem Tonfall, um dessen Natürlichkeit selbst die Schauspielerin Flora sie hätte beneiden können: »Ejna, willst du mir nicht einen Augenblick helfen?«
Und als die Schwester im Flur stand, sagte sie leise, ohne sie anzusehen: »Otto ist im Eßzimmer!«
Otto Brink bemerkte Ejna nicht sofort, als sie lautlos eintrat. Er stand mit dem Rücken gegen die Tür und betrachtete aufmerksam ein Bild, das eine Kriegsszene darstellte.
Ejna blieb einen Augenblick regungslos stehen und sah ihn an, als wollte sie sich mit einem einzigen langen Blick für immer seine schöne, männliche Gestalt einprägen.
»Otto,« sagte sie dann leise und außergewöhnlich weich, »warum kommst du heute abend? Das war nicht vernünftig.«
Er drehte sich hastig um und zog sie an sich.
»Nicht vernünftig!« wiederholte er mit einer Stimme, die vor Aufregung zitterte. »Kannst du nicht begreifen, Ejna, daß es mir unmöglich war, zu Hause zu bleiben und dort zu sitzen, ohne eine Ahnung, was du dazu sagst? Es war eine große Enttäuschung, nicht wahr?«
Er drückte ihre Hände, daß es ihr beinahe weh tat.
»Ja,« flüsterte sie, ohne ihn anzusehen. »Es ist traurig, auch für deine Eltern.«
»Ja natürlich, auch für sie – aber vorläufig kann ich nur an mich selbst denken, Ejna,« fuhr er fort, indem er ihr innig bittend in die Augen sah. »Ach, laß auf diese erste Enttäuschung nicht noch einen neuen Schlag für mich folgen, sage dich nicht von mir los! Du weißt nicht, was du mir bist, Ejna!« Damit preßte er sie wieder so fest an sich, daß sein nasser Mantelkragen ihre Wange streifte. »Laß uns zu Weihnachten heiraten, wie es bestimmt war. Den Zuschuß, den mein Vater uns versprochen hat, können wir vielleicht auf andre Weise bekommen – falls wir ihn nicht entbehren können. – Ejna, ich kann nicht ohne dich leben!«
»Glaubst du wirklich, Otto, daß wir von deiner Gage leben könnten?« fragte sie, während sie langsam den Kopf schüttelte.
»So würdest du nicht reden, wenn du mich lieb hättest!« sagte er zornig und ließ sie los.
»Warum behauptet ihr das alle?« fragte sie trotzig. »Vorhin Vater und nun auch du, als ob man nicht mehr denken könnte, wenn man jemand lieb hat. Ich liebe dich so heiß, wie ich überhaupt zu lieben vermag, das mußt du mir glauben. Aber wir können nicht von ein paar tausend Kronen im Jahr leben mit den Gewohnheiten, die wir nun einmal haben, und den Ansprüchen, die wir ans Leben stellen. Ich will dich nicht ins Elend stürzen und mich selbst auch nicht. Ach, ich habe allzuviel davon in meinem Vaterhaus gesehen! Du ahnst nicht, wie mich die ewigen Geldsorgen in der Familie gequält haben! Und dazu das falsche Standesgefühl! Mein Leben hier ist, weiß Gott, nicht sehr ergötzlich.« Sie schwieg einen Augenblick und biß sich auf die Lippen, dann sah sie ihn an. »Du sagst, ich liebe dich nicht; kannst du denn nicht verstehen, daß ich, gerade weil ich dich lieb habe und mich selbst kenne, dich unter diesen Umständen nicht heiraten will? Ja, wäre dein Vater Minister geworden – dann wäre es etwas andres gewesen, dann hätte er uns auf die verschiedenste Weise helfen können, auch außer dem Zuschuß. Aber jetzt« – sie schüttelte den Kopf – »nein, Otto, jetzt kannst du kein armes Mädchen heiraten.«
In ihren Augen blinkten Tränen, die ihnen einen außergewöhnlichen Glanz verliehen. Noch nie war sie ihm so schön erschienen, noch nie hatte er sie so heiß geliebt wie in dem Augenblick, wo sie entschieden erklärte, nie die Seine werden zu wollen.
»Ejna,« flüsterte er dringend, »wir brauchen uns ja nicht heute abend zu entscheiden. Es wird sich wohl noch ein Ausweg finden – ich könnte vielleicht auch irgendeine Extraarbeit bekommen.«
Ejna lächelte bitter.
»Du!« Aber dann streichelte sie ihm sachte die Hand, als ob sie den unwillkürlichen Ausruf abschwächen wollte. »Glaubst du, ich erinnere mich nicht mehr an die Zeit, wo Vater Hauptmann war? An seine Unterrichtstunden in den Schulen und an die ungemütlichen Abende, wenn er in der technischen Schule war – an den beständigen Kampf ums tägliche Brot? Nein, du, ich bin keine Frau Poulsen, ich ›verstehe meine Sache nicht‹, ich kann mich nicht einschränken. Übrigens hatte ich heute nachmittag schon einen Brief an dich angefangen, ich hatte wohl eine Ahnung, daß es so kommen würde. Es wäre besser gewesen, du hättest meinen Brief bekommen, und wir hätten uns nicht gesprochen. Ich möchte dir nicht weh tun und kann doch nicht anders. Aber ich habe ja niemals verhehlt, wie ich es meinte, und dir nie etwas versprochen oder dich zum besten gehalten, nicht wahr?«
Er hielt sie immer noch in seinen Armen, ihr Kopf lehnte müde und mit geschlossenen Augen an seiner Schulter. Und während sie so nebeneinander standen, war es, als gehe ihre sonderbare Mutlosigkeit auch auf ihn über. Er konnte sie nicht verstehen, er fühlte sich enttäuscht, zu Tode betrübt und gedemütigt; langsam löste sich sein Arm von ihrer Schulter. Sie hob den Kopf und sah ihn an.
»Was sagen denn deine Eltern dazu, Otto?«
»Sie schreiben, sie fänden es begreiflich, wenn du dich jetzt zurückzögest,« sagte er, während er sich von ihr losmachte. »Sie wollen weder zu- noch abraten, aber Vater schreibt, es sei ein Wagestück, sich mit einem Mädchen zu verheiraten, das sich vor den Verhältnissen, die der Mann ihr bieten kann, fürchtet. Und dann –«
»Und dann?« fragte sie, als er schwieg.
Er sah sie an und wußte nicht, ob er fortfahren sollte; aber als sie ungeduldig nickte, sagte er, jedes Wort stark betonend: »Ja, mein Vater schreibt noch, er könne nicht leugnen, daß eine vermögende Schwiegertochter – so wie die Sachen jetzt stehen – besser in die Familie passe.«
Ejna lächelte bitter.
»Da siehst du es selbst, deine Eltern sind ganz meiner Meinung!«
»Aber auf dich kommt es an, nicht auf meine Eltern,« sagte er eindringlich und ergriff wieder ihre Hände. »Ich halte es nicht aus, Ejna. Versprich mir, ehe ich jetzt gehe, daß du die Meinige werden willst.«
Unschlüssig stand sie da. Gefühle, die sie nie gekannt, stritten in ihr. Trotz, Angst und ein seltsam zärtliches Mitleid mit ihm und mit sich selber. Wäre es vielleicht besser, wenn sie nachgäbe? Er würde glücklich sein, ihre Eltern zufrieden, ach, und sie selbst – vielleicht würde auch sie sich glücklicher fühlen!
In diesem Augenblick klingelte die Hausglocke so stark, daß Ejna erschrocken zusammenfuhr. Im Flur erklangen frohe Stimmen. Sie erkannte die Stimme von einem Kameraden ihres Vaters, Oberstleutnant From, der sich in überschwenglichen Glückwünschen erging. Er war der reichste Offizier der Garnison, mit einer verwöhnten Gutsbesitzerstochter verheiratet, und in seinem Hause wurde wirklich standesgemäß gelebt. Die Stimmen verloren sich in das andre Zimmer.
Aber Ejnas gefühlvolle Stimmung war vorbei. Wie ein kurzer Blitz hatte sie ihre Zukunft an Otto Brinks Seite gesehen und mit andern, besseren Losen verglichen – ihr Gesicht nahm einen starren Ausdruck an.
Es war, als ob Otto Brink ihre Gedanken erriete, und das peinliche Gefühl, unverdienterweise verschmäht zu werden, stieg voll Bitterkeit in ihm auf.
»Ich kann dich nicht verstehen,« murmelte er, »aber ich wäre ein Narr, wenn ich dich noch ferner anflehte. So mag es denn gehen, wie du wünschest.«
Er ergriff seine Mütze und ging nach der Tür; dort wartete er einen Augenblick, als hoffe er, daß sie ihn zurückrufen werde, aber sie verharrte regungslos auf ihrem Platz.
»Lebe wohl!« sagte er langsam, gleichsam fragend und verwundert. Dann war er fort. Sie hörte ihn leise hinausgehen, hörte ihn die Tür hinter sich schließen und tat nichts, ihn zurückzurufen.
Nun war es also vorbei! Wie sie so stolz und selbstsicher zu ihrem Vater gesagt hatte, war sie nicht unvorbereitet – im Gegenteil, sie selbst hatte den Bruch herbeigeführt. Aber was für ein sonderbares Gefühl bohrte und nagte denn nun in ihrem Herzen? War es Angst oder Reue? Das wollte sie sich selbst nicht klarmachen, konnte es vielleicht auch nicht; aber im tiefsten Herzen unter der kalten, harten Rinde fühlte sie einen brennenden Schmerz. Was half es ihr, daß sie sich dagegen wehrte, daß sie die Hände rang und sich trotzig die Lippen blutig biß? Trotzdem regte sich heiß und leidenschaftlich der Wunsch in ihr, daß er zurückkommen, daß er sie nur noch ein einziges Mal bitten möchte!