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Der Fuhrmann

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»Jesses, wuh hän nor bleiwt?!« sagte Frau Lena Trittscheid und näherte sich dem Fensterchen, dem einzigen in dem Raum, der zugleich Hausflur, Stube und Küche vorstellte.

»Wuh hän eweil widder sticht, dän Erumdreiwer?!«

Sie drückte die lange, sehr spitze Nase an der Scheibe des Fensterchens platt; aber das blasige Glas, dem Regen und Schmutz und Herddampf eine Haut, dick wie ein Panzer, übergezogen hatten, ließ keinen Blick durch, hinaus auf die mondhelle Gasse.

»Mer sieht neist,« seufzte sie ungeduldig und wandte sich ab. Das Fensterchen aufzutun, fiel ihr gar nicht ein; das wurde nie geöffnet, das wäre wohl gar bei dem ersten schüchternen Versuch aus seinem verquollenen Rahmen herausgefallen.

Dunkel blieb's in der Hütte, schwarze Nacht. Die Frau stand lauschend: auch nichts zu hören! Kein Pferdehuf klapperte auf dem harten Felsboden der Dorfstraße.

Alles war still. Nur in der Kammer nebenan schnarchten die Kinder: das Kettche fein, das Josefche grob; die drei Kleinsten schnieften nur erst im Traum. Die Stille der Nacht und der Einsamkeit verdoppelte alle Geräusche.

Jetzt tönten vom Kirchturm, hell und hart, viele Schläge der Uhr. Zusammenzuckend hob die Wartende die Hände: »Jesses, als zwöllef! Wuh sticht hän eweil?! Gewiß als widder im Wirtshaus, lao versäuft hän, wat hän verdient haot. Äwer maach!«

Ihre bloßen Füße patschten eilig über den nackten Estrich; die Hüttentür aufreißend, stand sie entschlossen auf der Schwelle und lugte mit drohendem Blick die Gasse hinauf, von wo er kommen mußte.

Zu Mittag schon hätte er daheim sein können, war er doch in aller Herrgottsfrühe mit der Flora und dem Chaischen nach Kyllburg gefahren, um die feine Herrschaft, die zur Sommerfrische hier im Gasthaus gewohnt hatte, auf die Bahn zu bringen. Um vier Uhr schon war er losgefahren, hatte sich nicht einmal mehr Zeit genommen den Kaffee zu trinken. Die Herrschaft würde schon unterwegs was spendieren, hatte er gesagt.

Jawohl, drüben erst mal ein Gläschen Schnaps! Frau Lena seufzte: Ach, das leidige Fuhrwesen! Hätten sie doch nie von dem, was ihnen der alte Ohm hinterlassen hatte, das Pferd und das Chaischen gekauft! Freilich, dann würde der Nikla sein Stückchen Acker noch ohne Pferd pflügen und auch wie früher in Taglohn gehen; aber seine Nase wäre dann nicht so rot, seine Augen nicht so verschwollen.

Wo hierzuland fünf Häuser stehen, ist eben auch gleich ein Wirtshaus dabei. Und die Sonne prallt aufs Hochland, und der Wind pfeift über die Heide, und dem Fuhrmann, der sein müdes Gäulchen die buckelige Gegend auf und ab treibt, trocknet die Kehle aus.

Frau Lena wurde weicher, wenn sie daran dachte, wie oft ihr Mann durch und durch naß wurde. Faßte ihn ein Gewitter in der menschen- und häuserleeren, ganz und gar schutzlosen Einsamkeit, dann Gnade Gott! Den großkarierten Kutschermantel mußte er zum Schutz über den Chaisensitz breiten, und so ward er selber wie aus dem Bach gezogen, seine Kleider mußte man auswinden, das Hemd ihm mit Gewalt vom Leibe zerren. Der Frost schüttelte ihn mitten im Sommer.

Und wenn es nicht regnet, wenn die Sonne prallt? Dann ist es noch ebenso schlimm. Dann sprüht der felsige Boden Funken, der Staub steigt in Säulen auf und fällt wie graues Mehl auf Rock und Hut und Gesicht, auf Pferd und Wagen. Die Stechfliegen bohren sich dem armen Gaul ins braune Fell, vergeblich, daß der mit Schweif und Huf die weißschaumigen Flanken schlägt. Die Luft steht still über den Bergen und hockt dick in den Mulden; schattenlos zieht sich die gewundene Straße im unbarmherzigen Glanz des Tages.

Ein Glück, daß der Nikla überall so gern gesehen war! Wenn er immer alles hätte selber bezahlen sollen – o Jesus! Es regte sich wie Stolz in Frau Lena; sie zog den Mund, der schon bedenkliche Zahnlücken wies, in einem geschmeichelten Lächeln breit: ihren Mann ließ keiner vorbeifahren, den riefen sie alle an.

›Hä, Nikla, haalt! Seid doch net esu pressiert! Steigt e bißche ahf!‹ Und wenn er sich weigerte, Eile vorschützte, dann zogen sie ihn ja förmlich mit Gewalt vom Wagen.

›Ä wat, Eier Peerdche moß aach sein Ruh kriehn. Steigt nor als ahf! Mer haon e frisch Fäßche angestoch, kommt ehs prowiere!‹

Und neugierig waren sie alle. Der Nikla war aber auch besser wie die beste Zeitung, noch besser wie das Paulinusblättchen. Er wußte immer etwas ganz Neues.

›Wie stieht et dann eweil bei Eich, sein im Ort vill Fremden?!‹

›Es 't dann waohr, dat dän Laufelds Hanni de Mühl zu Meerfeld gekaaft haot? Wat haot hän dann dervor gezaohlt?!‹

›Wanneh maacht dann dat Kempersch Agenieß Hochzeid?! Et pressiert, gäl?‹

›Saot, waor de Kirmes zu Eisenschmitt schien? Ech sein sicher, Ihr hatt net gefehlt?!‹

Über alles wußte der Nikla Bescheid, war er doch heute hier, morgen da; jetzt in Kyllburg, dann in Wittlich, gleich drauf in Gillenfeld und kam dann bis gen Gerolstein. Bald fuhr er Fremde, bald einen Reisenden mit Musterkoffern, und, wenn's so feine Fuhren nicht gab, holte er Fracht von der Bahn. Letzthin hatte er gar ein Faß Wein von der Mosel heraufgeschafft für den Herrn Oberförster. Ein paar Tage war er ausgeblieben, und als er wiederkam, wußte er zu erzählen von den Rebstöcken, die so dick voll mit Weintrauben hängen, wie hier oben die dornigen Ranken mit den Eifeltrauben, den Brombeeren.

Alle hörten ihm gar zu gern zu, vergaßen alles dabei, nur das Trinken nicht.

Das verfl..... Saufen! Und im Winter erst gar! Da gießt unendlicher Regen, oder weicher Schnee füllt die Mulden; die Wege sind unkenntlich, die Räder versinken im Kot, es nebelt um die Berge. Da hat der Fuhrmann erst recht faule Zeit. Er sitzt beim Ofen und gähnt und raucht und döst vor sich hin, zehrt wie ein Dachs vom eignen Fett, und sein einziger Gang ist ins Wirtshaus. Und die Flora wird steif vom Stehen im Stall. Die Welt ist wie mit Brettern vernagelt; es bleibt dem Fuhrmann nichts übrig, als Rauchen und Trinken und Schafskopfspielen und Schlafen.

Ach, wär' der Nikla nur kein Fuhrmann! Das Weib seufzte. Er war doch sonst ein ganz umgänglicher Mensch!

Wenn ihm nur nichts passiert war?! Horch, die Turmuhr schlug schon wieder!

War nicht erst kürzlich ein Radfahrer, da wo die Chaussee bei Bleckhausen die jähe Biegung macht, die Böschung hinuntergestürzt und tot liegen geblieben? An der nämlichen Stelle hatte der Nikla auch schon einmal umgeworfen; aber da war Schnee gewesen, und der Herr Dechant, den er die Ehre hatte zu fahren, war weich gefallen. Heil waren sie aufgestanden. Doch wenn er heut die gefährliche Stelle passierte ohne den Herrn Dechant – ob er da auch so behütet ward?!

»Heilge Maria, Moddergotts, laoß hän sech net dän Hals brechen, paß uf hän uf!« betete die Frau.

Wenn er nur erst wieder heil da war! Das Herz klopfte ihr. Kein böses Wörtchen sollte er zu hören kriegen! ›Lieber Nikla‹ wollte sie sagen und den Mund spitzen wie damals, als sie noch sein Mädchen war, – ›lieber Nikla!‹

Horch, war das nicht ein Wagen?!

Hastig sprang sie die ausgetretenen Steinstufen hinunter – nein, angeführt! Der Wagen blieb oben auf der Dorfstraße, bog nicht zu ihr ins Seitengäßchen ab.

Und da fiel es ihr plötzlich ein: der Nikla kam ja auch gar nicht von der Bleckhauser Seite!

»O dau Kerl, dau Erumdreiwer, dau Nixnotz, dau miserabel Mannsbild!« Die Enttäuschte schimpfte laut. Konnte er sich nicht endlich heimscheren? Aber wart, wenn er ihr wieder heimkam wie das letzte Mal, als er in seinem Dusel die Peitsche unterwegs verloren hatte! Eine Peitsche, so gut wie neu. Zum Herrn Bürgermeister würde sie dann laufen und sich beschweren. Zum Herrn Dechant und sich beklagen. War das eine Manier, im Wirtshaus zu sitzen, während sie hier vergeblich auf ihn lauerte?!

»Esu en Saufsack, esu en Lidderjahn, esu en« –

Die Worte versagten ihr vor Empörung. Todmüde war sie auch; den ganzen Nachmittag hatte sie sich abgerackert, Reisig gesammelt drüben jenseits der Schlucht, wo die Lohschäler im Frühjahr gearbeitet hatten. Eine Riesenwelle, die, auf ihrem Rücken festgebunden, hoch ihren Kopf überragte, hatte sie ganz allein nach Hause geschleppt.

»Laoß hän bleiwen, wuh dän Peffer wächst! Maanswäjen!«

Gähnend riß sie den Mund auf und reckte die knochigen Arme über den Kopf. Die neugierigen Mondstrahlen überhuschten ihre ganze Magerkeit und fuhren zitternd zurück.

Humpelnd vor Müdigkeit patschte Frau Kettchen auf ihren bloßen Füßen nun wieder in die Hütte zurück. Die Tür fiel unsanft ins Schloß.

*

Nikla Trittscheid war gemächlich durch den Wald gezockelt. Er hatte keine Eile; Glock elf würde er schon daheim sein.

Der Mond fing an zu scheinen, ganz wunderschön. An jedem Gras, an jedem duftenden Heidekräutchen hing ein Tautropfen und blinkte; beperlte Netze spannten sich über die Büsche und zwischen die unteren Äste der Tannen. Der ganze große Forst war wie mit Silber beschüttet. Rückwärts im Wiesengrund der Salm lagen die Ruinen von Kloster Himmerod, heute nicht altersdunkel, sondern freundlich beglänzt wie das weißgestrichene Wirtshaus daneben.

Nikla blickte noch einmal um und leckte sich dabei über die Lippen: Donnerwetter, das war ein Tropfen gewesen! Ein Glück, daß er den Wirt von Himmerod zu Eisenschmitt getroffen! Er hatte den kleinen Umweg nicht gescheut und den guten Mann nach Hause gefahren; zum Dank für die Gefälligkeit hatte der ihm Wein vorgesetzt – jungen Wein, sauer, daß er einem die Gedärme zusammenzog, aber kräftig, feurig, hei! – besseren Wein hatten einst die Klosterherren zum Himmerod gewiß auch nicht getrunken.

»Es sollt ein Fuhrmann fahrn,
Sechs Rößcher spannt er an« –

fing er an zu singen. Ä was, das paßte ja gar nicht! Ein ander Lied!

»Ein' Linde stund an jenem Grund,
War oben breit, war unten ru–u–und« –

Der Schlucken kam ihm, er konnte nicht weiter fingen; nun begann er zu pfeifen. Komisch, wie spitz man dabei 's Maul machen mußte!

»Haha, hahahaha!«

Er lachte ohn' Unterlaß und wackelte hin und her. Die Flora wackelte auch, bald auf die eine Seite des Wegs, bald auf die andre; jetzt sank die Chaise ins ausgefahrene Geleise, jetzt schwankte sie oben auf dem Rain. Als ob sie alle beide betrunken wären, Pferd und Wagen!

»Ho, Flora, alde Schatehk!«

Nikla lachte in sich hinein und stieg dann mit steifen Beinen vom Bock rückwärts ins Chaischen. Mit einem Plumps fiel er auf den gepolsterten Sitz: »Ah!« So war's kommod!

Immer langsamer zockelte die Flora.

»Ho, hott, Flora, voran gemaach!«

Sie guckte einmal flüchtig nach hinten, aber als ihr Herr nichts mehr sagte, sondern das Haupt auf die Brust sinken ließ, ließ auch sie den Kopf hängen und setzte die Beine, als müsse sie nach jedem Schritt erst einmal ordentlich ausruhn.

Der Weg war weich, eine beraste Waldstraße, auf der die Rehe spazieren und hinter tannenbedunkelten Büschen hervor äugen. Die Räder machten kein Geräusch. In unendlicher Lautlosigkeit schlummerte der Kunowald, und die Heide schlummerte auch, und weithin die duftigen, im Mondglanz verschwimmenden Höhen schlummerten auch.

»Ho–ho– Flo–lo–lora!«

Niklas' müder Hand entsanken die Zügel; sie hingen lose über den Bock. Die biedre Flora brauchte auch keine Lenkung, die war über die Jahre hinaus, in denen man Seitensprünge macht. Ganz richtig bog sie ein, wo der Wegweiser steht und die beraste Waldstraße auf die direkte Chaussee mündet, wendete sich hier sicher nach rechts statt nach links, zockelte noch ein bißchen, stand noch ein bißchen, zockelte.wieder und blieb dann endgültig stehen. Hier war ein lauschiges Plätzchen. Seitab ein glucksendes, murmelndes Bächlein, weiches Gras mit würzigem Heuduft im feuchten Grund, und ein dunkles Tannendach, das kein Wind lüftet – hier stand sich's besser wie daheim im Stall!

Noch einen Blick warf sie rückwärts: der Herr saß still im Chaischen, den einen Arm bequem über die Lehne gehängt, den andern im Schoß ruhen lassend. Der Kopf war ihm hintenüber gesunken, ein seliges Lächeln spielte um seinen halboffenen Mund mit dem blonden Schnauzbart. Förmlich schön war das schlau-ehrliche Gesicht in all seiner Zufriedenheit.

Flora spitzte noch einmal die Ohren: er schnarchte.

Da schlief auch Flora ein. – – – – –

*

Und der Fuhrmann träumte.

Er fuhr in einem goldenen Wagen und ein herrlicher Schecke war vorgespannt, dessen Hufe berührten kaum den Boden. Husch, waren sie schon eine Meile weit, und husch, wieder eine!

Er selber kutschierte nicht, er ruhte bequem auf seidenem Polster; auf dem Bock saß der Wirt von Himmerod, der lenkte. Und bei jedem Peitschenknall sprach der: ›Euer Wohl, Euer Wohl, Euer Wohl!‹

Und ein goldenes Fäßchen stand neben dem Nikla; er brauchte nur zu kommandieren, so lief ihm in den Mund, was er wünschte: Bier, Schnaps, Wein. Er drückte die Augen zu und schmatzte und stöhnte vor Behagen.

Und der herrliche Schecke lief, als flöge er. Die silbernen Glöckchen an seiner Mähne, die er mit blauen Schleifen geflochten trug, klingelten, mutig blähte er die Nüstern und stieß ein Wiehern aus, hell wie ein Trompetenstoß. Das machte, er hatte goldenen Hafer im Bauch.

›Hü, hü!‹ mußte der auf dem Bock immer zügeln. Dann rief er: ›Brrr‹, und der herrliche Schecke stand.

›Euer Wohl!‹ sprach der Wirt von Himmerod, und Nikla kniff die Augen zu und trank und schmatzte und dehnte sich vor Behagen.

Und der Wirt sprach wieder: ›Obergäriges von Kyllburger Hopfen bei der Cousine zu Spang-Dahlem! Doppelkorn bei der blonden Nichte zu Oberkail! Bei der Tante zu Schwarzenborn Heidelbeerwein! Des Bittburger Bier zu Eisenschmitt! Und neuen Apfelwein zu Himmerod – wohl bekomm's Euch! Grüßt Euer Frau!‹

Und damit verschwand er.

Und ehe Nikla schreien konnte: ›Zum Dunnerknippchen noch ehs, haalt!‹ wieherte der herrliche Schecke noch einmal auf und – – –

»Ah su, Flora, hm, du bis et,« sagte Nikla etwas enttäuscht und rieb sich die Augen. War das aber mal rasch gegangen! Da war ja schon der Stall – kotztausend, wahrhaftig, der Stall!

»Brrr, Flora, alde Schatehk!«

Mühsam stieg er aus dem Wagen, hakte die Stränge los, gab der Flora eins mit der flachen Hand aufs Hinterteil, packte sie dann – wie immer – am Halfter und zog sie – wie immer – hinter sich drein in den Stall.

*

»Jesses, Mahn, wuh Haste dann dat Chaische?!«

Es war ein heller Schrei, mit dem Frau Lena ihren Mann am Morgen weckte; ein unsanfter Puff in die Seite fehlte auch nicht.

Nikla fuhr auf und sah verwirrt um sich. Vor ihm stand sein Weib, und am Fußende der zerwühlten Bettstatt standen die fünf Kinder und glotzten den Vater an.

»Wuh es dat Chaische?!«

»Dat – Chaische?« Er faßte sich an den Kopf: au, brummte der Schädel!

»Dat Chaische!« schrie Frau Lena wieder und stemmte die Arme in die Seiten. »Wuh haste 't gelaoß?!«

Er starrte sie verdutzt an: »No, wuh 't immer es!«

»Olau, lauf für ze kucken! Hol et eweg, wann 't lao es!« Sie rüttelte ihn: »Dat Chaische!«

»Laoß mech zufrieden,« murrte er und wollte sich verschlafen auf die andere Seite drehen.

Aber sie ließ ihm keine Ruhe.

Da wurde er grob: »Haal dei Maul!«

Sie hielt es aber nicht, sie schrie in einem fort: »Dat Chaische! Dat Chaische es weg! Wuh haste uns Chaißche gelaoß?!«

Nun wurde es ihm doch zu bunt; mit beiden Beinen zugleich fuhr er zum Bett heraus, daß die Kinder, aufkreischend, zur Tür stoben. Er ihnen nach.

»Heilig Kreizgewieder noch ehs!« Da stand kein Chaischen unter dem Schuppendächelchen, leer war der Platz, ganz leer! Nur die Plane lag noch da, wie er sie gestern in aller Frühe zur Seite geworfen hatte, und der Strick, mit dem er die Deichsel hoch zu binden pflegte.

Kein Chaischen – wo war es?!

Mann und Frau starrten sich an.

»Dat Chaische?!« sagte sie vorwurfsvoll.

Und er, ganz ratlos: »Dat Chaische!« Und schüttelte den Kopf und wischte sich über die Augen – war er denn blind? Er lief in den Stall: da stand die Flora vor der Raufe und drehte den Kopf beim Tritt ihres Herrn. Da hing auch das Geschirr überm Haken an der Wand, wie er's immer hinhängte; da stand auch der Wassereimer – hatte er ihn heut nacht der Flora nicht noch frisch gefüllt? Ja, ja, er erinnerte sich ganz genau – doch das Chaischen – –?!

Er wußte nichts davon. Aber natürlich, das hatte er unter das Schuppendächelchen geschoben – wie immer – ehe er ins Haus gegangen war und sich neben dem fest schlafenden Weibe niedergelegt hatte.

Wo war es denn nun hin?!

Die Frau war außer sich, ihr Geschrei rief die Nachbarn herbei, Männer, Frauen und Kinder; das ganze Dorf lief zusammen vorm Häuschen des Fuhrmanns. Jeder war andrer Meinung über das verschwundene Chaischen.

»Hatt Ihr et aach am End irjenswuh unnerwegs stiehn gelaoß?« fragte einer und blinzelte den Nikla, dem der Kater auf der Stirn geschrieben stand, pfiffig an.

Dieser verschwor sich hoch und teuer: »Gewiß on enklich, ech haon et heihin gefaohr! Hei haot et gestannen noch dies Naacht, Uhrer zwöllef, su waohr ech läwen!«

»Dann es et gestohl,« sagte irgend jemand, und alle sahen sich betroffen an: wer stahl denn hier?! Wie ein unheimlicher Druck legte es sich auf aller Gemüter – gestohlen?! Nein, das war nicht möglich. Eher ging es nicht mit rechten Dingen zu.

Am Mittag gab es einen bösen Zank zwischen dem Ehepaar Trittscheid, Frau Lena hatte im Dorf dies und das zu Ohren bekommen. Es leuchtete ihr sehr ein: der Nikla hatte die Chaise in seinem Dusel gewiß unterwegs vergessen! Sie setzte ihm hart zu, haarklein mußte er den Verlauf seiner Tour berichten. Die Cousine in Spang-Dahlem unterschlug er wohlweislich, seine Frau hätte ihm diesen Umweg nie verziehen, selbst bei der Oberkailer Nichte machte sie ja noch ein böses Gesicht. Sie ließ ihn überhaupt gar nicht zu Ende kommen, sie fuhr ihm gleich über den Mund und schlug wütend auf den Tisch: »Du fahrlossene Kerl, besoff warste!«

Dagegen konnte er nichts sagen. Kleinlaut schlich er fort. Von weitem noch hörte er ihr Schluchzen: ›O dän schandluse Mahn! O ech deierlich Fraumensch!‹ Er konnte das Jammern gar nicht vertragen, so machte er, daß er hinaus auf seinen Acker beim Engsloch kam; da saß er nun auf einer umgestürzten Pflugschar und starrte trübselig auf die erbärmliche Stoppel.

Ihm war ganz ›blümmerant‹ vor den Augen, recht weh und elendig ums Herz. Es war um toll zu werden! Ein Chaischen kann doch nicht durch die Luft fliegen?! Er zermarterte sein armes Hirn: hatte sie am Ende auch recht, hatte er's Chaischen irgendwo stehn lassen?! Aber wie war er denn nach Hause gekommen?!

Nachdenklich stierte er auf seine Stiefel. In die war er heute, ungeputzt wie sie unterm Bett standen, gleich wieder hineingefahren. No, die sahen gut aus! Rote Erdklumpen hingen noch an den Sohlen, bis an die Schäfte hinauf war rote Erde geschmiert, jetzt zu einer Kruste getrocknet – Donnerwetter, wo war er denn da hereingetreten?! Solch roten, lehmigen, anklebigen Grund gab's doch nur unten am Bach im Kunowald – aber wie war er denn dahin geraten – – –?!

Sich den Kopf mit beiden Händen haltend, saß er lange. Plötzlich sprang er auf, so eilig in die Höhe, als wenn sich einer in die ›Krischelen‹ gesetzt hat. Ihm war eine Erleuchtung gekommen.

*

In dieser Nacht verhüllten Wolken den Mond, nur ab und zu stahl sich ein Strählchen hervor und leuchtete scheu wie der Schein einer Diebslaterne.

Im Dorf heulten die Hunde also nicht gen Himmel, sondern sie lagen, in ihren Hütten, den Kopf auf die Vorderpfoten geduckt, und schliefen. Das ganze Dorf schlummerte; kein neugierig spähendes Auge wachte mehr.

Vom Kirchturm schlug's zwölf.

Langsam, langsam schob sich ein dunkler, unkenntlicher Klumpen an der still ruhenden Mühle im Grund beim Ausgang des Kunowaldes vorüber, und weiter die steile Straße den Berg zum Dorf hinan, und immer weiter und weiter. Und ein tiefes Seufzen begleitete das langsame Vorrücken, ein unterdrücktes Fluchen, ein heimliches Stöhnen und hastiges Stoßgebet.

Das war eine Pferdearbeit! Aber ach, die Flora stand im Stall! Deren klappernder Hufschlag taugte nicht zu dem heimlich nächtlichen Werk.

Ströme von Schweiß rannen Nikla Trittscheid über den Leib, keinen trocknen Faden hatte er mehr an sich, obgleich er in Hemdärmeln lief und vom Mosenkopf her ein Lüftchen wehte, so herbkühl, so taufrisch und himmelsrein, wie es eben nur in der Eifel wehen kann.

All seine Pulse klopften, sein Atem pfiff, das hämmernde Herz wollte die Brust sprengen.

Vom Bach im Kunowald an hatte er das Chaischen gezogen.

Da war's erst bergab gegangen – aber nun hier wieder bergauf, o weh! Würde er je sein Dorf erreichen?! Ein Schwindel der Überanstrengung machte ihn taumeln, aber er überwand das Unwohlsein. Wie würden sie ihn auslachen, wie ihn verhöhnen, wenn sie erfuhren, was er ›pexiert‹ hatte! ›Nikla met 'm Chaische,‹ so würde er heißen für ewige Zeiten!

Mit letzter Kraft ruckte er wieder an. Die Muskeln an seinen Armen schwollen; den Kehlkopf zum Platzen herausgedrückt, die Zähne zusammengebissen, keuchte er weiter. Die Kniee drohten unter ihm zu brechen, der Rücken schmerzte ihn, er bereute all seine Sünden.

Lob sei allen Heiligen, da war endlich das Fußfällchen beim Anfang des Dorfes! Vereinzelte Häuser standen. Nur leise, leise jetzt, vorsichtig, daß kein Rad quietschte, kein Stein holperte, kein Tritt hallte!

Beim Schenkwirt Lenz schimmerte noch Licht; durch die ausgeschnittenen Herzen der Läden fiel der Strahl auf die Straße.

Leise – ganz leise – leiser – noch immer leiser!

Er lauschte: Stimmen! Drinnen saßen noch welche! Was sollte er nun machen?! Da kam er nicht unbehelligt vorbei, die hörten ihn, das war so sicher wie Amen in der Kirche!

Den Atem anhaltend, blieb er stehen. Jesus, der Durst! Er leckte sich über die aufgesprungenen Lippen. Wenn er jetzt keinen Schluck kriegte, wahrhaftig, so fiel er um. Er fühlte schon, wie ihm das Blut zu Kopf stieg. Kühlung mußte er haben, sonst rührte ihn der Schlag, auf der Stelle!

Aber wohin mit dem Chaischen?! Kurz entschlossen schob er es hinter die Lindenhecke, die das Heiligenbildchen zum Schutz umgab. Da sah es kein Mensch, noch dazu im Stockdunkeln! Die andern drinnen würde er schon überdauern, und dann als letzter, ganz unbemerkt, das Chaischen vorholen und heimbringen.

Noch ein Zögern, dann trat er ein beim Lenz; der Durst war zu groß.

Aber wenn er gehofft hatte, die andern zu überdauern, so hatte er sich gewaltig geirrt. Die hielten bei ihm aus. Er war der Leidtragende – die Lena mochte ihm höllisch zugesetzt haben, dem armen Kerl! So trösteten sie ihn denn und traktierten ihn um die Wette.

Der Osten ließ schon bleichrötlichen Schimmer ahnen, und die Hähne krähten triumphierend auf den Misthaufen, als sie alle miteinander die Schenke verließen.

Einsam blieb das Chaischen hinter der Hecke zurück.

Was half es dem Nikla, daß er sich sträubte?! Die Teilnahmsvollen brachten den innerlich Verzweifelnden bis vor sein Haus und warteten getreulich, bis die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte.

*

Trotz seiner Verzweiflung war er eingeschlafen. Ein Klopfen an der Haustür weckte das Ehepaar auf.

»Frau Trittscheid, Frau Trittscheid, Eier Chaische es hei! Et stieht hinnerm Fußfällche owen an Lenzen!«

Der barfüßige Ziegenjunge war's, der seine Herde, die er früh austrieb, im Stich gelassen hatte, um die frohe Botschaft zu bringen.

Frau Lena stürzte davon, halb angekleidet, mit fliegenden Zöpfen.

Langsamer stand Nikla auf; er wußte nicht recht, sollte er sich freuen oder sich wappnen gegen das, was da kommen würde.

Noch stand er im Stall und betrachtete zögernd seine Flora, da kam Frau Lena auch schon wieder zurück, heiß, rot, vor Freuden fieberhaft aufgeregt; Kinder und Nachbarn stürzten hinter ihr drein.

»Uns Chaische, uns Chaische! Och, ech haon hän äwer aach gebitt de ganz Naacht! Eweil haot hän mech erhört – uns Chaische es hei! En Wunner, en Wunner! Uns Chaische, uns Chaische!« Sie weinte und lachte vor Glück. –

Als Nikla, um weniges später, mit der tänzelnden Flora, stolz erhobnen Hauptes und strahlend wie ein Sieger, sein Chaischen durchs Dorf heim fuhr, begegnete ihm sein Weib. Frau Lena war im Sonntagsstaat und lief geschwind. Er lächelte ihr, hoch vom Bock, triumphierend zu: was sagte sie nun, he?! Würde sie noch so schelten?!

Rot werdend, schlug sie die Augen nieder, dann stürzte sie weiter.

Sie eilte zur Frühmesse, dem heiligen Antonius, der alles Verlorene wiederschafft, demütigen Dank zu sagen.


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