Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Es brannte im Dorf. Immer zur Nachtzeit; bald hier, bald da, nun schon an die acht Wochen. Eben war das Korn auf dem Feld in die Halme geschossen, als an einem dunklen Abend das erste Feuer ausgekommen war; seitdem hatte der rote Hahn wohl auf zehn Hütten gekräht.
Viel Schaden war zwar nicht entstanden: dem einen war nur das tiefhängende, mit Binsen und Stroh gedeckte Dach ein wenig angesengt worden; beim andern hatte die vom Winterschwein gesparte Speckseite, die von der Balkendecke herabbaumelte, ein bißchen gebrenzelt; beim dritten hatte das Reisig, das die sammelnden Kinder an der Seitenwand des Häuschens aufgeschichtet, geknackt und geknistert, bis die Frau, die der Säugling wachgeschrieen hatte, wähnte, draußen sei einer und hole ihr Reisig weg; beim vierten hatte der Kuh ängstliches Brüllen das Qualmen auf dem Futterboden verraten; beim fünften war's gar nicht erst ausgekommen, ein Regenschutt hatte den Dachstuhl begossen und gelöscht, was etwa im Gebälk nicht geheuer war. Immer war aller Heiligen Schutz sichtbar zu spüren gewesen.
Aber doch begann ein heimliches Grausen die Gemüter der Dörfler zu rütteln.
»Ech kurantören,« sagte ein ganz Kluger und zog das braune Leder seiner Stirn in bedenkliche Falten, »duh es einen Lauskerl, dän et anfänkt!«
Ja, so mußte es auch sein! Jemand war da, der das Feuer anlegte! Die Kinder konnten die Schuldigen nicht sein, die wurden an der Hand und in der Hotte mit ins Feld genommen, oder blieben sie einmal allein zu Haus, so versteckte die Mutter die Schwefelhölzer gewiß auf dem obersten Bord, wohin sie nicht langen konnten. Aber hatte die Ammei, die allein an der Wiege ihres kranken Kindes saß, als alle noch in der Abenddämmerung draußen auf dem Feld schafften, nicht einen vermummten Kerl zum Fenster hereingucken sehen? Und war dem Breuer'sch Hubert, der in später Nachtstunde noch den Hof aufgesucht, nicht ein schwarzer Schatten vorbeigeschlüpft und im Heckengäßchen zwischen den Gärten entkommen?!
Es war kein Zweifel mehr, es gab einen Brandstifter – aber wo, wer war der Missetäter? Einer aus dem Dorf –? Nicht möglich! Da kennt ja einer den andern viel zu genau, erfährt's täglich zu sauer am eigenen Leibe, wie schwer das bißchen Lebensnotdurft zusammengeschrabt ist, um aus reinem Übermut den Nachbar zu ängsten. Nein, es mußte schon einer von weiterher sein; einer vielleicht, der sich in der Welt umhergetrieben! Freilich Handwerksburschen, Fechtbrüder, die – wer weiß?! – schon mit einem Bein im Zuchthaus stehen, passierten nicht das Dorf, das einsam auf dem Eifelplateau liegt, seine zwei schnurgeraden, dichtgedrängten Hüttenreihen in den Schutz eines schwarzen Tannenwäldchens stellt, dagegen seine weitentlegenen, dem Ödland abgerungenen Felder allen Eifelwinden und allen Pfeilen glutäugiger Sonne preisgibt.
Das kleine Dorf zitterte. Und bei der Angst war Neugier und bei der Neugier Wut. Wenn man den Kerl erwischte, man schmiß ihn von der Straßenböschung herunter in den Bach, daß er nie mehr auf die Beine kam! Oder man stieg hinauf zur Bergkuppe,die wie ein Kopf, auf dem Scheitel mit kurzem Gebüschschopf besetzt, über'm Dorf auftaucht, und hing ihn da an den zähen, im Wind schaukelnden Haselnußbaum, mit dessen Gerten man ihn erst weidlich verdroschen! Da würden die Kühe und Schweine, die der Dorfhirt auf kurzrasigem Anger hütete, was zu gucken haben und ihr Hirt, der Ofen-Willelm auch!
Und wie sie an den Wilhelm dachten, stockte ihnen plötzlich dem Atem. War der nicht Heizer gewesen unten im Rheinland, jahrelang?! Der einzige aus dem Dorf, der nach seiner Militärzeit nicht heimgekehrt war, um den Acker mit seinem Schweiß zu begießen, sondern der unten geblieben war, wo die Welt lockt und die lieben Heiligen nur mehr in den Domen zu finden sind, aber nicht mehr auf den Straßen. Es hieß, daß man in den Fabriken auch schwer arbeiten mußte, – mochte sein, aber sicher doch lange nicht so schwer, wie man hier oben arbeitete, wo einem im Mai gar oft noch die Feldfrucht erfror und die Kartoffel schon wieder im September. Der Ofen-Willelm hatte da unten weiter nichts zu tun gehabt als Glut zu schüren. Heizer war er gewesen, Nachtheizer in der Fabrik; aber alle Tage hatte er verschlafen können, in einem faulen Leben sein sicheres Geld verdient – bloß für's Feueranzünden!
»Hm!« Der Gemeindevorsteher kratzte sich den Kopf, als ihn etliche mit der Nase auf den Ofen-Willelm stießen. Was, der sollte das Feuer gelegt haben?! 's war freilich ein merkwürdiger Kerl, ja, da hatten sie wohl recht, ein ganz Kurioser, anders wie andere, das kam eben vom Leben draußen – aber ein Brandstifter? Nein! War nicht seine Mutter, die Witwe Driesch, ein kreuzbraves Weib, eine gottesfürchtige Frau dazu, vor der jeder die Mütze heruntertun konnte?!
Weit wies der Gemeindevorsteher die Petzer und Zuträger von sich; aber als ihm bald darauf, in einer Sonntagnacht, der Heuschober abbrannte, den er am Samstag-Abend erst fertig gesetzt hatte, dicht hinter seinem Zaun, begann er doch auch zu schnuppern. Von des Ofen-Willelm Hütte her fing es auch ihm an, brenzlig zu riechen. Was, sollte am Ende der Ofen-Willelm das Feuerstochen nicht lassen können? Der war seit Winter wieder im Dorf; im grauen Winter war nie etwas ausgekommen, aber nun, seit die Sonne schien, seit die am Himmel lohte, die Hütten und die Tannen, die Äcker und den Bergkopf Tag für Tag mit ihrer roten Glut überschüttete, seit der struppige Gebüschschopf flammte und die Kiesel im versiegten Bach Funken sprühten und auf sonnenharten Wegen der trockene Staub blendete, seitdem – –!
In des Gemeindevorstehers Kopf wogten seltene Gedanken; er besprach sich mit dem und jenem, recht heimlich. Hinter der Scheunenwand tuschelten sie wie verliebte Paare, oder weit draußen auf flachem Feld, wo nur die heiße Luft zitternd lauschte. Mit den Gerichten was zu tun zu haben, ist immer eine üble Sache, man weiß nie, ob man Recht kriegt oder Unrecht; doch eh' man sich das Dorf anstecken ließ, jetzt gerade, da der Brunnen anfing spärlich zu spenden, jetzt, da selbst der Bach im kühleren Grund nur mehr ein dünnes Rinnsälchen über blanke Steine sickern ließ, jetzt, da man der Ernte gedenken mußte – sie war heuer reichlich, aber wer konnte Mut haben, sie in die Scheunen zu sammeln? – hieß es: lieber verklagt, als beklagt.
*
Ein warmer Abend war's nach sonnenfrohem Sommertag, als der Fußgendarm aus der nächsten Bürgermeisterei und der Gemeindevorsteher zusammen nach der Hütte der Witwe Driesch stapften.
Kathrein Driesch kochte das Abendmus. Eben hatte ihr Willelm die Herde eingetrieben; noch zitterte der letzte Ton seines Tuthorns in den Lüften, jede Kuh war gehobenen Schwanzes in ihren Stall gerannt. Nun hatte der Hirt auch Feierabend. Er saß beim Herd auf dem Schemel, hatte den Napf im Schoß, den Löffel in der Hand, und die Mutter tat ihm auf. Aber er sah nicht die bräunlichen Speckgrieben, die wie leckere Fischchen im Mehlbrei auftauchten; unverwandten Blickes schaute er ins Herdloch, drin Funken sprangen.
Die Mutter sprach:
»Jong, esu äß doch!« fischte aus ihrem Napf die Speckgrieben und tat sie ihm auch noch auf. Ihr Willelm aß die gern, und war der Speck auch sündhaft teuer, der Jung mußte alle Abend sein Geschmelztes haben. Was hatte er denn sonst auf der Welt? Gar nichts! Der arme Jung!
Von fünf Söhnen war er der letzte – zwei klein gestorben, zwei in Frankreich gefallen – immer hatte sie sich drein geschickt und Amen gesprochen. Aber daß der Willelm da unten sich so zu Schanden gearbeitet hatte, daß er ins Krankenhaus gemußt und dann für invalide erklärt worden war auf seine besten Jahre, das grämte sie. Er hatte nun freilich hier oben den Posten als Gemeindehirt bekommen – aber war das wohl ein Amt für einen, der immer klüger gewesen war als die andern von seinem Jahrgang? Der heut noch klüger war als alle, die nach ihm dem Herrn Lehrer durch die Finger gelaufen, der eigentlich geistlich hätte werden müssen, wenn's Geld dazu vorhanden gewesen wäre? Säue hüten und Kühe treiben, das kann auch ein Trottel!
Die Mutter unterdrückte einen Seufzer und strich ihrem Willelm den buschigen Haarschopf aus den Augen.
Er brummte nur, und als sie ihm ermunternd zuredete: »Esu äß doch, – esu lecker – Schweinsgriewen un Buchweizenmehl!« – löffelte er sich gedankenlos etwas ein und ließ es bei der andern Mundecke wieder herauslaufen. Seine Stirn blieb gerunzelt, und vom Hinterkopf, wo der Schädel durch spärliche Haarreste nur unvollkommen gedeckt war, schien ihm ein Zucken herabzulaufen nach dem Genick und den Rücken lang in einem leichten Rieseln. Seine Augen blieben starr, ganz abwesend, bis sie jetzt plötzlich an zu rollen fingen von oben nach unten, von rechts nach links; unstet folgte sein Blick den springenden Funken im Herdloch.
Die Mutter betrachtete den Sohn unverwandt, während sie leise, ohne das gewohnte Schlürfen und Schnalzen des Behagens ihren Napf auslöffelte. Sie verscheuchte die Katze, die sich schnurrend heranschlich und ihren Kopf an den Beinen des Mannes rieb, mit stumm-drohender Gebärde. Sie selber wagte kaum zu atmen. Was mochte der Willelm denken, daß er so stumm war? Früher, im Winter, war er viel parlanter gewesen. Was hatte er da nicht alles erzählt von den Fabriken unten mit ihren Rädern und Walzen, mit ihren Schornsteinen und Kesseln, mit ihren Öfen, die einen Bauch hatten wie ein Bierfaß zur Kirmes – nein, noch viel größer, groß wie die leibhaftige Hölle, darin ellenhohe Flammen brennen! Er war an die Hitze gewöhnt, nun fror er immer, der arme Jung! Jetzt, selbst im Sommer, wo andere den Schatten suchen, stellte er sich in die pralle Sonne oben am Anger, kaute an seinem Kanten Brot und blickte starr ins feurige Gold am Himmel. Aber heiß genug, sagte er, würde ihm doch nicht; den ganzen Tag mußte sie im Herd feuern, so viel Reisigholz und Tannenäpfel war sie sonst im strengsten Winter nicht sammeln gegangen.
Sich den niederrinnenden Schweiß vom Gesicht wischend und das kattunene Tuch am mageren Hals ein wenig lüftend, raffte Kathrein Driesch ein neues Bündel Reisig vom Estrich hinterm Ofen auf, brach's knackend über dem Knie in kleine Stücke und stopfte alle zugleich noch dem Herd in den Rachen. Der platzte fast.
Aber mit einem Stöhnen, mit einem Schauer des Frierens rieb sich der Sohn jetzt die Hände, und dann sagte er langsam, stockend, als mache ihm jedes Wort Mühe, und doch mit innerer Hast:
»Modder – gieh – schlaofen!«
»Jao, jao,« sagte sie und faßte schon nach ihrer Haube, wußte sie doch, daß, wenn der Willelm nicht seinen ›gud Schuhr‹ jour. hatte, er leicht ungeduldig wurde. So wollte sie ihm denn rasch den Willen tun, sich 's Deckbett über die Ohren ziehn, wenn auch draußen noch Leben war. Von fern klang Mädchen-Gekreisch und das Dengeln von Sensen.
Auch Willelm lauschte. Er war jetzt aufgestanden; den Kopf weit vorstreckend, daß sich ihm die Stränge am Hals zerrten, verharrte er unbeweglich. Die Kniee hielt er eingeknickt, die Lippe hing ihm. Nur die Augen des finsteren Gesichts fuhren beständig umher, lauernd, geängstet wie bei einem Tier, das gejagt wird und das doch selber jagen möchte. Die Nüstern der stumpfen Nase blähten sich witternd.
Durch die tiefer und tiefer werdende Dunkelheit der Bauernstube tönte jetzt das betende Leiern der Alten:
»Gegrüßet seist du, Maria, voller Gnaden,
Der Herr ist mit dir,
Gebenedeit bist du unter den Weibern
Und gebenedeit die Frucht deines –«
Sie unterbrach sich, ihres Sohnes gedenkend:
»Willelm!« Und als er nicht kam, kletterte sie noch einmal aus dem Bett, tappte sich auf bloßen Füßen zum Sohn hin, machte dem Vierzigjährigen, wie sie es einst dem Vierjährigen getan, das Zeichen des Kreuzes auf Stirn und Brust und tappte dann befriedigt wieder zurück. Gleich darauf schnieften schon ihre ruhigen Atemzüge.
Ein seltsames Lachen verzog das düstre Gesicht des Sohnes: nun schlief sie – nun schlief sie – nun ging er – seine Öfen anstecken – huh, ihn fror – da wurde er wieder warm – hei, wenn die Funken tanzten und die rote Glut fauchte, einem entgegen schlug, als wollte sie einem das Hirn ausdörren – heiß, immer heißer – – – ha, wer kam da, wer wollte ihn stören?!
Zusammenschreckend blieb er plötzlich stehn, die Stirn wie im Schmerz krampfend.
Außen drückte eine Hand kräftig auf die Klinke; die immer unverschlossene Tür gab nach, und aus der weichen Dämmerung des milden Sommerabends traten der Gendarm und der Gemeindevorsteher in die überheizte Dunkelheit der Witwenstube.
»Schlaoft Ihr eweil schon?« sagte etwas verlegen der Gemeindevorsteher. »Häh, Kathrein, exkusört! Hört ehs!«
Aber der Gendarm hatte den, deswegen sie kamen, schon beim Kragen gepackt und ihn niedergeduckt mit einer Faust, die an Widerstreben gewöhnt war.
Ofen-Willelm dachte nicht daran, sich zu sträuben; scheu die Schultern hochziehend und den Kopf zwischen die Schultern steckend, duckte er sich. Nur einen unzufriedenen, unbehaglichen Laut stieß er aus, wie unsanft aus dem Schlaf gestörte Kinder tun.
Die Alte, die der laute Ruf des Gemeindevorstehers nicht geweckt hatte, wurde jetzt sofort wach und setzte sich im Bette auf:
»Willelm, wuh biste? Wat haste, Willelm?«
»Hän es hei – nor ruhig,« sagte der Gemeindevorsteher und tappte nach dem Herd, die Glut aufzustören, daß sie hell leuchtete. »Kathrein, seid eweil verstännig, maacht kein Ambra! embarras. Dän Willelm hei, dän hole mir eweil ebbes mit, dän – dän soll – dän muß – dän – –«
»Dän Willelm mitholen – waor dann?!« Das Weib stutzte. »Dän Willelm, nä, dän bleiwt hei,« sagte sie kurz entschlossen und tastete nach ihren Röcken auf dem Schemel am Bett.
»Bleiwt nor liegen, bleiwt noren! St – – –!«
Der Gemeindevorsteher wollte ihr die Hand auf den Mund legen, aber schon hatte sie die goldenen Knöpfe der Uniform blinkern sehn, und in sinnloser Angst vor 'm Gendarmen einen hellen Schrei ausgestoßen. Mit beiden Füßen zugleich fuhr sie aus dem Bett und stand nun zitternd vor den Männern.
Was wollten die hier?! Bei Nacht noch dazu?! In verständnislosem Entsetzen irrten ihre Augen von einem zum andern. Nun sah sie den Griff, mit dem der Gendarm ihren Willelm gepackt hielt. Was, was hatte ihr Willelm getan?! Nichts hatte der getan, loslassen sollten sie ihn, gleich auf der Stell'!
Zeternd ging sie gegen den Gendarmen an, aber der schob sie unsanft beiseite.
»Halt Euer Maul, Frau,« sagte er kurz, »macht Euch kein Ungelegenheit. Voran!«
Er stieß den Verhafteten zum Fortgehen in den Rücken. Aber die alte Frau packte ihn am Uniformschoß und hielt ihn fest mit ungeahnter Kraft.
»Dän Willelm, dän Willelm,« schrie sie in höchsten Tönen, »wat haot hän dann gedahn, wat haot hän dann gedahn?! Hähr Schandarm, och, laoßt hän doch hei, dän maocht jao sein Läwen kein Schpitackel, dän gieht jao gleich m't Bett, dän säuft net, dän zankt net, dän es alleweil ruhig – och, duht ihm neist! Jeses Maria, Hähr Schandarm, liewer Hähr Schandarm, duht dem Könd neist!«
Die Zähne klapperten ihr in Furcht und Schluchzen; sie hatte den Uniformschoß fahren lassen und versuchte nun, ihren Sohn dem eisernen Griff zu entwinden. Sie wußte wohl selbst nicht, daß sie dabei kratzte und kniff.
Der Gendarm hatte alle Mühe, das Weibsbild abzuschütteln, zumal sein Arrestant, durch das Beispiel der Mutter angesteckt, sich auch zu sträuben begann. Endlich schaffte ein kräftiger Stoß die Alte beiseite, und Handschellen, im Nu aus der Tasche gezogen, fesselten den Verbrecher.
»In't Kittchen –?!« Der gellende Schrei der Frau hallte von den rußigen Wänden wider. Sie lag auf den Knieen und rang die Hände: »Nikla, Nikla! Hähr Schandarm! Hährgott im Himmel! Wat haot hän dann gedahn?! Ech schwören, dän es esu unschullig wie neugeboren! Dän schnied't ke Gras uf andrer Leut's Wies, dän bricht ke Ästche im Wald ahf – dän es noch nie öwer dän Zaun gestiegen, für Appel zu plücken beim Hähr Pastor – glauwt et, glauwt et doch, bei meiner ewigen Säligkeit, dän es esu ene gude Jung! Hän haot mer immer Kaffee on Zucker erufgeschickt, on en schwaarz Schörz für nach der Kirch ze giehn, on hän haot sich ahffottegrafiere laoßen für sein Modder – on se alle Jaohr uf einen Dag besucht! Och, hän es esu gud, glauwt et doch noren! Ech will stärwen uf der Stell, wann ech net de pure Waohrheit saon! Nikla« – sie wandte sich flehend an den Ortsvorsteher – »Nikla, dir kennt mech seit Menschegedenk', saot, Haon ech Eich je wat fürgemaach? Helft mer doch! Laoßt hän doch hei!« Sie machte Anstalt, seine Kniee zu umklammern.
»Seit doch net esu gäck, Kathrein,« murmelte der Ortsvorsteher zurückweichend, »Eier Willelm kömmt jao bal redur, et es nor für dat hän sich ausweist – dat hän – hm –!« Verlegen mied er den angstvoll sich einbohrenden Blick der Frau. »Hm, dat mer et zu wissen krieht – no, dat hän et net es, dän hei alleweil dat Feuer anfänkt!«
»Dat Feuer – hei dat Feuer –?!« Ganz verwirrt glotzte die Frau nach ihrem Herd. »Nä, dat sänken ech immer sälwer an!«
»Och was!« Der Gendarm wurde ungeduldig; ohne viel Aufhebens hatte man den Kerl fortschaffen wollen, und nun dauerte das Gezeter schon so lange, daß bald die ganze Straße voll Neugieriger stehn würde. »Dummes Weibsbild, von dem Feuer is ja gar keine Red'! Brand hat er angelegt, der Schubjack! Voran jetzt, marsch!« Er stieß seinen Häftling der Tür zu.
Der Willelm Brand angelegt?! Die alte Frau hob verwundert die Hände. Es konnte einer glauben, ihr Willelm hätte Brand angelegt?!
»Jeses Maria,« sie schlug ein Kreuz und faltete dann die Hände, »esu en Sünd!« Das war ja ein Verbrechen! Ihr Willelm ein Verbrecher? Das war ja beinah zum Lachen! »Ha, ha!« Sie stieß ein kurzes, aufgeregtes Lachen aus: »Nä, Hähr Schandarm, su ebbes duht dän Willelm net!«
»Allons,« sagte der Gendarm und schob den Willelm zu Tür hinaus. »Das wird sich ja finden. Hat der Kerl 's nicht getan, werden se'n Euch schon bald retour schicken!«
Ja, das würden sie auch! Des war sie ganz sicher.
*
So bald, wie die Witwe Driesch sich's gedacht hatte, kam ihr Willelm nun doch nicht zurück. Viermal schon war sie darum in des Ortsvorstehers Haus gewesen, und auf der Straße, auf dem Acker schrie sie ihm nach:
»Häh, Nikla, wanneh kömmt dän Willelm redur?«
Auch er wußte nichts, zuckte nur die Achseln und vertröstete sie, sah er ihr banges Gesicht und ihre verlangenden Augen, mit seinem steten: ›Seid doch net esu gäck, Kathrein, hän kömmt bal redur!«
Nun waren schon vier Wochen ins Land gegangen; das Tannenwäldchen beim Dorf strömte überstarken Harzduft aus, langsam sickernde, bernsteinfarbene Rinnsale tränten die rissigen Stämme hinab, alle Feuchtigkeit schien den Bäumen entwichen. Durch die Stille des August-Mittags hörte man das Fallen der Nadeln und das Knistern von Zweigen und Zweiglein. Zu sehr hatte die Sonne ob ihnen geglost.
Über die Felder kam mehliger Duft; das Korn war gehauen. In Schwaden lag's am Boden; die Weiber rafften, die Männer banden und setzten die Mandeln auf, und die Kinder, die jetzt frei an der geschlossenen Schultür vorüber durften, liefen über die Stoppel und sammelten die verstreuten Ähren. Das Dengeln der Sensen am Feierabend, diese eintönige Musik des Dorfes, hatte aufgehört, dafür knarrten jetzt am Tag die Ochsenwagen über die zu tennenhartem Lehm gebrannte Straße hinaus, und ›hott und hahr‹ und Peitschenknall erschütterten die Luft über den flimmernden Feldern.
Alles war draußen. Nur Kathrein Driesch nicht; die hatte nichts zu ernten. Still saß sie in ihrer Hütte und hörte, war das Rattern der ausziehenden Wagen verstummt, nichts als das Surren der Fliegen und das Knastern des Reisigfeuers im Herd. Sie schürte, wie immer, denn wenn er heimkam, sollte er's doch nach seinem ›Ehs‹ à son aise. finden. Und wie sie so dasaß, lässig die Hände, – sie konnte nicht arbeiten, was auch, wozu auch, er war ja nicht da – kamen ihr die Gedanken: Jesus, wenn sie dem Willelm was antaten?! Wie lange hielten sie ihn denn nur da?! Nun glaubte sie dem Nikla nicht mehr – der log ja, trotz seiner grauen Haare! Der wich ihr aus; gestern abend hatte sie's deutlich gemerkt.
Da war sie auf ihn zugelaufen, gerade als er vorm beladnen Erntewagen her heimschritt, die Heugabel über der Schulter.
›Wanneh kömmt dän Willelm?!‹
Er aber hatte den Kopf auf die Seite gedreht und übers Wetter angefangen mit seinem Sohn, dem Matthes, der hinter ihm schritt.
›Häh, Nikla?‹ War er taub? Sie hatte ihn angepackt, am Hemd vorn bei der Brust, und hatte ihm ins Gesicht geschrieen:
›Wanneh kömmt hän?‹ Nun mußte er's doch hören!
Aber statt ihr Antwort zu geben, war er unwirsch geworden:
›Laoßt mech in Ruh,‹ und hatte den Ochsen, die unterm Joch, die Köpfe gesenkt, mühselig daher schnauften, mit der Peitsche eins übergehauen: ›Häh, häh, Luderzeug, voran, häh, häh‹ und war schnelleren Schritts weitergezogen mit Sohn und Knecht und mit dem Enkelkind hoch oben auf den goldenen Korngarben.
Und sie hatte ohne Antwort dagestanden und wie tiefsinnig zur Erde auf die weißen Schaumflocken gestiert, die den angestrengten Ochsen aus dem Maule geklext waren.
Warum hatte ihr der Nikla nicht stand gehalten?! Die ganze Nacht hatte sie darum nicht schlafen können, und wenn sie auch fleißig gebetet hatte, Ruhe hatte sie doch nicht gefunden. Sonst hatte der Nikla doch gern mit ihr ein Wort ausgetauscht, nie war er ihr vorbeigegangen?! Jäh ward sie des plötzlich inne: auch andere wichen ihr aus! Ihr Nachbar zur Linken, Heid's Josef, dessen Häuschen sich so dicht an das ihre lehnte, als wären die zwei eins, sah sie früher nie hinten im Gärtchen Unkraut jäten oder ihren Kappes begießen, ohne daß er sich über den Zaun lehnte, mit ihr ein Schwätzchen zu halten – und ihre Nachbarin zur Rechten, die Schneidersch, eine Wittib wie sie, die nur die Hand zum Fensterchen herauszustrecken brauchte, um an ihrem Fensterchen zu pochen, hatte auch schon seit Tagen nicht bei ihr angeklopft. Was hatten die denn – sie war sich keiner Unfreundlichkeit bewußt und einen
Klatsch hatte sie nicht angefangen – war's etwa wegen dem Willelm?! Jesus, der arme Jung, was hatten sie nur gegen den? Und er hatte das Vieh doch so sorgsam gehütet; jede Kuh war ihm lieb, und war ein Ferkel müde, so trug er's heim auf den Armen. Nein, einen so guten Hirten kriegten sie nie wieder. Jetzt mußte das arme Vieh immer im dunstigen Stall bleiben, niemand fand während der Ernte Zeit, es ins Freie zu treiben. O je, die würden schon noch einsehn, was der Willelm wert war! Aber so waren die immer gewesen: ist einer lange in der Fremde draußen, der ist nicht mehr einer von ihnen – und nun gar der Willelm, der besonderer war als alle, den guckten sie scheel an. Mochte auch sein, daß sie ihm das Geld, das er als Rente bezog – wie ein pensionierter Herr – neideten, ihm's vielleicht auch nicht gönnten, daß er dazu noch den Posten als Gemeindehirt gekriegt hatte. Es langte nun so schön für sie beide; nun brauchte sie auf ihre alten Jahre nicht mehr in Tagelohn gehen wie früher – ach ja, was war ihr der Willelm doch für ein Glück! Andre Männer in seinem Alter haben längst Frau und Kinder, aber sie hatte den Sohn noch so ganz für sich allein!
In der Stille ihrer Einsamkeit rief sich die Mutter alle Tage des Beisammenlebens zurück. Viel geredet hatten sie nicht miteinander, der Willelm war ein Stummer; aber zu Zeiten, wenn ihn das arge Kopfweh plagte, dann hatte er den Kopf an sie gelehnt wie ein Kind, das sich duckt, und sie hatte ihn gestrichen, immer sacht über den Schädel, immer sacht, und er hatte geschnurrt dabei wie der Kater. Das war schön gewesen! Ach, wenn er nur erst wieder da wär'!
Es drängte sie allgewaltig, sie mußte nieder auf die Kniee fallen, hier in der Stube genau so wie in der Kirche, und der heiligen Mutter auf dem höchsten Thron eine Kerze geloben von weißem Wachs, wenn die ihr den Sohn schickte. Unter Tränen, die, ohne daß sie's merkte, ihr über die runzligen Wangen rollten, versprach sie:
»Ech gelowen dir en Kerz für deinen Altar, Maria voll der Gnaden! Ech sänken dir en Kerz an – die soll brennen esu hell, esu hoch! – heilige Maria, Modder Gottes, erhör mech um deines Sohnes, um deines Sohnes willen!«
Inbrünstig wiederholte sie das viele Male.
In der nächsten Nacht glaubte sie seinen Tritt zu hören. Sie fuhr auf, das Herz klopfte ihr hart. Aber die Tritte hielten nicht an, sie trabten vorüber: 's war wohl einer, der spät aus der Wirtschaft nach Hause ging. Ach, zu ihr ging keiner ein! Und sie weinte, und ein Verlangen stieg in ihr auf, daß sie hätte hinkriechen mögen, hin auf Händen und Füßen, bis wo ihr Sohn war.
Wo war der?! Im Kittchen. Das hatte ihr heute die Schneidersch zugeschrieen, als sie's nicht ausgehalten und bei der angeklopft hatte. Im Kittchen – ja, das wußte sie, aber was sollte er da, was machte er da so lange? Das hatte die Schneidersch auch nicht gewußt – oder wollte die's am Ende nicht sagen? Und warum war er da?! Ja, darauf hatte die Nachbarin auch nicht geantwortet, aber sie hatte ein großes Gejammer angefangen über die böse Welt und die schlechten Leut' und sich vielmals bekreuzt: ›Gott bewaohr uns, Gott behüt uns, heilige Modder bitt für uns – esu en Kerl, esu en Scheusal‹ Und dann hatte sie geseufzt: ›Kathrein, ech muß en Dauer met Euch haon – nä, nä, esu en Kreiz!‹
Bei der Schneidersch war kein Trost zu finden gewesen; im Gegenteil, seit Kathrein bei der angepocht hatte, war eine noch verzehrendere Unruhe über sie gekommen. Sie trippelte in ihrer Stube hin und her, vom Bett zur Bank, von der Bank zur Truhe, von der Truhe zum Herd, nahm bald dies zur Hand, bald jenes, jetzt den Eimer, dann den Napf, jetzt das Messer, dann den Löffel – es hatte alles nicht Zweck noch Ziel. Im Ställchen hinten meckerte kläglich die vergessene Ziege. Mitten im Trippeln hielt das Weib dann plötzlich an und faßte sich nach dem Kopf; aber sie erinnerte sich nicht der vergessenen Ziege – was, was hatte die Schneidersch gesagt? ›Ech muß en Dauer met Euch haon‹ – und ›Esu en Kerl, esu en Scheusal‹ – wen meinte sie damit? Wer war ein Kerl, wer war ein Scheusal? Ihr Willelm doch nicht gar? Oho! In den sanften Augen der alten Frau begann es zu flammen, sie hob die Faust und schlug an die Stubenwand, daß die nebenan es hören mußte, und schimpfte dabei:
»Frech Mensch, Lügenersch!«
Nein, ihr Sohn war kein Kerl und auch kein Scheusal! Der Gedanke an ihn sänftigte ihren Zorn, aber die Unruhe vermochte auch er nicht zu bannen. Wenn sie nur wüßte, warum er so lange nicht wiederkam?! Ach, daß er doch jetzt hier wäre, von dem guten Essen kostete, das sie alle Tage frisch für ihn kochte, und das dann doch die Katze fraß, weil er immer noch nicht kam. Sie selber trank nur einen Kaffee, kein fester Bissen mehr wollte ihr die Kehle hinunter, der Hals war ihr wie zugestrickt. Und auf der Brust lag es ihr wie ein Stein; nichts wälzte den mehr ab.
Andere Jahre hatte sie sich mitgefreut, wenn die Erntewagen, schwergeladen, an ihrer Hütte vorbeischwankten, wenn die Nachbarn das Korn drin hatten, reif und trocken, ohne Ungemach. Mochte jetzt der Himmel sich auftun und Wasser ohn' Ende herabschütten, daß alles niedergeschlagen ward wie mit Hämmern! Sonst war sie alle Morgen in die Messe gelaufen und hatte fleißig gebetet um gnädige Bewahrung vor Wettersnot. Mochten jetzt Donner niederdröhnen und Blitze niederfahren und Hagel niederprasseln, dick wie Eier, – warum kam der Willelm nicht?! –
Es war heuer eine gesegnete Ernte. So viel totreifes Korn hatten die Eifeler noch nicht trocken in ihren Scheuern gehabt. Wenn das gute Wetter nur noch ein wenig anhielt! In zwei Tagen würde das letzte geborgen sein.
Das Dorf war froh, alle zweihundert Seelen freuten sich, Mann und Weib, Junge und Mädchen. Selbst die ganz kleinen Kinder grahlten lustig am Feldrain, wo die Mütter sie unter einem notdürftig schattenden Busch neben dem Trinkkrug und dem blechernen Eßnapf niedergesetzt hatten, derweil sie emsig ihren Ehemännern halfen. Am müden Abend noch klang Ziehharmonika, und die Mädchen lachten am Brunnen.
Überall hörte die Witwe Driesch von guter Zeit reden. Es trieb sie jetzt auf die Gasse. Wo zwei, drei zusammenstanden, machte sie sich heran – sprachen sie vom Willelm? Ach nein! Enttäuscht fuhr sie zurück, um weiter zu laufen, ruhelos an den Hütten entlang zu streichen, das Ohr lauschend an die kleinen Fenster geneigt. Drinnen Lachen und Tellergeklapper, tiefer Männerbaß, Weibergeträtsch und Kindergreinen. Aber vom Willelm hörte sie nichts. Ihre Augen, die keinen Schlaf mehr fanden, wurden trüb und rot und schauten wie durch einen Nebel. Weit entrückt schienen ihr die Nachbarn und das Dorf, und alles, was ihr bisher vertraut gewesen war. Sie sah nur deutlich den Weg, auf dem ihr Sohn bald kommen würde – ja, kommen mußte!
Die Weiber schauten ihr mitleidig nach, wenn sie, den hageren Rücken gebückt, das graue Haar unordentlich unter der Kappe hervorhängend, mit ihrem Eimer zum Brunnen schlich. Aber sie wich jetzt scheu den halb neugierigen, halb teilnahmsvollen Grüßen aus – was wollten die Weiber mit ihrem dummen Gucken? Nein, sie brauchte jetzt keinen Menschen mehr, sie verlangte nach niemandes Wort – ihr Sohn sollte wiederkommen, den wollte sie wieder haben! In Trotz und Pein kniff sie den Mund fest zusammen und zwang die Frage, die sich ihr trotzdem immer herausdrängen wollte, nieder. Warum fragen?! Selbst die Heilige, vor deren Altar sie die Steinfliesen mit ihrer Stirn scheuerte, gab ihr die Antwort, die einzige, die sie haben wollte, nicht. –
Am Sonntag Abend klang vergnügtes Johlen aus der Schenke. Drin saßen die Männer des Dorfs. Schade, daß einem heut der Sonntag dazwischengekommen war, sonst hätte man das letzte eingekriegt! Nun mußte man morgen noch einmal hinaus. Aber: alle Mann heran und die Weiber und die größeren Kinder auch, selbst die Alten durften sich morgen nicht drücken, und dann – juchhei! – dann war's für dies Jahr geschafft!
Auf der Straße spielten die Kinder. Gerade vor der Witwe Driesch Haus hatten sie sich niedergelassen; die zwei Feldsteine, die als Stufen zur Haustür führten, waren so bequem, um ›Schinkelches‹ darauf zu spielen, oder auch nur, um da zu hocken – die Hände um die hochgezogenen Kniee gelegt, die Gesichter aufwärts gehoben – und mit gellenden Stimmen in den Insekten durchsurrten warmen Abend hinauszuschreien:
›Höwerlink, komm,
Schlao mer de Dromm!‹
Fest hielt die alte Kathrein ihre Tür und das Fenster geschlossen; der Lärm der Kinder tat ihr weh. Sie saß beim Herd, den Kopf mit einem dicken Tuch umwunden, aber sie hörte das Geschrei doch.
›Höwerlink, komm!‹
»Willelm, komm!« Beide Arme erhebend, streckte sie die zittrigen Hände bittend in die Luft. Auch heute war er nicht gekommen. Jesus Maria, wo er nur so lange blieb?! Sonst war er viel länger fort gewesen, ein ganzes Jahr, Jahre, nie hatte sie so nach ihm verlangt – da war es ihm ja auch gut gegangen, – aber jetzt, wie ging es ihm jetzt?! Eine furchtbare Ungewißheit peinigte sie. Sie hatte noch nie ein Kittchen gesehen, und von denen hier herum war auch noch keiner darin gewesen. Ob er da auch satt zu essen kriegte, ob er da auch nicht fror? Wer strich ihm da den Schädel, wenn er das Kopfweh hatte?!
›Höwerlink, komm!‹
Das Schreien der Kinder schaffte ihr fast körperliche Qual. Zum Fenster humpelnd riß sie's so heftig auf, daß es fast aus seinem verquollenen Rahmen fiel und schrie hinaus:
»Maacht euch fort hei, maacht!« und drohte mit der Faust.
Verdutzt standen die Kinder: das waren sie sonst nicht gewohnt, daß man sie hier fortjagte. Das Kleinste fing an zu weinen; aber des Heid's Pittchen von nebenan, sich in der Nähe des Vaterhauses sicher fühlend, streckte die Zunge heraus und schrie, in die elterliche Tür retirierend:
»Mordbrenner, Mordbrenner, Eier Willelm es en Mordbrenner, dän gieft gehänkt!«
»Hau, dän gieft gehänkt,« heulte die Kinderschar und stob nach allen Seiten.
Wortlos blieb die Frau; die drohende Faust noch immer erhoben, stand sie am Fenster. ›Mordbrenner – Mordbrenner – dän gieft gehänkt‹ – das heulte ihr in den Ohren. Gehängt?! Ein Schauder überlief sie. Sie würden ihrem Willelm doch nichts zu leid tun? Mordbrenner – der war doch kein Mordbrenner! Es war zum Lachen – Kindergeschwätz! Aber plötzlich ergriff sie eine Todesangst: hatte nicht der Gendarm damals, als er ihn wegholte, auch etwas von ›brennen‹ gesagt?! Sie hatte nie mehr daran gedacht, aber nun fiel es ihr ein – – –›Brand hat er angelegt, der Schubjack‹ – wirklich, es war zum Lachen!
»Hahahahaha!« Sie lachte – ein tolles Lachen – bei dem sie den Oberkörper zum Fenster herausbog und sich die stechenden Seiten hielt.
Dann schloß sie das Fenster; es war Zeit, zu Bett zu gehn. Aber es graute ihr in der grenzenlosen Einsamkeit ihrer Stube – vor was? – das wußte sie selber nicht. Wenn sie nun einmal den Nachbar zur Linken aufsuchen würde? Zum Heid hatte sie noch das meiste Zutrauen – der war ein gesetzter Mann, kam auch mal in die Fremde, bis gen Manderscheid und Daun war der schon gewesen. Fragen wollte sie ihn: was denn sein Peter damit gemeint habe: ›Mordbrenner‹ und ›dän gieft gehänkt‹?!
Schwerfälligen Tritts schlorrte die Alte zur Hintertür hinaus in ihr Gärtchen. Sie trampelte durch ihr Kartoffelbeet, das sich längs des Zaunes streckte, achtlos, daß sie von den blühenden Stauden knickte.
»Häh, Josef, pst!«
»Jao – wat dann?« Der Heid hatte gerade das Vieh gefüttert; nun kam er aus dem Stall, in Hemdsärmeln, den bunten Schlips und den gesteiften Kragen, vom Besuch im Wirtshaus her, noch um. »Jao, wat wollt Ihr dann?« Es klang nicht sehr einladend.
Aber sie hatte dessen nicht acht. Beide Arme auf den Zaun legend, beugte sie sich zu ihm hinüber, ganz dicht. Und vertraulich sprach sie, so leise, als ob sie fürchtete, das Kartoffelkraut zu ihren Füßen und drüben der Nachbarin Bohnen könnten es hören:
»Saot, Josef, – Mordbrenner – wat es damit gemeint? Un – hänken – gieft heutzudag dann noch jemand gehänkt?«
»Waorum?« Er guckte sie betroffen an.
»No, Eier Pittchen saot doch, dän Willelm – dän Willelm –« nun kam wieder die ungewisse Angst vor unfaßbar und unverständlich Schrecklichem über sie, daß sie's kaum herausbrachte – »dän saot, dän Willelm, mein Willem gieft gehänkt! Och, saot doch –« verzweifelt faßte sie nach des Mannes Händen – »saot, wanneh kömmt hän redur? Se duhn ihm doch neist?!«
»Hm, jao,« – Heids Josef rieb sich die Nase und kratzte sich dann hinter'm Ohr – »dat kann mer net für gewiß saon. Dän Willelm sitzt eweil in Unnersuchungshaft, un die Hähren pisacken ihm. Die kriehn et schons eraus, dat hän dat Feuer angestoch haot!«
»Wat for en Feuer?« Sie machte die Augen weit auf.
»No, hei dat Feuer im Dorf! Et haot doch in eins fort gebrennt, bal hei, bal dao – och, duht doch net esu, als ob Ihr dat net wüßt! – un seit Euer Willelm sitzt, duht et doch net mieh brennen, kein einzig Mal mieh. Dat es doch siehr verdächtig!«
»Verdächtig – verdächtig!« stotterte sie.
»Jao, saot sälwer, es et dat net? Paaßt uf, Ihr gieft aach noch verhört. Un mir all, als Zeugen. Dän Willelm haot et gedahn, duh es kein Zweifeln dran. Sons hätt' et doch als längs emaol widder gebrannt, n' Aowend!«
Er ließ sie stehen und sprang, mit ein paar großen Sätzen seine Beete überhüpfend, dem Hause zu, froh, ihr entronnen zu sein.
Sie rief ihm nicht nach; sie sagte kein Wort. Wie vernichtet stand sie, ihre Hände umklammerten die Zaunstecken. Kalter Schweiß lief ihr über den Körper, und ein schreckliches Frösteln schüttelte sie. Ihr Sohn, – ihr Willem – der war – der sollte – ja, was hatte er denn eigentlich getan?!
Es war ihr, als hätte sie einen Schlag vor die Stirn bekommen; sie konnte sich auf einmal gar nichts mehr klar machen, nur das wußte sie: ihr Willelm mußte bald kommen, bald kommen und denen da die Mäuler stopfen!
Stöhnend wankte sie in ihre Hütte zurück. Da war es jetzt ganz Nacht, nur das Feuer im Herd warf glimmende Scheine. Der schwarze Kater schnurrte, sie nahm ihn auf den Schoß und strich ihn, daß sein Fell Funken sprühte. Er schnurrte immer lauter und lauter, wie ein Spinnrad – in ihrem Kopf saß das Rad.
Es drehte und drehte sich: Mordbrenner – ihr Willelm war kein Mordbrenner – gehängt – ihr Willelm wurde nicht gehängt – der Gendarm, der Heid waren Esel – es hatte im Dorf gebrannt – seit er fort war, brannte es nicht mehr im Dorf – die Herren würden ihn pisacken, es schon herauskriegen – nein, ihr Willelm war kein Mordbrenner, ihr Willelm wurde nicht gehängt – der Gendarm, der Heid, die Herren vom Gericht, alle waren Esel – nein, ihr Willelm war kein Mordbrenner – aber wie, wie das ausweisen?!
Mit einem Schrei fuhr sie auf. Ihr Willelm war unschuldig, ganz unschuldig, sie, seine Mutter, konnte es beschwören! Aber wer – wer glaubte ihr?!
»Heilige Maria, Modder Gottes, erbarm dech! Ech brennen dir en Kerz an – esu hell, esu hoch! – hän es unschullig! Hilf, erbarm dech, heilige Maria, Modder, hilf!«
Sie lallte und schluchzte und rang die Hände. Auf den Knieen rutschte sie durch die Stube und schlug die Stirn auf den Estrich. Was sollte sie anfangen, wie konnte sie's ausweisen, daß ihr Willelm nicht der Brandstifter war?!
Die Nacht flog dahin, schon krähten die Hähne, bald würde der Morgen rot ins Fenster schauen. Was sollte sie tun, wie sollte sie ihm helfen?!
»Heilige Maria, voll der Gnaden, gegrüßet seist du! Ech gelowen dir –!«
Es hatte im Dorf gebrannt, nun der Willelm im Kittchen saß, brannte es nicht mehr, aber wenn – ihre Augen wurden plötzlich ganz stier, mit einem tiefen Atemzug riß sie die gefalteten Hände auseinander, ihre Lippen hörten auf zu murmeln, sie packte sich an den Kopf und drehte sich herum wie im Wirbel und wurde dann plötzlich ganz ruhig; durch das Dunkel ihres zermarterten Kopfes schoß eine Erleuchtung – wenn es nun doch, doch wieder brannte?!
*
Sie waren alle auf den Feldern weit draußen. Selbst die Alten und die Kinder waren mit ausgezogen. Die Kinder, vor den Gespannen her hüpfend, den weißen Staub des Weges aufwirbelnd; die Alten, nachschlurfend, in der Hotte den Säugling, oder den Laib Brot und den Kaffeekrug.
Nur das rufende Muhen einer Kuh, die mit vollem Euter im Stall stand, das unzufriedene Meckern einer Ziege, die man beim Haus angepflöckt hatte, das wütende Grunzen eines Schweins, das gern dem heißen Koben entwichen wäre und sich draußen gewälzt hätte, belebten dann und wann die Totenstille des Dorfes.
Noch war es nicht Mittag, aber schon lastete die Sonne schwer, ihre Strahlen hatten förmlich Gewicht; sie drückten alles in den Gärten nieder: die rankenden Bohnen, die breitblättrigen Rüben, das in der Dürre herbstlich-fahl gewordene Gras. Die zwei enggedrängten Reihen der Häuschen pusteten einander Hitze ins Gesicht; sie waren wie die Backöfen. Alles Gebälk, von Fichtenholz gezimmert, die Türen und Fensterrahmen schwitzten Harz aus und sperrten, ausgetrocknet bis ins innerste Mark, sich in klaffenden Fugen. Mitunter kam ein Windstoß; aber er brachte keine Kühlung, er wirbelte nur Staub auf, und die Luft ward dicker wie vorher. Echtes Erntewetter; der blaue Himmel, leicht angegraut vom staubigen Dunst der mehligen Felder, angeraucht vom heißen Odem der dampfenden Erde.
Aus den Schornsteinen der verlassenen Hütten kräuselte sich kein Rauch; heut kam niemand um Mittag heim, heut ruhte man erst abends, wenn das letzte Korn drinnen war. Sorgsam hatten die Hausfrauen vorm Fortgehn das Feuer im Herd gelöscht, mit Wasser die etwa noch schwelende Glut ausgegossen.
Nur bei der Witwe Driesch rauchte es. Sie war die einzige, die daheim war; und sie hatte Feuer im Herd wie immer. Ein großes Feuer. Wollte sie Kuchen backen? War der Sohn heimgekommen, daß ihr Schlot so rauchte? Dicke graue Dampfwolken quollen aus dem Schornstein und legten sich schwer übers Dach. Und jetzt tat sich die Tür auf, die Hintertür, bei der das Reisig lag; die Driesch kam heraus, in der einen Hand die Dose mit Streichhölzern, in der andern die Petroleumflasche. Sorgsam goß sie den letzten Rest über die dürre Reisigwelle aus, ein Zündhölzchen strich sie an – hei, die ganze Schachtel fing mit Feuer, sie ließ sie fallen, und die jähe Flamme beleckte gierig das petroleumgetränkte Gezweig.
Mit großen Augen stand die Alte dabei und sah's brennen. An der Hauswand reckte sich rasch die Flamme empor – knack – schon sprang das Hinterfensterchen von der Hitze. Schreiend fuhr der schwarze Kater heraus und jagte mit versengtem Fell ins Weite.
Auch sie ging jetzt davon, langsam, Schritt für Schritt, blieb oft stehen und sah zurück: würde das Feuer auch nicht wieder verlöschen?! Eine Angst kam sie an. Hatte sie am Ende nicht sorgfältig genug die im Herd geschürte Riesenglut herausgerissen und in der Stube herumgezerrt? Und Stroh darauf geworfen und petroleumgetränkte Lappen? All ihr wollenes Zeug, ihr schwarzes Kirchenkleid und das Tuch – noch ein Geschenk von ihrem Mann selig – hatte sie deswegen in Fetzen gerissen. Hatte sie etwa nicht brennende Hölzer genug ins Bett gesteckt, zwischen die Federn der aufgeschnittenen Kissen?! Doch, doch! Das Bett hatte schon wie eine Fackel gebrannt, als sie aus der Hintertür herausgetaumelt war, halb erstickt, mit vor Rauch blinden Augen. Ja, ja, sie durfte ruhig sein, es würde schon genug brennen, es würde eine Flamme geben, die alle sahen!
Etwas rascher schritt sie weiter. Auf den Anger wollte sie hinauf. Am Bergkopf oben, da würde sie am besten sehen, wie das Feuer höher und höher stieg, wie es das Dach ergriff, das ihr Mann selig zur Hochzeit neu gedeckt, wie es das Haus verzehrte, das der Großvater selig einst gebaut hatte!
Wenn nur niemand zu früh nach Haus kam, wenn die Hütte nur erst recht, recht toll brannte!
Sie beunruhigte sich noch immer. Durch das Tannenwäldchen gedeckt, war das Dorf jetzt ihren Blicken entzogen. Brannte es auch noch, brannte es auch wirklich noch?!
Sie rannte und keuchte bergan. Nur herauf zum Anger, voran, oben, da konnte sie sehen, da – – –
»Hah!« Ein langgezogener Schrei wahnwitziger Freude entstieg gellend ihrer Brust. Da lag das Dorf ihr zu Füßen. Eine Rauchwolke lagerte dick über ihm. Aber jetzt, jetzt – hah! – jetzt schoß es rot aus der Wolke! Sie teilte sich, ein wirbelnder Wind blies darein, feurige Zungen leckten empor, riesengroß, freudenhell, und leckten nach rechts und leckten nach links und stießen zusammen, vereinigten sich, flossen ineinander über, und wurden noch länger, noch breiter, wurden zu einem feurigen Band, das sich immer mehr und mehr entrollte, schnell abwickelte wie von einem Knäuel.
Weit aufgerissenen Auges stierte die Frau: Jesus, das war ein Feuer – das war ein Feuer!
Es war längst nicht mehr die Hütte der Driesch allein, die da brannte. Von Dürre und Sonnenglut ausgetrocknet, waren die Strohdächer aufgeflogen gleich Zunder. Jetzt brannten der Hütten schon vier, fünf. Aber noch nicht genug hiermit, der Wind machte sich dahinter und blies die Flammen an. Die eine ganze Reihe des Dorfes hinunter fegte der Brand; mit gespenstischer Eile sprangen Flämmchen von Giebel zu Giebel. Wie Matten, von geschäftiger Hand zusammengerollt, krempelten sich die Strohdächer um, erst sengten sie, erst schwelten sie, aber dann – hui – das totreife Getreide, jedes Korn ein Funke, puffte wie Pulver in die Höhe und sprühte Feuergarben in die Luft. Ein stinkender Rauch stieg zum Himmel empor und verdunkelte den Tag; aus den Ställen tönten die verzweifelten Stimmen der eingesperrten Tiere.
Kathrein Driesch hörte nicht das Jammergebrüll der Verbrennenden. Sie hörte nicht das Geschrei, das plötzlich, hinten weit, von den Feldern her, wie im Alarm zu ihr drang. Sie hörte nicht das Krachen von Balken und Mauerwerk – sie sah nur. Sah, triumphierenden Blickes, ein wildes, wogendes Flammengetümmel, eine Glut, riesengroß, den Sonnenglanz löschend mit ihrem Rot, eine Fackel, riesenhoch, vom Wind geschwungen, lodernd himmelan, bis vor des Allerbarmers ewigen Thron.
Die Mutter fiel in die Kniee nieder auf den Anger, auf das grüne Weideland der Herde und breitete ihre Arme weit und schlug sie wieder zusammen, als drücke sie schon jemand an die Brust, und weinte und lachte und hob die zitternden Hände hoch empor über ihr greises Haupt und schrie lauter als die hundert Stimmen der herbeistürzenden Dörfler, schrie's hinein ins Angstgebrüll der Tiere, ins Stürzen der Balken, ins Prasseln der Flammen:
»Mein Willelm! Eweil kömmt hän!«