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Der Lebensbaum

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Die mächtigen Kehren der Bergstraße, die in kunstvoll angelegten Windungen vom Eifelplateau zu Tal führt, kam ein Mädchen herab.

Die Welt war in Mondschein getaucht. Unruhig zitternde, züngelnde Schatten warfen die im herbstlichen Nachtwind bebenden Ebereschenbäume am Straßenrand auf das bläulichweiße, hart wie Metall schimmernde Band der Chaussee. Zur Rechten, tief unten, in den am Tag noch grünen, jetzt seltsam fahl gefärbten, kulissenartig ineinander geschobenen Schluchten, blitzte wie blankes Silber der sich siebenmal windende Wildbach. Man hörte ihn bis zur Höhe der Chaussee herauf rauschen und gegen die Steine schlagen, die, vom ewigen Anprall rund gewaschen, sein Bett füllten.

Von links her, von der mächtigen Ley, deren uralte Kraterwände, dem erhellenden Himmelslicht zum Trotz, schwarz blieben wie in finstrer Nacht und von ihrer erstarrten Lava das Mondsilber abschüttelten, jammerten Vögel. Das Raubgeschrei der Falken und Bussarde war verstummt, aber Eulen und Käuzchen mit langgezogenem ›Huhuh –‹ mischten ihre Stimmen unter das Pfeifen der Fledermäuse.

Aus beengter Brust zittrigen Atem schöpfend, blieb Anna Maria Katzvey stehen. Jesus, war der Weg weit! So weit war der ihr sonst nie erschienen. Wäre sie doch nur schon unten im Tal, wo die niedlichen Häuser des Bädchens wie Spielzeug um die Heilquelle stehen! Dort unten – ach ja – bei der letzten, der weißen Villa – dort, wo der Garten am Hang hinauf grünt – wäre sie nur schon dort!

Mit unruhiger Hand fuhr sich die Junge über die gebräunte, niedrige Stirn. Nässe perlte darauf, aber es war nicht Tau der Nacht, es war kalter Schweiß. In einem plötzlichen Bedenken zogen sich ihre Augenbrauen zusammen: wenn's der Herr Pfarrer wüßte! O je, der käme gleich mit Strafe und Fegfeuer für die arme Seele – – ach was, keine Sorge, dafür betete man fleißig den Rosenkranz! Eine Abhilfe mußte geschafft werden, sonst – –

Als verwirre ihm Angst den Blick, so schaute das Mädchen verstört um sich. Wenn's nun nicht mehr zu verbergen ging! Wenn die Tant' sie bei den Haaren riß und ausschimpfte, wenn die Leute im Dorf nach ihr guckten – o, schon alle Nacht sah sie die neugierig-hämischen Gesichter – wenn die Kameradinnen sie auslachten?! Nein, nein! Eine Abhilfe mußte geschafft werden, sonst lieber ins Wasser! Aber das Wasser ist so kalt – huh – und so naß, das Sich-Ertränken so schwer, wenn man erst zwanzig Jahre alt ist! Da war's doch besser, man suchte sich eine andere Abhilfe. Ei, und wem schadete die denn? Niemandem geschah ein Unrecht, niemandem ein Leides –

»O Jeß!« Mit einem erschrockenen Aufkreischen fuhr das Mädchen zusammen. Was war denn das für ein Wimmern?!

Am ganzen Leib zitternd, den Hals vorgestreckt, lauschte Ammei. Horch, wieder das jammernde Rufen! Wer tat das?! Aber dann besann sie sich: je, das war ja nur ein Käuzchen! Oben um die Ley flatterte das oder hockte in einer Felsspalte.

»Haal' dei Maul!« Sie drohte hinauf und versuchte dabei zu lachen; aber das Lachen gelang ihr nicht, sie war doch zu erschrocken. Ihre Kniee zitterten, schwer lehnte sie sich an den nächsten Baum, der, von einer Last korallenroter Beeren überschüttet, müde seine Äste senkte.

Ah – Ammei guckt zu der Eberesche hinauf – die wäre auch froh, wenn sie ihre Last los würde! Und sie rüttelte hilfsbereit.

Aber kein Schauer ging nieder, fest blieben die Beeren droben haften, obgleich der Baum ihrer müde war.

Ein Zorn überkam sie darob, eine wahre Wut. Mit geballten Fäusten stieß sie sich gegen die Brust:

»O du dumm Mensch!«

Und dann fing sie plötzlich an, jämmerlich zu weinen.

Ach, was war sie doch für eine unglückliche Person, daß sie nun hier rennen mußte in der toteinsamen, bitterkalten Herbstnacht, statt daheim im warmen Bett zu schlafen! Ach, ihren guten festen Mädchenschlaf hatte sie nun nie mehr! Mitten in der Nacht schreckte sie jetzt etwas auf; sie wußte nicht, was das war, aber sie mußte auffahren, sich steil hinsetzen, die Beine hochstemmen und die nackten Arme um die kalten Kniee schlingen. So mußte sie oft sitzen, Stunde um Stunde – die in Falten gezogene Stirn tief gesenkt – so lange, bis die Hähne krähten und das Morgenlicht durchs Fensterchen dämmerte. Ach, und dann war sie am Tage so müde, das Kreuz war ihr steif, die Lenden waren lahm; das Rübenhacken im Taglohn, das Kartoffelausbuddeln und das Futterschneiden fürs Vieh wurden ihr so blutsauer!

Und wie sollte das noch weiter werden?! Wenn Martini ins Land ritt, wurde gedroschen beim Bauer; wie sollte sie dann wohl den schweren Flegel regieren?! Wie ihn niedersausen lassen mit steifem Arm, – der Rücken kriegt einen Ruck und der ganze übrige Körper mit – daß unterm kräftigen Schlag die gelben Körner aus den Ähren springen und die Erbsen aus ihren Schoten, daß ein Tanzen anhebt von Staub und Frucht und Spreu auf der Tenne bei Dreschmusik, immer im Takt?! Und wenn sie das auch wirklich noch vor sich brächte – mit zusammengebissenen Zähnen, unter heimlichen Stoßseufzern – wie sollte es dann werden?! Später – ja später?!

Ei, dann war's erst recht schlimm! Dann wurde nichts aus dem schönen Plan, sich zu verdingen hinunter ins Bädchen, um den Fremden, die im Sommer zur Quelle kommen und reiches Trinkgeld zahlen, aufzuwarten, um sich endlich ein neues Kleid kaufen zu können, einen Hut mit Rosen und eine Brosche für den Sonntag, die aussieht wie Gold. Wenn sie sich nun vermietete für die Saison, mußte sie doppelt und dreifach demütig um die Gäste herumschwänzeln, mußte ihren derben Tritt dämpfen, daß er sich anhörte wie auf Sammetpantoffeln, mußte in einem fort ›Was gefällig‹ und ›Wie beliebt‹ stammeln, mußte knixen und freundlich den Mund ziehen, wenn sie lieber geweint hätte – denn sie mußte viel, sehr viel Trinkgeld verdienen. So ein Wurm kostet Geld, niemand nimmt das umsonst in Pflege; die Tant' erst recht nicht, die wollte sich doch dran bereichern. Alt und steifknochig war die, konnte selbst nichts mehr erwerben, nun würde die immerfort die Hand ausstrecken: ›Geld! Schnaps! Wecken!‹ Da ging denn der ganze Verdienst drauf, da blieb ihr selber nichts, kaum das Hemd auf dem Leibe!

Schaudernd hüllte sich Ammei fester in ihr Tuch. Das Körbchen, das sie am Arme trug, als ginge sie wie sonst wohl an Feiertagen zu Einkäufen hinunter ins Bad, entglitt ihr und kollerte ins Gras. Die Hände vors Gesicht schlagend, sank sie nieder am feuchten Rain und lehnte in ohnmächtigem Schmerz den Kopf hintenüber an einen Meilenstein.

Ach, daß man auch eine vergnügte Stunde so bitter büßen muß! Wär' nur der Sonntag nicht gewesen, jener warme Sonntag auf Peter und Paul, an dem im Nachbardorf Tanzmusik fiedelte und aus der ganzen Gegend, von weit her, die Mädchen zuströmten, um die Urlauber daselbst tanzen zu sehen.

Auch sie war mit einer Kameradin hingegangen durch die Felder, über deren junge Ähren der Frühsommerwind strich, durch die blühenden Lupinenbreiten, deren goldne Farbe die goldne Sonne noch goldner machte. Durch all den starken Duft der befruchteten Erde waren sie gelaufen, lachend und spaßtreibend, voller Erwartung aufs kommende Pläsier.

Wenn man die ganze Woche Werkeltag hat, genießt man den Sonntag doppelt, kostet ihn ganz aus mit allen Sinnen.

Sie hatten sich untergefaßt und zu singen angefangen, aber die Lust auf den Tanz, das Schäkern und Lachen hatte ihnen den Atem genommen, sie konnten nur noch kurze, helle Juchzer ausstoßen. Und dann waren sie hingerannt mit flatternden Röcken, gerannt, gerannt, daß nur keine zu spät kam.

Ammei hatte auch einen Tänzer gefunden. ›Wilhelm‹ hieß er und ›lieb‹ war er; das genügte ihr, nach weiter fragte sie nichts. Sie tanzten den ganzen Nachmittag miteinander, und er bestellte ihr Kuchen und Bier und Schnaps, sogar ein Viertel Wein. Sie war berauscht – nicht vom Getränk, vom Glück.

Als es Abend ward und in der dunstigen Wirtsstube zum Ersticken heiß, waren sie, gleich den anderen Paaren, draußen umherspaziert. Die Luft war schmeichlerisch, die Grillen zirpten, lockend-vertraulich.

Durch die weichdunkle Sommernacht schlichen die Paare; mancher Bursche wankte, sein Mädchen mußte ihn stützen. Auch Ammeis Wilhelm war nicht mehr nüchtern – oder war es die Liebe zu ihr, die sie aus seinen Blicken glänzen sah, und die sie aus seiner Rede hörte?

›Mädche, wat bis du lief!‹

Sie hatte noch nie so viel zärtliche Worte zu hören gekriegt. Den heißen Kopf dicht an ihren heißen geschmiegt, den Arm verliebt um ihre Hüfte gelegt, schlenderte er mit ihr abseitige Wege. – – –

– – – »Jesses, Jesses, wat waoren ech esu dumm!« stöhnte jetzt die am feuchtkalten Rain Zusammengekauerte und stützte den bleischweren Kopf mit beiden Händen. Aber wer hätte denn auch gedacht, daß es so ein böses Ende nehmen würde?! Wo der Wilhelm jetzt wohl war? Bei den Soldaten! Das wußte sie, mehr aber auch nicht. Von hier herum war er nicht zu Haus, nicht einmal seinen Vatersnamen hatte sie im Nachbardorf erfahren können; und weiter zu forschen getraute sie sich nicht. Da müßte der König ja alle seine Soldaten vor ihr aufmarschieren lassen, bis sie den einen, den richtigen, herausfand. Nein, auf den Vater durfte sie keine Hoffnung setzen, sie, sie ganz allein hatte die Last am Hals!

Ihr jämmerliches Weinen ging in ein lautes Heulen über. Das Nachtgetier an der Ley verstummte, selbst das Rauschen des Wildbachs und das Wehen des Windes war nicht mehr hörbar. Einzig allein dies laute Geheul erfüllte die Natur.

»Ech will net! Ech will net!«

Ammei stieß mit den Füßen. Und dann raffte sie sich auf: schnell gemacht, nicht länger gezögert, schnell hinunter ins Bad, schnell! Hin durch den schlafenden Ort, hin zu der letzten, der weißen Villa, wo der Garten den Hang hinauf grünt, wo hinter dem Gitter, auf dem Rasenplatz – – – – ah, wenn's auch nur wirklich wahr war, was das Bäbbchen ihr gesagt hatte?! Wart, wenn die gelogen hätte, die sollte fühlen, was Prügel sind!

Aber die hatte ja nicht gelogen, zugeschworen hatte die es ihr, anvertraut nach hochheiligem Schwur und Handschlag, das sie selber schon einmal dort gewesen sei. Gott sei gelobt und die Gebenedeite auf dem höchsten Thron! Was sollten denn auch sonst wohl die armen Mädchen anfangen? Ihr ganzes Leben hat sonst so eine verspielt; und kriegt sie trotzdem doch noch einen Mann, und ist der auch noch so umgänglich, vorgeworfen kriegt sie's am Ende doch, nicht nur im Streit, auch schon, wenn er nicht guter Laune ist!

Sie faltete krampfhaft die Hände und bewegte murmelnd die Lippen: »Gegrüßet seist du, Maria, Gebenedeite unter den Weibern« – –

Beten, nur beten, fleißig beten dabei! Ammei fühlte das Bedürfnis, sich des Beistands der gesegneten Jungfrau zu versichern. Und sie betete. Aber ruhiger wurde sie nicht dadurch. Sie ärgerte sich über ihre Schreckhaftigkeit; der eigene trappsende Schritt auf der steinernen Härte der Chaussee flößte ihr Furcht ein. Immer wieder blickte sie scheu zurück: folgte ihr nicht jemand? Aber nur die mächtige Ley dräute ihr finster im Rücken. Warum ihr das Herz nur so pochte? So wild hatte es ja nicht einmal gepocht, als die erste, die schreckliche Ahnung in ihr aufgedämmert war. Und jetzt stand es gar still in eisigem Schreck.

»Huhuh!«

So hatte es ja nicht einmal still gestanden, als sie – nach durchwachter Nacht – beim Morgengrauen im Bett aufgesessen und mit verweinten Augen sich ihres Unglücks wirklich und wahrhaftig bewußt geworden war.

»Huhuh – huhuh!«

Schon wieder?! »Jessesmaria!«

Das immer rascher dahinschreitende Mädchen schlug zitternd ein Kreuz. Wie graulich die Käuzchen schrieen! Nicht bloß eines, nein, ihrer drei, vier; rechts, links, vorn und hinten.

Sie waren von der Ley herabgeflattert und wischten nun mit lautlosem Flug durch die Bäume der Straße.

Was wollten die Unglücksvögel? So jammern sie doch sonst nur, wenn sie den Tod ansagen! Sollte, mußte einer sterben? Und wer denn, wer?!

»Huhuh – huhuh – huhuh!«

Nein, das war nicht mehr anzuhören! Ammei glaubte den unhörbaren Flügelschlag schon gespenstisch an ihrem Gesicht zu fühlen; unerträglich wimmerte der unheimliche Ruf. Eisige Schauer liefen ihr über den Leib. Sie vergaß das Kreuzschlagen. Sich die Ohren zuhaltend, rannte sie davon, wie auf der Flucht, im Trab hinunter zu Tal.

*

Das Bädchen lag in tiefer Ruhe. Die schönen Villen an seinem Eingang hatten die Läden fest vorgelegt; auch aus den Dorfhäuschen, die sich in einer gestreckten Linie durchs schmale Tal ziehen, schimmerte kein Licht. Sie alle, die darin wohnten, hatten sich während der Saison weidlich plagen müssen; nun waren die letzten Fremden des Herbstes entflohen, und sie dämmerten allmählich in den Winterschlaf hinüber. Zudem war's jetzt Nacht.

Das verstörte, scheu um sich blickende Mädchen, das jetzt durch die Gasse huschte, brauchte kein neugieriges Auge zu befürchten. Wie ausgestorben, wie verzaubert lag der kleine Ort im Mondenschein. Auf dem spitzen Dach der Kirche, die, stattlich, ein wenig erhöht, den Flecken beherrscht, glitzerte jeder Schiefer gleich einem Riesendiamant. Auch das Wasser des Wildbachs glitzerte; aus den Kaskaden, in denen er dahinrollte, sprühten tausend Brillanten. Schwer lag der versilbernde Reif der Herbstnacht auf den braunen Blättern der Bäume, und der Bergwald, der zwischen Häusern und Kirche hereinlugte, zeigte um seine runden Buchenkronen eine schimmernde Aureole.

Das einzig Dunkle im silberbeschütteten Nest war die Gestalt, die, ins Tuch vermummt, als schwarzer Schatten flüchtig dahineilte.

Gelobt sei die heilige Schutzpatronin! Aufatmend drückt Ammei die Faust gegen das heftig pochende Herz. Jetzt war's bald geschafft, die Straße zu Ende, deren gedrängte Häuser zu passieren, ihr das schwerste gedäucht hatte. Nun links herum!

›Linksom,‹ hatte das Bäbb gesagt, ›on dann ebbes dän Berg eruf, on dann bei der grußen Kerch rechtsom. On lao stieht die Filla, dau kanns net fehlen. On dann giehste bei't Gitter, on kuckst, ob dat Dührche offe stieht, on wann et eweil net offe stieht, dann steigste öwer dat Gitter. Noren Kurasch, dau wills ja net stehlen!‹ So hatte das Bäbb gesprochen; aber mitkommen hatte sie nicht gewollt, obgleich die Kameradin sie vielmals gebeten hatte.

Nun, soweit war ja alles nach Vorschrift gegangen – linksum – rechtsum – da war die Villa! Aber die Courage fehlte.

Da war das Gitter – da war der Garten, der den Hang hinauf grünt – da war der Rasenplatz – und da, ganz nah, mitten im vollsten Mondesglanz, er, um deswillen sie hierhergeeilt war in Bangen und Hoffen, in Fürchten und Glauben – er, der Baum, der lebendig bleibt im Winter wie im Sommer, er, der ins Eifelland gekommen war von Gott weiß woher!

Dort stand er, ein wenig erhöht auf silberhellem Rasen – kein Busch, kein anderer Baum rundum – und reckte seine nach oben gerichteten Äste, die nicht Blätter, nicht Nadeln tragen, deren tiefes Dunkel das Licht nicht erhellte, schwarz und unbeweglich gegen die blanke Mondscheibe.

Heftig atmend, die Brust gegen das trennende Gitter gepreßt, stand Ammei und stierte und starrte.

Ah, der Baum! Wer davon trank, von seinen Zweigen einen Tee kochte – schwärzlich sollte der aussehen und bitterer schmecken als Galle und langsam durch die Kehle rinnen, klebrig wie Tannenharz – wer davon trank, wacker den bitteren Trank nicht scheute, der wurde der Last ledig.

›Fürwaohr on enklich, bei meiner ewigen Säligkaat, esu es et,‹ hatte das Bäbb geschworen.

Der Last ledig – – –!

Ammei streckte begehrlich die Hände aus und maß mit prüfendem Blick das den Garten abschließende Eisenstaket. Das Pförtchen war geschlossen, aber hoch war das Gitter ja nicht, da traute sie sich leicht hinüberzukommen. Und doch hob sie noch nicht den Fuß, um einen Stützpunkt zu suchen zum Hinüberklettern, – vor ihren Ohren wimmerte wieder der Käuzchenschrei, jener klagende Ruf des Totenvogels. Horch – wer sollte sterben, wer?!

Die Zähne schlugen der Einsamen aufeinander. Durch die Nacht, von irgendwoher – kam es vom Himmel, aus der Erde hervor, mit dem Nachtwind vom Bergwald, empor aus dem Wildbach? – drang ein Weinen, ganz leise.

Dem abergläubischen Mädchen sträubten sich die Haare. Huh, wer weinte da?! Alle Spukgeschichten, die es jemals gehört hatte, fielen ihm ein. Jesus, da drüben im Bergwald, da, wo die Leyen wie Fratzen über die Buchenkronen ragen, da, wo der große Suterwald anfängt, da hauste der Sutermichel! Da ging er um. Der konnte die Stimme verstellen, weinen wie ein hilfloses Kind – nur nicht auf den hören!

Wie vorhin beim Käuzchenschrei, so hielt sich Ammei die Ohren zu und kniff auch die Augen zu in einer großen Angst. Sie fühlte, wie aus ihren Wangen alles Blut entwich. Sie wollte wieder beten und konnte nicht, wollte wenigstens ein Kreuz schlagen, aber auch das konnte sie nicht; nur so viel Kraft hatte sie übrig, um mit ihren eiskalten Händen das Gitter zu umklammern. Sie hielt sich daran fest, denn ihr schwindelte.

Durch die dumpfe Leere ihres armen Kopfes schossen schauerliche Vorstellungen in überwältigendem Gedränge: wenn der Sutermichel nun kam, wenn er sie packte?! Horch, das Wehen! Vom Bergwald herunter pustete wer! Die Blätter zitterten vor Angst. Jesus Maria, nur fortlaufen, rasch! Aber nein, nein, sie mußte ja bleiben – vom Baum pflücken, vom Baume!

Mit aller Willenskraft die Augen aufreißend, suchte Ammei dessen tröstenden Anblick. Und wie sie ihn so recht ins Auge faßte, schwand plötzlich der Spuk und auch ihre Angst. Jetzt hätte sie lachen mögen: so einfältig war's, sich zu fürchten! Vor was denn? Nun war sie ja hier am ersehnten Ort, hier stand ja der Baum, der nicht seinesgleichen hatte im Eifelland – gepriesen sei er! Schnell hin und gepflückt, von den Zweigen ins Körbchen gesammelt, und dann geschwind heimgelaufen, den Tee gekocht und – hei – getrunken!

In einem plötzlichen Entschluß, wie angefeuert zu Mut und Tatkraft, packte Anna Maria Katzvey das Gitter fester, gab sich einen Ruck, einen Schwung – plumps – da lag sie, schwer wie ein Mehlsack, jenseits auf dem Gartengrund. Aber sie hatte sich nicht wehgetan; wohlgemut stand sie auf und ging rasch, mit federnden Schritten, auf den Baum los.

Sie zitterte vor Freude: jetzt, jetzt, hatte sie ihn! Nah, schon ganz nah war ihr der schlanke Stamm, der sich tannengerade ins Mondlicht reckte, nur die Hände brauchte sie auszustrecken – so! Zu greifen – o weh! Ihr Arm war nicht lang genug. Ein gut Stück über ihrem Kopf fingen erst die untersten Äste an. Die hatten ursprünglich viel weiter hinabgereicht, aber – abgeschnitten, abgeknickt, abgerissen fehlten sie jetzt alle, alle! Nur dürr herausstehende Stümpfchen zeigten an, wo sie einst gewesen waren.

Mit offenem Mund starrte das enttäuschte Mädchen. Und dann machte es einen Sprung, tölpisch in Hast und Ungestüm, und dann noch einen und noch einen höheren. Ein derbes Schimpfwort drängte sich durch die zusammengebissenen Zähne, ein verzweifeltes ›Jessmarijusep‹ folgte.

Aber unerreicht blieben die untersten Äste des Lebensbaumes; in seltener Höhe hob sich die Zypresse und ließ um ihren zugespitzten Wipfel das Mondlicht zittern.

Sprünge folgten auf Sprünge. Die haltenden Nadeln, der Pfeil flogen aus Ammeis Haar, die Zöpfe fielen lang über den Rücken und hupften mit bei jeglichem Sprung. Bald lösten sich Strähnen. Die Röcke flatterten.

Das war ein Keuchen und Jappen, ein Recken und auf die Zehen heben, ein Langen und Haschen und Greifen und doch in die leere Luft Fassen. Aus der Sehnsucht war die Gier geworden: sie mußte vom Baume haben, sie mußte!

Wild sah sich Ammei um. Aber ihr Blick galt nicht der weißen Villa, von der aus der Wächter, der Haus und Garten behütete, nun die Herrschaft wieder in der Stadt war, sie gut hätte sehen können; er galt auch nicht dem Weg, den, das Gitter entlang, ein spät aus dem Wirtshaus Heimgehender leicht passieren konnte. Sie horchte nicht wie vordem ängstlich auf jedes Geräusch, hörte weder das Rufen der Käuzchen, noch das leise Weinen, noch das mahnende Wehen vom Bergwald – sie sah, hörte, fühlte, begehrte nur: vom Baume.

Schweiß und Tränen liefen über das erhitzte Mädchengesicht.

»Hilf, Maria, Benedeite, hilf! Verflixter Baum, vermaledeiter Baum, ech ruppen dech kurz on klein, ech schlaon dech kapores!«

Wütend packte sie den Stamm und rüttelte ihn, aber kein einziges Zweiglein starren Grüns fiel herab, und die zähen Wurzeln hafteten wie mit Eisen festgeklammert im Erdreich.

Da gab sie das Rütteln auf und das Hämmern mit den Fäusten gegen seine Rinde. Auf die Kniee sinkend hob sie flehend die Hände:

»O du heilige Jungfrau, Gebenedeite unter den Weibern und gebenedeit die Frucht deines Leibes – laoß e Blättche nidderfaalen! Noren eins, noren ein einzig Blättche, ech bitten dech!«

Aber kein Blättchen fiel. Wohl aber fiel Tau – gleich Tränen – schwer und hörbar niedertropfend, auf die Kreatur.

Langsam rutschte der Mond tiefer auf seiner Bahn; dumpfe Schläge der Kirchenuhr dröhnten durch die Mitternacht. Da ließ sich plötzlich ein behutsamer Tritt vernehmen. Und nun noch einer! Trippelnde leichte Mädchenschritte waren es.

Die am Stamm der Zypresse in tiefer Niedergeschlagenheit Kauernde hörte sie nicht, sah nicht, daß jemand nahte. Auch sie ward nicht gesehen; über ihre Gestalt hinweg hefteten sich wiederum begehrliche Blicke auf den hilfreichen Baum.

Zwei Mädchen standen jetzt am Gitter: eine hübsche Schlanke und eine, deren noch nicht bis zu den Knöcheln reichendes Röckchen und das vom runden Kamm zurückgehaltene, kurzverschnittene Haar die kaum Halbwüchsige verrieten.

Die Augen in dem runden Kindergesicht funkelten. Das war ein Spaß! Gestern schon war sie hergeschlichen, um für die große Schwester vom Baume zu holen, aber wenn sie, die Luzia, auch gut klettern konnte, bis ans Grün war sie doch nicht hinauf gekommen. Immer wieder war sie den Stamm hinuntergerutscht. Aber heut würde es glücken – hurra – heut hatten sie ja eine Leiter!

»Helf mer doch, helf mer doch,« wisperte die Große ungeduldig und lud sich die Leiter auf den Rücken. Sie lupften beide. Und die Kleine überlegte dabei: warum eigentlich die Lisa nur durchaus und durchum von dem Lebensbaum haben mußte?! Wollte sie einen Kranz davon winden, vielleicht für ein Grab? O je, darum brauchten sie doch nicht so heimlich zu schleichen!

»Lisa, saog ehs, en Tee willste dervon kochen, es't waohr? Für wat dann? Lisa, saog!«

Aber die große Schwester fuhr sie an: »Biste still!«

Und dann mühten sie sich. Geschwind genug rutschte die Leiter übers Gitter, aber trotz aller Vorsicht rumpelten die Holzsprossen auf den Eisenstäben.

Ammei unterm Baum horchte auf: wer, wer war da?! Und jetzt merkte sie's: ei, da waren ihrer zwei mit einer Leiter! Die wollten wohl auch vom Baume?!

»Hä!« Sie richtete sich schnell auf.

Mit einem unterdrückten Kreischen wichen die Schwestern zurück und ließen ihre Leiter fallen; aber nur im ersten Schreck, denn als die große Lisa die so störend Aufgetauchte näher ins Auge gefaßt hatte, huschte ein pfiffiges Lächeln um ihren Mund: aha, auch eine! Ei, vor der brauchte man keine Angst zu haben!

Ungeniert machte sie sich daran, ihre Leiter zu richten. Die Kleine kroch behend hinauf, während sie die auf abschüssigem Sand rutschende Leiter hielt.

Ammei stand dabei mit gierenden Blicken. Nun streckte sie die Hände aus – ah, ein Zweiglein fiel, und noch eins, und noch eins!

Die Kleine oben verstand wacker zu rupfen. Jetzt – hei! – jetzt fiel ein ganzer Strauß nieder. Wie die Wilden stürzten beide Mädchen drüber her. Lisa vergaß die rutschende Leiter, Ammei ihre Scheu. Beide rafften und rafften. Heiß vom vielen Bücken und mit hochwogender Brust standen sie sich dann gegenüber.

»Haste eweil genug?« fragte Lisa.

Und Ammei antwortete, nach einem befriedigten Blick auf ihr bis zum Rande gefülltes Körbchen: »Jeses, dat waor äwer gescheid, ihr Mädercher, dat ihr en Leiter gehaot hatt!«

Und dann von einem lebhaften Dankgefühl bewegt – was hätte sie machen sollen, wären die nicht gekommen?! – streckte sie die Hand hin: »Seid aach villmals bedankt!«

»Kein Ursach!« Und dann pfiff die große der kleinen Schwester: »Komm eweil erunner, Zeih! Mir haon des eweil genug! Laosse mir dän annern aach noch ebbes üwrig!«

»Dän annern?!« Ammei riß die Augen auf, sie war erstaunt: begehrten denn noch viele andere vom Baume?!

»Olau!« Die hübsche Lisa lachte. »Duh sein derer mieh, als mer denkt! Net bloß hei zu Land – wat zweifelste? – nä, üwerall! Ech haon als des Grün nach der Stadt geschickt an en Bekannte, on widder an en Bekannte von der – ech saon der: dat hei gedrunk, es dausendmaol besser, als all die annren Middelcher, die gebraucht gänn!«

»Maanste, maanste wirklich?«

»Ech schwören druf!«

Da fing Ammei, angesteckt von der heiteren Zuversicht der anderen, sich an zu freuen. Vergnügt wurde sie und zutraulich.

Flüsternd kamen sie beide ins Schwatzen, und die Halbwüchsige, die derweil vom Baum herabgeklettert war, stand dabei und hörte zu mit neugierig gespitzten Ohren. Sie hätten wohl noch länger geschwatzt, aber ein Geräusch störte sie. Es kam nicht aus der Villa, auch war es nicht das Knurren eines Hundes. Ein unterdrücktes Schluchzen war's, und ein Seufzen, in der Stille der Nacht schon von weitem vernehmlich. Und dann ein mahnendes ›S-st-‹ und ein ungeduldig flüsterndes Zureden.

Noch war niemand zu erspähen – aber jetzt!

Um die Ecke des Gäßchens bog ein Paar: ein Bursche und eine Frauensperson. Er zog sie, und sie widerstrebte und schluchzte dabei aus tiefster Seele. Aber sie ließ sich doch ziehen. Stracks kamen sie auf den Garten zu.

»Hau,« wisperte Lisa und drückte sich hinter den Baum, »die kommen heihin. Ech kennen se net – se sein net von hei – äwer ech möchten doch net in dem Mannsbild sei Maul. Zeih, wit, wit! Eweil gitt et strawätzt!« Und die jüngere Schwester mit sich reißend und ihre Leiter im Stich lassend, huschte Lisa davon, mit der Örtlichkeit wohl vertraut, rasch hinter den Büschen des Gartens verschwindend.

Ammei stand verdutzt: was, wie? Kam denn die ganze Welt heut zum Baume?!

Überall glaubte sie Wispern zu vernehmen und schleichende Tritte von allen Seiten. Unwillkürlich gab auch sie Fersengeld. Mit einem Anlauf sich über das Gitter schwingend, setzte sie an dem erschrockenen Liebespaar vorüber und jagte davon wie ein Wild, das ein Schuß geschreckt hat.

Erst als sie gänzlich zum Ort hinaus war, hielt sie an. Ihren Korb mit den Zweigen fest an die keuchende Brust pressend, sandte sie einen triumphierenden Blick rundum:

»Heilige Maria, Moddergotts, Königin der Jungfrauen auf dem höchsten Thron – eweil gänn ech et quitt! Gelowt seiste!«

*

Schon seit Menschengedenken geht in der Gegend die Sage vom Lebensbaum, von der wunderwirkenden Zypresse im Garten der weißen Villa. Aber nicht immer hilft der erlösende Trank; das mußte auch die Katzvey erfahren. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie's begriff, daß bei ihr das Mittel nicht angeschlagen hatte. Längst zeigten die Leute mit Fingern auf sie, da hoffte sie immer noch – hatte sie sich denn von dem abscheulichen Getränk nicht literweise hinabgezwungen, und waren die Zweige zum Tee nicht in hellster Vollmondnacht gepflückt, wodurch der ganz besonders wirksam werden sollte?!

Ach, nun mußte sie sich's endlich eingestehn, daß ihr der Baum nicht geholfen hatte, denn – das Kind war da.

Ein kräftiger Junge war es, der die dünnen Wände der baufälligen Hütte so durchdringend anschrie, daß er nicht zu verheimlichen war. Die Tant' machte zwar zornig: ›Ksch, ksch‹ und bündelte ihn so fest ins Kissen, daß ihm bald der Odem ausging, aber es half nichts, der unerwünschte Gast schrie um so lauter.

Die junge Mutter, die blaß und elend im Bette lag, drehte sich ächzend nach der Wand. Sie mochte das Kind nicht sehen, – nein, nein! Als die Tant' ihr's hingehalten hatte: »Hei haste dän Bankert,« hatte sie es weggestoßen mit letzter Kraft: was ging es sie an?! Sie hätte sich die Ohren verstopfen mögen und den Quell ihrer Brust auch – mochte es krepieren! Und war's nicht das beste, es ging rasch aus der Welt, in die es zu rasch gekommen war?!

Wilde Gedanken durchjagten den Kopf der Wöchnerin. In der Nacht lag sie wie im Fieber. Da sah sie die heilige Jungfrau am Bette stehen; zärtlich blickte die auf das wächserne Jesuskind in ihrem Arm. Aber dann verfinsterte sich plötzlich ihr Gesicht, und sie hob den Finger gegen das Bett – drohte die Heilige?!

In rastloser Unruhe ächzte die Wöchnerin und schlug um sich; das Kind an ihrer Seite schrie gellend, und die Alte humpelte scheltend und verdrossen durch die unwirtliche Stube. – – –

Der kleine Junge – Ambrosius wurde er getauft nach dem Apriltag, an dem er geboren war – schrie noch oft, denn seine Mutter entwöhnte ihn bald, und das Läppchen mit gekautem Brot und ein wenig Zucker, das ihm die Tant' in den Mund stopfte, ersetzte ihm nicht die Muttermilch.

Schon zum Mai war Ammei hinunter ins Bad gezogen. Sie hatte sich vermietet, obgleich ihre Füße noch dick geschwollen waren und so weh taten, daß sie oft kaum gehen konnte. Und sie mußte doch gehen, sogar laufen, treppauf, treppab, den ganzen Tag. Das Haus war voll besetzt, bis unters Dach wohnten die Fremden; und die Küche war unten im Kellergeschoß. Ammei weinte oft nachts in ihrer Kammer vor Schmerz und vor Wut über das böse Andenken, das ihr der Balg hinterlassen hatte.

Kam kaum die Sonne über die Waldberge herauf, so hieß es: Stiefel putzen, Kleider bürsten, Wasser schleppen – jetzt zum Brunnenhaus laufen, um den ersten Becher der Quelle für die Herrschaften holen – jetzt zum Bäcker nach Frühstücksbrot eilen – jetzt zur Post rennen, denn die Gäste verlangten ihre Briefschaften beim Morgenkaffee – jetzt in der Küche Kartoffeln schälen, Gemüse putzen und Feuerung zutragen, Teller abwaschen und Spülwasser ausschütten, und dieses und jenes, und wenn am Abend alle andren zur Ruhe waren, dann mußten die Flure gekehrt und die Treppen gescheuert werden. Und wenn die Herrschaften dann endlich abreisten, war das Trinkgeld doch nicht halb so groß als die Mühe gewesen war; das Stubenmädchen freilich hatte sich nicht zu beklagen, aber den Laufpudel, den bäurischen Ungeschick, hatte niemand für voll angesehen. Dann weinte Ammei wieder und zählte die Markstücke und fluchte dem Balg, für den sie ihr sauer erworbenes Geld nun heimschicken sollte. Gern hätte sie etwas davon zurückbehalten, aber die Alte ließ nicht locker, die preßte ihr den letzten Groschen aus. Wenn sie nicht jeden Monat schickte, gleich kam ein Brief, den die Tant' dem Lehrer diktiert, oder sie kam gar selber hinunter ins Bad, – ei, da konnte sie noch wacker laufen! – spürte der Nichte nach bis in die Küche und machte ihr da ein beschämendes Aufgebot. Bald war dieses, bald jenes für das Kind nötig – immer für das Kind – mußte denn der Balg es haben wie ein Prinz?!

Verdrossen schlorrte Ammei eines Sonntags, Ende der Saison, hinauf in ihr Dorf. Sie wollte auch fürder drunten im Bad bleiben – die Madam war zufrieden mit ihr und konnte sie auch Winters gebrauchen – so wollte sie nur, ehe der erste Schnee kam, noch einmal nach dem Kinde schauen.

Zur Rechten dräute die schwarze Ley; tief zur Linken donnerte der Wildbach in den Schluchten. Vom Plateau herunter schnob der herbstliche Eifelwind, fuhr über die Ebereschen am Chausseerand, über die Herbstzeitlosen, deren Blaßlila noch die Matten bestickte, und stöberte der die mächtigen Kehren der Bergstraße schwerfällig Hinansteigenden in Haar und Röcken.

Ammei maulte. Der Weg war ihr lästig und viel zu weit; eine Stunde schon war sie gegangen und eine Stunde noch hatte sie vor sich. Wie ungetrost! Die anderen Mädchen unten im Bad machten sich jetzt die freiere Zeit zunutze und zogen auf den Tanzboden, derweil sie hier rennen mußte. Ein schönes Pläsier das! Und dann oben die gierige Alte und der quäkende Balg!

Sie war so ingrimmig, daß sie ganz vergaß, ihr grünwollenes Kleid, das einzige bessere, das sie besaß – wie soll man sich denn auch etwas Neues schaffen, wenn man alles, jeden Pfennig, hergeben muß? – sorgfältig zu raffen. Sie vergaß sogar, dem Heiligenbild unter dem Schutzdächelchen einen Knix zu machen. Die Brauen finster zusammengezogen, die niedrige Stirn voll krauser Falten, stieg sie bergan.

Sie brauchte mehr denn zwei Stunden, – ihre Füße schmerzten unerträglich – bis sie zu der vom Herbstnebel eingefeuchteten, unter dem verwitterten Strohdach schief zusammengesunkenen Hütte gelangte.

Die Tant' hatte den Besuch nicht geahnt; sie lag im Bett fest zugedeckt und schnarchte und hörte ebensowenig, daß der Säugling in seinen nassen Windeln sich heiser schrie, als daß sie's merkte, wie die Nichte jetzt in der Stube herumstöberte, die leere Flasche von verdächtigem Aussehen auf dem Tisch entdeckte, die Krumen von Rosinenwecken und die Düten Kaffee und Zucker und das süße Schmierchen im Schrank.

Dem Mädchen war das Blut siedend zu Kopf geschossen: also dafür gab sie ihr schönes Geld her, daß die Tant' schlemmte und schleckerte und sich's so wohl sein ließ, wie noch nie in ihrem Leben?! Wo war denn die Milch für das Kind? In keinem Topf ein Tröpfchen. Und das Wurm war so fest eingebündelt zum Ersticken. Der Zulp war ihm aus dem Munde gefallen, vergebens suchte und suchte die kleine Zunge. Ganz trocken war die Kehle, immer heiserer wurde das Geschrei und vor Ermattung leiser.

Ammei stand bei der alten Holzwiege und guckte trotzig-finster auf das Bündel – mochte es quäken, was ging's sie an?! Aber dann überkam sie der Zorn: Kotzdonner, wenn sie denn schon alles abgeben mußte, sollte die alte Hexe wenigstens nicht allein Gutes davon haben! Und mit starkem Schritt trappste sie zum Bett und packte die Schnarchende am Arm. Aber kein Rütteln half, die war nicht zu ermuntern. – – –

Als die Tant' endlich, gegen den Abenddämmer erwachend, sich die Augen rieb, sah sie beim Tisch ihre Nichte sitzen und – ganz blöd vor Verwunderung glotzte sie drein – die hatte das Kind auf ihrem Schoß. Es war aufgebündelt, strampelte mit Armen und Beinen und grahlte satt-vergnügt. Auf dem Tisch stand statt der Schnapsflasche eine geleerte Milchflasche.

»Jesses, Ammei, dau bis' et?«

Da packte die rasch das Kind zusammen und warf es ziemlich unsanft in die Wiege zurück.

»Net waohr, e lief Ditzche, e prächtig Könd, e wunnerschien Jüngelche!« hub die verdutzte Alte an zu schmeicheln; sie wußte nicht recht, wie sie daran war, die Nichte machte ein so seltsames Gesicht. »Ech haon eweil e bißche geschlaof!« Und dann fing sie an zu winseln: »O Jesses, dat Jüngelche, dat haot geschrien de ganz letzt Naacht, mer konnt' ken Aug derbei zuduhn. Ech haon't alsfort erum drage müsse, von Aowends bis Morjens. De Ärm sein mer wie ahfgeschlaon – autsch, mei Kreiz, uije! – ech graulen schuns, wann hän de Zähn micht!« Sie warf rasch einen ängstlich lauernden Blick auf das Mädchen – hatte die die Schnapsflasche bemerkt und die Kuchenkrümel? 's war aus der Ammei nicht klug zu werden!

Aber jetzt fuhr die los: »Haal bei Maul!« Und begann dann ein Schelten, ein vorwurfsvolles Räsonieren, daß die Wände widerhallten.

Die erst bestürzte, aber dann rasch gefaßte Alte blieb kein Wort schuldig. Was, ihr noch Vorwürfe machen?! Und sie sollte sich das gefallen lassen, sie, von so einer Vettel? Auf den Knieen mußte ihr die Nichte danken. War's etwa ein Pläsier, den greinenden Balg herumzuschleppen die ganze Nacht? Immer wollte der's Maul gestopft haben, ein Fresser war der, zwanzigmal mußte man ihm Milch warm machen. Und all die andre Unbequemlichkeit! Und dazu noch anhören müssen, was die Leute skandalierten!

»Dao, hol der dein' Bankert eweil noren met,« schrie sie zum Schluß. »Ech sein net verläjen drum, ech haon hän saat!«

Sie machte Anstalt, das Kind einzupacken.

Da bekam Ammei einen großen Schreck. Was sollte sie mit dem Kinde anfangen, wohin mit ihm?! Jesus Maria! Sie fing an einzulenken; und als das Weib schlau zurückhielt, legte sie sich aufs Bitten, gab hundert gute Worte und noch dazu, was sie an Groschen in der Tasche hatte.

Leidlich versöhnt und um Christi willen, ließ sich dann endlich die Alte herab, den Jungen noch einmal zu behalten. –

Der Abend dunkelte schon, als Ammei auf dem Rückwege war. Heute war's keine Mondnacht wie dazumal, wie stark vor einem Jahr, als sie desselben Weges gegangen war. Damals hatte sie doch wenigstens noch eine Hoffnung gehabt, aber auch die hatte sie jetzt nicht mehr. Der Junge war urkräftig, der sah nicht aus, als ob er eingehen würde!

Und sie fing an zu schnüffeln, sich mit dem Handrücken unter der Nase her zu wischen und mit den Augen zu zwinkern, bis salzige Tropfen, die sich nicht mehr zurückhalten ließen, über ihre Wangen kullerten. Ei, das war ein vergnüglicher Sonntag gewesen! Und so würde noch mancher folgen – keine Erholung, kein Pläsier – immer dieser gleiche Weg, recht ein Stationsweg, das Kreuz auf dem Buckel, denn – –

Sie stutzte plötzlich, stand still und streckte den Kopf vor, wie horchend – das Kind greinte doch gar zu sehr! Wer weiß, wenn die Mutter nicht nachsah, ließ die Tant' das gar verkommen?!

In dieser Nacht konnte Ammei, obgleich zu Tod müde, doch keinen Schlaf finden, die Füße taten ihr gar zu weh. Und dann war da noch etwas anderes, was sie wach hielt. –

Von jetzt ab ging das Mädchen fast jedesmal, wenn es seinen freien Sonntag hatte, hinauf ins Heimatsdorf. Es waren schwere Wege in Novemberregen und Wintergraus. Der Wind heulte und stemmte sich der einsamen Wanderin entgegen, auf dem Plateau noch unendlich viel widriger als auf den Kehren der aus dem Tal steigenden Straße; oft war oben kaum weiter zu kommen. Und die Rückkehr war nicht minder schwierig; dann jagte der brausende Atem des Winters die Frauengestalt vor sich her, blähte das Tuch wie ein Segel und blies durch den Rock, als sei der dünnes Papier.

Aber der Junge fing jetzt an, sie zu kennen. Er lachte, wenn er sie sah, und gab sie sein Lachen auch nicht zurück, sondern blickte finster und unbewegt – er lachte doch. Und wenn sie ihr Körbchen vom Arm tat und es auspackte, paßte er schon auf. Seine Äugelchen, schwarz wie blanke Beeren, glitzerten umher und folgten jeder Bewegung ihrer Hände. Seine kleine Zunge leckte; er krähte hell auf, wenn er den mitgebrachten Wecken erblickte. – –

*

Nun war der Ambrosius schon ein Jahr alt. Fast den ganzen Februar und den ganzen März hatte Ammei ihn nicht besuchen können, denn Schnee war gefallen aufs Eifelland und hatte die Straßen verschüttet.

Die großen Kehren waren unpassierbar geworden, weiße Mauern hatten sich geschichtet; selbst die schwarze Ley trug ein weißes Haupt, und ihre düsteren Flanken, an deren Steile keine Handvoll Erde Platz hat, zeigten sich jetzt weißbepudert. Undurchdringlich, kalt-grau lastete der Himmel. Halb vereist schlief der Bach in den Schluchten, bis plötzlich über Nacht der Tauwind wehte, mit dem April auch die Sonne wiederkam und das Winterkleid vollends löste, an dem schon Regengüsse gelockert hatten. Ein verwaschnes Blau zeigte sich über den Höhen, in einem lichten Band schlang es sich durchs Wintergrau; ein wenig mehr Sonne noch, ein wenig mehr Wind noch, und die Wolken flohen wie gescheuchte Schafe, breiter wurde das blaue Band und immer breiter.

Die von Tauwasser übergossnen Kehren der Bergstraße hinan schritt Ammei. Das grüne Kleid hochgeschürzt, holte sie weit aus; ihre nägelbeschlagenen Schuhe trappsten. Heute eilte sie; in ihrem Körbchen trug sie einen Hanswurst von bunter Wolle und heute zwei Wecken für den Ambros – sie hatte ihn ja acht Wochen nicht gesehen!

Ihr Gesicht, das sonst immer den gleich stumpfen, nicht frohen, nicht traurigen Ausdruck trug, schien heute ein wenig geklärter. Machte das der Himmel, der so intensiv blaute? Die Frühnachmittagssonne, die wohlig warm, förmlich heiß an der Felswand niederfloß? Das Schirpen der Spatzen, das Zwitschern der rotbrüstigen Blutfinken, das Steigen des Saftes in den Weidenbüschen und das Blühen der gelbbestäubten Kätzchen? Oder die Aussicht auf das Trinkgeld, das die Fremden nun bald wieder ins Bad bringen würden?

Ihre von der scharfen Luft aufgesprungenen Lippen zum Pfeifen spitzend, blinzelte Ammei angestrengt in die helle Weite. Bald würde sie die Höhe des Plateaus erreicht haben, dann ging's noch rascher auf ebenerem Weg, dann war sie bald da, dann konnte der Ambros krähen! Heut mußte er zweimal krähen, denn sie würde ihm zuerst einen Wecken zeigen und dann den zweiten! Und was würde er erst zu dem Hanswurst sagen?!

Auf des Mädchens Wangen fingen an Rosen aufzublühen vom schnellen Gang. Heute schmerzten die Füße nicht halb so wie sonst; es schien doch, daß die besser wurden mit der Zeit. Die Tant' war nicht vorbereitet auf den Besuch – ei, das war ganz gut, wenn die einmal wieder überrascht wurde!

Eine plötzliche Unruhe ergriff Ammei – es würde doch oben alles wohlbehalten sein?!

Sie beschleunigte ihren Schritt noch mehr, und so – erfrischt von der kristallklaren Bergbrise, angeregt vom Hauch des nahenden Frühlings – fühlte sie heute ihre Last weniger. Sie lief geschwind, bald pochte sie an der Hüttentür.

Natürlich, die Alte nicht daheim! Aber drinnen wieder Kinderweinen!

Als sie hastig eintrat, fand sie die Stube gänzlich ungeheizt, noch voll von Winterkälte und Winterfeuchte. Kein Strahl der Frühlingssonne drang durch das blinde Fensterchen. Aus der Helle kommend, mußte man erst das Auge an die dumpfige Dunkelheit gewöhnen.

Mitten auf dem nackten, eiskalten Estrich, im dünnen Kattunkittel, ohne Hemd, ohne Windel, saß das Kind. Sein Gesichtchen starrte von allerlei Schmutz; aus der Stumpfnase liefen zwei Bächelchen, und das blonde, sonst so flaumige Köpfchen war von einem eiternden Grind bedeckt.

O je, wie sah es aus! War das wirklich ihr hübsches Jüngelchen?! Blaß und rot werdend, kauerte sich Ammei neben ihm nieder.

Da hörte es plötzlich auf zu weinen und mit den klebrigen Fäustchen sich die Augen zu reiben; die schwarzen Beeren, das einzig Blanke in dem verkommenen Gesichtchen, fingen an zu lachen. Und nun lachte auch der eben noch im Weinen verzogene Mund; vier feste weiße Zähnchen – oben zwei, unten zwei – wurden sichtbar. Und nun fing Ambrosius an zu kriechen, blitzgeschwind auf allen Vieren, hin nach dem Körbchen, das die Mutter niedergestellt hatte. Und als diese den ersten Wecken vorholte, krähte er, und als sie den zweiten zeigte, patschte er in die Händchen und sagte ganz deutlich:

»Mamma!«

Da ließ sich Ammei auf den Schemel am Tisch fallen, wie plötzlich schwach geworden, richtete die überströmenden Augen auf ihr Kind und starrte es unverwandt an.

*

Als Ammei heute, später denn sonst, die Kehren der Bergstraße niederstieg, brauste es in ihrer Seele wie unten in dem nun vom Eis befreiten, hochgeschwellten, frühlingsstürmischen Bach. Es wogte in ihr hin und her: Freud und Leid, Wunsch und Bedenken. Aber ein Entschluß rang sich durch, kraftvoll wie der Tauwind, der alle Schlacken schmutzigen Schnees in den Absturz treibt – sie nahm ihr Kind zu sich!

Während der Saison würde sie es ja noch oben lassen müssen, aber dann – nein, keine Stunde dann länger! Pfui, die Tant'! Wie kann man ein so hilfloses Wurm so vergessen?! Die Nachbarin hatte ihr's verraten: nicht nur heute, da die Weiber des Dorfes Kindtaufe feiern gegangen waren beim Schäfer'sch Josef, am letzten Ende des Orts, nein, auch sonst hockte die Alte überall auf den Ofenbänken herum, klatschte bald hier, bald dort, machte sich ein Gewerbe daraus, umherzulungern, oder holte sich ›des Doppelkorn‹ aus dem Wirtshaus, daß sie dalag wie tot und noch zwei Tage nicht klar aus den Augen sehen konnte. Und der Schmutz in der Hütte – pfui!

Früher hatte Ammei den nicht bemerkt; jetzt sah sie ihn. Hatte sie doch Ungeziefer im nie gelüfteten Bettchen des Kleinen gefunden, Stiche und Beulen an seinem, vom Liegen in steter Nässe, ganz wunden Körper.

Sie hatte das seltsame Gefühl, als drehe sich ihr das Herz herum, wenn sie jetzt daran dachte, daß sie ihn allein hatte zurücklassen müssen in der Wiege, ganz allein in der öden Stube. Durch viele Bitten und Versprechungen hatte sie die Nachbarin bewogen, nach dem Ambros zu sehen, bis die Tant' heimkommen würde. Sie selber hatte ja fortgehen müssen – ohnehin würde die Madam schelten, daß sie gar so spät wiederkam – dunkler und dunkler wurde schon die Nacht, und eine Laterne hatte sie nicht. Es war schwer hinunter zu finden.

Unten in den Schluchten donnerte das Wildwasser. Die einsame Wanderin richtete sich mehr nach ihrem Ohr als nach ihrem Auge, denn kaum erkenntlich schimmerten die weißen Steine der Chausseeböschung, und das Wahrzeichen der ragenden Ley war völlig versunken in Schwärze.

Aber tapfer schritt Ammei zu; das Brausen des Baches, der durch schmelzende Schollen zum Strom geworden, leitete sie; und dazu das junge Sprudeln der Quelle im eigenen Herzen.

*

Im Herbst nahm Anna Maria Katzvey den Ambrosius zu sich. Sie hatte ihrer Madam gekündigt, aber die hatte ein Einsehen gehabt und ihr Stundendienst zugesichert. Auch bei andern sollte sie Arbeit bekommen, und wenn das nächste Frühjahr erst wieder da war, würde sie auch von der Badeverwaltung angestellt werden, um in den schönen Anlagen zu rechen und zu jäten, zu karren und zu gießen. Vorerst aber hieß es durch den langen Winter kommen. Jedoch sie war ganz getrost, hatte ihr doch dieser Sommer mit seinen vielen Fremden reichlicheres Trinkgeld eingebracht als das Jahr zuvor, so daß sie, trotz der gierigen Tant', etwas hatte erübrigen können. Und, Gott sei gelobt, nun hatte wenigstens die Unruh ein Ende! Den ganzen Sommer hatte es sie gequält, daß sie wegen der Arbeitslast nicht ein einziges Mal hinauf konnte. Sie traute der Tant' nicht mehr; nun, da die wußte, daß sie den Pflegling nicht behalten sollte, erst recht nicht mehr. Und wenn so ein Kind auch nur eine Last ist – wenn es auch besser wäre, es wäre nie geboren – so will man's doch, wenn es nun einmal da ist, schon lacht und spricht und einen kennt, nicht umkommen lassen.

Ammei richtete sich ganz gut mit ihrem Jungen ein. Sie mußte ihn zwar auch viel allein lassen, aber die Kammer, in der sie ihn hielt, war leidlich rein, und sie fand auch Zeit, ab und zu von der Arbeit nach Haus zu springen und nach ihm zu schauen.

Als der Frühling kam, spielte er mit andern Kindern auf der Gasse. Die größeren waren dem kleinen Kerl in den ersten Höschen und dem, aus einem schäbig gewordenen Kleid der Mutter geschneiderten Kittel, alle gut. Er war drollig, lustig wie ein Stieglitz und flink wie ein Wiesel. Die Fremden, die vorübergingen, guckten oft nach dem munteren Blondkopf mit den schwarzen Beerenaugen; manche Frau blieb bei ihm stehen und strich ihm über die mit Wasser sauber gestrählten Haare.

Wenn Ammei dies zu sehen bekam, hob sich etwas in ihr. Sie hätte sich vor den Fremden nicht als seine Mutter bekannt, um alles in der Welt nicht: nicht um eine Mark, nicht mal um einen Taler. Sie hätte sich viel zu sehr geschämt. Aber doch, wenn die vornehmen Damen in den schönen Kleidern ihn lobten – ›was hat er für blanke Äugelchen, was für seidiges Haar, wie dick ist er, wie rund, und so niedlich!‹ – erstand in ihr ein Gefühl des Stolzes. Diese Reichen, die sonst alles hatten, was sie nicht hatte, ein so hübsches Kind hatten die sicherlich nicht! Und dann ruhte ihr Blick, wenn's keiner sah, und der Ambros selber auch nicht, freundlicher auf ihm.

Das Mädchen war keine zärtliche Mutter; der Verdruß mit dem Jungen war doch gar zu groß gewesen, und immer noch hatte sie ja ihre Plage mit ihm. Der Scharlach grassierte im Ort – natürlich mußte der Ambros ihn auch kriegen! Aber während andere Kinder ihn leicht überstanden, oder bald hinausgetragen wurden auf den Kirchhof, lag ihr Junge Wochen und Wochen im Bett, mit verschwollenen Augen und laufenden Ohren, schrie ganze Nächte und konnte nicht leben, nicht sterben. Sie durfte ihn nicht allein lassen, konnte nicht auf Arbeit gehen, die paar Spargroschen waren bald aufgebraucht, schmaler und immer schmaler wurden die Bissen; wäre ihre gute alte Madam nicht gewesen, sie hätte betteln gehen müssen.

Da stieg ein Grimm in ihr auf; Blicke, in denen es düsterte wie Haß, warf sie nach dem kleinen Kranken. Und doch, als der Arzt ihr das Kind ins Hospital bringen wollte, sträubte sie sich unsinnig: nein, nur nicht dahin, nur nicht ins Spital, nein, nein! Den Jungen ließ sie nicht dahin, den behielt sie selber! Und als das Kind in der Nacht, die den Höhepunkt der Krankheit brachte, sich in verzehrendem Fieber wie in Krämpfen warf, lag sie vor dem Bett auf den Knieen.

Sie wollte beten, aber ein gewaltiger Zwiespalt erhob sich noch einmal in ihr. Wie sollte sie beten: ›Maria, erhalt' ihn – Maria, nimm ihn –?!‹

Ein Abgrund gähnte, tief und unergründlich – diesseits Leben – jenseits Tod. Hinüber und herüber schwankte ihre Seele, gleich einem Falter, der sich verflattert hat. Wie ein beladener Pilger vor'm Kreuz, so wand sie sich. Aber dann neigte sie den Kopf und lauschte bang dem schwachen Atem der kleinen Brust.

So lag sie bei ihrem Kreuz, bis der Morgen kam. – – –

Ambrosius wurde wieder gesund. Als habe der Ausschlag jede Spur ungesunden Stoffes aus seinem Körper mit fortgenommen, so wölbte sich die Kinderbrust jetzt höher, streckten sich die Beinchen jetzt gerader.

»En Staatsjong,« sagten die Nachbarn, schenkten dem Knaben oft ein Butterbrot und oft ein Stück Kuchen. Und als die Fronleichnams-Prozession kam, durfte er, die blonden Haare in Locken gewickelt, im weißen Piqué-Anzug, den der Ammei ihre Madam gestiftet hatte, vor den Mädchenengeln her im Zuge gehen und über der kräftigen kleinen Schulter am blauen Bandelier die blaue Fahne mit dem schneeweißen Lämmchen tragen.

Das war ein Tag in Ammeis Leben, wie sie nur noch einmal einen gekannt hatte: jenen Sonntag auf Peter und Paul, als sie, voll Erwartung der Lustbarkeit, durch blühende Felder gestrichen war, da sie getanzt und geküßt hatte.

Sie stand auf der Gasse, unter der dichtgedrängten Menge des herbeigeströmten Landvolkes und der zuschauenden Fremden, an ein Haus gedrückt, und sah ihren Ambros passieren. Sie hörte ein Murmeln um sich:

»Kucktelhei, dat schien Jüngelche!«

Gewahrte auch, wie eine blasse Dame, ganz erregt, den Arm ihres Mannes faßte:

»Ach sieh, sieh doch, den reizenden Knaben! Ach, wenn wir doch so einen hätten!«

Die Sonne warf einen wahrhaft verklärenden Schein auf des Kindes blonde Locken, Weihrauchwolken umschwebten es wie ein Heiligenbild, das Schellchen des Meßners machte silbern: ›Klingling‹. Alle fielen auf die Kniee und bekreuzten sich.

Auch die Mutter schlug plötzlich erschauernd ein Kreuz: Heilige Maria, Königin der Jungfrauen, Benedeite unter den Weibern, gelobt seist du!

Aus den Gärten stiegen Wohlgerüche auf von Flieder und Jasmin und mischten sich mit den Weihrauchdüften; von den Bergen, aus dem dichten Waldgrün herab grüßte die Natur in geheimnisvollem Wehen.

*

Ammeis Ambrosius ging in das fünfte Jahr, als sie selber Aussicht hatte, in den Ehestand zu treten.

Oberhalb des Ortes, im Steinbruch, arbeitete ein brauner, starker Mann; irgendwo, von weit her, war er gekommen. Der hatte Lust, sich im Bädchen einen Hausstand zu gründen, und er schien der Ammei Freier werden zu wollen; wenigstens ging er ihr ernstlich nach. Wenn sie in den Anlagen, die da aufhören, wo der Steinbruch beginnt, arbeitete, guckte er oft nach ihr. Wenn sie Feierabends vor ihrer Haustür stand, gesellte er sich zu ihr, sprach davon, daß es für einen Ledigen schwer sei, durchzukommen: nie kriegt der sein ordentliches Essen, seine Sachen sind zerrissen, und wenn er auch guten Taglohn hat, der geht hin wie nichts, wenn keine Frau haushält! Und das fand sie denn auch. Ihr Herz klopfte: sollte es ihr wirklich noch im Leben glücken, sollte sie vor den Altar treten dürfen als Braut?! Sollte sie wahrhaftig einen finden, der für sie sorgte, daß sie nicht immer, immer allein arbeiten mußte für die tägliche Notdurft?!

Ammei wurde wieder ganz vergnügt; die Falten auf ihrer Stirn glätteten sich, sie gab was auf Putz wie eine ganz Junge und stand am Sonntag länger vor ihrem Spiegelscherben denn sonst. Ihre Seele wiegte sich in einem Glückstraum. Noch hatte er zwar nicht gesprochen: ›No, willste mich heiraten?‹ – aber sie erwartete die Frage jeden Tag.

Heute jätete sie in den Badeanlagen. Es war ein warmer Tag. Noch knospten die Sträucher, und die Amseln übten erst eben ihren tieftönigen Schlag, aber doch hatte sie ihr Kopftuch beiseite tun müssen und die Jacke sogar, so daß sie in kurzen Hemdsärmeln arbeitete, und auch den starken gebräunten Nacken der Luft und der Sonne wies. Sie lag auf den Knieen und stach Löwenzahn aus, der sich mit seinen zackigen Blättern und seiner goldgelben Blume in den Rabatten breit machte. Auf ihrer Stirn perlten Schweißtropfen und rannen nieder auf ihre fleißigen Hände – fünfundsiebzig Pfennig Taglohn wollen verdient sein.

Da schreckte ein munterer Gruß sie auf. Halb erfreut, halb verlegen erwiderte sie ihn. Er stand vor ihr, auf seinen Pickel gestützt.

»Tag, Ammei,« sagte er, machte dann »hm«, zögerte eine Weile und machte dann wieder »hm«.

Erwartungsvoll hob sie den Blick zu ihm – würde er jetzt etwas sagen?!

Noch besann er sich: sie hatte ja gar nichts, keinen Pfennig! Aber dann sah er auf ihren festen, braunen Nacken, auf ihre kräftigen Arme – die konnten schaffen! – auf den Schweiß des Fleißes, der über ihre Stirn perlte, und es fiel ihm ein, wie schlecht sein Mittagessen, von dem er eben kam, heute gewesen war, so gering, daß er gar nicht satt geworden war, und er sagte rasch:

»Ammei, wollt Ihr mein' Frau werden?«

Und sie sprach ebenso rasch: »Jao, jao!« sprang auf und sah ihn mit einem tiefen Aufatmen strahlend an. Aber dann flog, wie mit einem plötzlichen Einfall, ein Schatten über ihr lachendes Gesicht.

»Ech haon en Jong,« sagte sie leise und hing den Kopf.

»Weiß ich, weiß ich, macht nix!« Er faßte ihre Hand: »Wer kann für Malör!« und lachte gutmütig.

Da überkam sie eine unsägliche Freude. Einen hurtigen Blick warf sie rundum, und als niemand in Sicht war, die Anlagen ganz einsam lagen im verschlafenen Mittagslicht, umfaßte sie ihn rasch mit beiden Armen und lehnte die arbeitsfeuchte Stirn gegen seine breite Brust.

»Jesses,« wisperte sie selig, »Jesses, esu en Glück! Eweil kriehn ech en gude Mahn on en Vadder für dän Ambros!«

»En Vadder für den Ambros?!« Etwas so Seltsames war in dem Ton, mit dem er ihre letzten Worte wiederholte, daß sie rasch die Stirn wieder hob.

»Ja, ja,« sagte er jetzt verlegen, »natürlich!« Strich sich mit der rauhen Hand über das wind- und wetterharte Gesicht, dann unter der Nase her und schnüffelte. »Ja, ja – weißte, haste nit en Tant' hier herum – oder irgend sons jemand? Dat wär' dat Beste! In't Waisenhaus tät' mer ihn doch nit gern – da nehmen sie ihn ja auch gar nit! Aber vielleicht sonst wohin. Wenn mer auch wat bezahlen müßt« – er hatte ihr plötzliches Erblassen gesehen und schloß rasch: »et soll mir dadrauf nit ankommen!«

»En Tant' – oder sonswän – in't Waisenhaus – oder sonswohin?« Sie starrte ihn an mit weitaufgerissenen Augen.

Er nickte und begütigte dann: »Ja, Ammei, ich kann mer't denken, dat et dir schwer fällt – aber siehste,« – jetzt ganz verliebt sie an sich ziehend, küßte er sie auf den bloßen Nacken und flüsterte ihr ins Ohr: »Wir kriegen doch selber Kinder – so en Kuckucksei taugt nix im Nest!«

Sie machte sich unsanft frei, nun hatte sie gar keine Lust zu Zärtlichkeiten mehr. Vor ihren Augen wackelten Bäume und Büsche, schrumpften zusammen ganz klein, reckten sich wieder lang und länger und streckten die knospenden Zweige heraus gleich höhnenden Zungen. Auch die Gestalt des Freiers war verzerrt.

»Dän Jong, dän Jong sollen ech net behaalen?« stotterte sie. Ambrosius war nicht hier, aber sie glaubte jetzt, durch das Wispern der Bäume, durch das Plätschern des Baches, durch das Brausen und Rauschen in ihren Ohren ein Lallen zu hören: ›Mam-ma!‹ – und jetzt, ganz deutlich, ein lautes helles Rufen.

»Mamma!«

War's wirklich seine Stimme?!

Weiß Gott, da war er! Kinderstimmen sangen. Ein ganzes Rudel, Buben und Mädchen, ihrer zehn, zwölf kletterten wie Gemsen dort drüben – droben auf dem Pfädchen, das sich wie ein Strichelchen an der Lehne des Berges steil emporzieht – hinaus zum Suterwald.

Sie blickte starr nach oben; wie die Püppchen erschienen die Kinder, kaum kenntlich. Aber jetzt sah sie ihren Kleinen. Zwei Größere führten ihn, doch er riß sich los, hüpfte dicht an des Absturzes Rand, schwenkte die Ärmchen und schrie nach ihr, die er tief unten erblickte:

»Mamma! Mamma!«

Sie winkte nicht wieder, die Arme fielen ihr schlaff herunter. Aber ihre Augen hingen an der kleinen Gestalt.

Ammei sah ihren Ambros immer noch, als der große Wald ihn längst verschluckt hatte. Als die Stimmen der singenden Kinder längst verweht waren, hörte sie immer noch die eine Stimme, hell und klar, wie ganz allein, ob all den anderen schweben:

»Sutermichelchen, deck mich,
Sutermichelchen, streck mich!«

*

Als Ammei heut auf Feierabend nach Hause kam, war ihr Gesicht so finster, wie es kaum je zuvor gewesen war. Der Junge war noch nicht daheim; es war warm und lind, da weilten die Kinder länger im Walde. Die Abendglocke bimmelte schon, als seine kleine Gestalt endlich in die Stube trippelte. In der krampfhaft geschlossenen Faust trug er ein Sträußchen von den ersten Blumen des Jahres: Anemonen, Waldmeisterkraut und Kuckucksblumen; er hatte sie unter den schwellenden Buchenzweigen für seine Mutter gepflückt.

Aber sie riß unwirsch die Blumen aus der Kinderhand und schalt, daß er nicht eher heimgekommen war; schalt um dieses, schalt um jenes, herrschte ihn zuletzt an: »In't Bett!« Und dann, als er verdutzt und erschrocken die Unterlippe vorschob und zu weinen begann, schlug sie ihn, schlug ihn härter, als sie selber es wußte.

An etwas mußte sie ihre Wut auslassen, ihre Bitterkeit und ihre Enttäuschung – warum war der Junge auch da?! Sonst würde sie jetzt eine Braut sein und bald eine Frau! So aber war der Freier von ihr fortgeschritten, den Pickel geschultert, und hatte sich nicht einmal mehr umgedreht nach ihr, so lange sie auch dagestanden und ihm nachgeguckt hatte. Den ganzen Nachmittag hatte sie auf sein Wiederkommen gelauert, in fiebernder Ungeduld dem ›pink, pink‹ seines Pickels im nahen Steinbruch gelauscht. Das war der Junge doch nicht wert, daß man seinetwegen alles aufgab! Wahrhaftig, ehe sie auf die Hochzeit verzichtete, lieber gab sie ihn – sie sprach es nicht vor sich selber aus, aber sie wußte, wenn der Freiersmann jetzt wieder vor ihr stünde, dann – nun, dann in Gottesnamen! Aber er war nicht wieder gekommen.

Darum war Ammei so ingrimmig, darum warf sie jetzt, als das müde Kind unter leisem Weinen doch entschlummert war, böse Blicke nach ihm hin, darum stieß sie endlich in der Nacht, als der Knabe sich im Schlaf an ihre Seite schmiegte, ihn unsanft von sich.

Der kleine Ambrosius hatte fortab keine guten Tage.

Sie wurden auch nicht liebereicher, als Ammei die Genugtuung erlebte, den Freier noch einmal zu sich zurückkehren zu sehen. Er hatte sich die Sache überlegt. Wegen des Jungen wollten sie nicht uneins werden, sagte er. Die Kameraden hatten ihm auch zugeredet, ihn förmlich ausgelacht: wegen so einem Stuppes machte man doch gar keine Fisematenten; ob der da war oder nicht!

»Also, meinswegen, bring hän mit!«

Aber als spräche jemand andres aus ihr, so kamen Worte über ihre Lippen – andre Worte, als die sie in der ersten freudigen Überraschung herausjubeln gewollt, ganz andre Worte:

»Nä, ech will net!«

Und als er sie verwundert-fragend, bestürzt und zuletzt nicht wenig gekränkt angaffte, schüttelte sie energisch verneinend den Kopf und zog die niedere Stirn in eigensinnige Falten. Nein, er würde doch nicht gut gegen ihren Jungen sein! Nein, sie hatte sich jetzt besser bedacht, sie wollte nicht heiraten!

Kalt und blaß, ohne nur die starren Augen nach ihm zu kehren, ließ sie ihn gehen. –

Ohne sonderliche Erregung hörte sie von jetzt ab das ›pink, pink‹ seines Pickels; und wenn dann und wann eine Detonation erfolgte, in Staub und Schuttwolken ein losgesprengter Felsblock gefährlich niedersauste, neigte sie nicht einmal lauschend das Ohr bei ihrer Arbeit in den nahen Anlagen – mochte im Steinbruch vorgehen, was da wollte! Ihre Gedanken suchten nichts mehr da. Sie weinte auch nicht, als nach kaum zwei Monaten ihr einstiger Freier eine andre zum Altar führte.

Mit dem zu seiner Höhe schreitenden Sommer, stieg auch Ammeis Verdienst. Das Sauberharken der Promenadenwege, das Aufsammeln dürrer Reischen, das Fegen des Kieses, das Wischen der Bänke besorgte sie jetzt schon in frühester Frühe, vor vier Uhr oft, wenn die Gäste noch schliefen. Darnach schaffte sie in ihrer Privatkundschaft. Ihre alte Madam hatte sie weiter empfohlen. So arbeitete sie denn auch seit diesem Jahr in der letzten Villa, der großen weißen, rechts von der Kirche, wo der Garten den Hang hinauf grünt. Mit der Saison zog dort jedesmal die Herrschaft, der sie gehörte, ein, und blieb da, bis die Reifnächte des Herbstes gar zu kalt wurden.

Es waren gute Leute, deren Töchter dem kleinen, hübschen Jungen der Arbeitsfrau, der der Mutter schon das Gerät nachschleppte, das Unkraut, das sie jätete, im Kittelchen sammelte – alles spielerig mit lustiger Ernsthaftigkeit – Semmel und Obst zusteckten, ihm schöne rote Strümpfe strickten, um seine nackten Beinchen in kalten Tagen zu wärmen, und ihm einen kleinen Strohhut schenkten mit grünem Band, zum Schutz gegen den Sommerbrand.

Ambrosius kam gern in den schönen Garten. Dort hüpfte er, während die schweigsame Mutter sich schwerfällig, aber stetig wie eine Maschine bückte, lustig umher; schwatzte mit sich selber, oder mit einem Stein, mit einer Blume, einem Schmetterling. Oder lag, glühte die Sonne zu sehr herab, im Schatten der dunklen Zypresse und schlief sanft.

Auf dem glatten Rasenhang, ein wenig erhöht, stand der Baum, der hergekommen war aus fremdem Land und streckte seine fast schwarzen Äste, die nicht Blätter, nicht Nadeln trugen, unbeweglich ins Sonnenlicht. Das Abhauen der unteren Zweige, das Knicken und Zerren und Rupfen, hatte ihm nichts geschadet; tannenschlank stieg sein Stamm, harzig-streng duftete seine Rinde, und sein ernstes Grün blieb gleich lebend, im Winter wie im Sommer.

Einen scheuen Blick hatte Ammei nach dem Baum geworfen, als sie zum ersten Mal wieder den Garten betreten hatte. Und dann war ihr Blick rasch, in fast ängstlicher Hast, weiter geglitten bis hin zu dem Knaben, der auf ihrem Rechen, wie auf einem Pferdchen sitzend, dahergaloppiert kam.

Ambrosius war fröhlich den ganzen Tag. Wenn die Mutter ihn auch nicht liebkoste, ihn koste ja die milde Sommerluft im grünen Garten; und wenn er auf den Berg stieg, küßte ihn die Sommersonne, daß seine Bäckchen warm überhaucht wurden, flaumig wurden wie die Pfirsichwangen am Villenspalier.

Alle Nachmittage an schulfreien Tagen zogen die größeren Kinder jetzt aus, Erdbeeren und Himbeeren zu suchen im großen Suterwald, aus dem die zackigen Leyen ragen, und der sich erstreckt, weit, weit über die Höhe, bis hin gen Beuern und Bremm. Aber auch die Kleineren trippelten mit. Sie alle hatten einen Spaß dabei, den sie immer und immer wieder betrieben.

›Sutermichelchen, weck mich,
Sutermichelchen, leck mich,
Sutermichelchen, deck mich,
Sutermichelchen, streck mich,
Sutermichelchen, mach mich
Esu klein wie Salz!‹ –

Das war das Liedchen, was sie alle sangen, was sie schrieen, halb in Neugier, halb in Grauen, in den großen Bergwald hinein.

Hier ging ja der Sutermichel um! War der nun ein guter Geist oder ein böser?! Huh, wer ihn zu sehen kriegte, der wurde gedeckt und gestreckt, daß er nie mehr aufstand, huh, huh! Die Haare sträubten sich selbst den Mutigen, und die minder Beherzten packten die andern am Kittel, wenn nur wo ein Blatt raschelte, wenn nur ein Windzug in den Büschen wisperte, oder wenn das tiefe Schweigen einer ungeheuren Waldeinsamkeit sich lastend auf ihre Seelen senkte.

»Dän Sutermichel, dän Sutermichel!«

In Angstschweiß gebadet, rannten dann die Kinder davon, als säße ihnen der Spuk schon im Nacken, um bald doch wieder von neuem in den Wald zu laufen und von neuem mit grausender Lust zu schreien:

»Sutermichelchen, Sutermichelchen!«

Auch der kleine Ambrosius schrie wacker nach dem Sutermichel. Aber er hatte nicht Angst wie die anderen; er war noch zu dumm. Wenn die Gespielen wegrannten, blieb er ruhig stehen, sah sich mit den blanken Beerenaugen neugierig um und trottelte erst zurück, wenn er von den blauen Waldglocken genug gepflückt oder sich an den Erdbeeren satt gegessen hatte. Seine unschuldige Seele kannte die Furcht noch nicht.

Der Wald gefiel ihm, der guckte ihn nie finster an. Und weich war das Moos, weicher wie das Bett bei der Mutter; oft legte er sich darauf, faltete die Händchen und blinzelte vergnügt in das Stückchen Blau, das, nicht größer als ein Auge, durchs dichte Blätterdach zu ihm niedersah. In der Stille hörte er Stimmen. Ammern und Finken, Waldtauben und Grillen sangen auf ihre Weise, und der Wind harfte dazu. Schlummerlieder waren das, so süß und sanft, wie sie dem Kind noch nie die Mutter gesungen hatte.

Und durch die Einsamkeit kam der Geist geschritten, der da ist im Grünen der Gräser, im Wachsen der Bäume, im Duften der Blumen, im Tropfen des Taus, im Wehen des Windes, im Flimmern der Luft, im Glühen der Sonne, im Werden und Welken, im Entstehen und Vergehen. Und er neigte sich über das Kind.

»Sutermichelchen, deck mich,
Sutermichelchen, streck mich,«

schon halb im Traum lallten das die Kinderlippen – deck mich, streck mich – den alten Reim.

*

Drunten im Tal fingen Morgen und Abend jetzt an, eine weiße Nebelmütze zu tragen. Wieder einmal war der Sommer gegangen und der Herbst gekommen.

Wie lange noch, und der Winter war da und Ammeis gute Zeit vorbei. Schon sah sie scheel. Was würde ihr der Winter bringen? Ei, Frieren und Hungern und Sorgen! Wie konnte es anders sein, was brauchte der Ambros nicht schon alles? Immer hatte er Appetit; und Hosen zerriß er, und Schuhwerk mußte sein, wenn's zu kalt war, um barfuß zu laufen.

Ammei war unlustig, und doch legte sie sorgsam jeden Groschen beiseite; keine ›Kässchmier‹ mehr gönnte sie sich, nur trocken Brot, auch keinen Kaffee mehr, der war viel zu teuer. Sie sparte sich alles am Munde ab, denn ihr Denken ging immer denselben Weg, langsam zwar, mit müden Füßen, aber es schlich in engem Kreis, immer dichter und dichter um das Kind herum.

Am Abend sputete sie sich, von der Arbeit nach Haus zu kommen, hielt sich nicht auf mit Schwatzen bei dieser Tür oder jener, schlug vielmehr einen Trab an, bei dem sie nicht rechts sah noch links. Der Ambros hockte noch auf der Schwelle im Dämmerschein, den kleinen Hut mit dem grünen Band in den Nacken geschoben, das Gesicht, das so hell und rund durchs Abendgrau schimmerte, unverwandt nach der Richtung gekehrt, von wo die Mutter kommen mußte. Und war sie dann bei ihm, dann hing er sich an ihren Rock; von der kleinen, sie also haltenden Hand stieg eine Wärme empor bis an ihr Herz. Sie nahm das schläfrige Kind auf ihren Schoß; im trübseligen Schein des flackernden Lämpchens sah sie das Gold auf seinem Scheitel, behutsam fuhr ihre rauhe Hand über die seidigen Haare, und mit einem plötzlichen Seufzer: »Mei lief Jüngelche!« ließ sie ihre gefurchte Stirn auf seine glatte sinken und hielt ihren Knaben fest an der Brust.

So saß sie allabendlich oft und lange.

Früh sank die Dämmerung nun schon ins Tal und durch den großen Wald, im Kleid des Herbstes, ging ein Hauch von Sterben. Aber noch war der Wald schön, schöner vielleicht im goldgelben Glanz seiner Buchen, im fahlen Braun seiner Eichen, als im saftgrünen Schmuck seines Sommerlaubs. Noch schien die Sonne mildtätig warm, und die Kinder zogen noch, wie sie's gewohnt waren, lustig und schreiend in Sutermichels Reich.

Ammei hatte ihrem Ambros heut zum ersten Mal die neuen Schuhe angezogen, die sie ihm hatte schustern lassen, derb und fest, von bestem Leder, recht ein Schutz gegen jede Unbill. Unter der Tür stand sie zur Mittagszeit und sah ihm nach, wie er die Straße hinunterhüpfte, Hand in Hand mit zwei andern; ein Troß noch hinterdrein.

Sie guckte ihm so lange nach, bis sie nichts mehr von ihm sehen konnte, nicht mehr sein blondes Haar, nicht mehr den kleinen Hut mit dem grünen Band, nicht mehr die roten Strümpfchen in den neuen Schuhen. Und wenn sie auch gar nichts mehr von ihm erblickte, sie schaute ihm doch noch länger nach.

Denn sie liebte ihn. – –

Gegen die Dämmerzeit kehrten die Kinder wieder heim, aber Ambrosius war nicht unter ihnen. Sie hatten auch heute, wie sie's immer taten, nach dem Sutermichel geschrien, waren dann in Lust und Grausen aus dem Walde herausgerannt, und dabei hatten sie den Kleinen aus den Augen verloren. Sie hatten des nicht weiter acht gehabt im Eifer des Spieles, aber nun fragten sie nach ihm: war er schon zu Haus?!

Man suchte das Kind die ganze Nacht. Es hatte sich verirrt, man würde es schon finden, nur keine Angst, noch war die Nacht nicht so kalt, daß ihm ein Leides geschah! Alle beruhigten die geängstigte Mutter.

»Ambros! Ambros!«

Ammeis Stimme gellte, vom Schreien schon heiser, durch den nächtlichen Wald. Sie lief vor den Männern her, die Fackeln und Laternen trugen. Alle Väter des Ortes hatten sich aufgemacht. Hinter jeden Busch, jeden Baum wurde geleuchtet. Bald würde man ja den Verlorenen finden, bald hielt ihn die Mutter ja wieder im Arm!

Aber so emsig sie auch suchten, so laut auch die Mutter schrie, die Nacht ging doch darüber hin. Und als die Morgensonne das Nebelgewölk des Herbstes durchbrach, hatten sie ihn noch immer nicht. Jesus Maria, wo war das Kind?!

»Ambros! Ambros!«

Immer emsiger wurde das Suchen, immer angstvoller das Rufen. Gleich Spürhunden krochen die Suchenden am Boden hin, jedes Blatt, jedes Zweiglein wurde gewendet – wo war der Tritt des irrenden Kinderfußes? In Rotten geteilt streiften die Leute den Forst ab.

Bald hier, bald dort war die verzweifelnde Mutter, bittend, beschwörend, antreibend.

»Ambros! Ambros!«

Aber stumm blieb der ungeheure Wald. In ernstem Schweigen standen die Bäume, die Luft trug keine Antwort.

Und wie sie auch lauschten, kein ›Mamma, Mamma‹! Wie sie auch horchten: kein Kinderweinen! Und doch mußte der Knabe im Suterwald sein, denn Holzfäller hatten noch sein Singen gehört, gestern am Nachmittag, eine Stunde vor Sonnenuntergang. Fein und hell war's erklungen, von einem Stimmchen ganz allein:

›Sutermichelchen, deck mich,
Sutermichelchen, streck mich‹– – –

Ein Entsetzen begann die Suchenden zu rütteln, mit blassen Gesichtern, stumm blickten sie sich an.

Und sie suchten den Tag zu Ende und noch die ganze folgende Nacht.

Am Morgen des zweiten Tages fanden sie ihn.

Er lag in einer kleinen Kiesgrube, zehn Schritt von dem breiten Weg, der den ganzen großen Forst durchquert. Sein Hütchen mit dem grünen Band hatte ein Busch oben festgehalten; er selber aber lag drunten, wie schlafend, ein Händchen an die Stirn gelegt, als habe er die noch im Fallen schützen wollen. An der einen Schläfe klebte geronnenes Blut; jedoch fast rosig noch waren die Bäckchen, keine Spur von Angst lag auf dem unschuldig-ruhigen Kindergesicht.

Mit furchtbarem Aufschrei fiel die Mutter zur Erde. Im wahnsinnigen Sichdrehen ihres Hirns dämmerte plötzlich ein Bild empor: die Jungfrau der Jungfrauen mit erhobenem Finger! Aber statt des wächsernen Jesuskindes hielt sie eines auf dem Arm von Fleisch und Bein, eines mit goldenem Haar, eines mit blanken Beerenaugen, eines mit roten Strümpfchen in neuen Schuhen!

Weh, die hatte ein sündiges Gebet einst doch gehört – nun hatte die ihn genommen!

»Ambros! Ambros!«

Aus der Betäubung sich raffend, umklammerte Ammei ihr totes Kind.

Erschüttert standen die Menschen, feuchten Auges, leichenblaß. Durch ihre angstgerüttelten Seelen zog ein Grausen:

– – – – ›Sutermichelchen, deck mich,
Sutermichelchen, streck mich‹– – – –

– weh, das hatte der Sutermichel getan!

*

Und der Geist, der da ist im Grünen der Gräser, im Wachsen der Bäume, im Duften der Blumen, im Tropfen des Taus, im Wehen des Windes, im Flimmern der Luft, im Glühen der Sonne, im Werden und Welken, im Entstehen und Vergehen, rüttelte die starken Stämme, daß sie bebten wie schwache Gräser; mit Posaunenstoß sprach seine Stimme im Wind, drohend und versöhnend zugleich:

›Jetzt wird das Reis gerissen aus der Mutter Hand, jetzo, da es am schönsten blüht! Die Seele des Kindes wird zurückgepflanzt in den Garten Eden der ewigen, der gerechten Natur!‹ – – –

Auf das Grab des Leibes aber lächelt die Sonne des Tals, Bergwinde spielen mit dem Kranze, mit dem Kranz der dunklen, strengduftenden Zypresse – mit dem Totenkranz vom Lebensbaum.


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