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XVII

Während unten in den Gärtchen der Dörfer die ersten Keime sich zeigten, die Vögel zwitscherten und auf den Vorbergen an der Mosel der Schnee verschwunden war über Nacht, lag er weiter hinauf noch immer dick in den Mulden. Der Wind blies hart über die Eifel.

Der Bach donnerte an der Üßmühle vorbei, kalt und wild, und stürzte sich mit Brausen über die Schaufeln des großen Rades. Das war sein Gesang, mit dem er den Vorfrühling begrüßte. Der Müller ließ das Gangwerk abstellen, obgleich zu tun war – mochte die Lieferung liegenbleiben für die Franzosen! Wenn eine Seele abscheiden will, dann muß Stille im Haus sein und schon jetzt die Ruhe, die der ewigen vorausgeht.

Sie wußten alle, die Mutter würde es nicht lange mehr machen. Ein Wunder, daß sie den Winter noch so überstanden hatte! Wäre die Maria nicht gewesen, die sorgsame Pflegerin, sie lebte schon lange nicht mehr. Alle schlichen auf Strümpfen. Der Vater war wie gebrochen, er konnte und konnte es nicht fassen, daß sein gutes Weib vor ihm sterben sollte. War es denn wirklich nicht möglich, sie noch zu behalten? Aber der Arzt, den der Hubert weit hergeholt hatte von der Stadt Kochem, gab keine Hoffnung mehr. Das Wasser stieg und stieg, und wenn es erst bis zum Herzen der Kranken trat, dann war es aus. Jesus, dann mochte auch er nicht mehr leben! Der Müller saß stundenlang am Bett seiner Frau und hielt ihre Hand.

Maria stand hinterm Vorhang verborgen und beobachtete beide. Die Kranke litt, aber war das das größte Leiden, was der Körper aushalten muß? Sie sah es, die Atemnot, die Beklemmung und Schwäche fochten die Müllerin trotz allem nicht an. Die stöhnte wohl, wenn die Luft ihr gar so knapp wurde, und war dann sehr matt, aber meist war ihr Gesicht voller Ruhe und Frieden und so lieb, wie es in besseren Tagen gewesen war. Aber der, der etwas mit sich herumschleppt an Leid, so schwer wie ein Stein, und darf nichts davon wissen lassen, der leidet mehr. Oft glaubte Maria, es nicht mehr aushalten zu können. Der Martin ging ihr nach auf Schritt und Tritt. Erst neulich, als sie im dämmrigen Stall die frisch gemolkene Milch für die Kranke holte, kam er hinter ihr drein. Sie waren ganz allein. Und er hatte sie in der laulichen Dunkelheit mit beiden Händen so heftig an sich gerissen, daß sie erzitterte. Er wühlte seinen heißen Kopf in sie hinein und stöhnte, er schluchzte fast: »Maria, warum is dann nit endlich Verspruch? Hast du mich dann nit lieb? Die Mutter will et gern, dem Vatter is et auch recht. Sag nix!« Sie hatte etwas herausstoßen wollen, eine Abwehr. Er verschloß ihr den Mund mit Küssen. Wie ein Sturmwind gingen Liebe und Verlangen über sie hin.

O Jesus Maria, sie liebte ihn ja so sehr, er war ihr irdische und himmlische Seligkeit. Wenn sie könnte, wie sie möchte, oh, sie würde schreien: »Ja, ja!« Aber sie war die Tochter Hans Basts. Und sie durfte ihre Hand nicht ausstrecken nach einem ehrsamen, braven Mann.

Alles, was Maria früher nur dunkel geahnt hatte, und was ihr nach und nach heller geworden war, das stand jetzt grausam klar, in sie entsetzender Nacktheit vor ihr. Ihr Vater war ebenso schlimm wie der Bückler – vielleicht schlimmer noch. Seine Hütte war der Schlupfwinkel von Verbrechern. Zwei Kerle, schlimm wie die Teufel, hausten bei ihm.

Und er selber? Sie konnte ihm kein Verbrechen nachweisen außer dem, daß er den Franzosen getötet hatte, letzten Sommer am Reiler Hals. Aber sie hatte das Gefühl, und dieses Gefühl verschärfte sich immer mehr und mehr zu einer unbeschreiblichen Angst: er wußte, wer den Händler Mungel in der Linnich umgebracht hatte – der Bruttig. Und er, er – war er auch mit dabei gewesen? »Jesus erbarm dich!« Die schlaflos die Nächte Hinbringende rang die Hände und biß dann in ihre in ohnmächtiger Verzweiflung geballten Fäuste, um nicht laut wie eine Wahnsinnige herauszuschreien. Als sie neulich hinaufgegangen war, da hatte der Bruttig oben in der Hütte gesessen, dreist und frech, obgleich ihn jeder insgeheim »Mörder« nannte. Der Vater war freundschaftlich mit ihm beisammen, sie hatten heimlich viel zu reden gehabt, und als sie hinhorchte, schwiegen sie schnell. »Oh!« Sie stöhnte: all seine Ehrbarkeit war Betrug, seine Biederkeit kam nicht von Herzen. Alles, alles Verstellung und Lüge! Er hatte auch gar kein geheimes Wissen, war kein Doktor, wie die Leute annahmen. Ein wilder Zorn gegen den Vater erhob sich in Maria. Er, er hatte ihr noch viel mehr von ihrer Ehre genommen als jener Mann, der über sie hergefallen war auf dem Wege von Trier. Oh, daß sie doch tot wäre! Der Stein in ihrer Brust sie niederzöge tief unters Wasser!

Sie beneidete wieder einmal die Frau da im Bett. Einst hatte sie der die Ehrbarkeit ihres Lebens geneidet – nein, nicht geneidet, nur sich auch nach solchem Leben gesehnt – nun aber neidete sie es der, daß die sterben durfte. Sie überlegte: sollte sie weglaufen von hier? Aber der Martin würde ihr nachgehen. Und sollte sie es der Frau, deren Tage gezählt waren, noch antun, daß eine andere sie pflegen mußte? Sie allein wußte ja, wie der Kranken das Kisten bequem lag, nur aus ihrer Hand wollte die Müllerin Medizin nehmen, die der Doktor gebracht hatte, und das bißchen Essen. Nein, noch mußte sie aushalten. Wenn aber das Wasser zum Herzen stieg, die gute Frau da tot war, dann lief sie gleich fort, und der Martin würde sie nimmermehr finden. Die Welt war groß und weit, irgendwo war ein Platz für sie, wo sie arbeiten konnte. Arbeiten: ja – aber vergessen: nein. Sie weinte.

»Warum weinst du?«

Maria erschrak: hatte die Kranke sie gehört?

»Hab dir et doch gesagt,« sprach die Müllerin schwach, »daß der Martin dich will, so wie du bist. Kannst ruhig sein, der schmeißt dir nit vor, was dir geschehen is ohn deine Schuld. Jetzt soll Verspruch sein.« Die schwache Stimme war stärker geworden.

»Wenn Ihr erst besser seid!«

»Ich werd nit mehr besser. Verspruch, setzt soll bald Verspruch sein!« Die Kranke beharrte mit Eigensinn. Dies Mädchen war so gut zu ihr, pflegte sie wie ein Engel, dem wollte sie nun, ehe sie schied, noch ein Liebes tun. »Morgen zu Mittag, wenn sie all' daheim sind, dann kommt an mein Bett. Der Vatter soll kommen, der Hubert, der Nikla. Und du mit dem Martin, ihr sollt hier stehen, dicht hier bei mir – ich will deine Hand in seine Hand legen – ich segne euch.«

Maria weinte laut. Das Herz schien zu zucken in ihrer Brust: ach, wenn's doch in Stücke ging, sie niederstürzte, tot auf der Stelle! Sie konnte und konnte es doch nicht sagen, was ihr Vater für einer war, und daß auch sie nun zu schlecht war, um ihre Hand in die des Martin zu legen. Was sollte sie nur tun, um die Frau abzubringen?

»Morgen is Verspruch«, wiederholte die Kranke hartnäckig.

»Sonntag. Wartet noch bis auf den Sonntag«, stieß Maria heraus. Was der Sonntag anders machen sollte, das wußte sie freilich nicht; aber es war noch ein Aufschub, und sie klammerte sich daran.

»Warum dann bis Sonntag?« Die Kranke erregte sich.

»Ich will noch mit meinem Vatter sprechen.«

»Ah so – freilich! Bist en gute Tochter.« Die Frau beruhigte sich.

Tief senkte Maria den Kopf, sie fühlte die Hand der Frau über die ihre streicheln. Eine gute Tochter –! Sie biß die Zähne aufeinander, sie hätte sonst laut herauslachen müssen in Hohn und Pein. Aber Gott sei Dank, noch war es nicht Sonntag! Wenn ihr bis dahin kein anderer Ausweg sich zeigte, dann mußte sie die hier, die ihr lieb war wie eine Mutter, doch einer anderen Hand überlassen; sie selber mußte dann fliehen. Wohin, darüber dachte sie keinen Augenblick nach. Dumpf war es in ihrem Kopf, und dumpf blieb es. Wie geschlagen ging sie umher.

Der Müller fühlte ihre Niedergedrücktheit, und sie tat ihm wohl in der seinen. Er sah darin lauter Trauer um seine Frau. Ach ja, wenn die Maria seiner Kranken helfen könnte, die täte es mit dem eigenen Herzblut – aber was sie nicht konnte, das konnte vielleicht ihr Vater! Das fiel ihm plötzlich ein. Der Schmied oben in Krinkhof war bekannt als Wunderdoktor. Hätte man den vielleicht schon eher geholt! In seiner Not klammerte er sich an diesen Gedanken wie an eine Rettung. Als er davon sprach, den Krinkhofer holen zu lassen, sah ihn Maria fassungslos an: was, ihren Vater an dieses Bett? Hans Bast von Krinkhof in dieses Haus?! Sie konnte sich nicht mehr helfen, sie brach in ein Lachen aus. Sie entsetzte sich über ihr eigenes Lachen, es klang ihr gräßlich.

Dem Müller mochte es anders geklungen haben. »Warum hast du mir dat nit längst geraten, wenn du weißt, dat dein Vatter helfen kann?« Er setzte all seine Hoffnung auf den Wundermann. Es war doch nicht umsonst, daß die Leute den holen ließen so weithin, der hatte geheime Mittel, von denen kein gelernter Doktor was wußte. –

Als Martin den Schmied von Krinkhof ins Zimmer wies, war niemand darin als der Müller. Er saß am Bett, den Rücken gegen die Stube, hielt die Hand seiner Frau und sah sie unverwandt an. Die Kranke war seit einer Stunde sehr unruhig, sie stöhnte in einem fort.

In die dunkle Ecke gedrückt, zwischen Wand und Bett, ganz vom kattunenen Vorhang verborgen, stand Maria. Sie wagte kaum zu atmen: sie wollte nicht wissen lassen, daß sie hier stand. Durch einen Spalt des Bettvorhangs beobachtete sie ihren Vater. So ehrbar war seine Miene! Und so schön sein Gesicht! Das sah Maria heut zum erstenmal. Und es regte sich leise eine Hoffnung in ihr: am Ende war er doch nicht schlecht – warum auch wäre er das? Reich war er noch nicht geworden, die Hütte war und blieb ärmlich. Daß man auch schlecht sein kann, aus sich selber heraus, daß ein äußerer Anlaß nur den Anstoß gibt, nicht aber der Grund ist, daß ein dunkler Instinkt, der gleiche, den das Raubtier besitzt, auch den Menschen treibt, das ahnte sie nicht. Ihr Blick brannte auf dem ruhigen, ernsthaften Männergesicht und suchte das zu durchdringen.

Der Schmied verzog keine Miene. Er legte das Ohr an die Brust der Kranken, klopfte da mit gekrümmtem Finger und horchte lange; dann richtete er sich auf und stand nachdenkend. Die Augen blickten schwarz aus dem gelblich-blassen Gesicht. Er sprach kein Wort.

»Könnt Ihr helfen?« sprach angstvoll der Müller; das Stöhnen seiner Frau nahm ihm schier den Verstand. »Wird sie bald Ruh kriegen?«

»Sie kriegt bald Ruh«, sprach feierlich der Wunderdoktor. Er zog ein Fläschchen heraus, schüttelte das und hielt's gegen das Licht.

Ah, das kannte Maria, das gebrauchte er auch bei erkranktem Vieh!

Von den gelben, stark riechenden Tropfen – Pfefferminz, Melisse und Baldrian – träufelte er auf die keuchende Brust, rieb dann, rieb lange und sprach murmelnd unverständliche Worte dabei.

Der Müller machte große Augen – ja, ja, das tat gut, schon ging der Atem gelinder!

Er drückte dem Wunderdoktor dankend die Hand. Aber Marias brennender Blick haftete fest auf dem Mann, der da stand mit der Miene des Arztes. Scheinheiligkeit, Lüge, Betrug! Er wußte ja ganz genau, daß es hierfür kein Kraut mehr gab. Der Tod war im Zimmer. Und ihre Augen, dunkel wie die des Mannes, sahen den Vater so entsetzensvoll an, als sei der selber der Tod.

Der Müller legte die Stirn auf den Bettrand; nun die Frau still ruhte, fühlte er erst, wie zerbrochen er selber war.

Den Augenblick benutzte der Krinkhofer. Sein Kopf fuhr herum, seine Blicke stöberten in alle Ecken. Nun ging er leise zum Fenster, besah den Verschluß des Ladens, und nun ging er zur Tür, die nebenan zur Schlafkammer der Söhne führte. Er schob sie vorsichtig auf, guckte flüchtig hinein, zog sie dann wieder zu und sah nach dem Riegel.

Maria stockte der Atem: warum tat er das? Sie sah ihn durchs Zimmer schleichen, leise wie auf Strümpfen und flink wie einen huschenden Schatten.

Als der Müller den Kopf wieder hob, stand der Krinkhofer auch wieder am Bette. »Sie wird schlafen. Die ganze Nacht«, sagte er. »Legt Euch nur auch hin. Es braucht keiner zu wachen.« Er ging zum Fenster und stieß das auf. »Laßt das offen. Wie soll Eure Kranke Luft kriegen, wenn Ihr das zusperrt.« Er hob mahnend den Finger: »Also laßt auf!«

Maria schlich in den Stall. Da stand der Älteste und warf den Dung aus. Er fragte sie nach der Mutter. »Ein wenig besser.« Aber sie selber glaubte nicht daran; die Kranke lag nur still. Der Hubert gähnte und reckte seine starken Arme in die Höhe: »Dann schlaf ich aber fest diese Nacht, ich bin rechtschaffen müd!« Sie hätte ihm sagen mögen: geh nicht zu Bett, sitz auf, wache, wache! Aber das konnte sie doch nicht, er hätte sie ja auch verwundert angesehen: wenn es der Kranken leidlicher ging, dann konnte man doch auch einmal schlafen, die letzten Nächte waren so schlecht gewesen, da hatte man sich gar nicht ins Bett getraut.

In der Mahlstube hantierte Nikla. Auch er fragte nach der Mutter, und als er hörte, die schliefe jetzt, sprach auch er von grausamem Müdesein.

Nein, die durften nicht schlafen, die mußten wach bleiben, aufpassen! In Maria war eine Todesangst. Sie wußte selber nicht, was sie fürchtete, aber daß da etwas zu fürchten war, des war sie gewiß geworden bei ihrem Lauschen. Warum hatte Hans Bast sich so umgesehen, warum hatte er den kurzen Augenblick benutzt, um durch die Stube zu schleichen? Sie sah seine schwarzen, scharf funkelnden Augen. Wenn sie's dem Martin doch sagen könnte, warum ihr so bang war! Aber der sollte nur schlafen gehen, in sein Kämmerchen oben beim Taubenschlag, da lag er sicher, dort hörte er nichts, es fand ihn auch keiner. Und wenn der Hubert, der Nikla denn schliefen, so würde sie allein wach bleiben, Obacht geben im schlafenden Haus. Ihre Ohren waren so scharf wie die des Waldtieres, die hörten draußen auch den schleichendsten Schritt. Und wenn's der Krinkhofer selber wäre – »Vater« konnte sie den jetzt nicht mehr nennen –, sie würde anlegen auf ihn. Ein Schuß, ein Knall, ein unterdrückter Aufschrei – hatte sie gut getroffen? Es sollte, es durfte denen in der Mühle nichts zuleide geschehen.

In der Stube hing die Büchse des alten Müllers, Maria lud sie heimlich und stellte sie sich zur Hand in die Ecke beim Bett.

Es war am frühen Morgen, als der Krinkhofer seinen Besuch bei der Kranken gemacht hatte, nun war der Mittag vorbei. Je weiter der Tag vorschritt, desto unruhiger wurde Maria. Wenn sie nicht drinnen in der Stube war, wo die Kranke noch immer schlummerte, so strich sie draußen umher. Ruhelos. Wurden die Ställe auch nachts gut verschlossen? War es nicht besser, man ließe bald den großen Kettenhund los? Der verriet jeden, der sich heranschlich, durch sein wildes Bellen.

Es würde sich schon keiner heranschleichen! Die Brüder lachten sorglos, sie waren sich ihrer Kräfte bewußt. Warum war sie denn auf einmal so furchtsam? Besorgt sah Martin das Mädchen an, ihm allein fiel ihre Unruhe auf. Seine hellen Augen blickten in ihre tief umschatteten dunkeln. »Du mußt endlich emal ausschlafen«, sagte er. Und dann zu den anderen: »Die Maria opfert sich auf für uns.« Zärtlich sah er das Mädchen an: »Wir können 't dir nie vergelten.«

Nein, das konnten sie auch nicht; aber nicht so, wie es der Martin vermeinte. Das bißchen Wachen in der Krankenstube, das war ja nichts, aber die Angst, die atemraubende, den Hals zuschnürende Angst und die Qual all der Wochen, in denen sie heimlich einen Kampf geführt hatte gegen den Wunsch seiner Mutter und gegen den Wunsch des eigenen Herzens, das konnte nichts, nichts mehr wettmachen!

»Maria, du schläfst diese Nacht, und ich wach«, sagte der Martin.

»O nein!« Über ihr bleiches Gesicht schoß eine fliegende Röte. Das würde sie nie und nimmer zulassen. Die Mutter war so an sie gewöhnt, sie würde sich der Sünde schämen, sollte die arme Kranke sie nur eine Stunde vermissen. Sie fuhr ordentlich auf. Da mußte der Martin still sein.

Sie saßen beim Vesperbrot in der Küche, als der Hofhund anschlug. Und dann bellte er rauh und gab sich gar nicht zufrieden. Der Hubert ging hinaus, man hörte ihn draußen laut schimpfen.

Mit rotem Kopf kam er setzt wieder herein: »Faules Gesindel!« Waren da zwei auf den Hof gekommen, der eine mit Schlitzaugen wie ein listiger Iltis, der andere schwarz wie ein Rußköhler, und sie hatten gebettelt. Gesunde Kerle, daß die sich nicht schämten! Als er sie gehen hieß, hatten sie ihm gedroht.

»Laßt die nit gehen, haltet die auf!« Maria sprang so heftig auf, daß ihr Schemel umpolterte. »Hubert, Nikla, Martin, haltet sie fest, haltet sie fest!« Sie stürzte zur Tür hinaus auf den Hof, lief bis zum Hoftor: »Haltet sie, haltet sie!« Aber da war kein Mensch mehr zu sehen.

»Wat is dir?« Martin umfaßte sie. Aber sie wehrte ihn ab, fast unwirsch. Was war nur mit ihr? Sie war überanstrengt. Wenn sie doch wenigstens jetzt ruhen wollte, ein paar Stunden nur! Wenn die Zeit der Nachtwache kam, versprachen sie es ihr, sie zu wecken. Der Vater und Martin wechselten bis dahin sich ab.

Wie man eine Kranke führt, so führte Martin sie die Stiegen hinauf in sein Kämmerchen; unten in der Krankenstube, wo sonst ihr Lager war, da fand sie jetzt doch keine Ruhe. Es war ihm ein lieber Gedanke, sie dort oben zu wissen: da, wo er allabendlich lag, da sollte Maria nun liegen. Er streifte ihr die Schuhe ab und hob ihre Füße auf das Bett. Sie getraute sich gar nicht auf dies reine Lager, sie kam sich selber so schmutzig vor; ein Frost schüttelte sie. Er zog ihr die Decke bis zum Kinn herauf und breitete ihr noch seine warme Joppe über. Er küßte sie. Es war ein sanfter Kuß; sie kam ihm auf einmal so elend vor und so hilfsbedürftig. Und doch war eine Leidenschaft in diesem sanften Kuß, ein »Dich will ich«.

Sie schloß die Augen, damit er ihre Tränen nicht merkte; sie hielt die zurück, solange er noch bei ihr stand und ihr die Wangen streichelte. Aber als er endlich gegangen war, brachen sie hinter ihren geschlossenen Lidern vor, drängten sich Tropfen um Tropfen durch ihre schwarzen Wimpern und sickerten schwer hinab zu dem schmerzlich verzogenen Mund. Das war zu viel, zu viel! Nun hatte er schon seine Spürhunde ausgeschickt – oh, sie erkannte den Iltis-Jakob, den Schwarzen Peter! Und dann kam er selber. Nun, sie sollten nur kommen! Entschlossen sprang sie auf und warf die Decke von sich, aber dann sank sie mutlos wieder zurück: war sie, ein Mädchen, denn stark genug, den dreien zu wehren? Was sollte sie tun, was sollte sie tun?! Sie wühlte ihre Stirn in das Kissen. Dies war sein Bett, sein reines und glattes Bett, in dem sie zum ersten und zum letzten Male jetzt ihre Glieder streckte – ach, sie war müd! Hier hätte sie liegen mögen und schlafen bis zum Jüngsten Tag. Eine unendliche Traurigkeit war in ihr. Unter tiefen Seufzern faltete sie die Hände.

Heute in der Stunde der höchsten Not fand sie auch eigene Worte; sie gebrauchte nicht mehr die hergebrachten, alltäglichen Worte des Gebets, sie stammelte eigene Bitten in inbrünstigem Flehen. Und wie sie sich so sprechen hörte mit Einem im Himmel, der ihr ein besserer Vater war als der auf Erden, wurde sie ruhiger. Sie stand auf, sie strich das Bett des Martin sorgfältig wieder glatt, und es war ihr, als streichele sie ihn selber. Mochte er auf diesem Kissen einst mit einer ruhen, die besser zu ihm paßte als des Hans Basts Tochter! Jetzt ging sie zu dem hinauf! Ernst, fast feierlich war ihre Miene. Sie hatte mit ihm zu reden und, wenn er sie totschlug darum, sie starb gern für die in der Mühle.

Die Sterne schimmerten, sie brauchte kein anderes Licht. Sich aufs Geländer der Treppe stützend, glitt sie lautlos hinab, ohne auf die knarrenden Stufen zu treten. In der Krankenstube hörte sie sprechen – des Müllers und Martins Stimmen –, in der Küche hantierte auch einer, und als sie jetzt sich über den Hof schlich, rief drinnen im Kuhstall der Nikla: »Hü, Braune, steh!«

Der Hund lag noch an der Kette, sie machte ihn los: »Pass' auf, pass' gut auf!« Das kluge Tier sah aufmerksam nach ihrem erhobenen Finger und wedelte dann. Es geleitete sie bis ans Hoftor, blieb dann stehen und sah ihr nach.

Nun war sie unbemerkt draußen; sie ging um die Mauer herum zu dem kleinen Steg, der gleich aus dem Gärtchen über den Mühlbach führte. Die Bretter zitterten von der Gewalt des Wassers, das unter ihnen dahinschoß, und schwankten bei ihrem eiligen Schritt. Sie lief geradauf, die steilste Abkürzung hinan. Hier ließen die Müllerssöhne das gefällte Holz hinuntergleiten, die Rutsche war so glatt wie poliert, aber sie klomm sie hinan. Sie hatte gar kein Gefühl, daß das schwer war, sie merkte auch nicht, daß es jetzt dunkel war und sie ohne Weg durch Gestrüpp sich Bahn brach. Sie raste bergan, sie mußte ja eilen, mußte ihn zurückhalten oben und dann wieder unten zurück sein, wenn ihre Nachtwache begann. In ihren Schläfen hämmerte das Blut, vom raschen Lauf stachen ihr die Seiten, das Atmen tat ihr weh, aber sie rannte. Gott sei Dank, nun sah sie wieder die Sterne! Das Dickicht war zu Ende, sie hatte die Höhe erreicht.

Ganz einsam lag die Krinkhofer Flur, eine Einöde unter nächtlichem Himmel. In der Hütte des Schmieds brannte ein Licht. Der trübgelbliche Schein sickerte durch den Türspalt. Maria drückte die Klinke nieder – verschlossen. Sie legte das Ohr an den Spalt: drinnen ein Flüstern, ein Rascheln, sie hörte die Leiter ächzen, die hinauf zum Dachgeschoß führte.

Jetzt rief der Schmied: »Wer da?«

»Ich, die Maria!«

Nun öffnete er: »Du –?« Es war Erstaunen in seinem Ton und Unwillen. »Wat willste?«

Fast war es ihr so, als wollte er sie wieder hinausdrängen, aber sie ging stracks durch den Flur und in die Stube hinein. Da war es wie immer, Feuer brannte im Herd, und der Kienspan schwelte, und doch war's nicht wie immer. Hier hatten ihrer mehrere gesessen, nicht Hans Bast allein. Auf dem Tisch standen noch vier Halbleere Schnapsgläser.

Sie sah dem Mann gerad ins Gesicht. Nie hatte ihre Stimme so wie heute geklungen, so entschlossen und jeder Unterwürfigkeit bar. »Ich weiß wohl, der Iltis-Jakob, der Schwarze Peter und der Metzger Bruttig sind bei Euch – Ihr hättet sie nit nach oben zu schicken gebraucht. Ich weiß et, Ihr wollt heut zur Nacht in der Mühl einbrechen und –« sie holte tief Atem.

»Du träumst.« Er versuchte ein Lachen, aber das kam nicht recht heraus. »Maria, du träumst!« Wieder versuchte er den alten beschwörenden Ton. Aber sie schüttelte energisch den Kopf.

Woher wußte das Mädchen, was sie heut vorhatten? In einer Stunde hatten sie aufbrechen wollen. Um die Mitternacht zog der Mond auf, bis dahin mußte schon alles geschehen sein. Neben der Mahlstube schliefen die Söhne – ins Zimmer der Kranken stieg man durchs Fenster ein – das Fenster würde offen stehen, so wie er es angeordnet hatte – vor die Tür, die von hier in die Kammer der Söhne führte, schob man den Riegel – im Krankenzimmer war nur die Maria – sie würde den Mut nicht haben, zu schreien. Und durchs Mahlstubenfenster drangen derweil der Schwarze Peter und Bruttig ein, die fürchteten Tod und Teufel nicht, die wurden auch mit den Jungens fertig, sollten die in ihrer Kammer sich nicht einschüchtern und sich nicht binden lassen. Hofhund und Hofmauer waren kein Hindernis. Iltis-Jakob stand an der Haustür. So war alles aufs beste verteilt, der Plan gut gemacht – alles geschwind und leise. Und nun kam die und wollte ein Hindernis sein?!

Mit funkelnden Augen sah Hans Bast seine Tochter an: sie sollte es nur wagen, ihm zuwider zu sein! Maria hatte eine Bewegung gemacht, als wolle sie wieder umkehren zur Tür. »Halt's Maul, setz dich, du bleibst eweil hier!« Er packte sie bei der Schulter, sein Griff war so gewaltig, um Knochen zu brechen. Aber sie riß sich los, er vermochte es nicht, sie zu halten.

Sie ballte die Faust gegen ihn: »Ich schrei: Diebe! Räuber! Ich schrei die unten wach, sie hören euch kommen!« Ihre Stimme, die sonst sanft war, schrillte durchdringend: »Den Franzos habt Ihr totgemacht, den Mungel in der Linnich auch, aber denen unten rührt Ihr kein Haar an. Ich will et nit, ich tu et nit leiden!«

»Du hast nix zu leiden.« Er stieß sie zur Seite, sie hatte sich vor ihn gestellt. »Aus dem Weg, Fraumensch!«

»Ich geh nit aus 'm Weg, ich bleib Euch im Weg. Ich leid et nit, dat Ihr denen wat antut. Bleibt! Ihr bleibt!« Sie packte ihn an, sie krallte sich in seine Kleider.

Er wollte sie abschütteln, aber sie hielt sich fest an ihm; wenn er sie schon gedachte zu Boden zu werfen, so gab sie geschmeidig seiner Bewegung nach, schnellte sich dann wieder auf mit ihm. Er wurde sie nicht los, sie hing ihm an, wie mit ihm verwachsen. Er keuchte, sie keuchte; sie rangen miteinander, Vater und Tochter, zwei erbitterte Feinde.

Nun ließen Marias Kräfte doch nach. »Tut ihnen nix!« ächzte sie.

Den Augenblick ihrer Schwäche benutzte der Mann; als er ihre Hände sich lockern fühlte, fuhr er ihr mit der Faust ins Gesicht und stieß sie so wütend von sich, daß sie zu Boden stürzte. »Laß deinen Fürwitz – dat haste dafür!«

Sie hatte sich weh getan, im Fallen hart die Tischecke gestreift, aber sie gab keinen Schmerzenslaut von sich. Langsam richtete sie sich wieder vom Boden auf. Und da erschrak er. Aus einem todbleichen Gesicht starrten ihn zwei Augen an – Augen wie Flammen, Augen der Cherubim am Tag des Gerichts. Blut strömte über das Gesicht, an der Stirn klaffte eine Wunde. Und die Hand hoch erhoben, als hielte sie das flammende Schwert, so rief sie mit einer Stimme, die nicht der Maria Stimme mehr war – sie hatte einen ehernen Klang, sie deuchte ihm schier übernatürlich: »Du bist verflucht, du Mörder! Ich zeig dich an!«

Es war ihm, als schlüge jedes Wort wie ein Hammer auf seinen Kopf. Er wollte sich wieder auf sie stürzen, ihr den Mund zuhalten, aber er konnte es nicht. Die Arme waren ihm auf einmal ganz schwach. Das war doch schrecklich, was dieses Mädchen da schrie – seine eigene Tochter!

Sie weinte plötzlich laut auf, fiel vor ihm nieder, umfaßte seine Knie: »Hört auf mich, hört auf mich! Tut ihnen nix!«

Es zuckte ihm im Fuß: sollte er sie treten, zu Boden stampfen? Aber sie weinte, wie er noch nie einen Menschen hatte weinen hören; nicht sein Weib, wenn er das schlug, und nicht einen, der ihn um Gnade bat. Dieses Weinen war fürchterlicher. Und dieses Blut, das ihr übers Gesicht rann, war auch fürchterlich. Das klagte ihn an.

»Steh auf!« Sie war auf einmal ganz still geworden, ihre Stirn berührte den Estrich; sie stand nicht auf, blieb wie leblos liegen. Da faßte ihn ein Grauen: was hatte er ihr getan?! Um die da unten in der Mühle, um die weinte sie so? Und um die hatte er das Blut seines Kindes vergossen? Um Leute, die er haßte, weil sie all das hatten, was er nicht hatte: Besitz, Ehrbarkeit und ein ruhiges Gewissen. »Was gehen sie dich an!« schrie er rauh.

Da hob sie den Kopf, ein weicherer Ausdruck verschönte ihr zerstörtes Gesicht: »Eine Mutter is da unten – ich hatt' als so lang keine Mutter mehr. Der Martin is da – er hat mich lieb –, wenn ich dem Hans Bast seine Tochter nit wär, könnt ich den freien.« Der weiche Ausdruck verschwand, jetzt war nur noch Gram in ihrem Gesicht: » So nit.«

»Ich bin der Sippschaft als Vatter wohl nit gut genug?« Er lachte in kalter Wut. »Wart, die sollen mich kennenlernen!« Und dann, eh sie wußte, wie ihr geschah – sie konnte sich nicht mehr wehren, so gewaltig faßte er sie um den Leib – schleifte er sie zum großen Schrank. Er riß den auf – die Hinterwand wich. Er stieß die Halbbetäubte in den dunklen Raum, die Feder der Rückwand schnappte wieder ein – sie war gefangen. Sie hörte noch sein zorniges Lachen. Dann war alles still, er hatte die Schranktür verschlossen. –

Mit steifen Knien klomm Hans Bast die Leiter zum Dachgeschoß hinauf: warum ließen die oben denn nichts von sich hören? Lange genug hatten die sitzen müssen und warteten auf ihn. Die Maria – die Maria –! Sie war ja jetzt still.

Da war der winddurchpustete Speicher und, durch Bretter abgetrennt, die schmale Kammer der Tochter. Aber kein Mensch. Hans Bast sah sich um: o die Halunken! Die Luke stand offen, nicht allzu tief war's zur Erde, da waren sie hinuntergesprungen, heimlich abgezogen, und ohne ihn! Die Gierschlunge! Und er hatte es doch ausgekundschaftet, den Plan gemacht! Er fluchte, aber die rechte Wut war nicht in seinem Fluchen. Noch konnten sie nicht unten im Tal sein, sollte er ihnen nacheilen? Sie würden sich herausreden: vorausgegangen, zum Auskundschaften. Er spuckte aus: verächtliches Pack! Sie hofften die Beute allein zu machen, nicht mit ihm teilen zu müssen.

Langsam kroch er wieder in die Stube hinunter. Da war es totenstill. Wo vorhin der Tochter Stimme gebeten, geweint, gedroht und angeklagt hatte, so seltsam stark wie aus einer anderen Welt, da nagte jetzt keine Maus, und kein Holzwurm schrappte. Selbst das Feuer auf dem offenen Herd knisterte nicht mehr, es war zusammengesunken in Asche.

Der Einsame ließ sich schwer nieder; mit einer einzigen Handbewegung fegte er die Schnapsgläser vom Tisch, daß sie klirrend in einer Ecke zerschellten. In düsterem Brüten senkte er den Kopf auf die Brust. Ihnen nachzugehen, daran dachte er jetzt nicht mehr – mochten die drunten alles allein an sich reißen! Nun wünschte er fast, die Müllerssöhne wären wach und schickten ihnen eine Ladung Schrot in die Beine. Dann würde die Maria auch Ruhe geben, ihm nicht mit ihren Bitten mehr in den Ohren liegen. Ihre Drohungen fürchtete er nicht – sie würde ihn nun und nimmer verraten, sie war sein Fleisch und Blut – aber ihr Flehen, ihr Jammern. Und dieses Weinen, dieses Weinen! Er hörte es noch immer ganz deutlich.

Der in sich Versunkene sah sich scheu um – sie war nicht mehr da. Ob ihr auch in dem luftlosen Raum der Atem ausging? Er lauschte. Der Bruttig hatte neulich gesagt, man ersticke fast da drinnen. Freilich, der hatte Stunden und Stunden im Versteck gesessen; ganz in Schweiß gebadet, naß wie eine Maus, die voller Angst in der Falle sitzt, war er wieder zum Vorschein gekommen. Das rote Haar hatte an seiner Stirn geklebt, die mit Sommersprossen besprenkelten Hände hatten gezittert. Ob es nicht besser war, er ließ das Mädchen heraus? Schon machte er einen Schritt zum Schrank, dann ging er doch lieber zur Tür. Eingefleischte Gewohnheit trieb ihn zum Spähen.

Er stand vor seiner Hütte, das Ohr in die Richtung des Üßtals geneigt. Sie mußten jetzt lange schon unten sein. Es war auch an der Zeit, der Mond begann hell zu scheinen. Da – plötzlich ein Knall! Und nun noch mehr Schüsse. Dumpf rollten sie in den Schluchten wider, ein Echo vervielfachte sie.

Wie dumm, wie dumm, was schossen sie denn wie toll?! Sie zogen mit ihrem Schießen sich das Dorf und die Einwohnerwehr auf den Hals. Voller Unruhe kletterte der Mann auf die Tanne. Nichts, was beunruhigte, konnte er sehen. Tief unten, in friedvollem Schweigen, das vor kurzem noch dunkle Tal, jetzt freundlich beglänzt vom Mondlicht. Die Sterne, die am nächtlichen Himmel geflimmert hatten, waren nicht sichtbar, das mehr und mehr flutende Mondsilber hatte alle gelöscht. Heller als am Tag sah man die Felsnasen der Mühlschlucht aus dem Wald emporragen. Es war dem scharf Lauschenden fast, als höre er den Wildbach brausen und donnern.

Sollte er hinuntereilen, den Genossen zu Hilfe kommen? Er wurde das unheimliche Gefühl nicht los: denen war der Überfall nicht geglückt. Die Schüsse, die Schüsse! Schon schickte er sich an, von der Tanne herunterzuklettern; dann blieb er doch oben, stieg in die höchste Spitze hinauf, die unter seinem schweren Gewicht schwankte und schüttelte, hielt sich da fest und lauschte: würden sie kommen? Die Nacht war kalt, ihr Atem noch eisig hier oben; wie Wölfe kamen plötzlich dunkle Wolken daher, der Mond verkroch sich vor lauter Angst.

Frierend, ungeduldig harrend, hing der Mann oben im Baum. Noch immer kam keiner zurück. Die Hände verklammten ihm, er konnte sich kaum mehr festhalten. Vom Wind, der gegen Morgengrauen wie ein Sturm zu blasen begann, und von der eigenen peinvollen Ungewißheit hin und her geschüttelt, hing er im Baum wie eine Frucht, die bald fallen muß. – – – – –

Unten in der Mühle hatten Vater und Sohn still bei der Mutter gesessen. Als die Kranke noch immer schlief, wagten sie es dennoch nicht, leise zu flüstern. Nur nicht sie stören, es tat ihr ja so gut, zu schlafen nach den letzten Angststunden am Vormittag.

Der Alte ging Jahre um Jahre zurück; er blätterte sie um, wie die Seiten in einem Buch, in dem man seine Lieblingsstellen hat, die man immer wieder und wieder noch einmal liest. Wie schön war es doch gewesen, als er seine junge Frau in diese Stube hier führte! Die war ganz neu hergerichtet, sauber gekalkt und ein Kachelofen gesetzt, hoch und breit, der behaglich wärmte, selbst wenn es draußen fror, daß der Wald überm Bach knackte. Der Vater hatte ihm die Mühle hinterlassen ohne Schulden, er selber hatte auch nie welche zu machen gebraucht. Müllersein nährt, von jedem Sack Korn den soundsovielten; man braucht kein ungetreuer Müller zu sein, der mehr nimmt, als ihm zukommt. Früher, eh all der Krieg kam und die unsicheren Zeiten, was waren da für Gespanne bei der Mühle vorgefahren! Die ganze Eifel ließ beim Üßmüller mahlen. Und wie die Frau den Haushalt verstand! Ihrer Hand glückte alles: die Blumen am Fensterchen, die Kühe im Stall, das Federvieh auf dem Hof – und die Kinder. Hier hatte sie die geboren. Das war eigentlich doch der schönste Tag, wenn sie ihn anlachte: »Vatter, als wieder'n Jung!« Als sei es gar nichts, so kamen die auf die Welt. Und wenn die Kinder beim Zahnen schrien, litt sie es nicht, daß er sie trug, dann stand sie nachts auf, ging mit leisen Füßen in der Stube umher und wiegte das Kindchen im Arm, bis es still war; unter der weißen Mütze guckte so lieb ihr rundes Gesicht. Auf der Kirmes konnte er noch immer Staat mit ihr machen; andere Frauen mit drei Kindern tanzten nicht mehr, sie aber war noch flink wie ein Kreisel und ebenso unermüdlich. Und als der Treibriemen ihn einmal beim Ärmel gepackt hielt, der Arm ihm gebrochen wurde, wie hatte sie ihn da gepflegt; keine Nonne, die im Kloster das Pflegen gelernt hatte, konnte geschickter zufassen als sie. Am liebsten aber saß er mit ihr auf der Bank vor der Tür, am Abend. Noch schien die Sonne ein bißchen und machte die Hänge der Felsen schön wie Purpur und Gold, vom Mühlbach wehte es kühl und erquickend nach heißem Tag, da hatte sie nach seiner Hand gefaßt und gesprochen: »So is et im Paradies!«

Des alten Mannes Kopf senkte sich wie beschwert von glückseliger Erinnerung.

Der Alte dachte zurück, der Junge nur vorwärts. Wenn die Maria erst sein war! In Martin flammte das Glück auf: dann tauschte er mit niemand auf Erden mehr. Dann wohnten sie hier in dieser Stube, schauten aus diesem Fenster ins kleine Gärtchen, sahen den Wald im Winterschnee und in Sommersonne, saßen an diesem Tisch, schliefen in diesem Bett – so hatte die Mutter es ihm gesagt. Die gute Mutter!

Er schaute plötzlich auf sie, es war ihm, als hätte sie tief geseufzt. Ganz seltsam tief. Er sprang auf: »Mutter! Wollt Ihr wat?«

Sie gab keine Antwort.

Nun sprang auch der Müller auf, seine Erinnerungen hatten ihn eingelullt gehabt; er faßte die Hand seiner Frau: »Mutter, wat is dir?« Ihre Hand lag in der seinen, ganz ohne Gegendruck, und sie wurde so kühl.

»Maria, Maria!« Die Maria mußte gleich kommen, die wußte am besten mit Mutter Bescheid. Aber so laut auch Martin an der Treppe rief, ihre Stimme gab ihm von oben nicht Antwort. Da lief er hinauf.

Das Bett war in Ordnung gebracht, glatt gestrichen, sie war schon aufgestanden – wo war sie denn nun? Von den Brüdern hatte sie keiner gesehen. Wo war sie, war sie denn fortgegangen?! Verstört lief Martin umher, die beiden Brüder suchten mit ihm. Sie schauten in jedem Raum nach, in Speicher und Keller, sie riefen laut ihren Namen – vergeblich.

Derweil saß der Müller bei seiner Frau, ihre Hand wurde kühler und kühler. Was war nur mit ihr? Der alte Mann beugte sich über sie, ganz ängstlich forschend.

Jetzt hörten die Söhne den Vater plötzlich laut aufschreien, sie stürzten ins Zimmer. Da stand er mitten in der Stube, reckte die Hände gen Himmel und rief: »Sie is tot.«

Die Mutter tot. Ohne Klage, ohne Kampf, friedlich entschlafen. Die Söhne knieten am Bett nieder.

*

Noch schien der Mond nicht. In der Stube saß der Alte, sonst noch aufrecht, jetzt ganz zusammengesunken. Ach, daß die Maria fehlte! Unter Tränen hatte Martin, so gut er es vermochte, die Mutter feierlich gebettet, ihr die Haare glatt unter die Haube gestrichen, ehe die kalten Hände erstarrten, sie ihr gefaltet und das Kruzifix vom Weihwasserkesselchen an der Wand ihr zwischen die Finger gesteckt.

In den Jammer um seine Mutter mischte sich seltsame Angst um Maria. Wo war sie, was hatte sie fortgetrieben?

Der Hund lief zum Hoftor und winselte laut, seine Nase witterte ihre Fährte; er rannte ein Stück ins Dunkel hinein, kam dann zurück, den Schwanz eingezogen, setzte sich hin, hob den Kopf und heulte den Himmel an. Aus den Felsen jaulten die Marder Antwort. Es war nicht zu ertragen. Nikla sagte den Hund in den Stall und machte die Türe zu.

Nun war heilige Stille. Der Müller hatte die Söhne schlafen geschickt: nein, er wollte es nicht, daß sie mit ihm wachten. Noch einmal wollte er ganz allein sein mit seinem Weib, die letzte Nacht wie die erste.

Martin hatte sich widersetzt, er wollte durchaus auch im Sterbezimmer bleiben – ach, er konnte ja doch nicht schlafen! Nun er aber oben im gewohnten Kämmerchen lag, nichts hörte als das eintönige Rauschen des Mühlbachs, dämmerte er trotz allem doch ein; die Müdigkeit der Jugend übermannte Gedanken und Tränen. Bald hörte er auch das Rauschen des Wassers nicht mehr. Tief unter ihm lagen die tote Mutter und das Trauerhaus, die ganze Welt war versunken. Er stand mit Maria vorm Traualtar. –

Im Sterbezimmer flackerte die geweihte Kerze. Das Fenster stand offen; die Kranke brauchte jetzt die frische Luft zum Atmen nicht mehr, aber die Seele der Toten mußte hinausfliegen können in die ewige Weite. Der Mann saß seitlich am Bett und sah unverwandt in das stille Gesicht. Er redete murmelnd mit seiner Frau: Liebesworte, wie er sie kaum je im Leben zu sprechen gewußt, dazwischen Gebetsworte, wie sie vorgeschrieben stehen im Gebetbuch. Er fühlte Schmerz, aber sein Schmerz war andächtig: die lag wie verklärt. Und er würde ja auch nicht mehr lange zu leben brauchen, er hatte nun nichts mehr auf Erden zu tun. Die Kinder waren groß und versorgten sich selber, er gehörte zu seinem Weib. Kummer war auf seiner Stirn und doch eine heilige Hoffnung – da, ein leichter Knall!

Durchs offene Fenster fuhr etwas herein – es gab kein Glasscherbengeklirr, keinen lauten Lärm – ohne Laut sank der alte Mann auf die Seite. Er lag auf dem gleichen Kissen mit seiner Frau.

Aber jetzt wurde es in der Mühle lebendig. Aus dem Kammerfenster der Söhne fiel Schuß auf Schuß. Die beiden hatten noch nicht geschlafen, sie hatten sich leise flüsternd miteinander unterhalten, der Gedanke, was nun, da die Mutter tot war, wohl werden sollte, hatte sie beschäftigt und wach gehalten.

»Lauf du an die Haustür«, schrie Hubert dem Nikla zu. Sie waren handfeste Kerle und unerschrocken, sie teilten sich in die Verteidigung.

An der Haustür stand einer, aber er lief davon, als der Nikla unvermutet die Tür aufriß: »Holla, wat wollt Ihr?«

Erst in einiger Entfernung wagte der Kerl zu schießen, sein Schuß traf nicht. Nun schoß der Nikla. Der Räuber zog sich nach der Hofmauer zurück. Wo kam der Hund plötzlich her? Nikla staunte. Mit gesträubtem Fell, in gewaltigen Sätzen war das große Tier aus dem Stall gestürzt; der treue Wächter hatte genau gehört, unter seinem Ansprung war die Tür gewichen.

»Bello, fass', fass'!« Der Hund fuhr dem Fremden an die Kehle, der hatte mächtig zu tun, sich des Tieres zu erwehren.

Mutig wie der Hund waren die Herren. »Nikla,« schrie der Hubert, »Obacht, da laufen se schon, schick den Hund hinterher!« Er pfiff dem Hund. Diesen Augenblick benutzte der gestellte Räuber, um über die Hofmauer zu entkommen.

Man sah jetzt drei dunkle Gestalten beim Brückchen am Bach. Sie versuchten jetzt von der Wasserseite, wo keine Mauer mehr sich zog, vom Gärtchen her den Angriff. Knall, Knall – Schuß wider Schuß. Es ging zu wie in einem Gefecht. Der tapfere Hund, der sich knurrend und bellend gegen die Räuber stürzte, fiel. Wenn nun noch einer von denen in der Mühle hin war, dann war's an der Zeit, die zu stürmen.

Aber der Hubert war der beste Schütze. Plötzlich ein lauter Fluch – einer von den dreien am Bach brach zusammen. Die in der Mühle sahen's und jubelten laut.

»Nehmt mich mit – ist bin kapores«, stöhnte der Iltis-Jakob. Er packte den Schwarzen Peter mit der freien Hand um das Fußgelenk: »Laß mich nit liegen!«

Aber der Schwarze Peter riß seinen Fuß los und gab dem Verwundeten noch einen Tritt: »Geh zum Teufel – dat is für die Anne!« Sprang in gewaltigem Satz über den schwankenden Brettersteg, daß das schäumende Wasser darüberhin schwuppte, und war im Dickicht gleich verschwunden. Der dritte ihm nach.

Die aus der Mühle feuerten noch immer. Ein Hohngelächter hallte aus dem Walde zurück.

Iltis-Jakob krümmte sich in wilden Schmerzen – sein Bauch, sein Bauch, eine Kugel im Eingeweide! Halb wahnsinnig vor Pein fluchte er denen da drüben, die ihn getroffen hatten, aber mehr noch dem Schwarzen Peter, der ihn im Stich gelassen. Wenn er den wieder zu packen kriegte, den ließ er dann nicht mehr los, den nahm er gleich mit in die Hölle! Auf allen vieren kroch er dem Brückchen zu. Der Mond schien jetzt hell, aber die von Todesdunkel umflorten Augen fanden den Steg nicht mehr, Iltis-Jakob plumpste daneben ins Wasser.

Als die Brüder, die Büchse schwingend, gelaufen kamen, riß der wild brausende Bach ihn gerade fort. –


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