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War das nicht unerhört, eine Frechheit ganz ohnegleichen? Ein französischer Bursche, der, auf seinen Herrn wartend, mit dessen Pferd an der Eurener Flur hielt, war heruntergerissen worden von dem Begleitpferd, geschlagen, malträtiert; betäubt hatten die Räuber den Armen liegenlassen am Weg, waren mit beiden Pferden entflohen.
Der Jude Moyses Mohnsam aus Bridel war der wichtigste Zeuge, der war in der Nähe vorbeigekommen, hatte die Räuber noch reiten sehen. Als er »zu Hilf« und »Diebe« schrie, hatte noch einer sich umgedreht, sein Pistol nach ihm abgeschossen. Der Schuß hatte des Juden Kopf dicht gestreift. Nun bekam Moyses Mohnsam die für jede Nachricht über den Täter ausgesetzte Belohnung.
Die Belohnung war hoch, der französische Präfekt war in Wut über den an französischem Gut und an einem französischen Soldaten begangenen Frevel. Auch die deutsche Justiz wurde aufgerüttelt, etwas weniger lässig war sie diesmal als sonst. Es wußte ja kein Beamter mehr, ob er lange noch auf seinem Posten verblieb oder kurz, nur ein Zwinkern, ein Wort, vielleicht an sich harmlos, genügte, um mißfällig zu machen; der Posten wurde anderweitig besetzt. Das machte lahm.
Jetzt erließ die Justiz ein Umschreiben. Alle Friedensrichter wurden ersucht, strengste Aufsicht zu führen in ihren Kantonen. Das herrenlose Gesindel witschte behend aus einem Kanton in den anderen, an der Grenze eines jeden hatte die Polizei bisher haltmachen müssen, das Wild nicht verfolgen dürfen auf fremden Jagdrevier. Nun aber sollte einheitlich vorgegangen werden, alle Kantone unter eine Polizeigewalt gestellt sein. Die Banden wurden zu frech, es konnte sich niemand mehr über Land getrauen. Marodeure, dem Heeresdienst entwischt, machten die Straßen unsicher mit ihrem Hunger; holten der Bäuerin die Eier aus dem Stall und die Hühner dazu. Sie tranken der Kuh auf der Weide das Euter leer, und wurde ihnen am einsamen Haus keine Gabe gespendet, so schreckten sie mit Drohungen die Bewohner.
Niemand durfte ohne Paß mehr beherbergt werden. Die Tag- und Nachtwächter waren zu verdoppeln. Die Polizei zu verstärken. Der Erlaß lautete ferner:
»Ein großer Streifzug wird unternommen. Die Teilnehmer haben sich zu versammeln am Duodi, dem 2. Brumaire des Jahres V. der Republik« – dahinter stand in Klammern für die, die den Kalender der Republik noch nicht innehatten: (am 23. Oktober 96 alter Rechnung) – »auf dem Domfreihof, morgens 7 Uhr. Wer sich beteiligen will, kann sich einfinden, Jäger und frühere Militärs sind besonders willkommen. Schießgewehr und Munition werden von der französischen Militäroberbehörde den dafür Haftbaren zur Verfügung gestellt.«
Acht Tage vor dem festgesetzten Termin war die Bekanntmachung des Streifzuges schon an der Domtür angeschlagen gewesen, auch noch am Roten Haus und an den Straßenecken. Aber es fanden sich außer der Polizei nur wenige dumme Jungen ein, die es nach Abenteuern gelüstete. Eine geheime Angst hielt den Bürger zurück.
Bürger Mohr sagte zu Bürger Rentenbach: »Ich holen kein Schießgewehr in die Hand. Denn wer is dat größte Übel? Der Finger könnt einem am Hahnen zucken, dat Gewehr einem losgehen am unrechten Platz.« Vergrämt sahen sich beide Männer verständnisinnig in die Augen. Ach ja, die Zeit war vorbei, in der der Wahlspruch des biederen Trierers zu seinem Recht kam: »Eich ässe gäre gut, eich drinke gäre gut, un dahingegen will ich mein Ruh han.« Man aß nicht mehr gut – es war alles zu teuer. Man trank nicht mehr gut – die Franzosen hatten allen Wein ausgeführt. Und Ruhe kannte man auch nicht mehr. Die Zeit war toll, es stand alles auf dem Kopf, man war selber mit aus den Fugen gegangen wie ein alter Schrank, der das Herumrücken nicht verträgt. – –
Aus der Eulenpütz, dem heimlichen Gäßchen hinter den gewaltigen Dommauern, kam eine geschlichen. Sie trug ein dunkles Tuch überm Haar und hatte das noch tief in die Stirn gezogen. Dem Anzug nach schien sie alt, dem Gang nach jung; der federnde Tritt ließ sich durch absichtliche Verlangsamung nicht verbergen. Sie stand an der Domtür still und studierte lange die Bekanntmachung. Dann ging sie wieder, wie ein geducktes Bettelweib an den Häusern entlang sich drückend.
In der Eulenpütz standen nur ein paar armselige Häuschen, Leute von gutem Ruf wohnten nicht hier. Die Gasse war verrufen, die Wache, die durchpatroullierte, hatte vor nicht allzu lange drin einen Bürgersohn aus gutem Haus gestochen gefunden. Wie das gekommen, das war niemals recht laut geworden, man munkelte nur allerlei; die Untersuchung war niedergeschlagen worden auf Wunsch der einflußreichen Familie, und der junge Mann hatte, kaum genesen, die Stadt verlassen. Ob es wirklich die Franzosen gewesen waren, die ihn überfallen hatten? Es wurde etwas verbreitet von einem Zusammenstoß. –
In der Eulenpütz, in dem niedrigsten Haus ganz im Schatten des Domes, wohnte ein altes Weib mit ihrer Tochter. Das Haus hatte jahrelang leer gestanden, Mäuse und Ratten nur hatten darin herumgefegt und Fledermäuse wie welke Lappen im Sparrenwerk des Dachs gehangen. Die Alte schien nicht sehr wählerisch, war wohl froh, eine Wohnung gefunden zu haben. Die Buzliese war schon viel umhergezogen, hatte zuletzt in Faid an der Mosel gewohnt. Ob sie lange hier geduldet werden würde? Sie verhielt sich ganz still, man sah sie nie, zuweilen nur das Mädchen, das sie für ihre Tochter ausgab, die Buzliesen-Amie. Und dann war noch die Dienstmagd im Haus. Die ging alle Morgen einkaufen und holte das Wasser vom Brunnen, aber wenn die Leute auch freundlich zu ihr reden wollten, denn sie hatte ein hübsches Gesicht und traurige Augen, blieb sie einsilbig.
Heut nacht war's in der Eulenpütz sehr dunkel, nur das rote Laternchen über der Buzliese Tür flimmerte. Herbstregen klatschte nieder, und der Wind trieb noch immer mehr Wolken zusammen. In dem einzigen Raum des Untergeschosses – Hausflur und Stube zugleich – saß die Buzliese in einem Winkel und nickte. Wie Spinnweben hing es über ihr Gesicht, einzelne Haare, lang und grau, hatten sich aus der Haube gestohlen und verschleierten Stirn und Wangen. Die rot geränderten Augen pliierten wie die eines Nachtvogels. Nichts stand von Möbeln in der Leere des Raums als ein Tisch mit zwei Bänken längsseits und an der anderen Wand das Bett der Alten, eine Lagerstätte, die nicht gerade lockte. Das einzig Wohnliche war ein Ohrenstuhl, mit zerschlissener Seide bezogen; drin saß, wie ein Kätzchen zusammengekuschelt, die junge Amie. Am Herd stand die Magd, die Hände ineinandergeschlungen und starrte ins Feuer. In der dunkelsten Ecke der Hinterwand ging eine Falltür hinab in den Keller; nie traf ein Lichtstrahl dorthin. Eine Leiter in der anderen Ecke führte zum Eingang des Obergeschosses; den verschloß eine Falltür.
Die schöne Amie gähnte: heut war wohl niemand zu erwarten, keiner aus der Stadt und auch sonst keiner – konnte sie jetzt nicht zu Bette gehen?
Die Buzliese gab keine Antwort, sie horchte nach außen; verstohlene Tritte, nur dem geübten Ohr vernehmbar, schlichen durch die Eulenpütz. Alle Verschlafenheit war plötzlich von ihr gewichen, durch das Spinnweb des Haares funkelten ihre Augen. Jetzt ein Kratzen an der Tür, wie ein Hündchen kratzt.
»Die Jule! Mach' auf!« fuhr Buzliese die Magd an. Diese schob die schweren Riegel zurück und legte sie dann sogleich wieder vor.
Die Bänkelspielerin stand in der Stube. Jetzt warf sie das verbergende Tuch vom Kopf, richtete sich schlank auf und sagte hastig: »Sie kommen. Placken-Klas, Schmu-Balzer, Schnallen-Joseph, Petronellen-Michel und Husaren-Philipp. Der schwarze Peter und Iltis-Jakob sind auch mit unterwegs.«
»Ist der Hannes auch dabei?« Buzliesen-Amie fragte es hastig. Sie war aus dem Sessel aufgesprungen und strich sich mit beiden Händen das verworrene Gelock hinter die Ohren.
Die Julie blitzte sie zornig an: was ging dieses grüne Ding der Hannes an? Sie würdigte das Mädchen keiner Antwort. »Beim Krämer Kutzbach zu Conz haben sie den Laden geleert. Mehl, Zucker, Würste, Wachslichter, Leinwand, schwere Packen von fein Aachener Tuch und 'ne Masse Schnaps. Sie werden gleich hier sein.«
Buzliese hopste vor Freuden. »Da fällt für mich Hemd und Kleid ab! Feine Masematten! Ist's gut gegangen?«
Julie lachte: »Am Vormittag hab ich im Laden gebettelt. Der Krämer schläft im oberen Stock, nur der Hund unten. Dem hab' ich zu Mittag ein Stück Fleisch geschenkt; heut nacht, als sie den Laden aufbrachen, lag der schon tot. Gemächlich haben sie ausräumen können. Ich hab' Schmiere gestanden.«
»Und is keiner zu Schaden gekommen?«
»Sie haben die Schnelles Schnelles = Flinten. nit gebraucht. Nur einer, der nach oben ging, als der Krämer sich rührte und Licht anschlug –«
»Ist der Hannes blessiert?« fuhr Amie dazwischen.
Julie schlug ihr grob ins Gesicht: »Hast dich nit zu kümmern. Der Hannes is mein!« Sie fuhren gegeneinander los.
Buzliese warf sich dazwischen: »Seid ihr ganz toll?«
Amie weinte: »Sie hat mich geschlagen.«
Julie höhnte: »Dir Katz schneidt mer die Krallen!« Wieder packten sie sich.
Da ertönte draußen ein Eulenschrei – das »Kochemloschen« Gauner-Erkennungszeichen..
Die Weiber stießen vereint die Riegel zurück, sie waren alle in Aufregung; nur die Magd verharrte regungslos auf ihrem Platz am Herd. Düsteren Blickes sah sie nach den Männern hin, die jetzt, einer nach dem anderen, schwer bepackt sich durch die halb geöffnete Tür zwängten.
Buzliese war wie von Sinnen, kichernd hopste sie um die Beladenen herum. Sie klatschte in die Hände: »Gut gemacht, gut gemacht, seid brave Jungs!«
Der schwarze Peter, ein Hüne von Kerl, der die langen pechschwarzen Haare in einem Ring unterm Kinn zusammengezogen trug, schmiß mit einem Fluch seinen schweren Packen hin: »Verdammich, dat 's schwer!« Er zog Amie an sich.
Die aber entzog sich ihm, sie hängte ihre Blicke an den jungen Schlanken, der die anderen kommandierte, die ihm willig folgten. Also der Bückler war doch dabei, obgleich die Julie ihn nicht genannt hatte!
Buzliese zündete eine Laterne an und leuchtete den Männern voran in die Ecke. Dort wurde die schwere Falltür gehoben, in den gähnenden Schacht, der sich auftat, wurden die Waren verstaut.
Wenn sie die Falltür nun zuwarf, die Räuber drunten gefangennähme – Buzliese und Julie waren auch mit hinuntergestiegen – wenn sie dann liefe und die Wache holte? Für einen Augenblick schoß das der Magd am Herd durch den Kopf. Mit der Amie hier würde sie schon fertig werden, die zu überwältigen war nicht schwer. Es riß die Magd förmlich zur Falltür hin, ihre Nägel bohrten sich in die Innenfläche der geballten Hände, sie stöhnte laut auf: nur sich losmachen, fliehen aus diesem Haus, nicht mehr wissen von dem Stehlen und Hehlen hier! Mit einem schweren Blick sah sie an sich herunter: war sie nicht auch schon schmutzig geworden? Wenn sie doch fliehen könnte! Aber sie hatte kein Geld, und der Weg war weit, und die Buzliese gab Obacht allezeit. Und wenn sie nachts schlief in dem Speicherloch, oben im Giebel, schloß die Alte sie ein, und die Leiter, die von der Falltür nach unten führte, wurde weggezogen.
Die Männer waren wieder heraufgestiegen. Buzliesen-Amie saß jedem derselben einmal auf dem Schoß und schlang ihm den Arm um den Nacken. Sie saßen alle am Tisch; ihre Gesichter waren noch geschwärzt und dadurch unkenntlich gemacht; die Halsbinden hatten sie bis übers Kinn heraufgezogen. Sie tranken von dem gestohlenen Schnaps.
»Komm her!« sagte der junge Anführer zu der Magd am Herd und hielt, ihr lachend zunickend, sein Glas hin. »Trinke auch emal!«
»Ich trink keinen Schnaps.«
Die anderen schlugen ein Hohngelächter auf. Das Julchen, das dicht beim Hannes saß, nahm das volle Glas und schüttete es sich herunter auf einen Guß.
Das war eine! So muß des freien Mannes freie Braut sein! Im Wald, in der Finsternis verlassener Köhlerhütten, in den Erdlöchern, in denen man zuweilen hauste, brauchte man eine, in deren Schoß man sein Haupt betten konnte. Sie war auch nicht bang, und schlau wie ein Fuchs und flink wie ein Wiesel! Es richteten sich begehrliche Blicke auf Julie Bläsius aus Weyerbach. Wäre der Hannes nicht der Hauptmann gewesen, sie hätten ihm das Weibsbild streitig gemacht.
Nur Iltis-Jakob prahlte: er hatte daheim eine so schöne Frau, daß der Richter, der ihn letzthin einmal eingelocht hatte wegen Diebstahl, ihn laufen ließ, als die Anne zu ihm gegangen war.
Die Augen des schwarzen Peters, die so schwarz waren wie seine Mähne, funkelten. Er kannte des Iltis-Jakob Weib, aber er schwieg. Hatte sie doch zu ihm gesagt, als sie ihn besuchte in seiner Köhlerhütte: »Schweig aber, er schlägt dich sonst tot!«
Schnallen-Joseph war nicht so klug, der Junge war eitel; er schob Amie von sich, die auf seinen Knien saß. Auch er kannte die schöne Anne, und er tat noch groß in der Erinnerung: »Hei, die war schön, schöner als jede andere, die ich je im Arm gehabt! Hei, die –«
Ein furchtbarer Schlag traf ihn ins Gesicht. Das Wasser schoß ihm aus den Augen, er konnte nichts mehr sehen, er stürzte hintenüber.
Mit einem Brüllen hatte sich Iltis-Jakob auf ihn geworfen, er kniete schwer auf der Brust des am Boden Liegenden. Schon hatte Schnallen-Joseph des Eifersüchtigen Messer in der Kehle.
Gellend schrien die Weiber auf. Vergebens befahl der Hauptmann Ruhe. Allgemeiner Tumult. Die Bänke stürzten um, der Tisch, die Gläser klirrten zu Boden.
Entsetzt und doch von Genugtuung erfüllt, beugte sich die junge Amie über den Hingestreckten. Sie starrte in sein gänzlich verändertes, stieres Gesicht und schüttelte sich: der war wohl tot? Ihre Fußspitze stieß ihn in die Seite: geschah ihm ganz recht, warum hatte er des Iltis-Jakob Weib schöner gefunden!
Die Buzliese jammerte: Weh, das gab Lärm! Wohin mit dem Toten? Sie schlug ein Kreuz. Man mußte ihn vor die Türe tragen, weiter weg in einen Winkel legen. Kam die Wache etwa schon? Maria Joseph!
Man hörte das Tuten des Nachtwächters. Ein anderer antwortete ihm. Seit die Zeiten unsicher waren, ging die Wache immer verstärkt und gut bewaffnet. Horch, Tritte auf dem holprigen Pflaster! Sie waren in die Eulenpütz eingebogen. Man hatte den Todesschrei draußen gehört.
Geschwind pustete Buzliese das Licht auf dem Tisch aus, nur die Flammen auf dem Herd gaben noch gespenstischen Schein, sie waren so rasch nicht zu verlöschen. Die Alte drängte Amie und Julie zur Leiter: nach oben! Die Leiter wurde weggenommen. Die Männer zogen die Pistolen heraus. Die Augen des schwarzen Peters funkelten wild, er schmeckte schon Blut auf der Zunge. Die sollten nur kommen! Niedergeknallt, niedergestochen, über den Haufen gerannt. Man würde sich schon durchschlagen in die nächtlichen Gärten.
Tritte hielten an vorm Haus, man hörte Stimmen. Eine Faust pochte an: »Aufgemacht!«
Bückler fühlte sich plötzlich an der Hand gefaßt, das Mädchen vom Herd riß ihn mit sich fort. Er fühlte sich in die dunkle Ecke zur Falltür gezogen, und er ließ sich ziehen. Er war der einzige, in dem nicht Kampflust brannte; noch war er benommen vom Tod des Schnallen-Joseph. Der arme Jung'! Verdammte Herberge, nie wieder so zwischen die Mauern!
Die Magd stieß ihn vor sich die Leiter hinab; nun schloß sie von innen die Falltür. Finsternis, Totenstille. Von oben nichts mehr zu hören. Eilends kletterten sie weiter die Leiter hinab. Jetzt stolperten sie zwischen den vorhin hier abgeworfenen Packen, aber das Mädchen verweilte sich nicht, es hatte die Hand des Mannes gefaßt, zog ihn immer weiter.
»Wohin führst du mich?« Sie antwortete nicht. Für einen Augenblick stieg Argwohn in Bückler auf: die konnte sich Fanggeld verdienen wollen, ihn irgendwo hinunterstoßen in ein tiefes Loch. Aber dann lächelte er: ach, Mädchen sind sich alle gleich, er brauchte sich nicht zu fürchten. Schmeichelnd zog er sie an sich; er fühlte ein Widerstreben, aber ihr Atem ging rasch. Mit der einen Hand wehrte sie ihm, mit der anderen führte sie ihn. Jetzt rannte er den Kopf gegen Mauerwerk, die Luft wurde eng.
»Bückt Euch,« sprach endlich das Mädchen, »hier ist der Gang halb verschütt'.«
Er wäre mehr als einmal gestürzt, hätte die starke Hand der Führerin ihn nicht gehalten. Ein Strom von Wärme ging von der Hand aus, eine Wärme, die ihm Sicherheit verhieß. Wo er war, konnt er nicht sehen – sie stolperten über allerlei Hindernisse – aber er fühlte nasses Mauerwerk, Mörtel, Steinbrocken. Bald ging es sich leichter, aber immer war ein modriger Dunst. Wie lange sie schon so tappten, wußte er nicht, willenlos ließ er sich führen.
»Ich bin hier noch nie bis zu End gegangen, hab' mich immer gefürcht – heut fürcht ich mich nit.« Sie sagte offen, was sie empfand. In Maria Nikolai war etwas von stolzer Freude: was hatten die beiden anderen vermocht, die Julie und die Amie? Sie allein war die, die ihn rettete. Sie wußte wohl, hinter dem Bückler war man scharf her, schon seit Jahresfrist wurde er das Haupt aller Banden genannt, aber so schlimm war der gar nicht, er hatte ein hübsches Gesicht und ein so freundliches Lächeln.
»Hast dich gestoßen?« fragte er zärtlich. Er fühlte ein Zucken in ihrer Hand.
Es tat ihr wohl, daß er so fragte, lange hatte sich niemand um sie gekümmert. Zärtlichkeit war sie nicht gewohnt; unbewußt drückte sie seine Hand fester. Und dann wies sie vorwärts mit einem frohen und lauten Lachen – bisher hatten sie nur zu flüstern gewagt –: »Kuckt da!« Zwischen Schutt und Geröll dämmerte eine kleine matte Helle. Wie ein bleicher Stern schimmerte es ihnen in der Finsternis. »Eweil müssen mir bald eraus sein!«
Neu belebt tappten sie weiter, zuletzt mußten sie noch auf allen vieren kriechen, dann aber war es mit einemmal weit und hoch. Sie standen draußen, aber nicht unter freiem Himmel, über ihnen wölbte sich hoch eine Kuppel. Sie standen im Dom. Hinterm Altar einer Seitenkapelle traten sie hervor. Es ging gegen den Morgen. Durch das bunte Glas eines uralten Fensters fiel mattes Dämmern.
Sie sahen sich an; sie waren blaß und verstaubt. Aber das Mädchen lachte glücklich: »Diesmal seid Ihr davongekommen. Mir verstecken uns da im Beichtstuhl. Und wenn die Franzosen aufschließen, sie holen alle Morgen Futter für ihre Peerd im Dom, dann witscht Ihr eraus.«
Er mußte auch lachen; es klang übermütig in der hallenden Kirche, einen gelungeneren Spaß hatte selbst er kaum erlebt. Aber dann fiel ihm ein: wo waren die anderen, waren sie auch glücklich davongekommen? Und Julie Bläsius?
»Ihr seid gerettet!« Sie stand ihm gegenüber, die Arme über dem Mieder gekreuzt, jung, stark, gesund; ein schönes Landmädchen. Ein Begehren kam ihm. Sie waren allein, zwischen den strebenden Pfeilern von Stein, so allein wie zwischen den Bäumen im Wald – er streckte die Hand nach ihr. Er war sich seiner Siege bei den Weibern bewußt; nun packte er sie. Da gab sie ihm einen so starken Stoß, daß er rückwärts taumelte. Ganz verdutzt sah er drein: die wollte ihn nicht.
Ihre dunklen, feucht blickenden Augen blitzten jetzt zornig. »Ich bin von der Eifel, ich bin keine Bänkelspielerin und auch keine Amie. Rührt mich nit so an. Sonst pack' ich dat Kreuz da« – es lehnte ein altes Holzkreuz dicht dabei an der Wand – »und wehr' mich damit. Ich bin die Maria aus Krinkhof, dem Hans Bast seine Tochter!« Sie hatte eine drohende Haltung angenommen.
Er lachte verlegen, so etwas war ihm noch nicht widerfahren. Er hätte sie zwingen können, fast gelüstete es ihn, doch da sah er: hier hatten die Franzosen wohl geräumt, Teppiche und Altargefäße beiseitegeschafft, aber für ihn war doch noch etwas übriggeblieben. Ein Missale, kostbar gebunden, lag am Boden, das konnte er nicht gebrauchen, aber die Decke des Altars hatte noch ihre Spitzen, und das Kleid der Heiligen aus schwerem Damast war auch noch da. Er riß es herunter. Seine Augen flogen, scharf sah er sich um: da war etwas und hier noch etwas!
Maria sah ihn suchen, sich bücken, in alle Winkel spähen und zusammenraffen. Den Damast band er sich unter den Rock, die Spitzen stopfte er sich in die Hosen.
Sie war an den Beichtstuhl zurückgewichen und lehnte sich gegen das geschnitzte Holzwerk mit der reichen Vergoldung. Würde er das auch noch losbrechen wollen? Stumm sah sie zu, wie er an sich raffte, was irgend zu raffen war. Ihre Blicke waren groß und verwundert: das hätte sie doch nicht von ihm gedacht. Sie hing den Kopf auf die Brust, sie war auf einmal ganz traurig.