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Der Fluß war in diesem Teil seines Laufes menschenleer. Kein Schein war am andern Ufer sichtbar. Die Lichter von Jacksonville waren hinter dem Knie verborgen, das die Camdleß-Bucht machte. Nur der Abglanz beleuchtete die niedrige Wolkenschicht.
Obgleich die Nacht finster war, konnte das Gigboot unschwer den richtigen Kurs auf die Barre halten, da von den Wassern des St. John kein Nebel aufstieg.
Gilbert und Mars beobachteten tiefes Schweigen. Anstatt den Fluß hinunterzufahren, wären sie weit lieber hinübergesteuert, um in Jacksonville Texar zu suchen und ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten. Und dann hätten sie alle Wälder und alle Krampen durchsucht und da, wo Herr Burbank nichts erreicht hatte, vielleicht Erfolg gehabt.
Und doch gebot es die Klugheit, sich in Geduld zu fassen. Wenn die Union Florida erobert hatte, konnten sie mit mehr Aussicht auf Erfolg gegen den Spanier vorgehen.
Jetzt erheischte es übrigens ihre Pflicht, vor Tagesanbruch wieder auf ihrem Posten zu sein. Wenn die Barre früher, als man hoffte, fahrbar war, mußte der junge Leutnant an Bord seines Bootes sein, und Mars wurde als Lotse gebraucht, da er die Einfahrt sehr genau kannte.
Mars saß hinten in dem Gigboot und führte kraftvoll das Ruder. Vor ihm beobachtete Gilbert aufmerksam den Strom, bereit, jedes Hindernis oder jede Gefahr, die sich zeigen sollte, sofort zu melden. Nachdem das leichte Boot in schräger Richtung die Mitte des Flusses erreicht hatte, brauchte es nur der Strömung zu folgen, in der es sich von selbst hielt.
Ohne Zweifel wäre es besser gewesen, den dunkeln Saum der Bäume und des riesigen Schilfes, der das rechte Ufer des St. John einfaßte, nicht zu verlassen. Wenn sie unter dem Gewölbe dichter Zweige hingefahren wären, hätten sie weniger in Gefahr kommen können, gesehen zu werden.
Aber ein wenig unterhalb der Pflanzung verursachte ein scharfes Knie eine starke Gegenströmung, und das Gigboot hier hindurch zu bringen, wäre sehr schwierig und zeitraubend gewesen. Da Mars nun stromabwärts nichts Verdächtiges bemerkte, zog er es vor, sich von dem flott fließenden Wasser der Mitte, das schnell der Mündung zuströmte, treiben zu lassen.
Von dem kleinen Hafen von Camdleß-Bai bis zu der Stelle, wo die Flotte unterhalb der Barre vor Anker lag, rechnete man vier bis fünf Meilen, die das Gigboot mit Hilfe der rückströmenden Flut und den kraftvollen Schlägen des Mestizen bequem in zwei Stunden zurücklegen konnte.
Die beiden mußten also zurück sein, ehe noch das erste Tageslicht den Spiegel des St. John erhellte.
Eine Viertelstunde, nachdem Gilbert und Mars das Boot bestiegen hatten, befanden sie sich mitten auf dem Flusse. Hier konnten sie konstatieren, daß sie zwar sehr schnelle Fahrt hatten, daß aber die Strömung sie auf Jacksonville zu führte.
»Rechts halten! Rechts halten!« rief leise der junge Offizier.
Im Hafen von Jacksonville war es weder finster noch still. Zahlreiche Lichter huschten auf den Quais hin und her oder bewegten sich in den Booten, die auf dem Wasser einher glitten. Einige bewegten sich sogar sehr schnell, ganz als ob eine sehr rege und scharfe Ueberwachung des Stromes auf ein weites Stück hin organisiert worden wäre.
Dabei klangen von der Stadt her Gesänge und lautes Geschrei. Glaubten Texar und seine Anhänger noch immer an die Niederlage der Union in Virginia und an den möglichen Rückzug der Flotte?
Wie dem auch sei, Gilbert glaubte, das rasch dahingleitende Boot würde bald der größten Gefahr enthoben sein. Plötzlich gab er Mars ein Zeichen, Halt zu machen. Eine Meile etwa unterhalb des Hafens hatte er eine lange Reihe schwarzer Flecken gesehen, die sich vom einen Ufer zum andern erstreckte.
Es war eine Reihe von Booten, die hier festgelegt waren und den St. John sperrten. Wenn es den Kanonenbooten gelang, die Barre zu überschreiten, so würden diese Fahrzeuge gewiß nicht imstande gewesen sein, ihnen Halt zu gebieten; wenn aber Schaluppen der Union den Versuch hätten machen wollen, stromauf vorzudringen, so hätte diese Bootskette ihnen sicher die Weiterfahrt verwehren können.
Aus diesem Grunde war während der Nacht diese Sperre gelegt worden. Die Boote lagen regungslos, und obwohl man es nicht sehen konnte, war doch mit Sicherheit anzunehmen, daß sie eine große und für Angriff wie Gegenwehr genügend ausgerüstete Anzahl von Mannschaften an Bord hatten.
Gilbert aber wies darauf hin, daß diese Kette noch nicht gelegt worden war, als sie nach Camdleß-Bai gefahren waren. Diese Vorsichtsmaßregel war also erst nach ihrer Vorbeifahrt getroffen worden, vielleicht in der Erwartung eines Angriffs, von dem jedoch, als der junge Leutnant sein Kanonenboot verlassen hatte, noch nicht die Rede gewesen war.
Nun mußten sie aus der Mitte heraussteuern und am rechten Ufer Deckung suchen. Vielleicht würde das Kanoe unbemerkt bleiben, wenn es durch das Schilf und im Schatten der Bäume entlang fuhr. Jedenfalls war dies das einzige Mittel, durch die Sperre zu gelangen.
»Mars, versuche ganz geräuschlos zu rudern, bis wir über diese Linie hinaus sind,« sagte der junge Leutnant.
Er führte rasch das Boot nach dem rechten Ufer. Sie waren jetzt auf dreihundert Yards an die Sperrkette herangekommen.
Mars ruderte durch die tiefe Finsternis, die durch das dichte Laub der Bäume noch erhöht wurde. Er vermied es sorgfältig, gegen Stümpfe anzufahren, die hier und dort auftauchten oder zu laut sein Ruder zu handhaben, obwohl mehrmals Gegenströmungen zu überwinden waren, die infolge von Strudeln immer ziemlich stark waren.
Auf diesem Umweg und bei so schwerer Fahrt war eine Verspätung von einer Stunde unvermeidlich. Aber es machte nichts aus, wenn darüber der Tag anbrach; denn dann würde Gilbert nahe genug am Ankerplatz der Kanonenboote sein, daß er von Jacksonville nichts mehr zu befürchten hatte.
Gegen vier Uhr war das Gigboot in Höhe der Fahrzeuge. Wie Gilbert vorausgesehen hatte, war infolge der geringen Tiefe an dieser Stelle des Flußbettes die Durchfahrt dem Ufer entlang frei gelassen worden. Einige hundert Schritt weiter sah man im Finstern eine dicht bewaldete Landspitze, die von Wurzelbäumen und hohem Bambus bestanden war, in den Strom hineinspringen.
Um diese Spitze, die nach der stromaufwärts gelegenen Seite tiefen Schatten warf, während nach der stromabwärts gelegenen Seite die Baummassen plötzlich ein Ende nahmen, mußten sie herumsteuern. Je näher man der Mündung kam, um so flacher wurde das Ufer und hier zerfiel es in eine Reihe von Buchten und Sümpfen, die ein völlig flaches und freiliegendes Uferland bildeten. Hier war kein Baum und kein finsterer Rand mehr. Infolgedessen war auch die Wasserfläche ziemlich hell.
Es war daher leicht möglich, daß ein schwarzer und sich bewegender Punkt wie das Gigboot, das zu klein war, als daß zwei Männer sich darin hätten niederlegen sollen, von einem in Höhe der Spitze im Strome kreuzenden Fahrzeug gesehen werden konnte.
Darüber hinaus war freilich keine Gegenströmung mehr zu spüren, und der sehr starke Strom ging dicht am Ufer entlang. Wenn das Gigboot glücklich um die Spitze herum käme, würde es pfeilschnell der Barre zugetrieben werden und in kurzer Zeit den Ankerplatz des Kommandanten Stevens erreichen.
Mars ruderte mit größter Vorsicht am Ufer entlang. Seine Augen suchten die Finsternis zu durchdringen. So dicht als möglich hielt er sich am Ufer. Das Ruder bog sich unter seinen kräftigen Armen, während Gilbert unausgesetzt die Wasserfläche beobachtete.
Das Gigboot kam der Spitze immer näher. Nur noch ein paar Minuten, und es mußte den äußersten Vorsprung erreicht haben, der sich als schmale Landzunge hinzog. Sie waren nur noch ein kurzes Stück entfernt, als Mars plötzlich Halt machte.
»Bist du müde?« fragte der junge Leutnant. »Soll ich dich ablösen?«
»Kein Wort, Herr Gilbert!« antwortete Mars.
Gleichzeitig drehte er mit zwei kräftigen Schlägen das Boot schräg herum, als ob er aufs Ufer laufen wollte. Er ergriff einen der herabhängenden Zweige, den er erreichen konnte, hielt sich daran fest und zog das Boot unter einen dichten Vorhang grünen Laubes. Am Fuße eines Wurzelbaumes lagen nun Gilbert und Mars regungslos. Rings um sie her war es so finster, daß sie sich selber nicht mehr sehen konnten.
Der junge Leutnant ergriff seinen Gefährten beim Arme, wie um eine Erklärung dieses Verhaltens zu verlangen, als Mars den Arm ausstreckte und auf einen Punkt deutete, der sich in dem weniger finstern Teil des Wassers bewegte.
Es war ein Boot mit vier Männern, das stromauf steuerte, um die Landzunge herumfuhr und direkt vor ihr anlegte. Gilbert und Mars hatten nun den gleichen Gedanken: vor allem und trotz allem mußten sie zurück zu ihrem Kanonenboot. Wenn ihr Kanoe entdeckt worden war, so wollten sie ohne Zögern ans Ufer springen und bis in Höhe der Barre zu kommen suchen. Dort bemerkte man vielleicht auf dem nächsten der Kanonenboote die Signale, die sie geben wollten; im Notfall würden sie hinüberschwimmen. Sie wollten das Menschenmöglichste tun, an ihren Posten zurückzukehren.
Aber sofort sollte ihnen klar werden, daß ihnen auch die Flucht zu Lande abgeschnitten war.
Als das Boot, etwa zwanzig Schritt von ihrem finstern Versteck entfernt, anlegte, entspann sich zwischen den Männern, die darin saßen, und etwa sechs andern, deren Schatten zwischen den Säumen am Ufer auftauchten, folgendes Gespräch:
»Wollt Ihr hier anlegen?«
»Gewiß, mitten im Stauwasser. Wir können hier das Ende der Bootssperre am besten bewachen.«
»Schön! Währenddessen bewachen wir das Ufer, und wenn die Kerle sich nicht in den Sumpf werfen wollen, soll es ihnen schwer fallen, uns zu entkommen.«
»Wenn sie nicht schon längst vorbei sind.«
»Das ist ausgeschlossen! Sie werden versuchen, vor Tagesanbruch zurückzukommen. Da sie nun nicht durch die Sperre können, werden sie am Ufer entlang fahren, und hier versperren wir ihnen den Weg.«
Diese wenigen Worte machten ihnen alles klar. Es war verraten worden, daß Gilbert und Mars den St. John hinaufgefahren waren. Aber wenn man auch davon Kenntnis erlangt hatte, vielleicht wußte man nicht, daß er nach Camdleß-Bai gefahren war und daß der eine James Burbanks Sohn, der andere einer seiner Matrosen war.
Aber auch diese Hoffnung wurde sogleich vernichtet, und der junge Mann mußte sich völlig klar über die furchtbare Gefahr sein, in der er sich befand, als er die letzten Worte hörte, die die Leute miteinander wechselten.
»Gebt gut acht,« riefen die am Lande.
»Ja! Ja!« war die Antwort. »Ein Offizier von der Bundesarmee, das ist ein guter Fang, und obendrein da dieser Offizier der Sohn eines der verdammten Nordstaatler in Florida ist.«
»Und das wird uns gut bezahlt, zumal Texar es ist, der dafür bezahlt!«
»Vielleicht gelingt es uns in der Nacht noch nicht, sie zu fangen, wenn sie sich in einer Bucht versteckt haben, aber am Tage wollen wir alle Löcher so gut absuchen, daß uns keine Wasserratte soll entgehen können.«
»Vergeßt nicht, daß ausdrücklich befohlen worden, sie lebendig zu fangen!«
Das Boot entfernte sich um zwei Ruderlängen. Dann verkündete das Geräusch einer Kette, die aufgerollt wurde, deutlich, daß der Anker geworfen worden war. Die Männer am Ufer sprachen zwar nicht mehr, man hörte aber doch das Geräusch ihrer Tritte auf dem gefallenen Laub.
Auf dem Fluß wie auf dem Lande war die Flucht nunmehr unmöglich.
Dies bedachten jetzt Gilbert und Mars. Beide hatten sich nicht bewegt und kein Wort gesprochen. Das unter dem dichten, dunkeln Grün verborgene Gigboot blieb daher noch unentdeckt. Aber dieses Versteck war wie ein Gefängnis: es war unmöglich, hinauszukommen. Und wenn sie auch während der Nacht nicht gesehen werden konnten, wie hätten sie den Blicken entgehen sollen, wenn es Tag war? Wurde aber der junge Leutnant gefangen genommen, so war nicht nur sein Leben bedroht – als Soldat fiel es ihm nicht schwer, es zu opfern – sondern wenn festgestellt wurde, daß er in Castle-House gewesen sei, so würde auch sein Vater von Texars Partei von neuem angeklagt und der Beziehungen zu der Bundespartei unwiderleglich überführt worden sein.
Wenn dieser Beweis dem Spanier auch gefehlt hatte, als er zum erstenmal den Besitzer von Camdleß-Bai beschuldigte, so hatte er doch jetzt, wenn Gilbert in seiner Gewalt war, diesen Beweis in Händen. Und was würde dann aus Frau Burbank – was aus Dy und Zermah, wenn der Vater, der Bruder und der Mann nicht mehr imstande sein würden, die Nachforschungen fortzusetzen?
Wenn sie nun beide gefangen genommen würden, so blieb ihnen nur eine Hoffnung: daß die Unionstruppen Jacksonville nehmen würden, ehe Texar ihnen einen Schaden zufügen könnte. Vielleicht würden sie dann früh genug befreit werden, ehe die Verurteilung, die ihnen gewiß wäre, vollzogen werden könnte.
Ja! das war ihre einzige Hoffnung. Aber wie sollte die Ankunft des Kommandanten Stevens und seiner Kanonenboote beschleunigt werden? Wie sollte die Barre des St. John überschritten werden, wenn noch nicht genug Wasser da war? Wie sollte die Flottille durch die vielen Windungen der Einfahrt gesteuert werden, wenn Mars, der allein sie lotsen konnte, in die Hände der Südlichen fiel?
Gilbert mußte daher selbst das Unmögliche versuchen, um vor Tagesanbruch noch wieder auf seinem Boote zu sein, und sie mußten ihren Weg fortsetzen, ohne einen Augenblick länger zu säumen. War dies unausführbar? Konnte nicht Mars das Boot rasch durch das Stauwasser führen und den freien Strom gewinnen? Während die Leute im Boot Zeit verlieren würden, den Anker zu lichten, würden sie nicht inzwischen schon weit außer ihrem Bereich sein?
Nein! Das hieße alles aufs Spiel setzen. Der junge Leutnant sah das nur zu wohl ein. Das Ruder des Mestizen konnte gegen die vier Riemen des Bootes nichts ausrichten. Das Kanoe würde rasch eingeholt worden sein, und sie liefen auf diese Weise nur in ihr sicheres Verderben.
Was sollten sie also tun? Sollten sie warten. Der Tag mußte bald anbrechen. Es war schon einhalb fünf Uhr morgens. Ein Entschluß mußte gefaßt werden.
Gilbert neigte sich zu Mars herüber.
»Wir können nicht länger warten,« flüsterte er ihm zu. »Wir sind beide mit Revolver und Seitengewehr bewaffnet. In dem Boote dort sind vier Männer – das heißt zwei gegen einen. Wir haben aber den Vorteil der Ueberraschung auf unserer Seite. Du wirst das Gigboot schnell durch das Stauwasser treiben und direkt gegen das Boot führen. Da es vor Anker liegt, kann es der Enterung nicht entweichen. Wir fallen über die Kerle her, stoßen sie nieder, ehe sie uns erkennen können, und gewinnen den freien Strom. Ehe dann die Leute am Ufer Alarm gegeben haben, sind wir über die Barre weg und in Linie der Kanonenboote. Hast du verstanden, Mars?«
Statt aller Antwort zog Mars sein Seitengewehr und steckte die offne Klinge in den Gürtel. Dann führte er das Boot aus dem Versteck und griff zum Ruder.
Aber als er eben das Boot mit kräftigem Schlage wegstoßen wollte, gebot Gilbert ihm durch einen Wink Halt.
Er hatte plötzlich Ursache bekommen, wieder einen andern Plan zu fassen.
Mit dem ersten Tagesgrauen begann ein dichter Nebel über dem Wasser aufzusteigen. Dieser Dunst kam vom Meere her und wurde von einem leichten Wind langsam stromauf gewälzt. In einer Viertelstunde mußte Jacksonville am linken Ufer wie die Baummassen am rechten unter den dicken Ballen dieses braunen Nebels verschwunden sein, dessen charakteristischer Geruch das Tal erfüllte.
Dieser Nebel brachte Rettung für den jungen Leutnant und seinen Gefährten. Warum sollten sie, statt sich auf einen ungleichen Kampf einzulassen, in dem sie beide unterliegen konnten, nicht lieber versuchen, durch den Nebel zu entkommen?
Gilbert glaubte wenigstens, dies wäre das Beste. Deshalb hielt er Mars zurück. Nun kam es ja vielmehr darauf an, durch geschicktes und geräuschloses Steuern um dieses Boot herumzufahren, dessen schon undeutliche Silhouette sogleich ganz verschwunden sein mußte.
Der junge Leutnant zauderte nicht länger. Leise schlich das Boot, von Mars geführt, aus dem grünen Versteck hervor und fuhr langsam durch das Stauwasser.
Der Nebel wurde dichter, obgleich ihn bereits ein fahles Zwielicht durchdrang, ähnlich dem Schein, den eine Laterne wirft. Selbst im Umkreis von mehreren Metern war nichts mehr zu sehen. Wenn das Kanoe nicht unglücklicherweise gegen das feindliche Boot anfuhr, hatte es Aussicht, unbemerkt zu entkommen. Das war allerdings sehr wohl möglich; denn die Leute waren, wie ein Kettenrasseln verriet, eben dabei, den Anker in die Höhe zu ziehen. Dies Geräusch zeigte die Stelle an, die vermieden werden mußte.
Das Gigboot kam vorüber, und Mars konnte nun mit größerer Kraft sein Ruder handhaben.
Die Schwierigkeit lag nun darin, einen vorteilhaften Kurs innezuhalten, ohne in die Mitte der Fahrstraße zu geraten. Im Gegenteil mußten sich die beiden immer in geringer Entfernung vom rechten Ufer halten.
Mars hatte jedoch in diesem dicken Nebel keinen Richtungspunkt.
Der Tagesanbruch machte sich jetzt bemerkbar. Ueber der Nebelmasse wurde es hell, wenn auch auf dem Spiegel des St. John der undurchdringliche Schleier noch liegen blieb.
Eine halbe Stunde lang irrte das Gigboot aufs Geratewohl umher. Mitunter wurde ein undeutlicher Gegenstand in verschwommenen Umrissen sichtbar. Man konnte glauben, es sei ein Boot, das durch die Strahlenbrechung ins Unermeßliche vergrößert erschien – ein Phänomen, das man im Nebel auf See oft beobachtet.
Auch Vögel flogen vorbei, deren Spannweite riesenhaft erschien. Wenn die Tiere selber auch nur undeutlich zu sehen waren, so klang doch ihr Schrei durchdringend durch die Luft. Andere stiegen vom Flußbett selbst auf, wenn die Annäherung des Kanoes sie in die Flucht jagte.
Da die Flut noch immer im Rückströmen war, hielt es Gilbert für gewiß, daß das Gigboot auf den Ankerplatz des Kommandanten Stevens zutreiben mußte. Da aber der Strom schon viel schwächer geworden war, so war noch immer kein Anhalt dafür, daß der junge Leutnant schon über die Linie der Bootssperre hinaus sei. Mußte er nicht vielmehr befürchten, eben jetzt in Höhe der feindlichen Fahrzeuge zu sein und jäh gegen eins derselben anzufahren?
Die Möglichkeit ernster Gefahr war also noch immer nicht völlig aufgehoben. Bald sollte es sogar klar werden, daß das Gigboot sich in größrer Gefahr befand, als je während dieser ganzen schwierigen Fahrt.
Mars hielt ab und zu im Rudern inne. Näheres oder ferneres Geräusch von Rudern war innerhalb eines beschränkten Umkreises beständig zu vernehmen. Laute Rufe wurden von einem Boot zum andern hin und zurück gegeben. Undeutlich umrissene Gegenstände zeichneten sich im Nebel ab. Das waren sicherlich Boote in Fahrt, denen sie ausweichen mußten.
Manchmal öffnete sich sogar der Nebel plötzlich, wie wenn ein Windstoß den Schleier zerrissen hätte. Dann war die Sehweite auf etwa hundert Yards geöffnet, und Gilbert und Mars versuchten dann zu erkennen, wo sie sich eigentlich befanden. Aber der Nebel schloß sich rasch wieder zusammen, und dem Gigboot blieb nichts weiter übrig, als sich vom Strom treiben zu lassen.
Es war jetzt etwas über fünf Uhr. Gilbert berechnete seine Entfernung vom Ankerplatz der Kanonenboote noch auf zwei Meilen. In der Tat hatte er die Barre des Stromes noch nicht erreicht. Diese Barre wäre an dem stärkeren Brausen des Wassers erkenntlich gewesen, das für einen Seemann unverkennbar ist.
Wenn sie schon über die Barre hinweggewesen wären, hätte Gilbert sich so gut wie gerettet glauben dürfen; denn es war nicht anzunehmen, daß die feindlichen Boote sich so weit von Jacksonville entfernen und dem Feuer der Kanonenboote so nahe kommen würden.
Die beiden lauschten gespannt über den Wasserspiegel hin. Ihr so geübtes Ohr hatte noch nichts wahrnehmen können. Sie mußten sich verirrt haben, entweder nach der rechten oder nach der linken Seite des Stroms hin.
Vielleicht war es nun besser, in schräger Richtung ihn zu queren, um so wieder eines der Ufer zu erreichen und nötigenfalls zu warten, bis der Nebel weniger dicht geworden und der Weg besser zu finden wäre.
Das war in der Tat das beste, da der Nebel bereits höher zu steigen begann. Binnen kurzem mußte die Sonne, die man schon verspürte, den Dunst soweit aufgesogen haben, daß der Spiegel des St. John wieder auf eine weite Strecke übersichtlich sein mußte. Dann würde der Schleier mit einem Ruck zerreißen und der Horizont aus dem Nebel auftauchen.
Vielleicht würde dann Gilbert eine Meile vor sich die Kanonenboote erblicken und zu ihnen gelangen können.
In diesem Augenblick ließ sich das Brausen strudelnden Wassers hören. Gleich darauf fing das Boot an, sich im Kreis zu drehen, als sei es in einen Wirbel geraten.
»Die Barre!« rief Gilbert.
»Ja! die Barre!« rief Mars. »Und wenn wir erst über sie hinaus sind, haben wir den Ankerplatz erreicht.«
Plötzlich hieß Gilbert den Mestizen innehalten. Auf einen Augenblick hatte der Nebel sich geteilt, und der junge Leutnant hatte ein schnell ruderndes Boot gesehen, das den gleichen Kurs verfolgte. Hatten die Männer das Kanoe gesehen? Wollten sie ihm den Weg versperren?
»Nach Backbord wenden!« rief der junge Leutnant.
Mars tat es, und mit wenigen Schlägen hatten sie sich ein gutes Stück in der entgegengesetzten Richtung entfernt.
Auf dieser Seite aber wurden Stimmen laut, die einander zuriefen. Sicherlich waren hier mehrere Boote auf dem Wasser, die hin und her kreuzten.
Plötzlich – wie wenn ein riesiger Besen die Luft rein gefegt hätte – verschwand der Nebel.
Unwillkürlich schrie Gilbert auf.
Das Gigboot befand sich mitten unter zwölf Fahrzeugen, die in langer, schräger Linie die ganze Durchfahrt versperrten.
Sofort ertönte von einem Boote zum andern der Ruf:
»Da sind sie! da sind sie!«
»Ja, da sind wir!« rief der junge Leutnant zurück. »Revolver und Seitengewehr zur Hand, Mars! Wir wollen unser Leben teuer verkaufen!«
In einem Augenblick hatten drei bis vier Boote das Gigboot erreicht. Schüsse fielen – aber nur aus den Revolvern Gilberts und seines Gefährten, die lebend gefangen werden sollten. Drei bis vier Matrosen wurden getötet oder verwundet. Aber wie hätten Gilbert und Mars in diesem ungleichen Kampf nicht unterliegen sollen?
Der junge Leutnant wurde trotz energischer Gegenwehr gefesselt und in eines der Boote gebracht.
»Flieh – Mars – flieh!« rief er ein letztes mal.
Mit einem Hieb seines Seitengewehrs machte Mars sich von dem Manne, der ihn festhielt, frei. Ehe man ihn wieder ergreifen konnte, hatte der unerschrockene Mann Zermahs sich in den Strom gestürzt. Vergebens versuchte man, ihn wieder zu fangen. Er verschwand inmitten der Wirbel der Barre, deren brausendes Wasser die wiederkehrende Flut in Stromschnellen verwandelte.