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Viertes Kapitel.
Unschlüssig

Manuel liebte die Schwester seines Freundes Benito, und das junge Mädchen erwiderte diese Liebe. Beide hatten sich schätzen gelernt und waren einander wirklich würdig.

Als er sich über die Empfindungen, die er gegen Minha hegte, völlig klar war, hatte Manuel sich zunächst Benito offenbart.

»Freund Manuel,« hatte sogleich der enthusiastische junge Mann geantwortet, »das ist recht, daß du meine Schwester heiraten willst! Laß mich machen! Ich werde zunächst mit unserer Mutter reden, und ich glaube dir versprechen zu können, daß sie ohne weiteres ihre Zustimmung geben wird.«

Eine halbe Stunde später war es getan. Benito hatte seiner Mutter nichts Neues mitteilen können: die gute Yaquita hatte schon längst in den Herzen der jungen Leute gelesen.

Zehn Minuten später war Benito vor Minha getreten. Hier brauchte er, wie zugegeben werden muß, keine große Beredsamkeit aufzuwenden. Bei den ersten Worten hatte das liebliche Kind den Kopf gegen ihres Bruders Schulter gelegt, und das Geständnis: »Wie glücklich bin ich!« kam ihr von Herzen.

Die Antwort kam fast der Frage zuvor, und die Antwort sagte alles. Benito fragte nicht mehr.

Die Zustimmung Joam Garrals konnte nicht Gegenstand des Zweifels sein. Aber wenn Yaquita und ihre Kinder nicht sogleich mit ihm über diesen Heiratsgedanken sprachen, so geschah das, weil sie mit diesem Anlaß gleichzeitig eine Frage anregen wollten, die wohl schwieriger zu entscheiden war: nämlich die Frage, wo die Heirat stattfinden sollte.

In der Tat, wo sollte sie vollzogen werden? In der bescheidenen Hütte des Dorfes, die als Kirche diente? Warum schließlich nicht? Hatten doch dort Joam und Yaquita den Ehesegen vom Padre Passanha empfangen, der damals Seelsorger des Kirchensprengels von Iquitos war. Zu jener Zeit wie noch heute fällt in Brasilien die zivile Trauung mit der kirchlichen zusammen, und die Listen einer Mission bestätigen die Rechtsgiltigkeit einer Ehe, die vor keinem Beamten des Zivilstaates vollzogen worden ist.

Wahrscheinlich war es Joam Garrals Wunsch, daß die Hochzeit im Dorfe Iquitos in großer Feier stattfinden sollte, im Beisein des ganzen Personals der Fazenda; aber wenn er auch diesen Gedanken hegen mochte, so sollte er hier doch auf energischen Widerstand stoßen.

»Manuel,« hatte das junge Mädchen zu ihrem Bräutigam gesagt, »wenn ich gefragt werden sollte, dann soll es nicht hier geschehen, dann werden wir in Para getraut werden. Madame Valdez ist leidend, sie kann nicht bis Iquitos reisen, und ich möchte nicht ihre Tochter werden, ohne daß wir uns vorher kennen lernen. Ueber all das denkt meine Mutter ebenso. Wir möchten daher meinen Vater bestimmen, uns nach Belem zu bringen zu ihr, deren Haus bald auch das meine sein soll. Stehst du uns darin bei?«

Auf diesen Vorschlag hatte Manuel mit einem Händedruck geantwortet. Auch er wünschte innig, daß seine Mutter bei seiner Trauung zugegen sei. Benito hatte diesen Plan rückhaltlos gebilligt, und es handelte sich nun bloß darum, Joam Garral dafür zu gewinnen.

Und wenn an diesem Tage die beiden jungen Männer im Walde auf die Jagd gegangen waren, so war es geschehen, um Yaquita mit ihrem Manne allein zu lassen.

Beide waren an diesem Nachmittag in der großen Halle des Hauses allein.

Joam Garral, der eben heimgekommen war, lag halb auf einem Diwan aus geflochtnem Bambus ausgestreckt, als Yaquita, ein wenig erregt, sich neben ihn setzte.

Nicht das beunruhigte sie, daß sie mit Joam darüber zu sprechen hatte, wie lieb Manuel ihre Tochter habe. Das Glück Minhas konnte durch diese Heirat nur gesichert werden, und Joam würde glücklich sein, diesem neuen Sohn die Arme zu öffnen, dessen Tüchtigkeit er kannte und schätzte. Aber Yaquita fühlte wohl, daß es eine schwere Aufgabe war, ihren Mann dahin zu bringen, daß er in eine Reise willigte.

Seit Joam Garral noch in ziemlich jungem Alter in dieses Land gekommen war, hatte er es in der Tat nie wieder, auch nicht auf einen einzelnen Tag, verlassen. Obwohl der Amazonas, dessen Wasser sanft gen Osten strömte, förmlich dazu aufforderte, seinem Laufe zu folgen, obwohl Joam jedes Jahr Holzflöße nach Manaos, nach Belem und der Küste von Para schickte, obwohl er alle die Jahre Benito hatte abreisen sehen, wenn er nach den Ferien zum Studium zurückkehrte, nie schien ihm der Gedanke gekommen zu sein, ihn zu begleiten.

Die Produkte der Farm, die der Wälder wie die der Felder, lieferte der Fazendero an Ort und Stelle ab.

Es schien, als wollte er über den Horizont, der dieses Eden umschloß, weder mit den Gedanken, noch mit den Blicken hinaus.

Wenn Joam Garral noch nie die brasilianische Grenze überschritten hatte, so hatten auch seine Frau und seine Tochter bisher noch nicht den Fuß auf brasilianisches Land gesetzt. Und doch hegten sie Verlangen, ein wenig das schöne Land kennen zu lernen, von dem Benito so viel erzählte! Zwei bis dreimal hatte Yaquita ihrem Manne diesen Wunsch nahe gelegt. Aber sie hatte gesehen, daß der Gedanke, die Fazenda zu verlassen, sei es auch nur auf ein paar Wochen, einen deutlichen Ausdruck der Trauer in seinem Antlitz hervorrief.

»Warum sollten wir unser Haus verlassen? Sind wir nicht glücklich hier?« antwortete er im Tone sanften Vorwurfs, während seine Augen sich umflorten.

Und gegenüber diesem Manne, dessen wahrhafte Güte und unwandelbare Zärtlichkeit sie so glücklich machten, vermochte Yaquita nicht auf ihrem Wunsche zu beharren.

Diesmal aber war ein ernsthafter Grund geltend zu machen. Die Trauung Minhas war ein ganz natürlicher Anlaß, das junge Mädchen nach Belem zu bringen, wo sie mit ihrem Manne wohnen sollte.

Dort sollte sie die Mutter Manuel Valdez kennen und lieben lernen. Wie könnte Joam Garral einem so gerechtfertigten Wunsche widerstehen? Wie hätte er auch ihr Verlangen, die Frau kennen zu lernen, die ihrer Tochter eine zweite Mutter sein sollte, nicht begreifen sollen? Ja mußte er es nicht teilen?

Yaquita hatte die Hand ihres Gatten ergriffen, und mit jener zärtlichen Stimme, die für diesen Mann der harten Arbeit die ganze Musik seines Lebens gewesen war, sagte sie:

»Joam, ich möchte mit dir über einen Plan sprechen, dessen Verwirklichung wir innig wünschen und der dich ebenso glücklich machen wird, wie deine Kinder und ich es sind.«

»Worum handelt es sich, Yaquita?« fragte Joam.

»Manuel liebt unsre Tochter, sie liebt ihn wieder, und in dieser Vereinigung werden sie ihr Glück finden ...«

Bei den ersten Worten seiner Frau erhob sich Joam Garral – er konnte diese jähe Bewegung nicht unterdrücken. Dann senkte er die Augen, wie, als wollte er dem Blick seiner Frau ausweichen.

»Was hast du, Joam?« fragte sie.

»Minha? – sich heiraten?« murmelte er.

»Mein lieber Mann,« antwortete Yaquita bedrängten Herzens, »hast du gegen diese Heirat etwas einzuwenden? Hast du nicht schon längst bemerkt, was Manuel für unser Kind fühlt?«

»Ja – und seit einem Jahre –«

Ohne auszureden, hatte Joam sich wieder hingesetzt. Er hatte mit starkem Willen die Herrschaft wieder über sich gewonnen. Die unerklärliche Befangenheit war gewichen. Allmählich hatten seine Augen sich wieder auf die seiner Frau gerichtet, und eine Weile sah er sie nachdenklich an.

Yaquita ergriff wieder seine Hand.

»Mein Joam,« sagte sie, »sollte ich mich getäuscht haben? Hattest du nicht schon daran gedacht, daß diese Hochzeit einmal stattfinden würde und daß damit das Glück unserer Tochter gesichert würde?«

»Jawohl,« antwortete Joam – »völlig gesichert! – ganz gewiß! – Aber, Yaquita, diese Hochzeit – diese Hochzeit, über die wir alle uns einig sind – wann soll sie stattfinden? ... In nächster Zeit?«

»Die Zeit hast du zu bestimmen; Joam.«

»Und sie soll hier stattfinden – in Iquitos?«

Diese Frage führte Yaquita auf den zweiten Punkt, den sie besprechen wollte. Sie kam indessen nicht ohne Zaudern, wie wohl zu begreifen war, darauf zu reden.

»Joam,« sagte sie nach kurzem Schweigen, »höre mich an! Ich habe dir betreffs dieser Hochzeitsfeier einen Vorschlag zu machen, den du, wie ich hoffe, billigen wirst. Mehrmals schon während 20 Jahren habe ich dir vorgeschlagen, meine Tochter und mich einmal in die Provinzen des untern Amazonas und des Parastroms zu bringen, die wir noch nie besucht haben. Die Sorgen der Wirtschaft, die Arbeiten, die deine Anwesenheit erheischen, haben es dir nicht erlaubt, unsern Wunsch zu erfüllen. Es hätte damals deinen Geschäften schaden können, wenn du, ob auch nur auf einige Tage, verreist wärest. Aber jetzt hat sich unser Anwesen über unsre kühnsten Träume hinaus entwickelt, und wenn auch die Stunde der gänzlichen Ruhe noch nicht für dich gekommen ist, so kannst du dich doch jetzt ein paar Wochen wenigstens von der Arbeit frei machen.«

Joam Garral antwortete nicht, aber Yaquita fühlte seine Hand in ihrer zittern, wie unter einem jähen Schmerz. Plötzlich glitt ein leises Lächeln über die Lippen ihres Mannes; es war wie eine stumme Aufforderung an seine Frau, zu beenden, was sie zu sagen hätte!

»Joam,« antwortete sie, »hier ist eine Gelegenheit, wie sie sich in unserm ganzen Leben nicht wieder bieten wird. Minha verheiratet sich nach einer fernen Stadt und wird uns verlassen. Das ist der erste Schmerz, den unsere Tochter uns bereiten wird, und das Herz preßt sich mir zusammen, wenn ich an diese so nahe Trennung denke. Nun wohl, ich will zufrieden sein, wenn ich sie nur bis Belem begleiten kann. Scheint es dir übrigens nicht angebracht, daß wir die Mutter ihres Mannes kennen lernen, die Frau, die meine Stelle bei ihr ersetzen soll, der wir sie anvertrauen wollen? Ich füge hinzu, daß Minha der Madame Valdez nicht den Kummer bereiten möchte, fern von ihr zu heiraten. Wenn zur Zeit unserer Hochzeit deine Mutter noch am Leben gewesen wäre, mein Joam, wäre es dir dann nicht auch lieber gewesen, unter ihren Augen getraut zu werden?«

Bei diesen Worten Yaquitas vermachte Joam Garral abermals eine Bewegung nicht zu unterdrücken.

»Mein lieber Mann,« fuhr Yaquita fort, »mit Minha, mit unsern beiden Söhnen Benito und Manuel, mit dir, ach! was für eine Freude wäre es für mich, unser Brasilien zu sehen, diesen schönen Fluß hinunter zu fahren bis zu den letzten Provinzen des Gestades, das er durchströmt! Mir scheint, dort unten würde dann die Trennung weniger schmerzlich sein. Nach der Rückkehr könnte ich im Geiste meine Tochter in dem Hause sehen, wo ihre zweite Mutter ihrer harrt. Es wird mir das alles nicht völlig unbekannt sein. Ich werde wissen, wie ihr Leben sich gestaltet!«

Diesmal hatte Joam den Blick auf seine Frau gerichtet und sah sie lange an, ohne jedoch etwas zu antworten.

Was ging in ihm vor? Warum dieses Zaudern, einen an sich so gerechten Wunsch zu erfüllen, ein »Ja« zu sprechen, das allen Seinen so große Freude machen sollte? Die Sorge um seine Geschäfte konnte kein triftiger Grund sein. Ein paar Wochen der Abwesenheit beeinträchtigten sie in keiner Weise. Sein Verwalter konnte ihn ohne Schaden auf der Fazenda vertreten. Und dennoch zögerte er.

Yaquita hatte die Hand ihres Mannes in ihre beiden genommen und drückte sie zärtlicher.

»Mein Joam,« sagte sie, »es ist ja keine Laune, der ich dich nachzugeben bitte. Nein! Ich habe lange über den Vorschlag nachgedacht, den ich dir gemacht habe, und wenn du zustimmst, so erfüllst du damit den innigsten Wunsch meines Lebens. Unsre Kinder wissen, daß ich jetzt mit dir darüber rede. Minha, Benito und Manuel bitten dich um das Glück, daß wir sie begleiten. Außerdem möchten wir lieber die Trauung in Belem als in Iquitos feiern. Das wird für unsere Tochter vorteilhaft sein in Rücksicht auf ihre Einführung und die Stellung, die sie in Belem einnehmen wird. Wenn man sie mit den Ihrigen ankommen sieht, wird sie weniger fremd sein in dieser Stadt, wo sie doch den größten Teil ihres Lebens zubringen wird.«

Joam Garral hatte die Ellbogen auf die Knie gestützt. Einen Augenblick verbarg er das Gesicht in den Händen, als müsse er sich sammeln, ehe er antworten könne. Augenscheinlich herrschte eine Unschlüssigkeit in ihm, gegen die er ankämpfen wollte, ja eine Besorgnis, die seine Frau sehr wohl empfand, aber die sie sich nicht erklären konnte. Unter dieser nachdenklichen Stirn vollzog sich ein geheimer Kampf. Yaquita wurde unruhig und machte sich's fast zum Vorwurf, diese Frage berührt zu haben. In jedem Falle würde sie sich in das schicken, was Joam beschließen würde. Wenn die Abreise ihm zu schwer würde, wollte sie ihrem Wunsche entsagen. Sie wollte nie wieder davon sprechen, die Fazenda zu verlassen; und nie wollte sie nach der Ursache zu dieser unerklärlichen Weigerung fragen.

Einige Minuten vergingen. Joam Garral hatte sich erhoben. Er war, ohne sich umzudrehen, bis zur Tür gegangen. Dort schien er einen letzten Blick auf diese schöne Natur, diesen Erdenwinkel zu werfen, wo er zwanzig Jahre lang sein ganzes Lebensglück einzuschließen verstanden hatte.

Dann kam er langsamen Schrittes zu seiner Frau zurück. Sein Gesicht hatte jetzt einen andern Ausdruck, den eines Mannes, der zu einem letzten Entschluß gelangt und dessen Unschlüssigkeit vorüber ist.

»Du hast recht,« sagte er mit fester Stimme zu Yaquita. »Diese Reise ist nötig. Wann wünschest du, daß wir aufbrechen?«

»O Joam! Joam!« rief Yaquita, außer sich vor Freude. »Dank für mich! Dank für die Kinder!«

Tränen der Zärtlichkeit traten ihr in die Augen, während ihr Mann sie ans Herz drückte.

In diesem Augenblick ließen sich draußen an der Tür des Hauses freudige Stimmen vernehmen.

Gleich darauf erschienen Manuel und Benito auf der Schwelle und fast zur gleichen Zeit Minha, die aus ihrer Kammer kam.

»Der Vater ist einverstanden, Kinder!« rief Yaquita. »Wir reisen alle nach Belem!«

Ohne ein Wort zu sprechen, nahm Joam Garral mit ernstem Gesicht die Liebkosungen seines Sohnes und die Küsse seiner Tochter hin.

»Und an welchem Tage, mein Vater,« fragte Benito, »soll die Hochzeit gefeiert werden?«

»Den Tag?« fragte Joam. »Den Tag? ... Wir werden sehen ... das werden wir in Belem bestimmen.«

»Wie glücklich bin ich! wie glücklich bin ich!« rief Minha wieder, wie an dem Tage, wo sie Manuels Liebe erfahren hatte. »Wir werden also den Amazonenstrom in aller seiner Pracht sehen, auf seinem ganzen Laufe durch die brasilianischen Provinzen! Ach, Vater, habe Dank!«

Und die junge Schwärmerin, mit der die Phantasie schon förmlich durchging, wandte sich an Manuel und an ihren Bruder:

»Auf zur Bibliothek!« rief sie. »Wir wollen alle Bücher und alle Karten vornehmen, die uns über dieses großartige Wasserbecken unterrichten können! Wir dürfen nicht blindlings drauf los reisen! Ich will alles sehen und alles wissen von diesem König der Ströme auf Erden!«


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